Lange wurde die Todesstrafe für Kindsmörderinnen nicht hinterfragt. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fing man an darüber nachzudenken, ob neben der eigentlichen Tat, auch die Umstände eines Kindmords bei der Bestrafung berücksichtigt werden sollten. Vor allem Rechtsdenker und Philosophen der Aufklärung stellten sich Fragen wie: Gibt es äußere Faktoren, die eine Frau zu einem Mord am eigenen Kind treiben können? Inwieweit könnte man Kindsmorde verhindern? Könnte man durch eine mildere Strafe mehr erreichen, als durch reine Abschreckung? Sichert die Gesetzeslage Frauen in ehelosen Verhältnissen in irgendeiner Form ab?
Es wurde ebenso diskutiert, ob Kindsmord mit Verwandtenmord überhaupt gleichzusetzen sei oder, ob nicht das Ehrenrettungsmotiv beim Kindsmord eine viel größere Rolle spiele?
Nicht nur Rechtsdenker und Philosophen nahmen sich diesen Überlegungen an. Auch Dichter und Schriftsteller des späten 18. Jahrhunderts setzten sich mit der Kindsmordproblematik auseinander. Es wurden sogar Preisfragen zur Vorbeugung von Kindsmorddelikten gestellt.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Evchen Humbrecht als Objekt und Subjekt des Handelns
1.1 Evchen in der Objektrolle zu v. Gröningseck
1.2 Evchen in der Subjektrolle zu v. Gröningseck
1.3 Evchen in der Subjekt- und Objektrolle zu den Eltern
1.4 Fazit
2. Das Drama als Stellungnahme zum juristischen Umgang mit Kindsmord
2.1 Die Kindermörderin im rechtsgeschichtlichen Kontext
2.2 Funktion des Stückes
Literaturverzeichnis
Einleitung
Lange wurde die Todesstrafe für Kindsmörderinnen nicht hinterfragt. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fing man an darüber nachzudenken, ob neben der eigentlichen Tat, auch die Umstände eines Kindmords bei der Bestrafung berücksichtigt werden sollten. Vor allem Rechtsdenker und Philosophen der Aufklärung stellten sich Fragen wie: Gibt es äußere Faktoren, die eine Frau zu einem Mord am eigenen Kind treiben können? Inwieweit könnte man Kindsmorde verhindern? Könnte man durch eine mildere Strafe mehr erreichen, als durch reine Abschreckung? Sichert die Gesetzeslage Frauen in ehelosen Verhältnissen in irgendeiner Form ab?
Es wurde ebenso diskutiert, ob Kindsmord mit Verwandtenmord überhaupt gleichzusetzen sei oder, ob nicht das Ehrenrettungsmotiv beim Kindsmord eine viel größere Rolle spiele?[1]
Nicht nur Rechtsdenker und Philosophen nahmen sich diesen Überlegungen an. Auch Dichter und Schriftsteller des späten 18. Jahrhunderts setzten sich mit der Kindsmordproblematik auseinander. Es wurden sogar Preisfragen zur Vorbeugung von Kindsmorddelikten gestellt.[2]
In Wagners Die Kindermörderin wird mit der Thematik auf ganz eigene Weise verfahren. Anklage und Urteil werden am Ende des Stückes ausgespart, als Schauplatz hat Wagner den Grenzort Straßburg gewählt, anstatt eines bürgerlichen Trauerspiels trägt sein Stück die Bezeichnung Trauerspiel, und beläuft sich auf unübliche sechs statt fünf Akte. Dabei ist es nicht nur der Rahmen des Stückes, welcher mit Richtlinien in der Aufführungstradition bricht. Die Täterin kommt unüblicherweise aus gutem Hause und ist sehr gebildet. Ähnliche Umstände findet man in der zeitgenössischen Literatur nur noch bei Goethes Gretchen. Ebenso entsprechen auch die restlichen Charaktere nicht den üblichen Klischees.
Welche Funktion übernimmt Die Kindermörderin demnach in der Diskussion um Recht und Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Umgang mit Kindsmörderinnen? Wozu der offene Schluss des Stückes? Wird die Täterin als Subjekt oder Objekt der Handlung dargestellt? Möchte das Stück den Leser belehren, appelliert es an den eigenen Verstand oder ist es am Ende durch das Ende sinnfrei?
Diesen Fragen wird in der folgenden Arbeit nachgegangen. Dabei wird sich der erste Teil mit der Untersuchung von Objekt- und Subjektrolle der Handelnden befassen. Im zweiten Teil wird es um die Einordnung des Stückes in den juridischen Diskurs gehen. Nicht berücksichtigt wird die überarbeitete Fassung aus dem Jahre 1779, ebenso wenig ist ein Vergleich zu anderen Stücken angestrebt.
