[...] Auf den nachfolgenden Seiten soll erläutert werden, ob und inwieweit das von Kirsten
Boie verfasste Jugendbuch Erwachsene reden. Marco hat was getan dieser problemorientierten
Jugendliteratur zugeordnet werden kann. Dabei wird besonders auf die
Aktualität der in dem Werk dargestellten Problematik und auf die Authenzität des
Dargestellten eingegangen. Im Anschluss daran soll der mögliche Einsatz der Lektüre
im Unterricht diskutiert und mögliche Unterrichtsstunden ausgearbeitet werden. Ziel
dieser Arbeit ist es zu zeigen, dass innerhalb des Literaturunterrichts die Abkehr vom
traditionellen Kanon literarischer Texte und die Aufnahme von Gegenwartsliteratur in
den Unterricht eine Bereicherung sein kann – vor allem dann, wenn auch bei der gemeinsamen
Erarbeitung der Lektüre im Unterricht neue Wege eingeschlagen werden.
Inhaltsverzeichnis
0. Neue Probleme tauchen auf und erfordern neue Mittel
1. Sachanalyse
1.1 Inhaltsanalyse
1.2 Zentrale Themen
1.2.1 Unterschicht und Präkariat
1.2.2 Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft
1.2.3 Fragen nach der Verantwortung
2. Didaktische Analyse
2.1 Leserbezogene Analyse
2.1.1 Lesealter
2.1.2 Formulieren von konkreten Lernzielen
2.2 Methodische Analyse
1. Unterrichtsstunde: Rechtsextremismus in Deutschland
2. und 3. Unterrichtstunde: Charakterisierung der Figuren
4. und 5. Unterrichtsstunde: Marcos Weg in die Katastrophe
6. Unterrichtsstunde: Marco
3. Abkehr vom traditionellen Literaturunterricht
Literaturverzeichnis
0. Neue Probleme tauchen auf und erfordern neue Mittel
Im Zuge der Realismusdebatte des Exils sagte Bertolt Brecht einst „Neue Probleme tauchen auf und erfordern neue Mittel“[1] und erklärte damit nicht nur den zu seiner Zeit mit den Veränderungen in der Welt einhergehenden Wandel der Literatur. Auch in der Gegenwart setzen politische und gesellschaftliche Veränderungen immer wieder Zäsuren. Denn literarische Werke sind in vielerlei Hinsicht ein Spiegel der Gesellschaft. In ihnen werden die Ängste und Sorgen, das Lebensgefühl, die Wirklichkeitsauffassung und die Zukunftsperspektiven einzelner dargestellt. Dabei verkörpern die Protagonisten Figuren, mit denen sich die Rezipienten identifizieren können – Figuren, die in einer imaginären Welt leben, die der Leser als Ausschnitt seines eigenen Lebensbereichs wieder erkennen kann.
Besonders deutlich ist dies in der Jugendliteratur zu erkennen. Der Inhalt eigens für die Heranwachsenden geschriebenen literarischen Werke hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant gewandelt.[2] Aus Schrifttum teils dichterischen, unterhaltenden, belehrenden und meist indirekt erziehenden Charakters[3] wurden zeitdiagnostische Medien, die sich vor allem durch ihre Problemnähe und ihre Zeitbezogenheit auszeichnen. Teile von Wirklichkeit rücken in das Zentrum der Darstellung, die Realität wird in einzelne Problemfelder segmentiert.[4]
Auf den nachfolgenden Seiten soll erläutert werden, ob und inwieweit das von Kirsten Boie verfasste Jugendbuch Erwachsene reden. Marco hat was getan dieser problemorientierten Jugendliteratur zugeordnet werden kann. Dabei wird besonders auf die Aktualität der in dem Werk dargestellten Problematik und auf die Authenzität des Dargestellten eingegangen. Im Anschluss daran soll der mögliche Einsatz der Lektüre im Unterricht diskutiert und mögliche Unterrichtsstunden ausgearbeitet werden. Ziel dieser Arbeit ist es zu zeigen, dass innerhalb des Literaturunterrichts die Abkehr vom traditionellen Kanon literarischer Texte und die Aufnahme von Gegenwartsliteratur in den Unterricht eine Bereicherung sein kann – vor allem dann, wenn auch bei der gemeinsamen Erarbeitung der Lektüre im Unterricht neue Wege eingeschlagen werden.
1. Sachanalyse
1.1 Inhaltsanalyse
Wie wird einer ein Mörder?
Wie wird so einer ein Mörder?
Er hat es vorher nicht gewusst, noch Stunden vorher hat er nichts davon gewusst.
Er hat es nicht geplant: Er hat darüber geredet.
