Wilhelm Meister inszeniert "Hamlet". Oder inszeniert Goethe ihn?
Dieser Essay beschäftigt sich mit der Frage der Intertextualität in der bildenden Literatur.
"Wilhelm Meister" macht neugierig auf "Hamlet" und lässt den Leser das Stück mit empfindsamen Augen sehen. Ist das Bildung? Bei seinem Aufenthalt mit den anderen Schauspielern auf dem Schloss des Grafen (3.Buch) bringt
eine flüchtige Bemerkung Jarnos (3.Buch, 8. Kapitel) Wilhelm Meister Shakespeares Werken näher,
und er scheint sie geradezu zu verschlingen (3.Buch, 11 .Kapitel, „Wilhelm hatte kaum einige Stücke
Shakespeares gelesen“ und ist insbesondere fasziniert von Shakespeares Schicksalsbegriff). Das
Schicksal ist für Wilhelm Meister eine bedeutungsvolle Größe, die den Menschen leitet: und zu einem
Ziel treibt. Allerdings sieht Wilhelm Meister im Laufe des fünften Buches ein, dass das
Schicksal nicht immer produktiv erscheint. Er erkennt vielmehr, dass es auch plötzlich und
zerstörerisch zuschlagen kann, was etwa der Tod seines Vaters ihm zeigt.
Schon zu Beginn des Romans hat Wilhelm sich wiederholt über den Schicksalsbegriff Gedanken
gemacht und versucht, Ereignisse und Handlungen in seinem Leben mit seinen Ideen hinter den
Worten „Schicksal“ oder „Bestimmung“ -insbesondere auf die Bestimmung zur Schauspielerei
bezogen- zu erklären. Vielfach hat er mit seinen Mitmenschen über diese Gedanken zu diskutieren
versucht, jedoch zumeist unbefriedigende Antworten erhalten (etwa im ersten Buch, 17. Kapitel: Der
Unbekannte erwidert auf Wilhelms Schicksalsanspielungen: [...]
William Shakespeares „Hamlet“1
Intertextualitäten in Goethes „Wilhelm Meister“2
Ein Essay
Wie kommt Wilhelm Meister zu Shakespeares Stücken?
Bei seinem Aufenthalt mit den anderen Schauspielern auf dem Schloss des Grafen (3.Buch) bringt eine flüchtige Bemerkung Jarnos (3.Buch, 8. Kapitel) Wilhelm Meister Shakespeares Werken näher, und er scheint sie geradezu zu verschlingen (3.Buch, 11 .Kapitel, „Wilhelm hatte kaum einige Stücke Shakespeares gelesen“ und ist insbesondere fasziniert von Shakespeares Schicksalsbegriff). Das Schicksal ist für Wilhelm Meister eine bedeutungsvolle Größe, die den Menschen leitet: und zu einem Ziel treibt. Allerdings sieht Wilhelm Meister im Laufe des fünften Buches ein, dass das Schicksal nicht immer produktiv erscheint. Er erkennt vielmehr, dass es auch plötzlich und zerstörerisch zuschlagen kann, was etwa der Tod seines Vaters ihm zeigt.
Schon zu Beginn des Romans hat Wilhelm sich wiederholt über den Schicksalsbegriff Gedanken gemacht und versucht, Ereignisse und Handlungen in seinem Leben mit seinen Ideen hinter den Worten „Schicksal“ oder „Bestimmung“ -insbesondere auf die Bestimmung zur Schauspielerei bezogen- zu erklären. Vielfach hat er mit seinen Mitmenschen über diese Gedanken zu diskutieren versucht, jedoch zumeist unbefriedigende Antworten erhalten (etwa im ersten Buch, 17. Kapitel: Der Unbekannte erwidert auf Wilhelms Schicksalsanspielungen: „Leider höre ich schon wieder das Wort Schicksal von einem jungen Manne aussprechen, der sich eben in einem Alter befindet, wo man gewöhnlich seinen lebhaften Neigungen den Willen höherer Wesen unterzuschieben pflegt.“ Diese Aussagen schwächen die Stellung des Schicksals gegenüber der Vernunft ab.), doch nun nimmt Wilhelm Meister durch die Komplexität der Shakespeareschen Charaktere die Erlebnisse und „Schicksale“ anderer Personen wahr und beginnt sich mit ihnen zu identifizieren.
