Beinahe dreißig Jahre stand die These der Kapitalmarkteffizienz im Mittelpunkt der Finanzierungstheorie. Die Kapitalmarkttheorie unterstellt allen Akteuren am Markt rationales Verhalten und geht idealtypisch von vollkommenen Märkten aus. In den vergangenen Jahrzehnten kamen immer stärkere Zweifel und Kritik an der neoklassischen Theorie hervor. Der scharfe Kontrast aus theoretischen Modellen und empirischen Erkenntnissen ließ die Kapitalmarkttheorie in Erklärungsnot geraten.
Empirische Studien zeigten immer deutlicher, dass der Investor nicht immer 100% rational handelt und stellten damit das Paradigma der Kapitalmarkttheorie des homo oeconomicus, das idealtypische Menschenbild des ökonomisch rational handelnden und denkenden Marktteilnehmers, in Frage. Bereits Eugene Fama, Mitbegründer der Kapitalmarkttheorie und angesehener Ökonom, gestand im Jahre 1970 die Existenz von so genannten Anomalien, Phänomenen, die nicht mit der mit der Effizienztheorie vereinbar sind, tat diese jedoch als unzureichend ab, um an der Kapitalmarkttheorie zu zweifeln.
Aus einer Reihe von empirischen Widerlegungen und kritischen Auseinandersetzungen mit der klassischen Theorie entwickelte sich Ende der 70er Jahre eine Gegenbewegung, die zunächst als Anomalie-Literatur abgetan wurde. Eine Untersuchung über die Volatilität an der Börse von Robert Shiller aus dem Jahre 1981 öffnete die Pforten für diese vollkommen neue Forschungsrichtung, die erstmals psychologische Einflüsse auf die Preisbildung an Finanzmärkten untersuchte und verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse in die Modellbildung mit einbrachte. Die Studie von Shiller zeigt, dass Aktienkurse eine höhere Volatilität aufweisen als von der Effizienztheorie vorhergesagt.
Es wurden zahlreiche weitere Phänomene aufgedeckt, wie der Size-Effekt, wonach Firmen mit relativ geringer Kapitalisierung höhere risikobereinigte Renditen erzielen als von der klassischen Finanzierungstheorie prognostiziert. In den 90er Jahren wurden diese Anomalie-Studien weiter vertieft und brachten noch irritierende Erkenntnisse hervor, wie etwa das systematisch bessere Abschneiden so genannter value stocks im Vergleich zu den growth stocks.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitungeitungeitung
1.1 Problematik und Abgrenzung
1.2 Zielsetzung und Vorgehensweise der Arbeit
2. Abgrenzung der Behavioral Finance zur Kapitalmarkttheorie
2.1 Grundannahmen der Kapitalmarkttheorie
2.1.1 Markteffizienzhypothese
2.1.2 Theorie der rationalen Entscheidung
2.1.3 Grenzen des Rationalitätskonzepts
2.2 Kapitalmarktanomalien
2.2.1 Small- Cap- Effekt
2.2.2 Momentum- Effekt
2.2.3 Winner- Loser Effekt
2.2.4 Value- Growth Effekt
3. Behavioral Finance
3.1 Fundament der Behavioral Finance
3.2 Entscheidungsverhalten von Anlegern- Prospect Theorie
3.2.1 Loss Aversion und Reflection Effekt
3.2.2 Wertfunktion
3.2.3 Framing- Effekt
3.2.4 Mental accounting und Narrow Framing
3.2.5 Status- Quo- Bias, Endowment- effect, House money effect
3.2.6 Relative Bewertung von Wahrscheinlichkeiten
3.2.7 Four- fald pattern of risk attitudes
3.2.8 Dispositionseffekt
3.2.9 Sunk- cost- Effekt
3.3 Entscheidungshemmung
3.3.1 Kognitive Dissonanz
3.3.2 Kontrollbedürfnis
3.4 Informationsverarbeitung und –wahrnehmung
3.4.1 Heuristiken zur Bearbeitung der Informationsflut
3.4.1.1 Availability heuristic
3.4.2 Schnelle Urteilsfindung
3.4.2.1 Repräsentativheuristik
3.4.2.1.1 Base- rate neglect
3.4.2.1.2 Conjunction fallacy
3.4.2.1.3 Gambler´s fallacy
3.4.2.1.4 Sample- size neglect
3.4.2.2 Anchoring
3.5 Implikationen für das Anlegerverhalten
3.5.1 Über- und Unterreaktion
3.5.2 Overconfidence und Überoptimismus
3.5.2.1 Implikationen für den Kapitalmarkt
4. Empirische Studie zum Dispositionseffekt
4.1 Sunk- cost Effekt
4.2 Reflection Effekt, Loss Aversion, Framing und Mental accounting
4.3 Dispositionseffekt und Regretaversion
4.4. Status- quo Bias und Referenzpunkt
4.5 Einschätzung der aktuellen Situation auf dem Finanzmarkt
5. Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse und Ausblick
Anhang
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Four- fald risk pattern
Tabelle 2: Auswertung der ersten Frage
Tabelle 3: Auswertung der zweiten Frage
Tabelle 4: Auswertung der dritten Frage
Tabelle 5: Auswertung der vierten Frage
Tabelle 6: Auswertung der fünften Frage
Tabelle 7: Positionen der Wertpapiere von Frage 4b
Tabelle 8: Positionen der Wertpapiere von Frage 5b
Tabelle 9: Auswertung der sechsten und siebten Frage
Tabelle 10: Auswertung der achten Frage
Tabelle 11: Angabe von Gründen zur achten Frage
Tabelle 12: Auswertung der neunten Frage
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Kursverlauf der Bear Stearns Aktie, Februar bis Mai
Abbildung 2: Hypothetische Wertfunktion nach der Prospect Theorie
Abbildung 3: Entscheidungsgewicht für Gewinne und Verluste
Abbildung 4: Abnehmende Sensitivität in der Verlustzone
Abbildung 5: DAX Performance- Index
1. Einleitung
1.1 Problematik und Abgrenzung
