Obwohl Raymond Jeans Roman "La Lectrice" aufgrund seiner Fülle an intertextuellen Bezügen zu Klassikern der Literaturgeschichte selbst von hohem literarischen Wert ist, wurde ihm bisher in der Literaturforschung und den gängigen Literaturgeschichten kaum Beachtung geschenkt.
Mit dieser Arbeit wird versucht, dem Roman zumindest im Ansatz diese wohl verdiente Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, indem die im Roman enthaltenen literarischen Verweise näher analysiert werden.
In einem ersten Schritt werden zunächst die auftretenden Figuren, Protagonisten ebenso wie Nebenfiguren, in Zusammenhang zueinander und zur Gesellschaft betrachtet, um damit das Umfeld zu bestimmen, in dem die den Roman konstituierenden Lektüresitzungen der Protagonistin angesiedelt sind.
Es folgt in einem zweiten Schritt die Analyse aller im Roman auftauchenden intertextuellen Bezüge hinsichtlich ihrer qualitativen und quantitativen Form sowie ihres inhaltlichen Bezugs zum Roman. Da hierbei im fortlaufenden Text nur auf ausgewählte Beispiele eingegangen werden kann, werden im Anhang die intertextuellen und intermedialen Bezüge des Romans in Tabellenform in ihrer Gesamtheit aufgelistet.
In einem dritten und letzten Schritt gilt es, kurz den Einfluss der Lektüre im Roman insgesamt auf die Entwicklung der Romanfiguren und ihr Verhalten zu verdeutlichen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Figurenanalyse
2.1 Der Roman als Gesellschaftsportrait
2.2 Soziale Einsamkeit als wesentliche Gemeinsamkeit der Kunden
3 Analyse der im Roman enthaltenen Intertextualität
3.1 Vorbemerkungen
3.2 Die qualitative Intensität: Kommunikativität und Selektivität
3.3 Die quantitative Intensität
3.3.1 Dichte
3.3.2 Streubreite
3.4 Intermediale Bezüge
4 Der Einfluss der Lektüre auf die Romanfiguren
4.1 Das Selbstbewusstsein der lectrice
4.2 Die aktivierende Wirkung der Lektüre auf die Kunden
5 Schluss
6 Anhang
6.1 Die intertextuellen Bezüge innerhalb des inneren Kommunikationssystems
6.1.1 Gattung
6.1.2 Land
6.2 Anspielungen im äußeren Kommunikationssystem
6.3 Intermediale Bezüge
7 Literaturverzeichnis
7.1 Primärliteratur
7.2 Sekundärliteratur
1 Einleitung
Obwohl Raymond Jeans Roman La Lectrice, 1986 bei Actes Sud erschienen, aufgrund seiner Fülle an intertextuellen Bezügen zu Klassikern der Literaturgeschichte selbst von hohem literarischen Wert ist, wurde ihm bisher in der Literaturforschung kaum Beachtung geschenkt: in einer der gängigsten französischen Literaturgeschichten, herausgegeben von Jürgen Grimm, wird Raymond Jean nur in einem Nebensatz erwähnt[1], im mehr als zwanzig Bände umfassenden Literaturlexikon von Kindler werden weder Autor noch Werk aufgeführt.
Dabei könnte der Roman beinahe selbst zwar nicht als allumfassende Literaturgeschichte, so doch aber zumindest als Einstieg in diese bezeichnet werden: in ihm wird nicht nur eine Vielzahl an kanonisierten literarischen Werken wörtlich zitiert, sondern zudem auf eine Fülle weiterer Texte verwiesen. Um dem Roman zumindest im Ansatz die aus diesem Grund verdiente Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, sollen in dieser Arbeit die literarischen Verweise des Romans näher und von verschiedenen Seiten beleuchtet werden.
In einem ersten Schritt werden zunächst die auftretenden Figuren, Protagonisten ebenso wie Nebenfiguren, in Zusammenhang zueinander und zur Gesellschaft betrachtet, um damit das Umfeld zu bestimmen, in dem die den Roman konstituierenden Lektüresitzungen der Protagonistin angesiedelt sind.
