Am Anfang des konstitutionellen Experiments, auf das sich der russische Zar und die verkrustete autokratische Bürokratie als Folge der revolutionären Unruhen der Jahre 1904 bis 1905 einlassen
mussten, stand unweigerlich die Billigung von bürgerlichen Freiheiten und Rechten. Mit der Unterschrift unter das Manifest des 17. Oktober wurde das Ende der zarischen Autokratie eingeleitet. Doch nur unter dem Eindruck der sich immer mehr verschärfenden Krise und aus Angst um den Fortbestand der zarischen Herrschaft, konnte sich Kaiser Nikolaj II. zu diesem ihm zuwiderlaufenden Vorgehen entschließen. Doch am Anfang dieser Entwicklung steht ein anderer Mann, Sergej Juljewitsch Graf Witte, der nach glänzender Karriere 1903 in Ungnade gefallen war und nun auf eine sich ihm darbietende neue Chance wartete. Mit seinem Ruf als Repräsentant eines modernen und liberalen Russlands erschien er vielen als der Retter in der Not: Bald nach seiner Rückkehr aus Portsmouth kam der ehemalige Finanzminister mit den Überlegungen zur Bulygin-Duma in Kontakt. Dieser war nun zu der Überzeugung gelangt, dass die Konzession des Kaiserlichen Manifests vom 6. August 1905 mit der Schaffung einer beratenden Versammlung nicht mehr ausreiche, um die Oberhand über die Krise zu gewinnen. Bei seiner Audienz beim Zaren am 9. Oktober machte dies Witte in aller Offenheit deutlich: Russland stünde nun vor der Wahl, mit Hilfe einer Militärdiktatur die Oberhand zu gewinnen oder durch Liberalisierung das Russische Reich zu erneuern. Mit der Unterschrift des Zaren unter das Oktobermanifest wurde ein Rahmen gegeben, innerhalb dessen die unversöhnlichen Spannungen zwischen dem russischen Staat – Zar und Hofaristokratie, Regierung und Bürokratie – und der russischen Gesellschaft, hätten abgebaut werden können. Doch angesichts des fortwährenden Misstrauens der Bevölkerung gegenüber dem kaiserlichen Versprechen, bürgerliche Freiheiten und
konstitutionelle Reformen einzuleiten, das durchaus nicht unbegründet schien4, und dem sich schließlich abzeichneten Ergebnis, konnte dieses Ziel nicht erreicht werden. Denn beide Seiten – Regierung und Opposition – mussten sich an die Spielregeln der neuen Ordnung halten, doch in Russland waren weder der Monarch noch die Intelligentsia dazu bereit. Mit der Folge, dass das konstitutionelle Zwischenspiel, das in seiner Anfangsphase durchaus die Möglichkeit hatte, in einer konstitutionellen Monarchie zu münden, wirkungslos blieb. [...]
Inhaltsverzeichnis
1 Das Oktobermanifest und der Weg zu den Staatsgrundgesetzen
1.1 Das Manifest vom 17. Oktober 1905 – Einleitung des Endes der zarischen Herrschaft
1.2 Die Regierung Witte und der Weg zu einer politischen Öffentlichkeit
2 Die erste russische Staatsduma
2.1 Die Erwartungen und Hoffnungen zu Beginn der ersten Duma
2.2 Die Eröffnung der Staatsduma
2.3 Das Verschärfung der Lage
2.3.1 Die beiden Seiten beziehen ihre Position
2.3.2 Die Vorschläge zur Lösung der Agrarfrage
2.4 Die Auflösung der Ersten Duma und das Vyborger Manifest
2.5 Der Beginn eines parlamentarischen Zwischenspiels
Literaturverzeichnis
1 Das Oktobermanifest und der Weg zu den Staatsgrundgesetzen
1.1 Das Manifest vom 17. Oktober 1905 – Einleitung des Endes der zarischen Herrschaft
Am Anfang des konstitutionellen Experiments, auf das sich der russische Zar und die verkrustete autokratische Bürokratie als Folge der revolutionären Unruhen der Jahre 1904 bis 1905 einlassen mussten, stand unweigerlich die Billigung von bürgerlichen Freiheiten und Rechten. Mit der Unterschrift unter das Manifest des 17. Oktober wurde das Ende der zarischen Autokratie eingeleitet. Doch nur unter dem Eindruck der sich immer mehr verschärfenden Krise und aus Angst um den Fortbestand der zarischen Herrschaft, konnte sich Kaiser Nikolaj II. zu diesem ihm zuwiderlaufenden Vorgehen entschließen.