Beinahe dreißig Jahre stand die These der Kapitalmarkteffizienz im Mittelpunkt der Finanzierungstheorie. Die Kapitalmarkttheorie unterstellt allen Akteuren am Markt rationales Verhalten und geht idealtypisch von vollkommenen Märkten aus. In den vergangenen Jahrzehnten kamen immer stärkere Zweifel und Kritik an der neoklassischen Theorie hervor. Der scharfe Kontrast aus theoretischen Modellen und empirischen Erkenntnissen ließ die Kapitalmarkttheorie in Erklärungsnot ge-raten. Empirische Studien zeigten immer deutlicher, dass der Investor nicht im-mer 100% rational handelt und stellten damit das Paradigma der Kapitalmarkt-theorie des homo oeconomicus, das idealtypische Menschenbild des ökonomisch rational handelnden und denkenden Marktteilnehmers, in Frage. Bereits Eugene Fama, Mitbegründer der Kapitalmarkttheorie und angesehener Ökonom, gestand im Jahre 1970 die Existenz von so genannten Anomalien, Phänomenen, die nicht mit der mit der Effizienztheorie vereinbar sind, tat diese jedoch als unzureichend ab, um an der Kapitalmarkttheorie zu zweifeln.1 Aus einer Reihe von empirischen Widerlegungen und kritischen Auseinandersetzungen mit der klassischen Theo-rie entwickelte sich Ende der 70er Jahre eine Gegenbewegung, die zunächst als Anomalie- Literatur abgetan wurde.2 Eine Untersuchung über die Volatilität an der Börse von Robert Shiller aus dem Jahre 1981 öffnete die Pforten für diese vollkommen neue Forschungsrichtung, die erstmals psychologische Einflüsse auf die Preisbildung an Finanzmärkten untersuchte und verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse in die Modellbildung mit einbrachte. Die Studie von Shiller zeigt, dass Aktienkurse eine höhere Volatilität aufweisen als von der Effizienztheorie vorhergesagt.3 Es wurden zahlreiche weitere Phänomene aufgedeckt, wie der Size- Effekt, wonach Firmen mit relativ geringer Kapitalisierung höhere risikobe-reinigte Renditen erzielen als von der klassischen Finanzierungstheorie prognos-tiziert.4 In den 90er Jahren wurden diese Anomalien- Studien weiter vertieft und brachten noch irritierende Erkenntnisse hervor, wie etwa das systematisch bes-sere Abschneiden so genannter value stocks im Vergleich zu den growth stocks.5 Heutzutage bekannt unter Behavioral Finance, hat dieses Forschungsgebiet ei- nen angesehenen und etablierten Stand in der Finanzwirtschaft. Die aktuelle Be-deutung dieses Wissenschaftszweiges wird bekräftigt durch die Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises im Jahr 2002 an den Psychologen Daniel Kahneman, einer der beiden Hauptvertreter und -begründer der Bewegung der Behavioral Finance.6
Die Behavioral Finance zieht Forschungsergebnisse von Kognitionspsychologen heran, um die Effizienztheorie zu hinterfragen und Alternativmodelle zu entwi-ckeln, die die Kapitalmarktanomalien zu erklären versuchen. Die Vertreter dieser modernen Finanzierungstheorie liefern somit die Antithese zur Effizienzmarkthy-pothese und gehen davon aus, dass Marktpreise weniger von fundamentalen Daten geprägt sind als von der Psychologie der Marktteilnehmer. Auf diese Weise versucht die Behavioral Finance mehr Realitätsnähe in die Modelle der Preis-bildung an Wertpapiermärkten einzubringen und ersetzt die restriktiven Thesen der Kapitalmarkttheorie bezüglich der Rationalität des Investors und der Effizienz der Kapitalmärkte durch realistischere Annahmen. Hauptangriffspunkte der Behavioral Finance sind hierbei die entscheidungstheoretischen Grundlagen der klassischen Finanzierungstheorie, die das Standard- Menschenbild des rationa-len Investors fundieren.
Aufgrund der begrenzten Möglichkeiten der Kapitalmarkttheorie, ungewöhnliche Geschehnisse an den Finanzmärkten zu erklären, ist das Thema Behavioral Finance äußerst relevant. Die ansteigende Akzeptanz von psychologisch begrün-deten Erklärungsversuchen der Kapitalmarktanomalien führt zu einer stetig wachsenden Bedeutung dieses modernen Forschungsgebiets.
1.2 Zielsetzung und Vorgehensweise der Arbeit
Im Rahmen dieser Arbeit soll der aktuelle wissenschaftliche Stand der Behavioral Finance dargestellt werden. Dabei wird zunächst die neoklassische Kapitalmarkt-theorie der modernen Behavioral Finance gegenübergestellt. Ein entscheidendes Kriterium für die Funktionalität der Modelle der Kapitalmarkttheorie ist die Infor-mationseffizienz von Finanzmärkten. Im zweiten Kapitel wird daher die Bedeu-tung der Markteffizienzhypothese als Ausgangspunkt der Kapitalmarkttheorie aufgeführt. Im weiteren Verlauf des Kapitels soll das Menschenbild des rational denkenden und handelnden Investors, dem homo oeconomicus, vorgestellt wer-den. Anschließend werden die Schwächen traditioneller Modelle bei der Erklä-rung und Beschreibung realen Kapitalmarktgeschehens im Rahmen von Kapital-marktanomalien aufgezeigt. Im dritten Kapitel wird diskutiert wie die Behavioral Finance diese Anomalien anhand von Erkenntnissen aus der kognitiven Psycho-logie zu erklären versucht. Schließlich wird diese Arbeit im vierten Kapitel mit einer empirischen Studie zum Dispositionseffekt abgerundet.
