In der vorliegenden Hausarbeit zur Funktion Keies in der Artusgesellschaft werde ich nach einer Einführung der Figur und ihres Truchsessen-Amtes am Hof zunächst auf ihre Funktionen in der »klassischen« Artusgesellschaft eingehen. Meine Untersuchung wird sich dabei auf Textstellen aus Hartmanns Iwein sowie Wolframs Parzival stützen. Danach werde ich, bevor ich ein kurzes Fazit ziehe, anhand von Strickers Daniel von dem Blühenden Tal der Frage nachgehen, inwieweit die Keie-Figur im spät-höfischen Artusroman, wie von Jürgen Haupt postuliert, ihre gesellschaftlichen Funktionen sowie ihre Funktion auf narrativer Ebene vollständig eingebüßt hat.
Inhalt
1. Einleitung
2. Keie, Truchsess am Artushof
3. Keies Funktionen in der »klassischen« Artusgesellschaft
3.1 Keie als Sündenbock (in Hartmanns Iwein)
3.2 Keie als gewalttätiger Verteidiger der Ordnung des Artushofes (in Wolframs Parzival)
4. Der »nachklassische« Keie: ein funktionsloser Epigone der eigentlichen Keie-Figur? (in Strickers Daniel von dem Blühenden Tal)
5. Keies Bedeutung für den Artushof, ein kurzes Fazit
6. Literatur
1. Einleitung
In der vorliegenden Hausarbeit zur Funktion Keies in der Artusgesellschaft werde ich nach einer Einführung der Figur und ihres Truchsessen-Amtes am Hof zunächst auf ihre Funktionen in der »klassischen« Artusgesellschaft eingehen. Meine Untersuchung wird sich dabei auf Textstellen aus Hartmanns Iwein sowie Wolframs Parzival stützen. Danach werde ich, bevor ich ein kurzes Fazit ziehe, anhand von Strickers Daniel von dem Blühenden Tal der Frage nachgehen, inwieweit die Keie-Figur im spät-höfischen Artusroman, wie von Jürgen Haupt postuliert, ihre gesellschaftlichen Funktionen sowie ihre Funktion auf narrativer Ebene vollständig eingebüßt hat.
2. Keie, Truchsess am Artushof
Keie, der zum festen Figureninventar des Artusromans gehört, jedoch nie die Rolle des herausragenden Protagonisten, des »Helden«, einnimmt, scheint auf den ersten Blick reduziert auf eine belanglose, wenngleich auch ungemein unterhaltsame Nebenrolle. Am Artushof erscheint er zunächst nur als enfant terrible, das keine Gelegenheit auslässt, sich gegen alle höfischen Sitten daneben zu benehmen: Keie spottet, prügelt, verlacht. Dabei macht er in seinen angriffslustigen Tiraden selbst vor König und Königin keinen Halt. Sein ganzes Verhalten, insbesondere sein häufig verletzend aggressiver Umgang mit den anderen Artusrittern, wirft einige Fragen auf, deren Beantwortung für das Verständnis dieser Figur unabdingbar ist: Wie kann ein notorischer Unruhestifter, ein bad boy wie Keie, für den Hof tragbar sein? Welche Funktion erfüllt er im gesellschaftlichen Gefüge des Artushofs? Hat die Figur eine Bedeutung auf narrativer Ebene, die über den reinen Unterhaltungswert hinausreicht? Soll Keie wirklich nur als Gegenpol zu einem im höfischen Sinne vollkommenen Ritter wie Gawein dienen?