Doch am Anfang dieser Entwicklung steht ein anderer Mann, Sergej Juljewitsch Graf Witte, der nach glänzender Karriere 1903 in Ungnade gefallen war und nun auf eine sich ihm darbietende neue Chance wartete. Mit seinem Ruf als Repräsentant eines modernen und liberalen Russlands erschien er vielen als der Retter in der Not: Bald nach seiner Rückkehr aus Portsmouth kam der ehemalige Finanzminister mit den Überlegungen zur Bulygin-Duma in Kontakt1. Dieser war nun zu der Überzeugung gelangt, dass die Konzession des Kaiserlichen Manifests vom 6. August 1905 mit der Schaffung einer beratenden Versammlung nicht mehr ausreiche, um die Oberhand über die Krise zu gewinnen. Bei seiner Audienz beim Zaren am 9. Oktober machte dies Witte in aller Offenheit deutlich: Russland stünde nun vor der Wahl, mit Hilfe einer Militärdiktatur die Oberhand zu gewinnen oder durch Liberalisierung das Russische Reich zu erneuern2. Mit der Unterschrift des Zaren unter das Oktobermanifest wurde ein Rahmen gegeben, innerhalb dessen die unversöhnlichen Spannungen zwischen dem russischen Staat – Zar und Hofaristokratie, Regierung und Bürokratie – und der russischen Gesellschaft, hätten abgebaut werden können. Doch angesichts des fortwährenden Misstrauens3 der Bevölkerung gegenüber dem kaiserlichen Versprechen, bürgerliche Freiheiten und konstitutionelle Reformen einzuleiten, das durchaus nicht unbegründet schien4, und dem sich schließlich abzeichneten Ergebnis, konnte dieses Ziel nicht erreicht werden. Denn beide Seiten – Regierung und Opposition – mussten sich an die Spielregeln der neuen Ordnung halten, doch in Russland waren weder der Monarch noch die Intelligentsia dazu bereit5. Mit der Folge, dass das konstitutionelle Zwischenspiel, das in seiner Anfangsphase durchaus die Möglichkeit hatte, in einer konstitutionellen Monarchie zu münden, wirkungslos blieb.
Doch faktisch, d.h. rein vom Inhalt und der darin enthaltenen Botschaft des Manifesttextes6 – die Zusicherung bürgerlicher Freiheiten, die Beschneidung der zarischen Rechte und die Teilhabe an der legislativen Gewalt durch eine Volksvertretung – zu urteilen, war mit dessen Veröffentlichung das Ende der russischen Autokratie eingeleitet worden.
Doch die Ordnung und Ruhe kehrten durch diese im Manifest geäußerten Versprechen nicht sofort zurück, sondern die Unruhen hielten weiter an. Somit wurden die Hoffnungen des Zaren und seines kurz darauf zum Ministerpräsidenten ernannten Initiators liberaler und konstitutioneller Reformen, Graf Witte, nicht ganz erfüllt. Denn in das Manifest waren Begriffe wie „Verfassung“ und „konstituierende Versammlung“ wohlüberlegt nicht aufgenommen worden, auch die späteren Staatlichen Grundgesetze – die de facto eine oktroyierte Verfassung darstellten – wurden nicht als eine solche benannt, wollte man doch den Schein einer über Jahrhunderte hinweg ungebrochenen zarischen Autokratie weitgehend bewahren7. Keineswegs hatte Kaiser Nikolaj II. das Manifest aus der eigenen Überzeugung heraus gebilli]gt, dass die Reformen, die seine Macht beschneiden sollten, notwendig seien8. Nichts verband ihn wirklich mit den Vorstellungen der bürgerlichen Intelligenz, die ein neues politisches System verwirklicht wissen wollten – später bedauerte er es eher noch, im entscheidenden Moment nachgegeben zu haben9. Auch die Vorstellung, dass der Kaiser die gemachten Versprechen in der Weise verwirklichen wollte, wie es ihm Witte ins Oktobermanifest hineingeschrieben hatte, ist weit gefehlt10. Was ihm hauptsächlich Sorgen machte, waren die anhaltenden Unruhen und die noch nicht wiederhergestellte Ordnung im weiten Russischen Reich, die er beklagt – denn der Bestand der russischen Monarchie stand auf dem Spiel und dies wollten er und seine engsten Berater am Hof mit allen Mitteln verhindern.