2. Abgrenzung der Behavioral Finance zur Kapitalmarkttheorie
2.1 Grundannahmen der Kapitalmarkttheorie
2.1.1 Markteffizienzhypothese
Die Hypothese der Markteffizienz entstand in den 60er Jahren und wurde maß-geblich geprägt durch den Finance- Professor Eugene Fama der University of Chicago. Die Theorie der Markteffizienz verzeichnete große Erfolge in den 70er Jahren und die University of Chicago wurde zum weltweiten Zentrum für die aka-demische Finanzierung. Der einflussreiche Finanzwissenschaftler Michael Jensen, Mitbegründer der Markteffizienztheorie, verkündete im Jahre 1978: „There is no other proposition in economics which has more solid empirical evidence supporting it than the Efficient Capital Market Hypothesis“7. Ab diesem Zeitpunkt galt die ECMH als unanfechtbar und transformierte sich von einer Theorie zur Dokt-rin.8
In einem informationseffizienten Kapitalmarkt spiegelt der Preis einer Aktie zu jeder Zeit alle relevanten Informationen wider. Anhand dieser Aussage lässt sich ableiten, dass es unmöglich ist für einen durchschnittlichen Investor den Markt konsistent zu schlagen, da bereits alle zugänglichen Informationen über die ak-tuelle sowie die zukünftige Performance in dem Aktienpreis berücksichtigt sind.9 Die Analysen, Prognosen und Informationen von Anlageberatern und Journalis-ten hinken demnach hoffnungslos dem tatsächlichen Geschehen hinterher. Die Börse ist ihrer Zeit also stets voraus.10 Der Börsenspekulant Kostolany um-schreibt diese Tatsache folgendermaßen: „Im allgemeinen sorgen Neuigkeiten nicht für neue Kurse, sondern die Kurse sorgen für neuen Gesprächsstoff. Dies gilt für Paris, London und New York. Bei Börsenschluss sucht jeder nach einer Erklärung für eine Kursabweichung oder Trendänderung, an die zwei Stunden zuvor noch keiner im Traum gedacht hätte.“11
Gemäß Fama unterscheidet man zwischen drei verschiedenen Formen von Markteffizienz abhängig von der für Investoren verfügbaren Information:
In einem schwach effizienten Markt beschränkt sich die relevante, verfügbare Information auf vergangene Daten und Renditen des Wertpapieres. Diese schwache Form der Markteffizienz besagt, dass es unmöglich ist auf der Basis von vergangenen Werten langfristig eine Outperformance am Aktienmarkt zu erzielen. „Aus den Kursverläufen der Vergangenheit kann nicht auf die Gegen-wart und Zukunft geschlossen werden.“12 Unter der Annahme von Risikoneutrali-tät bildet diese Theorie Konsens mit der so genannten Random Walk Theorie und geht konsequenterweise davon aus, dass Aktienkurse einem zufälligen Ver-lauf folgen und somit nicht vorhersehbar sind.13
Die zweite Ebene der Markteffizienz behauptet, dass es unmöglich ist Überrendi-ten zu erzielen anhand jeglicher öffentlich verfügbarer Information. Anders aus-gedrückt spiegelt der Aktienpreis in einem mittelstark effizienten Markt bereits alle öffentlichen zugänglichen Informationen wider. Demzufolge reagieren die Aktienkurse unmittelbar und direkt auf neue Informationen. Die mittelstarke Form der Markteffizienz kommt der Realität am nächsten. Man geht heute davon aus, dass der Aktienpreis zukunftsorientiert ist, da er die Erwartungen an die zukünfti-ge Performance einer Unternehmung widerspiegelt. Beinhaltet der aktuelle Ak-tienpreis stets jegliche öffentliche Informationen und zeigt die darauf basierenden Erwartungen an das Unternehmen, dann wäre konsequenterweise die Funda-mentalanalyse von Wertpapieren sinnlos. Für den Investor bedeutet dies, dass er mittels öffentlicher Informationen nicht auf zukünftige Renditen schließen kann und somit den Markt nicht konsistent schlagen kann.14
Ein Markt mit starker Effizienz umfasst außer den öffentlich verfügbaren Informa-tionen auch noch so genannte Insiderinformationen, die für den „normalen“ Marktteilnehmer nicht zugänglich sind. Auf diesen Märkten ist es jedoch sogar für Insider unmöglich langfristig Überrenditen zu erzielen. Die geheime Information wird schnell publik und entsprechend der These mittelstark effizienter Märkte unmittelbar in dem Preis reflektiert. Die direkte Folge dieser Hypothese wäre die Nichtvorhersehbarkeit von Aktienkursen.15
Heutzutage gibt es unzählige Untersuchungen, die die Theorie schwach effizien-ter Märkte von Fama belegen. Empirische Studien haben erwiesen, dass es nicht möglich ist den Kursverlauf einer Aktie anhand von vergangenen Werten zu prognostizieren. Neuere Erkenntnisse belegen sogar, dass die Rendite unterhalb des Durchschnitts an der Börse liegt, wenn man verschiedene Anlagestrategien befolgt, die auf technischen Analysen basieren.16 Aktienpreise verlaufen dem-nach vollkommen zufällig und sind nicht vorhersehbar. Als Konsequenz ergibt sich, dass technische Analysen, wie zum Beispiel die Chartanalyse, nicht aussa-gekräftig sind. Der Autor Burton Malkiel des Buches A random walk down Wall Street sieht die Chartanalyse sogar nahe der Kaffeesatzleserei.17
Die Wahrhaftigkeit der Theorie der mittelstarken Markteffizienz wurde ebenfalls anhand mehrerer empirischer Studien, den so genannten Event- Studies, be-legt.18 Investoren reagieren unmittelbar auf Nachrichten und veranlassen somit, dass öffentlich zugängliche Information direkte Auswirkungen auf den Aktienpreis hat. Die Abbildung 1 zeigt den Aktienkurs von Bear Stearns im Zeitraum von Feb-ruar bis Mai 2008. Am 17. März 2008 gab eine der größten Investmentbanken Bear Stearns seine schlechte Liquiditätsposition aufgrund von Fehlspekulationen in schlecht besicherte Hypotheken im Zuge der US- Hypothekenkrise bekannt. Diese Nachricht hatte einen rapiden Kursabfall zur Folge. Die Aktie sank von einst 58, 71 Euro im Februar auf ihren historischen Tiefpunkt von 2,84 Euro am 17. März 2008. Der Verlauf der Bear Stearns Aktie ist kein Einzelfall und zeigt deutlich, dass es nicht möglich ist durch öffentlich zugängliche Informationen eine Outperformance zu erzielen. Um den extremen Kursabfall der Bear Stearns Aktie bereits im Voraus spekulieren zu können, hätte es firmeninterner Information bedürft.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Kursverlauf der Bear Stearns Aktie, Februar bis Mai 200819
2.1.2 Theorie der rationalen Entscheidung