1. Evchen Humbrecht als Objekt und Subjekt des Handelns
Evchen Humbrecht genießt aufgrund des guten Standes der Familie Vorzüge, auf die viele junge Frauen zu ihrer Zeit verzichten müssen. Sie ist klug und belesen, wird von Vater und Mutter beschützt und behütet und muss sich vorerst keine Sorgen um ihre Zukunft machen. Herr Humbrecht ist laut Aussage seiner Frau „noch ganz von der alten Welt“[3], während Frau Humbrecht den Freuden des Lebens nicht abgeneigt ist. Ein gegensätzliches Ehepaar, das schon lange nicht mehr in der Blüte ihrer Liebe steht.
Der Offizier Gröningseck verspricht dem Leser zunächst den Charakter eines klassischen Verführers, der einem naiven Mädchen die Unschuld raubt, um sie danach mit leeren Versprechungen zu verlassen. Doch dem stattlichen Mann wird plötzlich das Herz ganz unerwartet schwer. Schreit Die Kindermörderin nach einem Happy End?
Ist die Frau der Verfügungsgewalt des Mannes hier gar nicht schutzlos ausgeliefert? Evchen ist tatsächlich nicht nur reines Objekt der Handlung, kann sich dem Handlungsverlauf aber trotz allem Selbstbewusstsein und Stärke letzten Endes nicht entziehen und könnte die Eskalation aus eigenen Stücken nicht verhindern. Beat Weber fasst die Eindrücke über Evchen aus dem ersten Akt zusammen:
Vor allem im ersten Akt wird Evchen vorgestellt als ein hübsches, gescheites, unternehmungslustiges, junges Mädchen mit empfindsamem Gefühl für Ehre und Recht. Es hält etwas auf sich, ist selbstbewusst und hat seine guten Gründe dazu. Nebst persönlichen Vorzügen ist es für seine Zeit wohlgebildet. Es hat die Schule genossen, liest eifrig – wie es sich für einen Backfisch gehört – empfindsame Romane, lernt bei einem bekannten Lehrer, der sonst in Kreisen von Grafen und Baronen verkehrt, tanzen und wird von einem Magister, einem Freund und Schützling der Familie, im Klavierspiel unterrichtet.[4]
Eindrücke, die es dem Leser schwer machen, an eine Schuld des Mädchens zu glauben. Die Vermutung liegt nahe, dass die junge Frau zu ihrem Unglück getrieben wurde. Selbst ein gesunder Verstand kann sich der Macht der gesellschaftlichen Konventionen bekanntlich schwer entziehen. Um sich dieser Vermutung anzunähern, werden im Folgenden die Verhältnisse der Hauptpersonen zueinander überprüft.
1.1 Evchen in der Objektrolle zu Gröningseck
Trotz ihres selbstbewussten Auftretens ist Evchen in Gröningsecks Gegenwart im ersten Akt etwas unsicher und verfällt ungewollt in die Rolle der sich zierenden, aber bereitwilligen jungen Frau. Auf Gröningsecks Annäherungen reagiert sie angetan und lachend[5], vermittelt dem Gesprächspartner eine aufgeschlossene Art, die leicht fehl gedeutet werden kann. Absolut offensichtlich ist es nämlich, dass Evchens ausgelassene Art nichts mit einer Frau gemeinsam hat, sondern eher den Anschein eines eingeschüchterten jungen Mädchens erweckt. Auch Gröningseck spricht mit ihr teilweise wie zu einem Kind: „Frisch Evchen! Nicht so geleppert, das Glas muß aus: (Evchen leerts.) So bist brav!“[6] Wegen der Anwesenheit der Mutter fürchtet sie keine Übergriffe seitens Gröningsecks und genießt die Konversation mit dem jungen, stattlichen und charmanten Mann. Als die Mutter in tiefen Schlaf verfällt, ergreift Evchen sofort die Angst und wird kurze Zeit später Objekt von Gröningsecks Begierde. Sie muss sich der sexuellen Gewalt fügen.