Das Unterzeichnen des Oktobermanifestes enthielt neben der Zusage bürgerlicher Freiheiten auch die der von der revolutionären Opposition immer wieder geforderten Volksvertretung. Doch sah der Hof keine Verpflichtung darin, die Zusicherung zu erfüllen, das Parlament an der Gesetzgebung zu beteiligen. Von dem Entschluss, ein Gesetz – die späteren Staatlichen Grundgesetze – zu erarbeiten, in dem die wesentlichen Rechte und Befugnisse des Staatsaufbaus vereinheitlicht wurden, sahen der Zar und auch Witte zunächst ab: Unter der bereits im August 1905 aus taktischen Gründen gebilligten, aber erst im Oktobermanifest mit legislativer Macht erweiterten Duma verstanden sie zunächst kein in einer Verfassung verankertes Organ mit eigenen ihr fest zugeschriebenen Rechten11. Nikolaj II. würde es später immer wieder bereuen, dass er durch das Oktobermanifest die kaiserliche Zusage gemacht hatte, die Duma zu einem gesetzgebenden Organ zu erheben12.
Diese reaktionäre Einstellung am Hof und in der Bürokratie ist auch immer unter dem Hintergrund der seit Anfang 1905 bestehenden monarchistischen Gruppen der extremen Rechte zu sehen, die das Manifest vom 17. Oktober sowieso später nur als Farce auffassten, die Witte und seine angeblichen Hintermänner dem Zaren gespielt hätten. Auch viele Landesverwaltungen in den russischen Provinzen glaubten nicht an die Echtheit des Manifests, indem sie die für das Volk erfreuliche Nachricht aus St. Petersburg zunächst als schlechten Scherz auffassten und teilweise Zeitungen konfiszieren ließen13. Die Krone – die durchaus mit den monarchietreuen Gruppen sympathisierte – sah sich in der Reaktion auf das Oktobermanifest in ihrer Überzeugung bestätigt14. Denn das Oktobermanifest trug letztendlich gar nicht zur Entspannung bei, so wie Witte es erwartet und Nikolaj unter dessen Einfluss erhofft hatte, sondern verschärfte noch einmal die revolutionäre Spannung im Russischen Reich15. Denn die blutigste Phase der Revolution sollte erst jetzt – nach Veröffentlichung des Manifestes – stattfinden. Die rechte Gegenbewegung trat in blutigen Kämpfen und antisemitischen Pogromen gegen die linke Freiheitsbewegung an – die Gegenrevolution16 zeigte ihre hässliche Seite.
Die Liberalen hingegen sahen in dem Manifest einen ersten Erfolg, allerdings nur den allerersten Schritt auf dem Weg zur Beseitigung der Autokratie. In Wittes Kalkül spielten sie – mit den Kadetten an deren Spitze – nicht den ihnen zugedachten Part: Sie weigerten sich, in Wittes neue Regierung einzutreten17. Sie waren in dem „Dilemma“18 verfangen, wo heraus sie nicht entscheiden konnten, ob sie den Machthabern Vertrauen schenken oder sie weiterhin an der Spitze der Opposition bekämpfen sollten. Andere – wie der „Bund des 17. Oktober“ (Oktobristen), in dem sich der moderate Teil der liberalen Bewegung zusammentat – gaben sich mit dem vom Manifest abgesteckten Rahmen zufrieden und machten die Bestimmungen des Oktobermanifestes gar zum Leitfaden ihres Programms19.