Das bedeutende Paradigma informationseffizienter Märkte geht von rational den-kenden und handelnden Marktakteuren aus. Rationalität setzt zwei Gegebenhei-ten voraus: Erstens aktualisiert der rationale Marktteilnehmer neue Informationen stets gemäß des Gesetzes von Bayes. Zweitens, handeln Menschen dann rational, wenn sie ihre Ressourcen so verwenden, dass ein maximaler Nutzen erzielt wird. Sie treffen daher Entscheidungen, die im Einklang mit der Subjektiven Er-wartungsnutzentheorie stehen.20 Die Theorie der rationalen Entscheidung bildet das entscheidungstheoretische Fundament der neoklassischen Finanzierungs-theorie. Diese Theorie definiert das ökonomische Menschenbild des homo oeco-nomicus und setzt sich aus folgenden drei Elemente zusammen: Der Subjektiven Erwartungsnutzentheorie, der Theorie rationaler Erwartungen und Bayes`Gesetz. Im Zentrum der Kritik der Behavioral Finance an der Kapitalmarkttheorie steht, dass durch die Theorie der rationalen Entscheidung standardisierte Menschen-bild des homo oeconomicus. Es ist daher unerlässlich sich zunächst die Grund- lagen dieser Theorie zu vergegenwärtigen. Um Subjektive Erwartungsnutzen-theorie zu verstehen, ist es zunächst notwendig die Begriffe des Risikos und der Ungewissheit voneinander abzugrenzen. Von Risiko spricht man, wenn die Ein-trittswahrscheinlichkeiten aller möglichen Entscheidungskonsequenzen bekannt sind, es jedoch unsicher ist welcher Umweltzustand eintreten wird. Sind die mög-lichen Eintrittswahrscheinlichkeiten eines Umweltzustandes nicht bekannt oder nur subjektiv schätzbar, so spricht man von Ungewissheit.21 Die Ökonomen Oskar Morgenstern und John von Neumann verfassten die so genannte Risiko-Nutzen- Theorie22 für Entscheidungen unter Risiko. Die Hauptaussage dieser Theorie ist, dass Marktteilnehmer so handeln, dass sie unter verschiedenen risi-koreichen Entscheidungskonsequenzen, diejenige auswählen, von der sie den maximalen Nutzen erwarten. Der Erwartungsnutzen wird bestimmt durch Summe aller Erwartungsnutzenwerte, die sich wiederum aus der Multiplikation des Nut-zens jeder möglichen Entscheidungskonsequenz mit ihrer Eintrittswahrschein-lichkeit ergeben.23 Da für Entscheidungen an Aktienmärkten keine objektiven Wahrscheinlichkeitsverteilungen existieren, ist davon auszugehen, „dass Wahr-scheinlichkeitsurteile über zukünftige Ereignisse oder Entscheidungskonsequen-zen immer einer gewissen Subjektivität unterliegen“24. Leonard Savage entwi-ckelte basierend auf diesen Erkenntnissen die Theorie des subjektiv erwarteten Nutzens, die besagt, dass Agenten in ungewissen Situationen Präferenzen an-hand des erwarteten Nutzens bilden. Diese Präferenzen richten sich nach der subjektiv empfundenen Eintrittswahrscheinlichkeit einzelner Entscheidungskon-sequenzen.25
Die Theorie rationaler Erwartungen beantwortet die Frage danach, wie Marktteil-nehmer ihre Erwartungen festlegen. Die Theorie erklärt durch so genannte dy-namische Modelle das Verhalten der Agenten. An Kapitalmärkten werden die Erwartungen an zukünftige Zahlungsströme bewertet. Die Entscheidungen sind somit zukunftsgerichtet. Erschwert wird die Entscheidungsfindung dadurch, dass Entscheidungskriterien in einer dynamischen Umwelt ständigen Veränderungen unterliegen. Endogene Variablen, wie z.B. Preise, richten sich nach Werten, die ihnen die Marktteilnehmer in der Zukunft zuschreiben. Rationale Erwartungen spiegeln alle zum Zeitpunkt ihrer Schätzung verfügbaren Informationen wider und sind unverzerrt. Konsequenterweise ergibt sich ein Zustand in dem die ursprüng-lichen Erwartungen über die Entwicklung einer Variablen sich nicht systematisch unterscheiden von der tatsächlichen Wertentwicklung. Fehlinformationen und damit verbundene Fehlprognosen gleichen sich gegenseitig aus und liegen nur an der objektiven Unsicherheit über die wirtschaftliche Entwicklung.26
Bayes` Gesetz ist ein Ergebnis aus der Wahrscheinlichkeitstheorie, dass nach dem Mathematiker Thomas Bayes benannt wurde. Die Subjektive Erwartungs-nutzentheorie sowie die Theorie rationaler Erwartungen finden nur Anwendung, wenn die Marktakteure gemäß des Gesetzes von Bayes ihre ursprünglichen Er-wartungen beim Aufkommen neuer Information zum Vorhersagewert dieser In-formationen aktualisieren.27 Der Satz von Bayes soll hier nur kurz an einem Bei-spiel erläutert werden, da er zum Einen äußerst kompliziert ist und zum Anderen eine tiefgehende Erklärung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.
Beispiel:
In einem medizinischen Beispiel trete der Sachverhalt, dass ein Mensch eine bestimmte Krankheit in sich trage, mit der Wahrscheinlichkeit von 0,0002 auf. In einem Screening- Test soll ermittelt werden, welche Personen diese Krankheit haben. Es wird angenommen, dass eine Krankheit anhand eines Testes mit einer Wahrscheinlichkeit von 99% erkannt werden kann, als Folge ergibt sich, dass der Test nur in 1% der Fälle falsch anschlägt, obwohl gar keine Krankheit vorliegt. Die Frage ist: Wie wahrscheinlich ist das Vorliegen der Krankheit, wenn der Test positiv ist?
Intuitiv würde man wahrscheinlich als Antwort 99% angeben, da dies der Testge-nauigkeit entspricht. Tatsächlich liegt aber nur zu 1,9% eine Krankheit vor, de-mentsprechend hat der Patient eine Chance von 98 % gesund zu sein, obwohl der Test ihn als krank einstuft. Dies liegt aber daran, dass die Wahrscheinlichkeit tatsächlich erkrankt zu sein (0,02%) um das Fünfzigfache geringer ist als die Wahrscheinlichkeit eines falschen Testergebnisses (1%).28
Anhand dieses Beispiels lässt sich bereits erahnen, dass Menschen ihre Erwar-tungen im Zuge neuer Informationen nicht stets nach den Regeln des Gesetzes von Bayes anpassen.
2.1.3 Grenzen des Rationalitätskonzepts
Das Paradigma der Rationalität ist der Kern der neoklassischen Kapitalmarkt-theorie. Auf ihr baut die Theorie der Markteffizienz auf, die wiederum unabding-bare Voraussetzung für die Anwendbarkeit weitere theoretischer Modelle, wie zum Beispiel das CAPM als das bedeutendste Preisbildungsmodell der Kapital-markttheorie und Markowitz` Portfoliotheorie, ist. Gibt es den homo oeconomicus in der Realität nicht, so hätte dies erhebliche Auswirkungen, da alle auf diesem Paradigma aufgebauten Theorien ebenso in Frage gestellt würden.