So erkennt er in Shakespeares Stücken die Werke „eines himmlischen Genius [ ], der sich den Menschen nähert, um sie mit sich selbst auf die gelindeste Weise bekannt zu machen. Es sind keine Gedichte! Man glaubt vor den aufgeschlagenen, ungeheuren Büchern des Schicksals zu stehen, in denen der Sturmwind des bewegtesten Lebens saust und sie mit Gewalt rasch hin und wider blättert.“ (3 Buch, l1. Kapitel) Wilhelm fährt fort mit seiner eigenen Bestimmung zu diesen Stücken hin: „Alle Vorgefühle, die ich jemals über Menschheit und ihre Schicksale gehabt, die mich von Jugend auf, mir selbst unbemerkt, begleiteten, finde ich in Shakespeares Stücken erfüllt und entwickelt.“ (3. Buch, l1. Kapitel). Sein Fanatismus steigert sich bis zum vierten Buch sogar bis zur Konstruierung von Parallelen zwischen seinem und Shakespeares Vornamen, und er sieht in Shakespeare einen „Freund“ und „Pate[n]“.
Nach mehrfachem Lesen des Stückes „Hamlet“ ist schließlich (4. Buch, 3. Kapitel) Wilhelms Entscheidung gefallen: er will es unbedingt inszenieren. Voller Begeisterung erzählt er seinen Bekannten und Freunden von jenen spirituellen Erfahrungen, die er selbst bei der Lektüre des Stückes hatte - er hat festgestellt, dass er sich mit Hamlet identifiziert und die gesamte Handlung als Hamlet verfolgt hat. Dies -so hat er mittlerweise erkannt- sei jedoch nicht in Shakespeares Sinne gewesen, da der Blick für den Gesamtzusammenhang des Stückes verloren gehe, wenn man sich auf eine einzige Person konzentriere. Wilhelm beginnt also, Shakespeares Werk zu analysieren und charakterisiert Hamlet unter Berücksichtigung der Tatsache, dass dieser aus königlichem Hause stammt und deshalb ein wenig weltfern und unerfahren agieren müsse. Diese Voraussetzungen für Hamlets Verhalten seien nämlich von entscheidender Wichtigkeit für das Verständnis des Stückes. Wilhelms Freundeskreis ist begeistert von seinem Elan und lässt sich anstecken: „Jeder nahm sich vor, auch irgendein Stück auf diese Art zu studieren und den Sinn des Verfassers zu entwickeln.“ (4. Buch, Ende 3. Kapitel).
Wie unterscheiden sich Wilhelms Ansichten über Shakespeare und die Inszenierung des „Hamlet“ von Serlos Ansichten? Welche Aspekte des „Hamlet“ werden aufgegriffen?
Zu Beginn des dreizehnten Kapitels des vierten Buches kommt es zu einer Diskussion zwischen Wilhelm Meister und Serlo, in deren Verlauf auch „Hamlet“ zum Gesprächsgegenstand wird, Wilhelm ist glücklich, in den Schauspielern kompetente Gesprächspartner gefunden zu haben, die ebenso gern wie er Stücke analysieren und sich Gedanken zu einer möglichen Inszenierung machen. Doch Serlo steht nicht annährend so ernsthaft hinter einer „Hamlet“-Inszenierung wie Wilhelm. Er gibt offen zu, gern die Rolle des Polonius übernehmen zu wollen und schlägt seine Schwester Aurelie als Ophelia vor. Aurelie jedoch reagiert mit Unmut auf diesen plumpen Versuch, sie mit Wilhelm zu verkuppeln. Wilhelm scheint von diesen Vorgängen nichts mitzubekommen und ist völlig in seine Interpretation versunken. Und schließlich legt er erneut „nach seiner Art weitläufig und lehrreich“ (4. Buch, 13. Kapitel) seine Ansichten über Hamlets Schicksal dar, welcher zunächst den Tod seines Vaters zu beklagen hat und dann auch seine Mutter verliert, die seinen Onkel heiratet. Sehr angetan ist Wilhelm von der Erscheinung des Geistes von Hamlets Vater, der diesen darauf aufmerksam macht, dass er von seinem Onkel -also seinem Stiefvater- ermordet wurde; und er beschreibt emphatisch den Auftrag des Geistes, seinen Tod zu rächen. Hier zitiert Wilhelm „Hamlet“ mit, „Die Zeit ist aus dem Gelenke; wehe mir, daß ich geboren ward, sie wieder einzurichten.“ (4. Buch, 13. Kapitel)3 und erläutert die Geisteshaltung Hamlets mit den Worten, „eine große Tat [sei] auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist“.