Schließlich kommt es in der Strategie der Regierenden zu einer entscheidenden Wende auf dem Wege hin zu einer möglichen konstitutionellen Monarchie. Zwar hatte Zar Nikolaj II. nie die Absicht, die im Manifest gemachten Versprechen und allen voran die versprochenen Rechte einer legislativen Duma in einer Verfassung festzuschreiben. Doch angesichts der gescheiterten Wiederherstellung von innerer Ordnung direkt nach Verkündung des Witte’schen Manifestes20, mussten sich Zar und Regierung schließlich zur Ausarbeitung der sogenannten Grundgesetze entschließen. Den Auftrag, der Duma einen verfassungsrechtlichen Rahmen zu geben, erhielt wiederum Graf Witte, der am 19. Oktober 1905 zum ersten Ministerpräsidenten Russlands ernannt worden war. Als eigentlichem Vorsitzenden des Ministerrates unterstand ihm ein Regierungskabinett, das ihm verantwortlich war. Dieser verband nun mit der augenscheinlichen Notwendigkeit der Erfüllung dieses Auftrags die Absicht, die russische Monarchie dadurch zu retten, indem er zwar das im Oktobermanifest gemachte Versprechen einlöste, aber der ersten russischen Staatsduma einen sehr restriktiven Rahmen gab, in dem sie sich seiner Meinung nach zu bewegen hatte. Im Frühjahr 1906 traten in der heißen Phase der Ausarbeitung der Staatlichen Grundgesetze dann die Probleme zutage, die mit dem Anspruch verbunden waren, die zarische Autokratie mit den Befugnissen seines Souveräns weitgehend zu erhalten.
1.2 Die Regierung Witte und der Weg zu einer politischen Öffentlichkeit
Der von der liberalen Opposition zunächst als Hoffnungsträger ersehnte und vom Zaren als einziger Krisenherr in Sicht eingesetzte Graf Witte bekam immer mehr seine beidseitige Isolation zu spüren21, in die er sich durch die Bereitschaft hineinmanövriert hatte, einerseits den Frieden im Land durch gewaltsame Repression wiederherzustellen und andererseits dem Land nun doch eine einheitliche verfassungsrechtliche Ordnung zu geben.
Bereits unmittelbar nach Verkündung des Manifests im Oktober 1905 begann die neue Regierung unter Graf Witte damit, Gesetze und Verordnungen zu erlassen, mit denen sie einen Teil der Versprechungen auf Bürgerrechte einlöste. Mit der Abschaffung der Vorzensur auf regelmäßig erscheinenden Schriften (24. November 1905) erfüllte sie einen Teil der im Manifest vom Zar auferlegten ersten Pflicht22. Von nun an konnten Zeitungen und Zeitschriften, „die in den Augen der Behörden staatsgefährdende oder verleumderische Artikel enthielten“23, nur noch gerichtlicht verfolgt werden und nicht mehr sofort konfisziert werden. Russland erfreute sich einer fast unbeschränkten Pressefreiheit, die eine schonungslose Kritik der Behörden erlaubte. Es bescherte dem aller publizistischen Kritik gefeiten zarischen Staat einen vorher nie gekannten Presseboom.
Auch mit den im Verlauf der Geschehnisse im Oktober 1905 erfolgten Parteigründungen24, die mit den späteren Gesetzen zum Versammlungs- und Vereinsrecht (4. März 1906) rechtlich garantiert wurden, sind erste Weichen zur politischen Öffentlichkeit gestellt worden. Die Bürger erhielten nun das Recht, Versammlungen abzuhalten, sofern sie den Polizeichef vor Ort 72 Stunden vorher davon in Kenntnis setzten. Auch Vereinsgründungen mussten den Behörden vorher mitgeteilt werden: Falls innerhalb von zwei Wochen vonseiten der Behörden keine Einwände erfolgten, galt das Vorhaben als zugelassen. Auch wenn es diese Rechte und Freiheiten in der russischen Geschichte zuvor nie gegeben hatte, konnte man sie unter der gleichzeitigen Existenz und Geltung früherer erhobener Gesetze umgehen25.
