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Der erste Teil der Arbeit geht der Frage nach wer Dionysos ist. Da nicht alle Aspekte hier
berücksichtigt werden können – ist er doch dafür eine zu vielgestaltige und vielschichtige
Figur der antiken Mythologie – werde ich mich darauf beschränken den Gott vorzustellen,
den Nietzsche in ihm gesehen hat. Der zweite Teil behandelt dann die Interpretation des
Dionysos in Nietzsches Frühwerk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ als
natürlichen Kunsttrieb und Weltprinzip. Sich ausschließlich auf die Rolle des Dionysos bei
Nietzsche zu konzentrieren würde allerdings nicht ihrem Verständnis dienen. Apoll und
Sokrates, die zwei großen Antagonisten des Dionysos, spielen eine ebenfalls erhebliche Rolle
in Nietzsches Tragödienbuch, einerseits für das Kunst- und Weltverständnis Nietzsches,
andererseits helfen sie dabei das Wesen des Dionysischen einzugrenzen und zu bestimmen.
Sie beantworten die Frage, wer Dionysos nicht ist, was ihm nützt und schadet. In einer
Schlussbemerkung will ich kurz die Bedeutung des Dionysischen für die spätere Philosophie
Nietzsches an einem Bild aus Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ veranschaulichen.
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INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung – Dionysos spielt im Bordell plötzlich Klavier
2. Dionysos
2.1 Vorbemerkungen
2.2 Herkunft
2.3 Auftreten, Erscheinung
2.4 Wahnsinn, Musik, Wein
2.5 Der Feuergeborene und der Dionysos-Zagreus Nietzsches
3. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
3.1 Dionysos und Apoll
3.1.1 Dionysischer Wille und apollinische Individuation
3.1.2 Traum und Rausch
3.1.3 Die Kunst
3.1.4 Die Tragödie
3.2 Dionysos und Sokrates
3.2.1 Tod der Tragödie und des Dionysos
3.2.2 Wiedergeburt der Tragödie
4. Schlussbemerkung – Selbstkritik und das spielende Kind
5. Literaturverzeichnis
5.1 Textausgaben
5.2 Sekundärliteraturen
1. Einleitung – Dionysos spielt im Bordell plötzlich Klavier
Der Student Nietzsche geht in Köln spazieren. Er ist fremd hier und besichtigt die Stadt. Die fehlende Ortskenntnis führt dazu, dass er sich urplötzlich – natürlich nur versehentlich – in einem Bordell wieder findet. Nietzsche verhält sich jedoch nicht, wie in einer solchen Situation eigentlich anzunehmen. Weder verlässt er das Gebäude fluchtartig, noch lässt er sich von den Reizen der leicht bekleideten Damen verführen. Stattdessen setzt er sich ans Klavier und spielt ein paar Akkorde. Danach erhebt er sich würdevoll und verlässt das Etablissement.
Es ist ungeklärt, ob diese Geschichte, die ein Freund Nietzsches später erzählt, sich wirklich so zugetragen hat oder frei erfunden ist.1 Ich will sie, um an das eigentliche Thema dieser Arbeiten heranzuführen, als Mythos verstehen und spielerisch versuchen eine Analogie zwischen Nietzsches Erlebnis und dessen Dionysos-Interpretation zu ziehen.
Nietzsche ist in Köln ein Fremder. Auch Dionysos ist immer der fremde Gott, der von Außerhalb kommt und wieder dorthin verschwindet - zumindest von einem festen Standpunkt aus gesehen, hier dem Bordell. Spontan und plötzlich erscheint Dionysos. Nietzsche eher ungewollt, dafür aber genauso unvorhergesehen im Freudenhaus. Die Musik, dargestellt durch Nietzsches kleines Konzert, ist die dionysische Kunst. Die schönen Erscheinungen der bildenden Künste braucht Dionysos nicht, die schönen Formen der Weiblichkeit interessieren Nietzsche nicht. Am Ende verschwinden beide und es ist fast so, als wären sie nie da gewesen.
Der erste Teil der Arbeit geht der Frage nach wer Dionysos ist. Da nicht alle Aspekte hier berücksichtigt werden können – ist er doch dafür eine zu vielgestaltige und vielschichtige Figur der antiken Mythologie – werde ich mich darauf beschränken den Gott vorzustellen, den Nietzsche in ihm gesehen hat. Der zweite Teil behandelt dann die Interpretation des Dionysos in Nietzsches Frühwerk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ als natürlichen Kunsttrieb und Weltprinzip. Sich ausschließlich auf die Rolle des Dionysos bei Nietzsche zu konzentrieren würde allerdings nicht ihrem Verständnis dienen. Apoll und Sokrates, die zwei großen Antagonisten des Dionysos, spielen eine ebenfalls erhebliche Rolle in Nietzsches Tragödienbuch, einerseits für das Kunst- und Weltverständnis Nietzsches, andererseits helfen sie dabei das Wesen des Dionysischen einzugrenzen und zu bestimmen. Sie beantworten die Frage, wer Dionysos nicht ist, was ihm nützt und schadet. In einer Schlussbemerkung will ich kurz die Bedeutung des Dionysischen für die spätere Philosophie Nietzsches an einem Bild aus Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ veranschaulichen.