Es folgt in einem zweiten Schritt die Analyse aller im Roman auftauchenden intertextuellen Bezüge hinsichtlich ihrer qualitativen und quantitativen Form sowie ihres inhaltlichen Bezugs zum Roman. Da hierbei im fortlaufenden Text nur auf ausgewählte Beispiele eingegangen werden kann, werden im Anhang die intertextuellen und intermedialen Bezüge des Romans in Tabellenform in ihrer Gesamtheit aufgelistet.
In einem dritten und letzten Schritt gilt es, kurz den Einfluss der Lektüre im Roman insgesamt auf die Entwicklung der Romanfiguren und ihr Verhalten zu verdeutlichen. Dabei wird in diesem Rahmen jedoch darauf verzichtet, auf die individuellen und vielseitigen Interaktionen zwischen den einzelnen im Text zitierten Originaltexten und den Kunden einzugehen.
2 Figurenanalyse
2.1 Der Roman als Gesellschaftsportrait
Allein durch die Kundschaft der Vorleserin sind bereits die unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten vertreten. Die Altersspanne der fünf Kunden reicht vom Kindesalter der achtjährigen Clorinde und dem in die Pubertät kommenden vierzehnjährigen Eric über den von Marie-Constance auf ein Alter zwischen vierzig und fünfzig Jahren geschätzten Michel Dautrand bis hin zum pensionierten Richter und der ca. achtzigjährigen Generalswitwe. Außer durch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Altersgruppen unterscheiden sich die genannten Figuren zudem hinsichtlich ihrer Bildung und beruflichen Situation, was eine Vielfalt von im Roman repräsentierten sozialen Schichten zur Folge hat, komplettiert durch weitere Figuren des Romans. Diese unterschiedlichen sozialen Schichten werden anhand detaillierter Schilderung von Kleidung und Wohnverhältnissen veranschaulicht.
Eric ist der Sohn eines für die S.N.C.F. arbeitenden einfachen Beamten, der wegen seiner Arbeit kaum Zeit für seinen Sohn hat. Seine Mutter dagegen ist nicht berufstätig, kümmert sich rund um die Uhr um ihren im Rollstuhl sitzenden Sohn. Die begrenzten finanziellen Mittel der Familie werden nicht nur durch die von der Mutter geäußerte Hoffnung deutlich, dass die „Sécurité sociale“ die Bezahlung der Lektüresitzungen bezahlt[2], auch die Beobachtungen der lectrice weisen darauf hin, wie beengt die Familie wohnt: das erste Gespräch zwischen Marie-Constance und Erics Mutter findet am Küchentisch statt[3], die folgenden Lektüresitzungen in Erics Zimmer, das unmittelbar an die Küche angrenzt und lediglich durch eine dünne, hellhörige Wand von dieser getrennt ist[4]. Die äußere Erscheinung von Erics Mutter verstärkt geradezu klischeehaft das Bild einer Frau, die sich einzig und allein als Hausfrau und Mutter am heimischen Herd identifiziert: sie trägt immer eine Schürze[5] und ihr lockiges Haar ist das Ergebnis von Lockenwicklern.[6]
Der beengte Wohnraum von Erics Familie steht in starkem Kontrast zu den Wohnverhältnissen der Generalswitwe Dumesnil, von der die zweite Antwort auf die Zeitungsannonce stammt. Die Witwe lebt in der „rue des Rives-Vertes“, in einem der besseren Wohnviertel der Stadt. Ihre Wohnung verfügt neben dem Zimmer, in dem die Lektüresitzungen stattfinden und in dem sie selbst in einem überdimensional großen Bett auf einer Anhäufung von Kissen und Büchern nahezu zu thronen scheint, auch über einen Salon. In diesem, den Marie-Constance selbst als „pièce-salon-musée“[7] betitelt, sind neben zahlreichen alten Gemälden an den Wänden auch kostbare Antiquitäten wie eine Uhr aus dem neunzehnten Jahrhundert und andere Museumsstücke versammelt.[8] Vervollständigt wird dieses Bild des Wohlstands durch die Zofe Gertrude und deren Erscheinungsbild.[9]
Auch der Wohnort Michel Dautrands, eines beruflich vielbeschäftigten P.D.G. einer erfolgreichen Metallfabrik, zeichnet sich durch Wohlstand und Luxus aus, wenn auch in anderer Form als der des Museumscharakters der Witwe: seine Wohnung befindet sich in der „Résidence Ravel“, einem modernen Gebäude mit Glasaufzug.[10] Die Wohnung selbst besitzt ein riesiges Zimmer, das spärlich, doch mit edlem Mobiliar, so unter anderem einem Sitzmöbel aus weißem Leder und einer Minibar aus skandinavischem Holz, ausgestattet[11] ist. Bei den Gemälden an den Wänden handelt es sich nach Vermutung der lectrice um Reproduktionen oder gar Originale moderner Künstler[12]. Ebenso gepflegt und ausgewählt wie seine Wohnungseinrichtung ist sein Äußeres[13].