Umso größere Bedeutung kam jedoch den Bestimmungen zu, die den bereits vor der Veröffentlichung des Oktobermanifests „angeordneten Wahlen zur Reichsduma“26 konkrete Gestalt geben sollten. In dem Manifest wurde das Versprechen gemacht, das in vielerlei Hinsicht ungerechte27, kurz zuvor erlassene Wahlrecht zur so genannten Bulygin-Duma nun auf alle gesellschaftlichen Schichten auszuweiten. Das neue Wahlgesetz wurde in Versammlungen ausgearbeitet, an denen Beamte und Vertreter der Öffentlichkeit teilnahmen. Aber weder die allgemeine noch die gleiche noch die direkte Wahl wurde eingeführt, sondern die Teilnahme weiterhin an bestimmte Bedingungen geknüpft, die Geschlecht, Beruf und Vermögen betrafen. War das am 6. August 1905 verkündete Kaiserliche Manifest über die Schaffung einer beratenden Versammlung mit dem am gleichen Tag erfolgten Erlass des Wahlreglements für die Dumawahlen noch nicht „ernst gemeint“ bzw. „taktisches Manöver einzig zum Zweck des Zeitgewinns“28, so vollzog das Wahlgesetz vom 11. Dezember 1905 trotzdem eine erste Weichenstellung hin zu einem Parlament, das bürgerliche Freiheit und politische Öffentlichkeit garantierte. Doch schließlich blieb auch hier die Kritik nicht aus, weil das neue Wahlgesetz vom Dezember 1905 weit hinter den Erwartungen der liberalen Opposition zurückblieb29.
Zu seinem Bedauern wurde Sergej Witte vom Zaren jedoch nicht damit beauftragt, die neuen Staatlichen Grundrechte auszuarbeiten. Wie bereits eingangs geschildert, realisierte seine Regierung zwar eine Reihe von Maßnahmen, die einen Teil der im Oktobermanifest versprochenen bürgerlichen Freiheiten per Gesetz einlösten. Doch die neue Aufgabe übertrug der Zar an den Präsidenten des – bereits als beratende Institution vorhandenen – Staatsrats, Graf Solski, Mitte Dezember 1905, als man auf offizieller Seite zum ersten Mal über eine Revision der im Grunde bereits vorhanden Staatlichen Grundrechte nachzudenken begann30. Sie standen am Ende einer Entwicklung von Ereignissen, die seit Oktober 1905 in Gang gesetzt wurde, und stellte gleichzeitig ihren Höhepunkt dar – die neuen Grundgesetze, welche den neuen Status Quo in Russland konsolidieren sollten. Denn in Wirklichkeit beendeten sie die uneingeschränkte Autokratie des russischen Zaren, die seit Jahrhunderten bestand und gaben Russland eine Verfassung31.
Wenn sie auch nicht das Ergebnis einer konstitutionellen Versammlung waren, stellten sie doch ein für alle Bürger des Russischen Reiches geltendes Recht auf, so auch für den Zaren, dessen Macht nun eingeschränkt wurde. Die Grundgesetze waren das Produkt von mehreren Verhandlungen, die zunächst vom Zaren an eine Kommission von Experten weitergereicht wurde, die aus Ministern und Mitgliedern des noch nicht reformierten Staatsrats unter dem Vorsitz Solskis bestand. Das Vertrauen Nikolajs II. gegenüber seinem Premierminister war im Dezember 1905 bereits sehr weit geschwunden, so dass ihm zunächst die Mitarbeit an diesem wichtigen Projekt versagt blieb.
Doch in den Verhandlungen, die in den Monaten Februar und April 1906 stattfanden, nahm Graf Witte entscheidenden Einfluss auf die endgültige Form der Grundgesetze und setzte seinen ganz persönlichen Stempel darauf. Die recht zwielichtigen Gründe32, weshalb der Zar diese wichtige und würdevolle Aufgabe nicht direkt dem Verfasser des Oktobermanifests übergab, sind nicht genau festzumachen. Dennoch bekommt man anhand der Erinnerungen von Sergej Graf Witte ein recht anschauliches Bild über die ihm gegenüber feindliche Atmosphäre33 geliefert, die Witte in diesen Winter- und Frühlingsmonaten am Zarenhof in St. Petersburg umgab.