Inwieweit sie durch ihr vorhergehendes neckisches und schelmisches Verhalten den Übergriff herausgefordert hat, lässt sich schwer entscheiden. Aus heutiger Sicht steht die Unschuld des Mädchens zweifelsohne außer Frage. Im 18. Jahrhundert wurde eine sich zwar deutlich wehrende Frau durchaus als willig angesehen. Evchen animiert Gröningseck zumindest zu Annäherungsversuchen, indem sie ihm zum Beispiel „hinterrücks der Mutter ein Rübchen [schabt]“[7] oder sich gegen das Duzen Gröningsecks nicht mehr wehrt, was ihr anfänglich doch sehr missfallen hatte („Du! Seit wann so vertraut?“[8]). Ihr Umgang mit Männern zeugt trotzdem nicht von der Reife einer Frau, die sich ihrem Stand bewusst ist und Wert auf gesittete Unterhaltungen legt. Es ist eine pubertäre Schwärmerei oder Ähnliches für den Offizier zu vermuten. So auch Beat Weber:
Die Liebe auf den ersten Blick gegenüber dem jungen Offizier ist Evchen ohne weiteres zuzutrauen […] Er begegnete Evchen wie einer Dirne oder einem dümmlichen, leichtfertigen Mädchen, und dabei hatte es überhaupt noch keine geschlechtliche Erfahrung […].[9]
Evchen wird mehr und mehr Objekt des Offiziers. Durch die perfekte Beherrschung seiner Gentleman-Rolle erweckt er bei Evchen die Vorstellung eines Traumprinzen, der schön und erfolgreich ist, aber sich im Vergleich mit anderen noch nicht einzuschätzen weiß („Noch aber bin ich nicht Hauptmann, und laß mich nicht gern mehr schelten, als ich bin“[10]). Seine Bescheidenheit beeindruckt sie und nimmt ihr die Angst vor der Offiziersfigur. Sie lässt sich voll und ganz blenden.
In der Vergewaltigung gipfelt die Objektrolle der jungen Frau:
(Er will sie umarmen und küssen, sie sträubt sich, reißt sich los, und lauft der Kammer zu.) Mutter! Mutter ich bin verlohren.- […] Inwendig Getös; die alte Wirthin und Marianel kommen, stellen sich aber als hörten sie nichts; nach und nach wird’s stiller.[11]
Als Evchen aus dem Zimmer stürmt, schreit sie ihre schlafende Mutter verzweifelt an. Sie ist nicht mehr im Stande Größe zu zeigen und wird sich auch der Lage langsam bewusst: „deine Tochter ist zur Hure gemacht.“[12] Nachdem Gröningseck versucht sie in ihre Schranken zu weisen[13], fängt sie an ihn zu beschimpfen, gewinnt aber durch ihr Schluchzen und Weinen keinen Einfluss als handelndes Subjekt, sondern verharrt in der
Objektrolle. Gröningseck tritt aus seiner Gentleman-Rolle erstmals heraus und demütigt Evchen:
„wollen sich selbst fürs Teufels Gewalt prostituieren?“[14]
Evchen ist den verbalen Angriffen schutzlos ausgeliefert, da sie immer noch unter Schock steht. Gröningseck möchte sie glauben lassen, sie habe den Akt, ebenso wie er, bewusst gewollt. Bisher bewegt sich das Stück in der klassischen Rollenverteilung. Bei der Analyse der Subjektrolle wird aber später deutlich werden, dass genau an dieser Stelle im ersten Akt, die Handlung plötzlich ihren eigenen Rahmen zu sprengen beginnt.
Im zweiten Akt treffen die beiden in Gegenwart der Eltern wieder aufeinander. Evchen fällt es sichtlich schwer, sich gegenüber Gröningseck höflich zu verhalten, doch will sich vor den Eltern keine Blöße geben. Das Treffen stößt bei Evchen auf Widerwillen, da sie sich den gesellschaftlichen Gepflogenheiten fügen muss. Wieder wird sie Objekt: Objekt der gesellschaftlichen Konventionen und eingeschränktes Objekt Gröningsecks. Dieser nutzt die Gelegenheit seiner Vorzugsstellung für eine schnippische Anspielung:
v. Gröningseck. Wenn ich etwas zu ihrer Beruhigung – Zerstreuung wollt ich sagen! Bey-[-37] tragen kann, Mademoiselle! – so solls mir eine Freude seyn.
Evchen (mit gezwungenem Lächeln.) Ich wills erwarten Herr Lieutenant, ob Sie Wort halten.[15]
Er weiß, dass sie keine Widerworte geben kann, auch wenn sie es unter vier Augen getan hätte. Eine gute Möglichkeit für Gröningseck sein Selbstbewusstsein aufzubessern, ohne eigens etwas dafür tun zu müssen. Während Evchen mit ihrem starken Charakter ihre eigene Stütze ist, muss sich Gröningseck auf die Gesellschaft verlassen, die ihn immer wieder auffängt.