Eigentlich jeden Tag hat er darüber geredet. Er hat es nicht geplant.[5]
Mit dieser Einleitung beginnt Kirsten Boie ihr Werk. Man erfährt, dass eine männliche Person etwas Schreckliches getan haben muss. Was, wann, wie und warum bleibt an dieser Stelle noch völlig offen. Von der traditionellen Art und Weise den Inhalt eines Buches zu erzählen weicht Kirsten Boie auch im Anschluss an diese einleitenden Sätze vollkommen ab, indem sie sowohl auf einen Erzähler als auch auf einen Protagonisten oder eine andere handelnde literarische Figur vollkommen verzichtet. Stattdessen lässt sie Freunde, Bekannte und Nachbarn des Mörders zu Wort kommen. Sie allein nehmen die Charakterisierung dieses Menschen vor, geben Urteile ab und vermitteln dem Leser Eindrücke darüber, wie es zu der Tat kommen konnte. Auf diese Weise spiegeln sie jedoch auch die Umgebung wieder, in der dieser junge Mann lebte – die Umgebung, in der er zu dem wurde, was er ist. Mit ihrer unkonventionellen Erzählweise folgt die Autorin Kirsten Boie, die nach ihrem erfolgreich absolvierten Staatsexamen ihre Promotionsarbeit über die frühe Prosa Bertolt Brechts schrieb[6], in Form und Struktur dessen epischem Theater.[7] Denn der Leser soll davon abgehalten werden, sich mit irgendeiner Figur oder dem Geschehen zu identifizieren. Stattdessen soll ihn eine gewisse Distanz zum Nachdenken über gesellschaftliche Verhältnisse motivieren. Aus diesem Grund bleiben auch sämtliche Wertungen hinsichtlich der von den einzelnen Personen vorgenommenen Aussagen allein dem Leser überlassen. Bei der folgenden anhand dieser Statements vorgenommenen Charakterisierung handelt es sich daher ebenfalls um eine rein subjektive Interpretation, die sicherlich hinsichtlich des einen oder anderen Aspektes diskutiert werden kann.
Marco wächst in einer kleinen Stadt auf, die am Rande noch ländlich geprägt ist. Der Anteil der zur Unterschicht gehörenden Bevölkerung ist ebenso wie der der Ausländer verschwindend gering.[8] Die meisten Bewohner haben ein eigenes Häuschen, es gibt nur wenige Mietwohnungen und keine Hochhäuser.[9] Arbeitsplätze sind jedoch kaum vorhanden. Die meisten fahren über die Autobahn 45 Minuten in die Stadt um ihren Lebensunterhalt zu erwerben.[10] Welcher gesellschaftlichen Schicht Marco und seine Familie zuzuordnen sind ist nicht ganz klar. Es ist jedoch anzunehmen, dass zumindest eines der Elternteile einer Erwerbstätigkeit nachgeht, da Marco von seiner Mutter immer wieder teure Sachen, Computerspiele, CDs, Klamotten usw. bekommt.[11] Bereits im Grundschulalter konsumiert Marco Zigaretten[12] und hat massive Probleme Autoritäten anzuerkennen. Seine Hausaufgaben erledigt er nur selten.[13] Trotz anhaltend schlechter schulischer Leistungen hält es Marcos Mutter jedoch nicht für nötig, mit der Schule zu kooperieren.[14] Als Marco in der vierten Klasse lediglich die Hauptschulempfehlung bekommt, gibt seine Mutter seiner Grundschullehrerin die Alleinschuld und lässt ihn allen Umständen zum Trotz auf das Gymnasium übertreten.[15] Nachdem er hier mit dem für ihn vollkommen neuen Druck nicht klar kommt, ist er jedoch Mitte der sechsten Klasse gezwungen auf die Realschule zu wechseln.[16] Doch auch hier schafft er es nicht, die nötigen Leistungen zu bringen. Vermutlich um sich selbst das Wiederholen der achten Jahrgangsstufe zu ersparen besucht er ab Ende dieser Klasse die Hauptschule,[17] was für ihn nicht nur einen schulischen, sondern auch einen sozialen Abstieg bedeutet. Denn die Freunde, denen er sich hier anschließt, gehören nicht unbedingt zu den Privilegierten in Marcos Wohnort, was in den mit ihnen geführten Interviews schon allein durch ihre Ausdrucksweise deutlich hervorgeht.[18] Und auch Marcos Klassenlehrer macht kein Geheimnis aus der Tatsache, dass nahezu alle Grundschüler nach der vierten Klasse ins Gymnasium oder in die Realschule wechseln und die Hauptschüler geradezu behaftet sind.[19] Gemeinsam mit seinen Schulfreunden Poffatz und Sigurd zieht Marco nun um die Häuser und verbringt viel Zeit innerhalb einer rechtsextremen Bewegung.[20] Gelegentlich nutzen er und seine Freunde auch das Angebot einer in dem Städtchen errichteten Jugendfreizeitstätte, die die Jugendlichen davon abhalten soll, auf der Straße herumzulungern. Durch die staatlich erzwungene Aufnahme zahlreicher Asylbewerber in Marcos Wohnort wird die nationale Bewegung weiter aufgeheizt.