Obwohl Wittes eigene Ansichten gar nicht so liberal waren, wie man es von ihm als den Verfasser des Oktobermanifestes erwartet hätte: Er sah seine eigene Mission darin, dem russischen Reich eine rechtliche Ordnung zu geben, die es dem russischen Zaren ermöglichen sollte, seine Monarchie fortzuführen. Dabei sah er es als eine Art Notwendigkeit an, dem Volk zwar bürgerliche Rechte zuzugestehen und die Macht des Zaren einzuschränken, doch die Autokratie möglichst zu bewahren, um dem Zaren die legislative Macht nicht völlig aus der Hand zu schlagen. Konkret bedeutete dies, dass er der Duma nicht die uneingeschränkte legislative Macht einfach so übertrug, sondern dass er ihre legislativen Befugnisse stark einschränkte. Das im Oktobermanifest gemachte Versprechen, die gewählte Volksvertretung am gesetzgeberischen Entscheidungsprozess teilhaben zu lassen34, bedeutete nach seiner Auffassung nicht, dass man nur der Duma alleine die legislative Macht übertragen solle. Graf Witte war aus tiefster innerer Überzeugung ein kaisertreuer Monarchist, wenn auch ein progressiver. Seine konservativen Ansichten rührten von seiner Herkunft her, seiner langen Tätigkeit am zarischen Hof (er hatte bereits dem Vater Nikolajs II. als Minister gedient) und dem sich im Laufe der revolutionären Ereignisse (insbesondere die des letzten Halbjahres vor Eröffnung der Duma) wachsenden Misstrauen gegenüber der politikunerfahrenen russischen Bevölkerung, deren Vertreter nun mit legislativer Macht ausgestattet werden sollten35.
In den Verhandlungen, die an mehreren Tagen im Februar und im April stattfanden, vertrat Witte dann auch mehrmals hartnäckig seine Ansichten36. In den Februar-Sitzungen, in denen der Zar den Vorsitz innehatte, ging es zunächst vornehmlich darum, über die Bestimmungen zur Neuordnung bzw. Schaffung der Institutionen Reichsduma und Reichsrat abzustimmen. Die in den Vorjahren 1904/1905 entstandene Diskussion, ob der alte Staatsrat von einem rein beratenden zu einem gesetzgebenden Gremium umgeformt werden solle, war Schwerpunkt in diesen Verhandlungen. Außerdem stand zur Debatte, ob der bisher vom Kaiser ernannte Staatsrat zu einer ganz wählbaren oder nur teilweise wählbaren Institution umgeformt werden solle. Witte, der als Premierminister an diesen Februar-Sitzungen zur Reformierung des Staatsrats teilnahm, sprach sich für den Fortbestand einer solchen ersten Kammer aus, die als Puffer zwischen der Regierung (Zar) und der zweiten Kammer (Duma) dienen sollte. Einwänden gegen die gleiche Anzahl von gewählten und ernannten Staatsratsmitgliedern begegnete er dadurch, indem er erklärte, dass eine beträchtliche Zahl der gewählten Vertreter sowieso aus dem konservativen Lager stammen würde. Schließlich entstanden zwei legislative Körper, eine erste (Staatsrat) und eine zweite Kammer (Duma), die beide gleiche legislative Rechte besaßen37 : Jedes Gesetz brauchte die Zustimmung aller drei Staatsorgane – Regierung (Ministerrat und Zar), Duma und Staatsrat38. Man entschied zusätzlich, dass die Mitglieder des neuen Staatsrats je zur Hälfte bestimmten privilegierten Gruppen gewählt und vom Kaiser ernannt wurden. In einem Manifest am 20. Februar 1906 wurden die neuen Verordnungen zu Staatsrat und Staatsduma erlassen.
[...]