Das weibliche Pendant des P.D.G. stellt die Mutter der kleinen Clorinde dar. Diese „jeune dame de la bonne société“[14], erfolgreich im Immobiliengeschäft und zudem mit politischen Ambitionen, hat sich ebenfalls der Arbeit verschrieben und besitzt ein gepflegtes und elegantes Äußeres.
Der ehemalige Richter schließlich bezeichnet sich selbst als einen Vertreter der geachtetsten Berufsstände der Stadt und macht auf die lectrice aufgrund seiner gepflegten Kleidung, seines höflichen und würdevollen Auftretens und Benehmens ihr gegenüber auf Anhieb den Eindruck eines „homme de culture“[15].
An diesen Ausführungen wird deutlich, dass im Roman verschiedene soziale Schichten repräsentiert werden, ohne dass dabei jedoch ein statisches, übergangsloses Gesellschaftsbild gezeichnet wird: in gleichem Maße wie sich die finanziellen Verhältnisse des P.D.G. und Erics unterscheiden, ähneln sie sich mit der von Clorindes Mutter. Diese fließenden Übergänge werden im Roman auch von der lectrice explizit geäußert: so beurteilt sie Clorindes Mutter als „la dame P.D.G. et la dame-maman“[16] in einem: einerseits lebt sie in gleichem Maße für ihre Arbeit wie Michel Dautrand, andererseits ist sie ebenso besorgt um das Wohl ihrer Tochter wie Erics Mutter um jenes ihres Sohnes und wünscht sich für deren Zukunft ein ruhigeres Leben, durchaus auch als Hausfrau und Mutter.
Ein weiteres Beispiel für die Interaktionen der Schichten bietet Françoise, die beste Freundin Marie-Constances: zu Beginn ihrer beruflichen Karriere lediglich eine „petite dactylo“[17], gilt sie mittlerweile dank ihres Einsatzes und Fleißes als die am meisten geschätzte Mitarbeiterin in einer Anwaltskanzlei.
Die weiteren Personen komplettieren mit den jeweiligen Berufsständen, die sie vertreten, das Gesellschaftsportrait in gewisser Weise zu einer kleinen, in sich geschlossenen Welt: da wären zunächst der Arzt M. Dague, der Commissaire Beloy und die Zofe der Witwe zu nennen. Zudem gehören zu Marie-Constances privatem Umfeld neben Françoise noch ihr Ehemann Philippe, ein Ingenieur, und ihr früherer Universitätsprofessor und Freund Roland Sora.
2.2 Soziale Einsamkeit als wesentliche Gemeinsamkeit der Kunden
Neben den unter 2.1. bereits erwähnten Parallelen verbindet alle fünf Kunden, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, eine spezifische Eigenschaft: sie alle sind einsam, wenn nicht sogar gesellschaftliche Außenseiter. Dies hat wiederum eine Folge, die für die Romanhandlung wesentlich ist: indem sie auf die Annonce der lectrice antworteten, haben alle Figuren denselben Weg gewählt, um ihrer Einsamkeit zu entgehen.
Dass diese Art der Annonce in der französischen Kleinstadt, in der die Romanhandlung spielt[18], einzigartig und nach kurzer Zeit in aller Munde ist, wird an mehreren Stellen des Romans deutlich. Dennoch stellt sich die Frage, wie es möglich ist, dass Angehörige so divergenter Schichten Zugang zu ihr haben: Wurde die Annonce in mehreren, unterschiedlichen Zeitungen abgedruckt? Oder gibt es in dieser französischen Kleinstadt nur eine einzige Zeitung, die von den Angehörigen aller sozialen Schichten gelesen wird? Auf diese Fragen werden im Roman keine Antworten gegeben, doch der zuvor genannte Aspekt der Einsamkeit soll im Folgenden näher beleuchtet werden.