Es wird schnell ersichtlich, dass viele Thesen der Theorie der rationalen Ent-scheidung in der Realität keine Anwendung finden. Die Erwartungsnutzentheorie geht davon aus, dass der Agent alle möglichen Folgen seiner Entscheidung prognostizieren und ihre Eintrittswahrscheinlichkeiten schätzen kann. In der Rea-lität ist dies nicht möglich, da Entscheidungssituationen in der Regel komplex, intransparent und dynamisch sind. Ist eine Situation intransparent kennt der Agent nicht oder nicht genau alle entscheidungsrelevanten Parameter. Entschei-dungssituation werden als dynamisch beschrieben, wenn sich unabhängig von der eigenen Entscheidung entwickeln. Bei komplexen Entscheidungen stehen mehrere entscheidungsrelevante Merkmale in Wechselbeziehungen zueinander und unterliegen der subjektiven Wahrnehmung des Marktteilnehmers.29 Aufgrund der beschränkten Anwendungsmöglichkeit in der Realität des Nutzenerwar-tungsmodells von Morgenstern und von Neumann, wurden Alternativmodelle zur unbegrenzten Rationalität entwickelt. Das bedeutendste Modell ist die Prospect Theorie, die im weiteren Verlauf der Arbeit näher erklärt werden soll.
2.2 Kapitalmarktanomalien
Der Ausdruck Anomalie kommt aus dem Griechischen und bedeutet „entgegen der Regel“. Kapitalmarktanomalien sind Phänomene, die nicht mit der Effizienz-theorie vereinbar sind. In erster Linie sind dies empirisch beobachtete Effekte, die nicht im Einklang mit den theoretischen Erkenntnissen aus der Kapitalmarkttheo-rie stehen. Wie bereits erwähnt, enthielt schon der Aufsatz Famas aus dem Jahre 1970 Anzeichen auf Anomalien, tatsächlich hinterfragt wurde die klassische Theorie jedoch erst gegen Ende der 70er Jahre. Die bedeutende Studie von Robert Shiller über die Volatilität an Aktienmärkten aus dem Jahr 1981 ebnete den Weg zu einem neuen Forschungsbereich. Die Untersuchung zeigt, dass die Vola-tilität von Aktienkursen in der Realität wesentlich höher ist als von der Markteffi-zienzhypothese vorausgesagt wird. Demnach können sich Aktienpreise entgegen ihrer Fundamentalwerte verändern und konsequenterweise können Spekulatio-nen Aktienpreise von ihren Fundamentalwerten entfernen.30 Die nachfolgenden Jahre waren geprägt durch unzählige weitere Untersuchungen über das kurzfris-tige Verhalten von Aktienpreisen. Ein eindrucksvolles Beispiel ist der so genannte Januareffekt. Dieser Effekt zeigt, dass besonders kleine Unternehmen im Januar eine regelmäßige Outperformance von bis zu 4,8% im Vergleich zu anderen Mo-naten erzielen. Gleichzeitig gibt es keine Beweise dafür, dass das Risiko einer Investition in kleine Unternehmen im Januar steigt. Diese Beobachtung spricht gegen die Random Walk Theorie, da Aktienverläufe gemäß dieses Effektes eine gewisse Regelmäßigkeit aufweisen, die vorhersehbar ist.31
2.2.1 Small- Cap- Effekt
Der Small- Cap- Effekt oder auch Size- Effekt demonstriert, dass Aktien von Un-ternehmen mit geringer Marktkapitalisierung im Vergleich zu Firmen mit hoher Marktkapitalisierung eine deutliche Outperformance erzielen. Eine Studie, die die Existenz des Size- Effekts nachweist, wurde erstmals im Jahr 1981 in den USA für den Zeitraum von 1936 bis 1975 von Rolf Banz erstellt.32 In den vergangenen 15 Jahren konnte dieser Effekt, wie auch der oben beschriebene Januareffekt, nicht mehr nachgewiesen werden und es entstanden sogar Studien, die die Exis-tenz eines umgekehrten Size- Effekts belegten.33
Es gibt drei Erklärungsansätze für den Size- Effekt: Zum einen besteht die Mög-lichkeit, dass Investoren eine höhere Rendite von kleinen Unternehmen erwarten, um einen nicht im CAPM enthaltenen Risikofaktor zu kompensieren. Zweitens, könnte die Outperformance von kleinen Unternehmen aber auch rein zufällig sein. Entgegen dieser Annahme steht jedoch die Tatsache, dass der Size- Effekt in verschiedenen Ländern gleichzeitig vorzufinden war. Die dritte Möglichkeit ist, dass hier eine Ausnahme zur Markteffizienzhypothese vorliegt, die es Investoren über zwei Jahrzehnte erlaubte vorhersehbare Übergewinne zu erzielen.34
Da Investoren stets Strategien entwickeln, um diese Anomalien auszunutzen, ist es beinahe unmöglich durch sie langfristig Übergewinne zu erzielen. Sobald die Effekte entdeckt und dokumentiert werden, werden die Erkenntnisse zu öffentlich zugänglicher Information, und verschwinden ganz gemäß der These von mittel-stark effizienten Märkten.35 36
2.2.2 Momentum- Effekt
In den 90er Jahren wurden die Anomalie- Studien weiter ausgedehnt und brach-ten noch irritierendere Untersuchungen hervor, wie zum Beispiel den Momentum-Effekt, der die schwache Form der Markeffizienzhypothese in Frage stellt. Ge-mäß der Momentum Strategie, die im Jahr 1993 von Narafihan Jegadeesh und Sheridan Titman entdeckt wurde, neigen Preise individueller Aktien dazu, sich ähnlich zu verhalten wie in den vergangenen sechs bis zwölf Monaten. Demnach entwickeln sich Aktien, die sich in der Vergangenheit bewährt haben auch in der Zukunft positiv. Diese Aussage stellt eine direkte Herausforderung für die These der schwachen Markteffizienz dar, die von unvorhersehbaren Kursverläufen aus-geht. Die Momentum- Effekte führt zu einer Handelsstrategien, die Aktienportfo-lios auf der Basis ihrer Performance für eine Formationsperiode von 3 bis 12 Mo-naten folgendermaßen erstellt: Es werden Sieger- und Verliererportfolios zu-sammengestellt, wobei die Siegerportfolios erworben werden und die Verlierer- portfolios leer verkauft werden. Eine Studie von Schiereck und Weber aus dem Jahr 1995 belegt den Momentum- Effekt für den deutschen Aktienmarkt. Es wur-den Portfolios von jeweils 20 Sieger- und Verliereraktien ausgewählt auf Basis des zurückliegenden Kalenderjahres. Am Ende des darauffolgenden Jahres ver-bleibt eine durchschnittliche jährliche Renditedifferenz von 5,2%. Der Erfolg die-ser Handelsstrategie kann jedoch erheblich durch typische Marktfriktionen wie Transaktionskosten, Illiquidität oder Leerverkaufsbeschränkungen eingeschränkt werden.