1 Vgl. SCHMIDT: 102.
2 Vgl. FIGES: 206f.. Vgl. dazu HILDERMEIER: 73. „Die Unruhe, so Wittes grundlegende Erkenntnis, sei nicht das Werk radikaler Hitzköpfe, sondern entspringe einem tief empfundenen natürlichen Bedürfnis der Untertanen nach Freiheit. Der Staat könne die Kontrolle nur zurückgewinnen, wenn er selbst die Initiative ergreife, der Gesellschaft die grundlegenden Freiheitsrechte garantiere und die Möglichkeit zur politischen Mitsprache einräume. Auch wenn er die Souveränität des Zaren nicht beseitigen und ihm ein unbeschränktes Vetorecht bei allen Entscheidungen der Volksvertretung einräumen wollte, ersparte ihm Witte die schlimmste Konsequenz nicht: Wenn keine Reform die Verfassung bringe, werde die Revolution sie erzwingen.“
3 Vgl. VERNER: 246-248.
4 Vgl. HILDERMEIER: 73f.
5 Vgl. PIPES: 271ff.
6 Vgl. SCHEIBERT: 29-30.
7 Vgl. dazu PIPES: 272. „Der offensichtliche Widerspruch zwischen der Wirklichkeit eines konstitutionellen Regierungssystems und der starren Überzeugung des Hofes, es habe sich nichts geändert, hatte verwirrende Folgen.“
8 Vgl. dazu HILDERMEIER: 74. „Wenn es zutraf, daß die denkenden Schichten, wie dieselbe Aufschrift weiter sehr offen formulierte, aus dem bestehenden Regime herausgewachsen’ waren, bedurfte es des aufrichti-gen Willens seiner Träger, um eine sichtbar neue angemessene Ordnung zu schaffen. Davon aber konnte nicht ernstlich die Rede sein. Nikolaj handelte gegen seine innerste Überzeugung und hat den Augenblick bald verflucht, in dem er wankelmütig wurde.“
9 Vgl. TROYAT: 155.
10 Vgl. FIGES: 207f.. „Witte äußerte später, der Hof habe immer die Absicht gehabt, sein Manifest nur als ein vorübergehendes Zugeständnis zu benutzen, um später, sowie die Gefahr gebannt sei, zu den alten autokrati-schen Formen zurückzukehren. Er hatte mit großer Wahrscheinlichkeit recht. Bereits im Frühjahr 1906 machte der Zar einen Rückzieher gegenüber den Versprechungen, die er im Oktober zuvor gegeben hatte, und behauptete, das Manifest habe in Wahrheit seinen eigenen autokratischen Vorrechten keinerlei Beschränkungen auferlegt, nur der Bürokratie.“
11 Vgl. HILDERMEIER: 74.
12 Vgl. PIPES: 272f.
13 Vgl. VERNER: 247. „Even when communications of one kind or another were restored, the information was often incomplete and contradictory. Telegraphic inquiries from provincial and local authorities asked the Interior Ministry for confirmation of the manifesto’s authenticity and wording. Less conscientious governors ordered that posters and newspapers with the text of the manifesto be confiscated.”
14 Vgl. PIPES: 273f.
15 Vgl. dazu HILDERMEIER: 74f. „Statt zur Entspannung beizutragen, stiftete das Manifest zunächst nur neue Unruhe. Die Tage nach seiner Verkündung sahen die blutigste Welle der Gewalt der Krisenjahre überhaupt. Revolutionäre Demonstranten, die das Ereignis als Teilsieg und Bestätigung ihres Kampfes feierten, trafen erstmals auf eine organisierte Gegenbewegung.“