Ähnlich charakterisiert er im vierzehnten Kapitel des vierten Buches Ophelia -nur dass es in ihrem Fall die Liebe zu Hamlet ist, der die junge unerfahrene Frau nicht gewachsen ist. Unschuldig, verwirrt und verängstigt von der Heftigkeit menschlicher Emotionen und derer Komplexität „bricht“ „ihr Herz“; sie verliert den Verstand und begeht Selbstmord. Aurelie ist tief bewegt von dieser präzisen Charakterskizze und bricht in Tränen aus. Nachdem sie sich intensiver mit ihrer Rolle auseinandergesetzt hat, führen sie und Wilhelm im sechzehnten Kapitel des viertes Buches erneut eine Diskussion über den Charakter der Ophelia und über ihre Lieder, die nach Wilhelm latente „Sehnsucht“ und „Lüsternheit“ wieder spiegeln.
Serlo. hingegen bringt in seinen Diskussionen mit Wilhelm Meister kein künstlerisches Verständnis auf-in seinem Sinne liegt noch im fünfzehnten Kapitel des vierten Buches eine Kürzung des Stückes auf drei Akte, der Wilhelm natürlich nicht zustimmt, sie im Gegenteil mit der kurzen Umreißung seines „Hamlet“-Verständnisses „der Held hat keinen Plan, aber das Stück ist planvoll“ ablehnt und auf Authentizität besteht. Für ihn sind Shakespeares Werke die „Werk[e] eines himmlischen Genius“ (3. Buch, 11. Kapitel), an die auf keinen Fall Hand gelegt werden darf. Nach Wilhelm spiegelten sie eine „vollkommene Harmonie“ wider (5.Buch, 4. Kapitel), was Serlo nicht akzeptieren will. Wieder kommt es zu einer Diskussion über eine Kürzung oder Nicht-Kürzung des Stückes. Schließlich kommt Wilhelm zu dem Schluss, die „großen, innern Verhältnisse der Personen und der Begebenheiten“ (5. Buch, 4. Kapitel) unverändert zu lassen, jedoch den Ort des Geschehens auf Norwegen zu begrenzen, da die Unruhen in Norwegen (5. Buch, 4. Kapitel) das wichtigste Motiv des Stückes seien. Darstellen will Wilhelm Norwegen jedoch lediglich durch das Bühnenbild von Schiffen und Meer, das unbeweglich bleibt. Seine Begründung hierfür ist die, dass die Engländer, für die Shakespeare seine Stücke geschrieben habe, Flottenszenen gewohnt seien, während derartige Szenen den deutschen Zuschauer „zerstreue[n] und verwirre[n]“ (5.Buch, 5. Kapitel). Von der von Serlo vorgeschlagenen Zusammenfassung von Rosenkranz und Güldenstern in einer Person will Wilhelm dagegen nichts wissen. Für ihn sind die beiden Freunde Hamlets interdependente Charaktere, die miteinander spielen (-) Wortspiele). Würden sie zusammengefasst, weil sie -so Serlo- keine eigenen Persönlichkeiten vorweisen, fiele ihr Funktion als komisches Paar weg, was dem Stück schade (5.Buch, 5. Kapitel).
Letztlich (5.Buch, 6. Kapitel) fallen bei Wilhelms Bearbeitung des Stückes doch Personen weg, und dennoch erheben sich für die kleine Schauspieltruppe Besetzungsprobleme (vgl. nächste Fragestellung).