2.2.3 Winner- Loser Effekt
Der Winner-Loser Effekt beschreibt eine weitere interessante Kapitalmarktano-malie, die ähnlich wie die Momentum Strategie vorgeht. Es handelt sich hierbei jedoch um eine langfristige antizyklische Handelsstrategie nach der Verliererport-folios gekauft und Siegerportfolios verkauft werden. De Bondt und Thaler haben ab dem Jahr 1933 Gewinner- und Siegerportfolios aus den vergangenen drei Jahren gebildet und deren Verhalten der darauffolgenden fünf Jahre untersucht. Das Ergebnis ist beeindruckend: Am Ende der Testperiode ergab sich eine Ren-ditedifferenz von 31,9%. Diese Renditedifferenz lässt sich nicht durch ein erhöh-tes Risiko gemäß dem CAPM erklären. De Bondt und Thaler erklären dieses Phänomen durch eine Überreaktion37 von Aktienpreisen. Die extremen Verlierer-aktien sind zu günstig geworden und steigen deshalb wieder an. Gleichzeitig wurden die extremen Gewinneraktien überbewertet und fallen wieder ab. 38
Diese These von De Bondt und Thaler wird durch die Psychologie unterstützt: Unternehmen mit schlechten Bewertungen und negativen Schlagzeilen gehören typischerweise zu den Verliereraktien. Der Investor überträgt diese negative Stimmung und pessimistische Zukunftsaussicht in den Aktienpreis, wodurch die Aktie unterbewertet wird. Typische Gewinneraktien sind in der Regel Unterneh-men, die über mehrere Jahre hinweg gute Nachrichten verzeichnen konnten. Diese optimistische und euphorische Stimmung wiederum spiegelt sich im Ak-tienpreis wider und führt zu einer Überbewertung der Aktie.39
2.2.4 Value- Growth Effekt
Der Value- Growth Effekt lässt sich durch ähnliche psychologisch Annahmen erklären. Hierbei unterteilt man die Aktienunternehmen in so genannte Growth und Value Firmen abhängig von der Kennzahl Marktwert/ Buchwert oder dem KGV. Wachstums- oder Growth- Aktien haben demnach ein relativ höheres KGV bzw. einen höheren Marktwert/ Buchwert im Vergleich zu den Value Aktien. Die hohen Markt-/ Buchwert- Kennzahlen der Growth- Aktien könnten, den auf positi-ven Nachrichten basierenden, übertriebenen Optimismus über die zukünftige Performance wiederspiegeln. In einer Studie untersuchten Josef Lakonishok, Andrei Shleifer und Robert Vishny den Value- Effekt anhand der Kennzahl Marktwert/ Buchwert von 1968 bis 1989.40 Als Resultat dieser Untersuchung kam heraus, dass Value- Aktien, im Durchschnitt eine 6,3% höhere Rendite pro Jahr erzielen als Growth- Aktien. Weitere Studien in anderen Ländern kamen zu ähnli-chen Ergebnissen. Fama und French versuchen in dem so genannten Three-Factor Model die Renditedifferenz von kleinen zu großen Unternehmen, sowie von Value- zu Growth- Aktien durch einen Risikoaufschlag zu erklären, der nicht in ihrer Marktwert/ Buchwert- Kennzahl oder der Höhe ihrer Marktkapitalisierung enthalten ist.41 Es konnten allerdings bis heute keine eindeutigen Beweise dafür gefunden werden, dass Value- oder kleine Unternehmen riskanter sind als Growth- oder große Unternehmen.42 Somit bleiben der Value- und der Size- Ef-fekt eine ernst zu nehmende Herausforderung für die ECMH, da öffentlich zu-gängliche Information offensichtlich dazu beitragen kann Renditen zu prognosti-zieren, ohne dass hierbei ein Risikoaufschlag erkennbar ist.
Aufgrund der bereits erwähnten und weiteren Anomalien konnte Ende der 90er Jahre nicht mehr die Rede von der Markteffizienzhypothese als Doktrin sein. Richard Thaler, Chicagoer Ökonom und einer der Hauptvertreter der Behavioral Finance, stellte 1999 provozierend fest: „A drunk walking through a field can create a random walk, despite the fact that no one would call his choice of direction rational.“43 Im folgenden Kapitel werden die fundamentalen Erkenntnisse und Annahmen der ständig an Aufmerksamkeit gewinnenden modernen Bewegung der Behavioral Finance vorgestellt, die versucht Antworten auf die Kapitalmarkt-anomalien im Bereich der Verhaltenspsychologie zu finden.
3. Behavioral Finance
3.1 Fundament der Behavioral Finance
Hauptangriffspunkt der Behavioral Finance ist das Paradigma des Rationalitäts-konzepts der klassischen Finanzierungstheorie. Es fällt schwer zu glauben, dass Investoren zu jedem Zeitpunkt und in jeder Situation rational handeln. Betrachtet man die Realität wird schnell bewusst, dass der Investor eher auf irrelevante In-formationen aus den Medien, so genannten Insidertips oder den Ratschlägen von Finanzgurus, reagiert, als auf die tatsächlich relevanten Informationen.44 Ein hohes Handelsvolumen basierend auf diesen fehlinterpretierten Informationen, kann zu erheblichen Preisstörungen an der Börse führen. Einige Wissenschaftler gehen sogar davon aus, dass ein sich Großteil des Handels auf den Kapitalmärk-ten auf noise zurückführen lässt.45 Zitiert man den Börsenguru André Kostolany, so reagiert die Börse gerade mal zu zehn Prozent auf Fakten. Alles andere sei demnach Psychologie.46 Die Markteffizienzhypothese steht im Kontrast hierzu, da sie von einem uninformierten Marktteilnehmer ausgeht, der eine passive Strate-gie verfolgt.47 Jedoch versucht die klassische Finanztheorie diesen Kritikpunkten durch zwei Argumente entgegenzuwirken: Erstens gleichen sich Fehleinschät-zungen uniformierter Händler auf lange Sicht aus. Ein hohes Handelsvolumen erhöht daher nicht das Risiko von dem oben genannten Phänomen des Noise trading. Das zweite Kontraargument besagt, dass die uniformierten Händler sys-tematisch Geld verlieren gegen die besser informierten Händler und von daher langfristig betrachtet den Markt verlassen müssen, oder aus ihren Fehlern ler-nen.48
Die Behavioral Finance geht aber davon aus, dass der Anleger systematisch zahlreichen Fehlern bei der Bewertung von Aktien unterliegt. Diese Fehleinschät-zung gleichen sich demnach nicht gegenseitig aus. Den informierten Anlegern sind häufig finanzielle Schranken oder andere Beschränkungen gesetzt, die ver-hindern, dass sie effektiv gegen die irrationalen Marktteilnehmer wetten können und somit die Preise auf ihrem informierten Niveau halten können. Als Folge ler-nen uninformierte Anleger nicht immer aus ihren Fehlern und werden daher nicht notwendigerweise aus dem Markt selektiert. Dieses Phänomen wird in der Wis-senschaft als Limits of Arbitrage bezeichnet. Sind diese Behauptungen wahr, hätte dies erhebliche Auswirkungen: Preise könnten demnach systematisch von ihren Fundamentalwerten abweichen und Märkte wären allokationsineffizient.49 Im Zentrum des folgenden Kapitels steht die Frage, warum Anleger systematisch Entscheidungsfehlern unterliegen und somit ständig gegen das Rationalitätskon-zept verstoßen. Im Zuge dessen werden weitere Phänomene irrationalen Verhal-tens näher untersucht und Alternativmodelle aus der kognitiven Psychologie vor-gestellt, die die bereits erwähnten und weitere Anomalien der Kapitalmarkttheorie zu erklären versuchen
3.2 Entscheidungsverhalten von Anlegern- Prospect Theorie
Die kumulative Prospect Theorie aus dem Jahr 1992 von Daniel Kahneman und Amor Tversky gilt als das zentrale Entscheidungsmodell der gesamten Behavioral Economics. Sie stellt eine Weiterentwicklung der ursprünglichen Prospect Theorie aus dem Jahr 1979 dar und gilt als eine psychologisch realistische Alternative zu Morgensterns und von Neumanns Erwartungsnutzentheorie. Die Prospect Theorie ist eine deskriptive Theorie menschlichen Risikoverhaltens. Dies impliziert, dass sie nicht sagt, wie man sich verhalten soll, sondern lediglich be-schreibt wie sich Menschen tatsächlich verhalten.