[21] Marco geht mit einem an seiner Kleidung befestigten Aufnäher mit der Aufschrift „Ich bin stolz ein Deutscher zu sein“ zur Schule und stachelt damit seinen ihm ohnehin nicht gut gesinnten Klassenlehrer nur noch mehr an.[22] Darüber hinaus hält sich in der Schule das Gerücht, dass in Marcos Zimmer ein Bild hängt, das die grausame Exekution hilfloser Juden zeigt.[23] Bei einer Klassenarbeit weigert sich Marco, die Fragen zu im Deutschen Reich errichteten Konzentrationslagern zu beantworten, woraufhin ihm sein Klassenlehrer auch viele andere erzielte Punkte aberkennt und die Arbeit mit „mangelhaft“ bewertet. Als Marco die Arbeit zurückbekommt ist ihm klar, dass er den Schulabschluss nun nicht mehr schaffen kann. Völlig außer sich rennt er aus der Schule. Wenig später taucht er alkoholisiert in der Jugendfreizeitstätte auf und wird vom dort beschäftigten Sozialarbeiter aufgefordert das Gebäude zu verlassen. In seinem Wahn gibt er nun den Ausländern Schuld an allem, was passiert ist, an allem, was in seinem Leben schief gelaufen ist. Er will ihnen einen Denkzettel verpassen, ihnen Angst einjagen. In dem von Marco gelegten Feuer verbrennen an diesem Tag zwei Kinder, die eigentlich noch ihr ganzes Leben vor sich hatten – zwei Kinder, die, wie Marco sagt, noch leben könnten, wenn sie in ihrem Anatolien geblieben wären.[24]
1.2 Zentrale Themen
1.2.1 Unterschicht und Präkariat
Mit ihrem 1995 erschienenen Buch war Kirsten Boie der erst im vergangenen Jahr aufgekommenen Diskussion um das sich in Deutschland mehr und mehr ausbreitende Präkariat und dem innerhalb der Unterschicht angeblich fehlenden Willen zum sozialen Aufstieg ein wenig voraus. So gibt Kirsten Boie in ihrem Buch immer wieder latente Hinweise darauf, dass gewisse soziale Schichten innerhalb unserer Gesellschaft nicht wirklich erwünscht sind.[25] Die Tatsache, dass der Schulleiter Hartmut K. krampfhaft versucht, getroffene Aussagen über die Unterschicht zu relativieren[26], regt den Leser des Buches dabei nur noch mehr zum Nachdenken an. Dargestellt wird auch die Hoffnungs- und Perspektivenlosigkeit vieler Jugendlicher, die wie Marco die Hauptschule besuchen. So äußert sich z.B. Marcos Klassenlehrer über seine Schüler mit den Worten: Die Kinder hier, die gehen doch nach der Vierten alle weg, Gymnasium, Real – wer hier bleibt, der ist ja geradezu behaftet.[27] Damit wird die Hauptschule einerseits zum sozialen Brennpunkt, andererseits aber auch zu einer Bildungsanstalt, in der die Schüler schon allein aufgrund der ihnen entgegengebrachten Vorurteile nicht die Chance haben, sich optimal zu entwickeln.
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[1] Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, S. 7.
[2] Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, S. 7.
[3] Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur, à Jugendliteratur.
[4] Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, S. 107.
[5] Kirsten Boie: Erwachsene reden. Marco hat was getan, S. 5.
[6] www.kirsten-boie.de
[7] Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, S. 142.
[8] S. 9-10.
[9] S. 10.
[10] S. 9.
[11] S. 13.
[12] S. 27.
[13] S. 34.
[14] S. 34-35.
[15] S. 44-45.
[16] S. 47.
[17] S. 15.
[18] Kein Kommentar, ihr Scheißer! (…) – also leckt mich doch alle!, S. 7; Ich hab den schon immer Scheiße gefunden. S. 37; Wir fanden das also alle auch Scheiße in unserer Klasse. S. 73; Der war nur so schlecht drauf an dem Abend, voll Scheiße drauf, (…), S. 86; Weil er Scheißlaune hatte, (…), S. 86.
[19] S. 16.
[20] S. 25.
[21] S. 79.
[22] S. 58.
[23] S. 63.
[24] S. 95.
[25] Und diese Schicht, aus der diese Jugendlichen ja größtenteils… Sie sehen ja selbst, die ist kaum vertreten bei uns. S. 9.; Aber hier bei uns, sehen Sie sich doch hinterher gerne selbst um! Das ist kein Milieu, in dem so etwas sprießen könnte. S. 10; Parias, obwohl das hier natürlich jeder leugnet. Bei uns ist ja alles Idylle. S. 16.
[26] S. 38-40.
[27] S. 16.
- Arbeit zitieren
- Heidi Nissl (Autor:in), 2007, Analyse des Buches von Kirsten Boie: „Erwachsene reden. Marco hat was getan“ - Gegenwartsliteratur im Unterricht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124114
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