Nach den Anstrengungen, das Bild der braven Tochter aufrecht zu erhalten, verfällt Evchen in tiefes Selbstmitleid.
Versuche sich aus der Objektrolle zu befreien, scheitern an der Vielfalt der Sorgen, die sie beschäftigen. Evchen ist mit ihrem Zustand maßlos überfordert und verliert zunehmend den Halt unter den Füßen:
Wie tief bin ich gefallen! – Mir selbst zu Last! – […] Dürft ich nur niemanden ansehn, säh mir nur kein Mensch in die Augen! […] Sei ruhig mein Herz![16]
Im zweiten Akt ist Evchen trotz aller Melancholie um Gröningseck vor allem Objekt der Eltern und Objekt ihres eigenen Gewissens. Obwohl sie nach außen stark wirken möchte, fehlen ihr die Kräfte gegen ihre eigenen Ängste weiterhin alleine anzukämpfen. Die fehlende Bindung zu den Eltern verstärkt die Angst, von Gröningseck doch noch verlassen zu werden. Ein Vorahnung, die sich leider bewahrheiten wird.
Im vierten Akt verliert Evchen jeglichen Stolz. Leichtsinnig schüttet sie Gröningseck ihr Herz aus und wird dadurch für ihn angreifbar. Obwohl Gröningseck anfangs sehr verständnisvoll ist und das Eheversprechen sogar aufs Feierlichste wiederholt, schwingt eine gewisse Spannung in der Unterhaltung mit, die sich negativ auf Evchen auswirkt. Er scheint sich über die Offenheit Evchens auf zwei Arten zu freuen:
Einerseits ist er froh, dass auch ihr Herz für die Liebe schlägt, andererseits erkennt er seinen Vorteil in der Verletzbarkeit Evchens: Befriedigt durch das offene Gespräch mit seinem Freund Hasenpoth, hat er nicht das Bedürfnis sich Evchen zu öffnen und bleibt unangreifbar.
Gröningseck nutzt so den schwachen Moment Evchens, um gleich nach seinem Versprechen von seinen Gefühlen abzulenken. Er möchte sich seiner gesellschaftlichen Position wieder etwas gewisser werden: Er unterstellt Evchen mangelnde Größe, macht ihr Vorwürfe bezüglich ihrer auffällig melancholischen Art und stärkt auf diesem Wege sein Selbstbewusstsein. Evchen lässt sich einschüchtern und gerät in Erklärungsnot, welche sie dazu treibt, ein Liebesgeständnis abzulegen. Gröningseck fordert dieses Geständnis mit allen Mittel heraus, um sich, der sich in Evchen verliebt hat, wieder in einer starken Position zu sehen und nicht selbst in die Objektrolle zu verfallen:
v. Gröningseck. Versprachst du mir nicht, dir Gewalt anzuthun – dir nichts merken zu lassen!-
Evchen. Es ist wahr, ich versprach, mir alle Mühe desfalls zu geben; thats auch, und-
v. Gröningseck. Und doch kam ich niemals ins Zimmer, dass du nicht bis in die Augen roth geworden wärst! – Wars Zorn, Verachtung, Abscheu?
Evchen. Das wars nicht Gröningseck! Ich liebte sie, so wie ich sie kennen lernte, jetzt kann ichs ihnen sagen – sonst hätten sie mich nicht so schwach gefunden,- und kann sie auch noch nicht hassen, wenn ich auch nie die Hofnung hätte, die Ihrige zu werden […][17]
[...]
[1] Wächterhäuser, Wilhelm: S. 72 ff.
[2] Weber, Beat: S. 16: Die Preisfrage lautete: „Welche sind die besten ausführbaren Mittel, dem Kindsmord Einhalt zu thun? Eine Preisfrage von 100 Dukaten“. Über 400 Antworten wurden eingesandt.
[3] Wagner, Heinrich Leopold: S. 23.
[4] Weber, Beat: S. 80f.
[5] Wagner, Heinrich Leopold: Die Kindermörderin. S. 7.
[6] Wagner: S. 12.
[7] Wagner: S. 8.
[8] Wagner: S. 6.
[9] Weber, Beat: S. 84.
[10] Wagner: S. 5.
[11] Wagner: S. 16.
[12] Wagner: S. 17.
[13] Ebd.
[14] Ebd.
[15] Wagner: S. 28.
[16] Wagner: S. 29.
[17] Wagner: S. 51.
- Quote paper
- Elsa-Laura Horstkötter (Author), 2008, Heinrich Leopold Wagners "Die Kindermörderin" als literarische Stellungnahme zum gesellschaftlichen Umgang mit der Kindsmordproblematik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124379
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