3.2.1 Loss Aversion und Reflection Effekt
Die Theorie beschreibt basierend auf empirischen Erkenntnissen wie Individuen sich gegenüber künftigen Gewinnen und Verlusten verhalten. Im Gegensatz zum Erwartungsnutzenmodell geht die Prospect Theorie nicht vom Vermögensstand als Träger des Nutzens aus, sondern nimmt an, dass die positive oder negative Abweichung von einem neutralen Referenzpunkt entscheidend ist.50 Hierbei läuft der Entscheidungsprozess in zwei Schritten ab:51 editing (etwa: Bearbeitung) und evaluation (Bewertung). Im ersten Schritt werden die erwarteten Konsequenzen, ausgehend von einem Referenzpunkt, als Gewinn oder Verlust kodiert. Im näch- sten Schritt werden die einzelnen möglichen Resultate evaluiert, wobei höhere Ergebnisse als Gewinn und niedrigere Ergebnisse als Verlust betrachtet werden. Die Nutzenfunktion für Gewinne und Verluste ist laut der Prospect Theorie voll-kommen unterschiedlich.52 Der Referenzpunkt ist in den meisten Fällen der Status- Quo, also der Ist- Zustand. Der Soll- Zustand wird ebenfalls benutzt, um ein Ergebnis als Verlust oder Gewinn zu kodieren. Beispielsweise kann man sich ein Jahresziel von Umsatz setzen. Den Betrag der unterhalb des gesetzten Umsat-zes liegt wird als Verlust kodiert und der Mehrbetrag oberhalb des Zielumsatzes dementsprechend als Gewinn wahrgenommen.
Anhand eines anschaulichen Gedankenexperiments soll die unterschiedliche Einstellung von Individuen gegenüber Gewinn und Verlust illustriert werden:
Stellen Sie sich vor, dass sich die USA auf den Ausbruch einer ungewöhn-lichen asiatischen Krankheit vorbereiten, von der erwartet wird, dass 600 Personen daran sterben werden. Es wurden zwei verschiedene Pläne vor-geschlagen, die Krankheit zu bekämpfen. Nehmen Sie an, dass die Folgen der beiden Pläne genau bekannt sind:
- Wenn Plan A umgesetzt wird, werden 200 Personen gerettet.
- Wenn Plan B umgesetzt wird, besteht eine Wahrscheinlichkeit von einem Drittel, dass 600 Personen gerettet werden, und eine Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln, dass niemand gerettet wird.
Von den Probanden wählten 72% den Plan A, die mehrheitliche Wahl ist dem-nach risikoavers: Die Aussicht, dass mit Sicherheit 200 Leben gerettet werden können ist angenehmer, als die risikoreiche Voraussage, bei der mit einem Drittel Wahrscheinlichkeit alle 600 Personen gerettet werden können.53
Einer zweiten Gruppe von Testpersonen wurde der gleiche Sachverhalt geschil-dert, jedoch wurden ihnen folgende beiden Alternativpläne vorgelegt:
- Wenn Plan C umgesetzt wird, werden 400 Personen sterben.
- Wenn Plan D umgesetzt wird, besteht eine Wahrscheinlichkeit von einem Drittel, dass niemand sterben wird, und eine Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln, dass 600 Menschen sterben werden.
In diesem Fall haben 78 % der Probanden den risikoreichen Plan D gewählt.54 Es ist leicht ersichtlich, dass die Pläne A und C und die Pläne B und D identisch sind. Lediglich die Darstellung der Alternativen als Gewinne und Verluste ist un-terschiedlich. Diese Darstellung wird von Kahneman und Tversky als Framing bezeichnet und hat einen signifikanten Einfluss auf das Risikoverhalten. Die Prä-ferenzen von diesen beiden Fällen zeigen ein bekanntes Phänomen: Entschei-dungen im Zusammenhang mit Gewinnen sind oftmals risikoavers, währenddes-sen Entscheidungen im Bereich von Verlusten eher risikoreich sind. Menschen weisen demnach unterschiedliche Verhaltensweisen in Bezug auf die Wahrneh-mung des Risikos von Verlusten und Gewinnen auf. Das Umschalten der Präfe-renzen von Risikoaversion zu Risikosuche wird von Kahneman und Tversky als „Reflection Effekt“55 und die Neigung zur Risikosuche bei drohenden Verlusten als „Loss Aversion“56 bezeichnet.