Ferner beschäftigen die Schauspieler Probleme der Inszenierung. Zunächst stellt das Aussehen Hamlets einen Streitpunkt dar, der „fett“ und kurzatmig (5. Buch, 6. Kapitel) sein soll, was eine wörtliche Übersetzung des Originalstückes darstellt, in welchem Hamlet „fat and scant of breath“(V.2, 289), was jedoch nach heutigem Forschungsstand bedeuten soll, Hamlet schwitze und ringe nach Atem, weil er zuvor gekämpft hat. Wilhelm Meister kann seinen „fetten Hamlet“ auch nicht durchsetzen, da die anderen Schauspieler davon überzeugt sind, die Zuschauer sehen lieber einen ästhetischen Jüngling in der Rolle des tragischen Helden. Eine weitere Schwierigkeit stellt das lebensgroße Gemälde des toten Königs dar, welches die Königin ansehen soll, während Hamlet sich mit dein Geist auseinandersetzt und welches eigens angefertigt werden muss, ebenso wie ein Portrait des Geistes.
Inwieweit gibt es Entsprechungen zwischen den Charakteren des "Wilhelm Meisters" und denen des "Hamlet"?
Zunächst gebe ich die Besetzungsliste an, wie sie im fünften Kapitel des fünften Buches aufgeführt wird: Wilhelm spielt den Hamlet, da er sich mit diesem Charakter identifiziert; Serlo spielt den Polonius, Aurelie Ophelia, Laertes den Laertes. Philine übernimmt die Rolle der Königin, der Pedant die des Königs, ein unbekannter Jüngling die Rolle des Horatio, Elmire, die Tochter des „alten Polterers“ spielt Rosenkranz, während eine Puppe als Güldenstern herhalten muss. Für die Rolle des „rauhen Pyrrhus“ im Stück im Stück fällt die Wahl auf den leicht sprachbehinderten Souffleur. Für die Rolle des Geistes meldet sich schriftlich ein Schauspieler, der nur zu seinem Auftritt erscheinen und dann wieder verschwinden werde. Nach einigem Zögern akzeptiert man dieses mysteriöse Angebot; bei der zweiten Aufführung, bei welcher der Geist nicht mehr anwesend ist, übernimmt der alte Polterer dessen Rolle, Im zwölften Kapitel des fünften Buches legitimiert das Lob über die schauspielerischen Leistungen die Besetzung. Der Souffleur erntet Lob für seinen rauhen Pyrrhus, Laertes und Wilhelm für ihre Fechtszene am Grab und Ophelia für ihre Trauer. Auch der Pedant wird gelobt, da er so schlecht spielt, dass man „ihm wirklich nicht unrecht [tut], wenn [man] ihn [ ] einen zusammengeflickten Lumpenkönig“(5. Buch, 13. Kapitel) nennt. Aber es ist gerade die Besetzung des Geistes oder vielmehr die Tatsache, dass es sich um einen echten Geist zu handeln scheint, die verdeutlicht, dass es Parallelen zwischen „Wilhelm Meister“ und „Hamlet“ gibt:
In der Szene, in der der Geist Hamlet und seinen Gefährten, erscheint (I.4, 40: Horatio: „Seht, Prinz, es kommt.“ Hamlet: „Engel und Gnadenbringer, steht uns bei! Sei du ein Geist des Heils, sei Troll, verdammter“) und erklärt (I.5, 9), er sei seines –Hamlets- Vaters Geist, findet ein Illusionsbruch statt, oder vielmehr eine Ebenenüberblendung, in der Hamlet und Wilhelm eins werden. Denn Wilhelm befindet sich in der gleichen Ausgangsposition wie Hamlet. Er kommt aus gutem Hause, hätte alle Möglichkeiten gehabt, über die Einflüsse seines Vaters an einen Beruf zu gelangen; nun ist dieser Vater gestorben, und er weiß nicht recht, was er mit seinem Leben anfangen soll In dieser Situation spielen der Jüngling, der Pedant und Wilhelm die Geistszene, in der Wilhelm tatsächlich über das plötzliche Erscheinen des Geistes erschrickt und nur mit „halber Stimme“ (5. Buch, 11. Kapitel) seinen Text aufsagen kann: „Ihr Engel und himmlischen Geister, beschützt uns!“ und „Sei du ein guter Geist, sei ein verdammter Kobold [ ]“.