2. Dionysos
2.1 Vorbemerkungen
Es ist schwer, sogar fast unmöglich, das Wesen des Dionysos auf einige wenige Eigenschaften und Attribute zu reduzieren. Zu mannigfaltig und verschieden tritt dieser Gott auf. Als Naturgott, dem die Menschen den Rebstock und den Wein verdanken, ist er wohl am meisten und weitläufigsten bekannt. Efeu, Pinie, Feige und natürlich der Rebstock sind des Dionysos liebste Pflanzen und seine ihn begleitenden und bekleidenden Symbole. Er ist der Gott des Rausches und der Liebe, aber auch des Leides, des Wahnsinns und der Raserei. Musik, Tanz und das Tragische sind eng mit ihm verbunden, darin findet das Dionysische seinen Ausdruck. Obwohl Dionysos ein ungemein lebendiger Gott ist, bewegt er sich gleichzeitig doch immer am Rande des Todes. Er steckt voller Widersprüche und ist der ungriechischste Gott der Griechen. Daher ist seine ursprüngliche Herkunft bis heute umstritten.2
2.2 Herkunft
Je nach unterschiedlichen Mysterien und Epiphanien, wird die Geburtstätte des Dionysoskultes aufs Unterschiedlichste verortet. Von Kreta bis Kleinasien, Thrakien, Phrygien und Lydien reichen die geographischen Bestimmungen. Nachgewiesen sind sowohl mediterrane, als auch ägäisch-vorderasiatische, ägyptische und arabische Prägungen.3 All diese Theorien laufen darauf hinaus, dass der Dionysoskult von außerhalb erst spät nach Griechenland gelangt. Dies widerspricht jedoch der Tatsache, dass die Griechen selbst ihren Dionysoskult für etwas Uraltes hielten. Die Anthesterien vor der Wanderung der Ionier werden von Thukydides als die „alten Dionysien“ bezeichnet. Weiter beweist Dionysos in Form seiner Mythen und Kulte schon in den Epen Homers durch detaillierte Erwähnung seine Anwesenheit im griechischen Volksglauben. Er erscheint hier sowohl als der Gott des Weines, als auch der rasende, leidende und verfolgte Dionysos mitsamt seinen ebenso rasenden Begleiterinnen, den Bacchantinnen. Dies veranlasst Walter F. Otto zu dem Schluss, dass „Dionysos [...] zum mindesten schon gegen Ende des zweiten Jahrtausends im griechischen Kulturkreise heimisch gewesen sein [muß].“4 Die ursprüngliche Herkunft des Dionysos scheint ungeklärt, stehen sich doch zu viele und zu unterschiedliche Aussagen und Forschungsergebnisse gegenüber. Die These, dass Dionysos erst sehr spät nach Griechenland gelangt, scheint dagegen widerlegt, die, dass der Gott, seine Mythen und sein Kult schon sehr früh auch den Griechen bekannt war, dagegen sehr wahrscheinlich.5
2.3 Auftreten, Erscheinung
Sicher ist, dass Dionysos keinen festen „Wohnsitz“ besitzt. Im Gegensatz zu anderen Göttern, die durch Kultstätten und Tempel einem bestimmten oder mehreren Orten zugewiesen werden können und dort auch in regelmäßigen Abständen „erscheinen“, verweilt Dionysos an keinem festen Platz. Er ist ständig auf Reisen, ständig auf dem Weg, der immer Ankommende.