Bis zum Zeitpunkt der Annonce findet Erics Alltag, den er stets allein mit seiner Mutter und an den Rollstuhl gekettet verlebt, quasi in einer eigenen, von der Außenwelt isolierten Welt zwischen Küche und seinem Zimmer statt. Lediglich dreimal wöchentlich verlässt er die Wohnung für die Besuche eines Heilzentrums, in dem er sowohl ärztliche Pflege als auch Unterricht zur Allgemeinbildung erhält.[19] Auch die Tatsache, dass ausgerechnet der blinde Joel als Erics bester Freund auftritt, bekräftigt nur mehr das Bild des sozialen Außenseiters.
Auch die Generalin Dumesnil, obwohl sie die Witwe eines angesehenen französischen Offiziers ist und aufgrund ihrer adligen Abstammung in ihrer Heimat Ungarn früher ebenfalls eine gefeierte Persönlichkeit war, ist nun wegen ihrer politischen Ansichten, die sich an den kommunistischen Manifesten Marx‘ und Lenins orientieren, von ihrer Familie ausgeschlossen. Mit ihrer kommunistischen Einstellung geht zudem ihr fehlender sozialer Kontakt zu anderen Bewohnern dieses renommierten Stadtviertels einher. Die Generalswitwe ist erstens die einzige aus diesem Viertel, die an der Demonstration zum ersten Mai teilnimmt, zweitens ist gerade sie es, die von Commissaire Beloy wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses ermahnt wird.
Die Einsamkeit des Geschäftsmannes Michel Dautrand hingegen ist das Resultat seiner Arbeit: seit ihn seine Frau ca. ein Jahr zuvor verlassen hat (die Gründe hierfür bleiben offen), lebt er nur für seine Arbeit und ist unentwegt auf Geschäftsreise, so dass es ihm nicht möglich ist, privat neue Kontakte zu knüpfen.
Bei der kleinen Clorinde liegt die Einsamkeit zum einen in ihrem Wesen begründet: bei der ersten Begegnung mit Marie-Constance macht sie einen eher schüchternen Eindruck und verbringt, nach Angaben ihrer Mutter, die meiste Zeit allein in der Wohnung. Als Kind eines im Ausland arbeitetenden Vaters und einer Karrierefrau fehlt dem Mädchen zum anderen ein geregeltes Familienleben.
Der ehemalige Richter erscheint auf den ersten Blick wohl derjenige zu sein, der dem Schema des vereinsamten Mitglieds der Gesellschaft am wenigsten entspricht. Er zählt sowohl den Arzt M. Dague als auch den Commissaire Belloy zu seinen Freunden, und auch über sein Leben als Witwer beklagt er sich nicht. Doch sein gegenüber der lectrice geäußertes Angebot, ihr wie ein Vater zu sein, lässt die Vermutung zu, dass er selbst kinderlos ist und sich mangels Familie trotz seiner anderen sozialen Kontakte einsam fühlt.
[...]
[1] Französische Literaturgeschichte. Hrsg. v. Jürgen Grimm. S. 152
[2] La Lectrice. S. 20 ( im Folgenden: LL)
[3] LL. S.18
[4] LL. S.21
[5] LL. S. 18/ 75
[6] LL. S. 18
[7] LL. S. 100
[8] LL. S.82 ff
[9] LL. S. 156
[10] LL. S. 90.
[11] LL:. S. 91f.
[12] LL. S.92 ff.
[13] LL. S. 90
[14] LL. S. 110
[15] LL. S. 196
[16] LL. S.112
[17] LL. S. 73
[18] Raymond äußert sich in einem Interview folgendermaßen: „La Lectrice [...] se situe n’importe où, dans une région de la France.“ In: Nadia Visioli: Au lendemain de Mademoiselle Bovary. In: Lire et écrire autour de Raymond Jean. S.116
[19] LL. S. 19
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- M.A. Marta Ehmcke (Author), 2006, Analyse der Intertextualität in Raymond Jeans "La Lectrice", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/125534
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