Bei dem Ausspruch des Geistes jedoch, er sei der Geist „[s]eines Vaters“, tritt „Wilhelm einige Schritte schaudernd zurück“ und glaubt den Geist seines Vaters vor sich zu sehen. Völlig verblüfft spielt er von da an nicht mehr seine Rolle, sondern er ist der verstörte Sohn, der einen Geist gesehen hat. Und auch Wilhelm bekommt einen Rat von dem Geist, nur ist es nicht der Auftrag, den Tod des Vaters zu rächen. Der Geist hinterlässt seinen Umhang, auf dessen Saum die Worte „Zum ersten- und letztenmal! Flieh! Jüngling, flieh!“ (5. Buch, 13. Kapitel) gestickt sind. Kurz darauf bricht ein Brand aus, und die Requisiten der Schauspieltruppe werden vernichtet. Doch Wilhelm flieht trotzdem nicht. Und auch Aurelies Tod ändert nichts an diesem Festhalten an der Schauspielerei. Aurelies Tod ist eine weitere Entsprechung der beiden Werke, da sie sich -wie ihr Charakter Ophelia- bewusst tötet, Ophelia durch Ertränken, Aurelie dagegen dadurch, dass sie sich kalter Zugluft aussetzt und an einer Lungenentzündung stirbt. Beide Charaktere sind zu schwach zu überleben und wählen die Flucht aus dem Leben durch Selbstmord.
Zuletzt ist die Entsprechung der Metaebenen zu nennen, denn sowohl Shakespeares als auch Goethes Held betreiben Texttheorie/Quellenanalyse und setzen sich mit dem Theater auseinander. So nutzt Hamlet die Künste einer Schauspieltruppe, um seinen Vater über sein Wissen von dem Mord in Kenntnis zu setzen. Hierbei greift er einmal auf ein antikes Stück zurück, das den Tod des Priamus darstellt, und inszeniert im Weiteren seine eigene Geschichte und den Mord an seinem Vater/Im Roman „Wilhelm Meister“ sind viele Dialoge der Antagonisten zu finden, in denen diese sich mit Begrifflichkeiten der Theatertheorie auseinandersetzen und interpretieren. So findet im siebten Kapitel des fünften Buches eine Diskussion über das Pro und Contra von Roman und Drama statt. Das Ergebnis dieser Diskussion ist, dass ein Roman von „Gesinnungen und Begebenheiten“ spreche, während im Drama mehr Wert auf Charaktere und deren Taten gelegt werde; beide Formen beschäftigen sich jedoch mit der menschlichen Natur und ihrem Handeln. Im Roman finde man einen leidenden, im Drama einen handelnden Helden; im Drama weiterhin das Eingreifen des Schicksals oder Zufalls in Gestalt der Hybris zum Beispiel, was im Roman nicht gegeben sei, da der Held dort aus eigenen Antrieben handele. Außerdem sei die Romanhandlung behäbiger, während das Drama facettenreich und theatralisch sei. Im Hinblick darauf, dass Hamlet „eigentlich auch nur Gesinnungen“ habe und „Begebenheiten zu ihm [stoßen]" (5. Buch, 7. Kapitel), ähnele das Stück nach Wilhelm dem Roman; da es jedoch von einem schicksalhaften Initialkonflikt ausgehe, sei es Tragödie zu nennen, denn der Held wird, unschuldig schuldig, sein Handeln ist nicht selbstbestimmt, und zwangsläufig endet das Stück in einer Katastrophe.