Für die Beantwortung dieser Fragen erscheint es mir zunächst wichtig, davon auszugehen, dass ausgerechnet Keie als Truchsess das höchste Amt am Hof innehat. Schon in der Bekleidung eben dieses Amtes liegt ein entscheidende Teil seines Wertes für die Artusgesellschaft. So stellt Jürgen Haupt in seiner 1971 veröffentlichten Dissertationsarbeit Der Truchseß Keie im Artusroman. Untersuchungen zur Gesellschaftsstruktur im höfischen Roman fest: »Als T r u c h s e ß ist er unentbehrlich. Er nimmt eine undurchsichtige Zwischenstellung ein zwischen einem Hof-Beamten, einem gleichberechtigten Ritter der ‚Tafelrunde‘ und einem Vertrauten des Königs.«[1] Trotz seines hohen Amtes, mit dem man eine gewisse gesellschaftliche Reputation assoziieren sollte, scheint Keie in der höfischen Gesellschaft aufgrund seines ganz und gar unhöfischen, teilweise recht zweifelhaften Verhaltens vollkommen isoliert. In der »Diskrepanz von ehrenvoller Stellung und umstrittener Person«[2], dem »Kontrast von ‚schlechtem Charakter‘ und Tüchtigkeit im ‚Amt‘«[3] sieht Haupt dann auch zu Recht die grundsätzliche Widersprüchlichkeit der Keie-Gestalt begründet. Zugleich wirft er die Frage auf, »ob nicht gerade das Truchsessen-Amt wesentlich mit dazu beiträgt, die Keie-Darstellung ins Negative zu ziehen«[4] und folgt hiermit Hertz, der beobachtet, dass allgemein »Truchseß, Seneschall und Steward [...] in den mittelalterlichen Dichtungen die Rolle des Intriganten und Bösewichts zu spielen [...] pflegen«[5]. Haupt stellt »noch unmittelbar vor Chrétien (Erec, 1165?) und Eilhart [...] (1170) ein zwar unpersönlich-dürftiges, aber durchaus p o s i t i v e s Keie-Bild mit den stereotypen Zügen von Königstreue, Tapferkeit, Tüchtigkeit«[6] fest und verweist außerdem auf Geoffreys Cajus-Figur, die ein tapferer Heerführer, ein bis zur Selbstaufopferung treuer Freund und überhaupt ohne »schlechte« Eigenschaften, also - wie es für einen »echten« Artusritter typisch ist - völlig idealisiert wird. Folglich kommt Haupt mit Jean Marx zu dem Schluss, dass die Keie-Figur vor Chrétien noch der Verteidiger der Etikette, der Bewahrer des Guten und der Artus-Tafel war. Zweifelsohne erscheint die Darstellung des Keie seit Chrétien deutlich negativer. Insbesondere ihr vorbildlich höfisches Verhalten scheint die Keie-Figur mit der Zeit abgelegt zu haben. Haupt übersieht hier jedoch, dass der »neue« Keie vielleicht gerade mit seinem aggressiv-provokanten, überaus »schwierigen« Charakter die Artusgesellschaft zusammenhält, eine These, die ich im weiteren Verlauf meiner Arbeit zu unterstreichen versuche.
Nichtsdestotrotz bleibt die insgesamt sehr negative Rolle der Truchsesse in der mittelalterlichen Literatur auffällig. Ein Beispiel hierfür ist Hartmanns Iwein, in dem die Zofe Lunete, unschuldig gefangen gehalten, über Neid, Hinterlist und brutale Gewalt des Truchsessen der Laudine klagt:
die drî der gewalt ich dol,
der ein ist truhsæze hie,
und sîne bruoder, die mir ie
wâren nîdec und gehaz,
wand mich mîn vrouwe hâte baz
dan sî mir des gunden (V. 4110 ff.)
Als einen weiteren missgünstigen Truchsess finden wir in Wolframs Parzival: Kingrun, der, ähnlich wie Keie, einerseits seinem König treu ergeben, andererseits kritisch, beinahe neidisch erscheint. Nachdem Parzival dessen König Clamide besiegt und zum Artushof geschickt hat, »will [Kingrun] Artus den Ruhm des Sieges nicht gönnen«[7]:
die Berteneise ir lobes rîs
Waenent nu hôch gestôzen hân:
âne ir arbeit istz getân [...] (V. 221, 26 ff.)