3.2.2 Wertfunktion
Bildet man dieses Risikoverhalten graphisch ab, so entsteht, wie aus der Abbil-dung drei ersichtlich, eine S- förmige Wertfunktion, mit Wendepunkt im Ursprung. Im Bereich der Gewinne verläuft die Funktion konkav und im Bereich der Verluste weist die Kurve eine konvexe Form auf. Die Krümmung der Funktion bildet das psychopysikalische Prinzip ab, dass der Unterschied von Gewinnen in Höhe von 10 Euro im Vergleich zu 20 Euro subjektiv als größer empfunden wird, als die Differenz von Gewinnen in Höhe von 110 Euro und 120 Euro. Dieselbe Bezie-hung zwischen Wertunterschieden besteht in Bezug auf Verluste. Der Referenz-punkt im Ursprung bedeutet, dass Menschen sich im Bereich möglicher Gewinne risikoscheu und im Bereich möglicher Verluste risikogeneigt verhalten. Gemäß der Wertfunktion reagieren Individuen extremer auf Verluste, als auf Gewinne. Die Enttäuschung einen gewissen Geldbetrag zu verlieren ist größer, als die Freude eines Gewinnes desselben Betrages.57
[...]
1 Vgl. Fama, E. (Efficient Capital Markets, 1970), S. 414.
2 Vgl. Fama, E. (Market Efficiency, 1998), S. 284.
3 Vgl. Shleifer, A. (Inefficient Markets, 2000), S. 16 f..
4 Vgl. Weber, M. (Genial einfach investieren, 2007), S. 80 f..
5 Vgl. Weber, M. (Genial einfach investieren, 2007), S. 76 ff..
6 Amos Tversky, der zweite Protagonist der Behavioral Finance Bewegung, starb zuvor.
7 Jensen, M. C. (Market Efficiency, 1978), S. 95.
8 Vgl. Langevoort, D. (Market Efficiency Revisited, 1992), S. 853.
9 Vgl. Shleifer, A. (Inefficient Markets, 2000), S. 1.
10 Vgl. Tvede, L. (Psychologie, 1991), S. 33.
11 Vgl. Tvede, L. (Psychologie, 1991), S. 33.
12 Weber, M. (Genial einfach investieren, 2007), S. 33.
13 Vgl. Shleifer, A. (Inefficient Markets, 2000), S. 5 f..
14 Vgl. Weber, M. (Genial einfach investieren, 2007), S. 33 f., 50.
15 Vgl. Weber, M. (Genial einfach investieren, 2007), S. 33.
16 Vgl. Weber, M. (Genial einfach investieren, 2007), S. 13.
17 Vgl. Malkiel, B. G. (Random Walk, 1990), S.111 ff..
18 Vgl. Fama, E. (Market Efficiency, 1998), S. 284.
19 Abrufbar unter: http://www.ariva.de/chart/index.m?boerse_id=1&secu=5122&zeitraum=4, besucht am: 12.05.2008
20 Vgl. Barberis, N./ Thaler, R. H. (Survey, 2005), S. 1.
21 Vgl. Laux, H. (Entscheidungstheorie, 2005), S. 23.
22 Die Risiko- Nutzen- Theorie ist auch bekannt unter den Begriffen „Erwartungsnutzentheorie“, „Risikopräferenztheorie“ oder „Bernoulli- Prinzip“.
23 Vgl. Laux, H. (Entscheidungstheorie, 2005), S. 164 ff..
24 Schroeder-Wildberg, U. (Entscheidungsverhalten, 1998), S. 10.
25 Vgl. Wollenhaupt, H. (Entscheidungen, 1982), S. 52 ff..
26 Vgl. Sargant, T. J. (Rational Expectations, o. J.)
27 Vgl. Bayes, T. (Chances, 1763), S. 370.
28 Vgl. Gigerenzer, G. (Skepsis, 2002), S. 15 ff..
29 Vgl. Schroeder-Wildberg, U. (Entscheidungsverhalten, 1998), S. 13 f..
30 Vgl. Shiller, R. (Volatility, 1979), S. 1190.
31 Vgl. Shleifer, A. (Inefficient Markets, 2000), S. 18 f..
32 Vgl. Banz, R. W. (Return, 1981), S. 3 ff..
33 Vgl. Weber, M. (Genial einfach investieren, 2007), S. 80 f..
34 Vgl. Brealey, R. A./ Myers, S./ Allen, F. (Corporate Finance, 2005), S. 342.
35 Vgl. Brealey, R. A./ Myers, S./ Allen, F. (Corporate Finance, 2005), S. 342.
36 Vgl. Schiereck, D./ Weber. M. (Momentum, 1999), S. 4 ff..
37 Die Phänomene von Über- und Unterreaktionen auf dem Kapitalmarkt werden noch ausführ-lich in Kapitel 3.5.2 beschrieben.
38 Vgl. De Bondt, W. F. M./ Thaler, R. (Overreaction, 1985), S. 793 ff..
39 Vgl. Shleifer, A. (Inefficient Markets, 2000), S. 17 f..
40 Vgl. Lakonishok, J./ Shleifer, A./ Vishny, R. W. (Investment, 1994), S. 1541 ff..
41 Vgl. Fama, E./ French, K. (asset pricing, 1996), S. 55 ff..
42 Vgl. Shleifer, A. (Inefficient Markets, 2000), S. 20.
43 Thaler, R. H. (Behavioral Finance, 1999), S. 14.
44 Dieses Phänomen wird als Noise Trading bezeichnet.
45 Vgl. Black, F. (Noise, 1986), S. 529 f..
46 Vgl. Kostolany, André (Börse, o. J.).
47 Vgl. Shleifer, A. (Inefficient Markets, 2000), S. 10.
48 Vgl. Gilson, R. J./ Kraakman, R. (Mechanisms, 1984), S. 581 ff..
49 Vgl. Klöhn, L. (Kapitalmarkt, 2006), S. 79 ff..
50 Vgl. Tversky, A.! Kahneman, D. (Decisions, 1981), S. 454.
51 Vgl. Tversky, A.! Kahneman, D. (Uncertainty, 1992), S. 297 ff..
52 Vgl. Kahneman, D./ Tversky, A. (Frames, 1984), S. 341 ff..
53 Vgl. Tversky, A./ Kahneman, D. (Decisions, 1981), S. 453.
54 Vgl. Tversky, A./ Kahneman, D. (Decisions, 1981), S. 453.
55 Kahneman, D./Tversky, A. (Prospect Theory, 1979), S. 268.
56 Kahneman, D./ Tversky, A. (Frames, 1984), S. 341.
57 Vgl. Tversky, A./ Kahneman, D. (Decisions, 1981), S. 454.
- Quote paper
- Nina Schnichels (Author), 2008, Behavioral Finance. Eine psychologische Analyse des Anlegerverhaltens samt Dispositionseffekt-Studie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126174
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