Abschließend ist zu bemerken, dass eine deutliche Entsprechung innerhalb der Charaktere von Wilhelm, Philine und Laertes in „Wilhelm Meister“ und Hamlet, Ophelia und Laertes im „Hamlet“ besteht. Sowohl Philine und Laertes als auch Ophelia und Laertes sind zusammengehörige Charaktere. In dem ersten Fall handelt es sich um eine platonische Freundschaft, im zweiten um eine Schwester-Bruder-Beziehung. Im ersten Fall kommt Wilhelm hinzu, und es entsteht eine Dreierfreundschaft, ebenso wie zwischen Hamlet und Laertes und Ophelia, Wilhelms wie auch Hamlets Vater sind tot, die Söhne orientierungslos. In „Hamlet“ versucht Laertes, Ophelia von der Liebe zu Hamlet abzubringen, in „Wilhelm Meister“ versucht Laertes, Wilhelm zu erklären, dass Philine eine schillernde Persönlichkeit ist, die ihr Leben genießt und keine feste Bindung eingehen will (2. Buch, 4. Kapitel). Da sie jedoch keine labile Persönlichkeit ist, entscheidet sich Goethe für einen schlichten Fortgang Philines mit einem Offizier (5. Buch, 15. Kapitel) und eine Entsprechung zwischen Aurelie und Ophelia, welche so weit geht, dass diese sich im sechzehnten Kapitel des fünften Buches vorsätzlich tötet. Ihr Auftrag an Wilhelm ist, ihren Tod zu rächen, wobei die Rache gegen Serlo gerichtet ist, der ihr emotionales Spiel als „übertrieben“ bezeichnet hat (5. Buch, 16. Kapitel).Und wieder befindet sich Wilhelm in der gleichen Situation wie Hamlet. Er hat den Auftrag, den Tod eines geliebten Menschen zu rächen.
Was lässt sich aufgrund dieser textlichen Beobachtungen über den Bildungsanspruch des "Wilhelm Meisters" sagen?
Über den Bildungsanspruch ist anzumerken, dass er in den metatextlichen Überlegungen der Schauspieler, in ihrer Auseinandersetzung und Reflexion, mit Literatur -und auch Bildung- deutlich gespiegelt wird. Wichtig bei dem Begriff der Bildung ist nämlich das Reflektieren, das Aufstellen eigener Theorien, die später immer noch verworfen werden können; doch ausschlaggebend ist die aktive Auseinandersetzung mit dem Text. In diesem Fall beschäftigen sich die Schauspieler intensiv mit „Hamlet“ und bauen ihre Aufführung auf das klassische Prinzip von prodesse und delectare auf: nützen und unterhalten. Letzteres ist bereits durch das Stück gewährleistet, prodesse -so untermauert Wilhelm implizit- bedeutet in diesem Falle, dass zentrale Szenen des „Hamlet“ verstanden werden. So misst er der Geistszene eine große Bedeutung bei Und auch das Stück im Stück des „Hamlet“ wird mit viel Liebe zum Detail inszeniert, da der Zuschauer hier auf jeden Fall die Metaphorik des Stücks im Stück verstehen muss, um Anspielungen im Folgenden nachvollziehen zu können. Seitens der Zuschauer lässt sich das klassische Paar eleos und phobos finden. Der Zuschauer macht im Laufe des Stücks eine Katharsis durch, eine Art inne Reinigung, die hervorgerufen wird durch die Reflexion über das Stück. Er empfindet phobos (Furcht) über das Schicksal, das den Helden plötzlich und unvorbereitet trifft und auch den Zuschauer überrumpeln könnte und den Untergang des Helden, aber zugleich fühlt er am Ende der Aufführung die eleos (Erleichterung) darüber, dass es nicht sein Schicksal ist, welches dort auf der Bühne dargestellt wird.
Und auch die Schauspieler selbst sind von diesen Empfindungen betroffen, da sie sich intensiv mit den Charakteren auseinandersetzen, welche sie darstellen. Allein Aurelie gibt ja im fünfzehnten Kapitel des vierten Buches zu, wie sehr sie sich ihrer Ophelia ähnlich fühlt. Und auch Wilhelm identifiziert sich mit seinem Charakter und wird so auf seine eigenen Gefühle in Bezug auf seinen Vater aufmerksam (in der Geistszene). Dieser emotionale Zugang zeigt, dass durch die Auseinandersetzung mit dem Werk „Hamlet“ sowohl die Schauspieler als auch das Publikum gebildet werden.
[...]
1 Günther, Frank (Hg.), William Shakespeare. Hamlet, München: DTV, 1997.
2 Bahr, Erhard (Hg.), Johann Wolfgang Goethe. Wilhelm Meisters Lehrjahre, Stuttgart: Reclam, 1982.
3 Günther, Frank (Hg.), William Shakespeare. Hamlet, München: DTV, 1997. Hier heißt es: “The time is out of joint. O curséd spite, that ever I was born to set it right.” (I.5)
- Quote paper
- Stephanie Lipka (Author), 2000, William Shakespeares "Hamlet" - Intertextualitäten in Goethes "Wilhelm Meister", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126071
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