Weitere Beispiele für den grundsätzlich eher zweifelhaften Charakter des Truchsessen in der mittelalterlichen Literatur tauchen etwa in Konrads von Würzburg Otte mit dem barte und Gottfrieds Tristan (Marjodo und der Truchsess des irischen Königs) auf. Insbesondere der Truchsess des irischen Königs erscheint in seiner Ruhmsucht, die ihn letzten Endes nur lächerlich macht, vergleichbar mit Keie. Haupt fasst folglich zusammen: »Das Truchseß-Bild in den wichtigsten höfischen Romanen erscheint generell, selbst noch bei Wolfram, als umstritten, kritisiert, mehr oder weniger negativ. Eine gegenseitige Beeinflussung ist nur in einigen Fällen deutlich erkennbar [...].«[8] Haupt glaubt hier einen Verweis »von der Literatur auf die Wirklichkeit«[9] zu beobachten.
Tatsächlich erscheint eine Untersuchung der gesellschaftlichen Wirklichkeit dieses eigentlich sehr angesehenen Amtes sowie der konventionellen Vorstellung vom Truchsess lohnenswert. Das Truchsessen-Amt, vergleichbar »mit der heutigen Position eines Wirtschafts- und eines Finanzministers zugleich«[10], begünstigte »[b]esonders [durch] die alleinige Kontrolle über die Staatsfinanzen [...] den Machtmißbrauch, sei es nun auf Kosten des Adels oder des Königs«[11]. Auch im Frankreich des 11. Jahrhunderts wurde die Machtposition des Truchsessen durch die schwache Zentralgewalt des Königshauses begünstigt: »Seit den siebziger Jahren [...] tritt er aus dem Rahmen eines Hofamtes heraus und wird zu einer Art Vizekönig. Erst seit 1191 [Chrétiens Artusromane sind bereits alle veröffentlicht!] bleibt das Amt endgültig unbesetzt [...].«[12] Insbesondere der Hofadel hatte unter der starken Machtposition des Truchsessen zu leiden. Haupt sieht hier einen direkten Einfluss auf das Truchsessen-Bild in der Literatur dieser Zeit: »Da Chrétien unter der Perspektive der Hofaristokratie sieht und schreibt, ist es erklärlich, daß er sich diese Truchseßen-Vorstellung zu eigen machen konnte: Dieses Amt war psychologisch belastet; jeder Truchseß hatte mit Vorurteilen zu kämpfen – selbstverständlich, daß man auch dem Truchseß in der Literatur von vornherein Übles zutraute.«[13] Hierin sieht Haupt den entscheidenden Grund dafür, dass die Keie-Figur in Misskredit geraten konnte. Die mit der Bedeutung des Amtes gewachsene, anscheinend durchaus berechtigte[14] Angst vor der latenten Gefahr des Machtmissbrauchs sowie die entstandenen Vorbehalte gegenüber den Amtsträgern werden sich also auch in der literarischen Gestaltung der Figur widergespiegelt haben. So wurde auch Keie wohl unweigerlich zum »Typ des kritisierten Truchseßen«[15]. Wie ich im Folgenden aufzuzeigen suche, kommt dem bad boy der Artusdichtung für den Artushof jedoch eine ganz entscheidende Funktion zu, die weit über die eindimensionale Rolle des intriganten, bösartigen Truchsess hinausgeht.