16 Vgl. FIGES: 214-219.
17 Vgl. ebd.: 211.
18 Vgl. ebd.: 210f.
19 Vgl. SCHEIBERT: 69-77.
20 Vgl. HILDERMEIER: 76. „Die Friedenssuche der Autokratie stärkte die konsequenten Demokraten um Miljukov. Auch sie waren nicht bereit, auf das allgemeine Wahlrecht und eine vollberechtigte Konstituante zu verzichten. Witte, der solche Bedingungen nicht akzeptieren wollte, fand keine gesellschaftliche Kraft, die ihm die Hand gereicht hätte. Im Grunde war damit bereits der Stab über sein Experiment gebrochen. Ohne Hilfe aus der ‚Gesellschaft’ konnte der Versuch einer Befriedung und Selbstheilung der Autokratie kaum gelingen. Zu-gleich entzog der ausbleibende Erfolg dem Premier das Vertrauen des Zaren und der hohen Bürokratie.“
21 Vgl. WITTE: 438. „In der ersten Zeit nach dem 30. (17.) Oktober hörte Seine Majestät noch auf mich. Je mehr aber der Aufruhr und die Angst vor der Revolution sich legten, desto mehr wich der Kaiser meinen Ratschlägen aus, griff zu allerlei Kniffen, umging mich oder verheimlichte mir gar seine Handlungen.“
22 Vgl. SCHEIBERT: 29.
23 Vgl. PIPES: 278.
24 Vgl. DAHLMANN: 73ff.
25 Vgl. PIPES: 279. „Diese Rechte und Freiheiten hatte es in der russischen Geschichte nie zuvor gegeben. Dennoch fand die Bürokratie Mittel und Wege, sie unter Rückgriff auf die gesetzlichen Bestimmungen vom 14. August 1881 zu umgehen: Die Gouverneure wurden ermächtigt, Provinzen unter ‚verstärkten’ oder ‚außeror-dentlichen Schutz’ zu stellen – Bestimmungen, die bis 1917 nicht aus den Rechtsbüchern gelöscht wurden.“
26 Vgl. SCHEIBERT: 29.
27 Vgl. FIGES: 202. „Dabei war die Art von Versammlung, die der Zar im Sinn hatte – und die ihm Bulygin am 6. August zur Unterschrift vorlegte –, eine rein beratende, die mit beschränktem Wahlrecht gewählt werden sollte, um die Dominanz des Adels zu gewährleisten.“
28 Vgl. ebd.: 202.
29 Vgl. HILDERMEIER: 91.
30 Vgl. DOCTOROW: 34.
31 Vgl. MEHLINGER/ THOMPSON: 290. „They were the supreme law of the land, the rules by which the state was to be governed and to which all future laws were to conform. Although it was a far less liberal document than the Kadets and other opposition groups desired and although it was a gift from the tsar rather than the product of a constituent assembly, measured against other monarchist constitutions of Western Europe, it was by no means a reactionary statement. It confirmed, if not established, that absolutism was finished in Russia.”
32 Vgl. WITTE: 471. „Die Initiative zu den Grundgesetzen ging von Trepow aus. Er wollte die Sache ohne mich und den Ministerrat machen, richtiger gesagt, ich sollte nur der ‚Tête du turc’, der Verantwortliche, sein, und da ich auf diese Rolle verzichtet hatte, so übergab man mir das Projekt ohne jede Weisung.“ Vgl. ebd.: 474f.
33 Vgl. ebd.: 469-498. Vgl. auch DOCTOROW 1976: 35-36.
34 Vgl. SCHEIBERT: 29. „[...] als unerschütterliche Regel festzustellen, dass kein Gesetz ohne Genehmigung der Reichsduma Geltung erhalten kann und daß den vom Volke Erwählten die Möglichkeit wirklicher Teil-nahme an der Aufsicht über die Gesetzmäßigkeit der Akte der von Uns eingesetzten Behörden gesichert ist.“
35 Vgl. MEHLINGER/THOMPSON: 290. „While many of Witte’s positions and pronouncements were frankly conservative and while occasionally he was hesitant and inconsistent, he clearly made a persistent and concerted effort to establish a constitutional order to Russia. His illiberal positions and his ambivalence arose from his lack of confidence in the public, a distrust nurtured first by the experiences of his first months as chairman of the Council of Ministers and then by the results of the elections to the Duma.
36 Vgl. ebd.: 291-292.
37 Vgl. ebd.. Vgl. auch WITTE: 465f.
38 Vgl. MEHLINGER/THOMPSON: 298.
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- Magister Artium Andreas Reimann (Autor:in), 2005, Die Zeit der Ersten Duma und ihre Auflösung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/125971