„Dionysos ist im wahren Sinne des Wortes der Gott, der kommt: er erscheint, er offenbart sich, er kommt, um erkannt zu werden. [...] Man trifft ihn überall, doch nirgendwo ist er zu Hause“.6
Gleichzeitig sind sein Auftreten und seine Erscheinung ebenfalls ständigem Wandel unterworfen. Er tritt als Fremder auf, kommt immer von Außerhalb, bedeckt mit einer Maske einer unbekannten Macht. Dionysos ist rätselhaft und unergründlich. Häufig bleibt er unerkannt, sogar als Gott verkannt. Seine Epiphanien sind begleitet von Grausamkeiten und Raserei, Konfrontationen, Konflikten und Feindseligkeiten. Spontaneität, das Plötzliche und Drängende sind charakteristisch für sein unvermitteltes Auftreten, aber auch sein Verschwinden.7 Die Maske ist ein Zeichen der Naturgottheit und „unausweichlicher Gegenwärtigkeit“8. Im Gegensatz zur Ferne der olympischen Götter, wird hier die Nähe des Gottes zu den Menschen betont. Seine Unmittelbarkeit und sein Blick, der die Menschen direkt trifft und sie ansieht, werden durch die Maske symbolisiert, ebenso wie der ihm immanente Widerspruch zwischen Präsenz und Absenz.9
2.4 Wahnsinn, Musik, Wein
Der Wahnsinn ist es, der die Wesensart des Dionysos am deutlichsten beschreibt. Wahnsinn allerdings nicht nur im gebräuchlich negativen Sinne als geistige Rohheit und Verlust sämtlicher Vernunft und Intellekt, sondern auch als Ausdruck innerer, natürlichster Gesundheit, der sogar eine völlige Reinigung erwirkt. Straffe und feste, „tote“ Ordnung wird in ihm zum lebendigen Chaos.
„Es ist der Wahnsinn des Mutterschoßes, der allem Schöpfertum beiwohnt, die geordnete Existenz immer wieder zum Chaos macht, die Ur-Seligkeit und den Ur-Schmerz heraufführt, und in beiden die Ur-Wildheit des Seins.“10
Symbolischen Ausdruck findet dieser Wahnsinn in der Musik und im (ekstatischen) Tanz, sei es durch den tanzenden und musizierenden Dionysos selbst, seine Begleiter oder durch die Rituale dionysischer Kultfeste. Wie der Wahnsinn zu Dionysos, so verhält sich der Rausch zum Wein. Es liegt nahe sogar Beides miteinander gleichzusetzen. Ist doch Dionysos der Entdecker des Weines und lässt der Wein den Menschen im Rausch sich selbst vergessen, hingerissen zu chaotischer Lebendigkeit, so verhält sich der vom dionysischen Wahnsinn Befallene nicht anders. Geschichten erzählen, dass bei Erscheinung des Dionysos Weinreben schneller wachsen und Wein in Strömen fließt. Auch der Mythos der Geburt des Dionysos als „der Feuergeborene“ weist Parallelen zum Wein auf, dem wegen seiner Wirkung das Attribut des Feuers zugesprochen wird.11 Die Verstrickung von Wahnsinn, Wein, Musik, Tanz, Rausch, Wildheit, Schrecken und lebendiger Ekstase mit einer natürlichen und geheimnisvoll tiefen Ursprünglichkeit vollzieht sich in der Figur des Dionysos.
2.5 Der Feuergeborene und der Dionysos-Zagreus Nietzsches
Dionysos ist der Sohn des Göttervaters Zeus und der sterblichen Semele, Tochter des Kadmos von Theben. Noch während der Schwangerschaft stirbt die Mutter in den Blitzflammen des Zeus. Die eifersüchtige Hera hat Semele zuvor dazu überredet, dass jene von Zeus verlangt sich ihr in seiner wahren Gestalt zu zeigen, wohl wissend, dass kein Sterblicher diesen Anblick überleben kann. Dionysos, aus dem göttlichen Feuer geboren, wird durch Efeuranken, die sich schützend um ihn legen und ihn kühlen gerettet und weiter von Zeus ausgetragen und zur Welt gebracht.12
„So ist „der Zweimalgeborene“ schon vor seinem Eintritt in die Welt über alles Menschliche hinausgewachsen und zum Gott geworden, zum Gott der trunkenen Lust. Und doch war ihm, dem Freudenbringer, Leiden und Tod bestimmt – Leiden und der Tod eines Gottes!“13
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1 Vgl. Ross, Werner: Der wilde Nietzsche oder Die Rückkehr des Dionysos. S. 46.
2 Vgl. Otto, Walter F.: Dionysos. Mythos und Kultus. S. 49f.
3 Vgl. Ebd. S. 51, 56 – 58, 60. sowie Fauth, Wolfgang: Dionysos. S. 77-79.
4 Otto, Walter F.: Dionysos. Mythos und Kultus. S. 56.
5 Vgl. Ebd. S. 52ff.
6 Detienne, Marcel: Dionysos. Göttliche Wildheit. S. 10.
7 Vgl. Ebd. S. 8ff. sowie Otto, Walter F.: Dionysos. Mythos und Kultus. S. 74ff.
8 Otto, Walter F.: Dionysos. Mythos und Kultus. S. 83.
9 Vgl. Ebd. S. 82ff.
10 Ebd. S. 130.
11 Vgl. Ebd. S. 130ff.
12 Vgl. Ebd. S. 62ff.
13 Ebd. S. 62/63.
- Quote paper
- Frank Mages (Author), 2008, Das Dionysische und seine Gegenspieler in Nietzsches "Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124214
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