3. Keies Funktionen in der »klassischen« Artusgesellschaft
3.1 Keie als Sündenbock (in Hartmanns Iwein)
Folgt man Werner Röcke und seinem Aufsatz Provokation und Ritual. Das Spiel mit der Gewalt und die soziale Funktion des Seneschall Keie im arthurischen Roman, so übernimmt Keie, der am Ende seiner aggressiven Tiraden häufig von den anderen ausgelacht wird, für kurze Zeit immer wieder die Rolle eines Sündenbocks, der »Rivalität und Gewaltbereitschaft auf sich zieht, dann aber ins Komische verschiebt und auf diese Weise abschwächt«[16]. Desweiteren sieht Röcke in der »Stereotypie von Keies Fehltritten, seines Spotts und seiner verletzenden Aggressivität, aber auch [in der] Verschiebung der drohenden Gewalt zum Gelächter [...] eine Konfliktsituation [inszeniert], wie sie für Gesellschaften ohne Staat typisch sind. Dabei wird in der rituellen Wiederholung der Fehltritte, vor allem aber des Gelächters über sie die Abwendung der drohenden Gewalt und die Reduktion der Gefährdung der Gesellschaft je neu vollzogen.«[17] So interpretiert Röcke Keies heftige Kritik an Iwein, der von Ehrgeiz getrieben das Brunnenabenteuer, von dem Kalogrenant berichtet hat, wiederholen will, als »offensichtlich wohl kalkulierte und keineswegs zufällige Unverschämtheit«[18]. Keie diagnostiziert ein Konfliktpotential, das sich daraus ergibt, dass sowohl Iwein als auch Artus für sich in Anspruch nehmen, das Brunnenabenteuer auf sich zu nehmen. Durch den provozierten spielerischen, (bewusst) überzogenen Disput zwischen Keie und Iwein, gelingt es dem Truchsess, die durch die zwischen Iwein und Artus drohende Rivalität zu befürchtende Gewalt auf sich zu lenken. Da sich Iweins »Gewaltpotential«[19] nun nicht mehr auf König Artus als seinen unmittelbaren Rivalen, sondern auf den spottenden Keie richtet, und es zudem bei einer aggressiven verbalen Auseinandersetzung bleibt, »bedroht [die entstandene Rivalität] nicht mehr den Bestand der arthurischen Gesellschaft und Machtverteilung, sondern lediglich den guten Ruf Keies, den man [als Sündenbock] verlachen und verspotten kann«[20]. Diese Funktion des »Ersatz-Rivalen«, die letztlich die eines Sündenbocks ist, kann Keie nur übernehmen, da er allein schon aufgrund seines Amtes den beiden eigentlichen Rivalen ebenbürtig ist: »[G]erade in seiner Ähnlichkeit mit Iwein und Artus [liegt] die Voraussetzung dafür [...], daß er die Rolle des stellvertretenden Opfers übernehmen kann.«[21]
Der Sündenbockmechanismus, nach dem sich die so inszenierte »Reduktion der Gefährdung der Gesellschaft«[22] vollzieht, kann in der Eingangsszene des Iwein, dem Hoffest, zuvor schon sehr gut verdeutlicht werden. Noch vor der Auseinandersetzung zwischen Keie und Iwein kommt es zu einer Störung des Hofes durch das Fehlverhalten anderer Mitglieder. In diesem Fall ist es König Artus, der sein eigenes Fest verlässt, um zusammen mit der Königin schlafen (?) zu gehen. Es bedarf nicht gerade eines Übermaßes an Phantasie, um in Vers 83 f. auch eine erotische Komponente zu lesen.
[...]
[1] Haupt, S. 10
[2] ebd., S. 60
[3] ebd.
[4] ebd.
[5] Hertz, S. 525
[6] Haupt, S. 61
[7] ebd., S. 65
[8] ebd., S. 70
[9] ebd.
[10] ebd.
[11] ebd.
[12] Hoops, J.: Reallexikon d. germ. Altertumskunde. Bd. 2, S. 458
[13] Haupt, S. 71
[14] vgl. Waitz, G.: Deutsche Verfassungsgeschichte 2, 2. Berlin 1882, S. 92 f.
[15] Haupt, S. 72
[16] Röcke, S. 346
[17] ebd., S. 347
[18] ebd., S. 350
[19] ebd., S. 351
[20] ebd.
[21] ebd.
[22] ebd., S. 347
- Arbeit zitieren
- David Bies (Autor:in), 2006, Die Funktion Keies in der Artusgesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124319
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