Massenverkehrsmittel und Urbanisierung führen zu immer mehr globalen Massenereignissen und lokalen Ansammlungen wie auf Flughäfen, in Stadien und in Fußgängerzonen. Beim Entwurf und der Ausführung dieser Anlagen müssen ihre Angepaßtheit an Phänomene der Selbstorganisation von Fußgängermengen und damit ihre Sicherheit erwogen werden, um z.B. tödliche Paniken bereits im Vorfeld durch geeignete bauliche Maßnahmen zu verhindern. Dafür ist es nötig, auf möglichst wirklichkeitsnahe Modelle zur Fußgängersimulation zurückzugreifen. Diese Arbeit stellt dar, welche Phänomene ein solches Modell reproduzieren sollte, und bewertet einige gängige Modelle anhand dieser Kriterien.
Inhalt
1. Einführung
2. Phänomene in Fußgängermengen
2.1. Bahnen
2.2. Freezing by heating
2.3. Kreuzungen
2.4. Engstellen
2.5. Paniken
3. Makroskopische Modelle
4. Mikroskopische Modelle
4.1. Zellularautomaten
4.2. Magnetkräftemodell
4.3. Soziale-Kräfte-Modell
5. Fazit und Ausblick
6. Literaturnachweis
1. Einführung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
[Hel02, SZ04] Schnelle und erschwingliche Massenverkehrsmittel und die weltweite Bevölkerungsexplosion und Urbanisierung des Lebens führen zu immer mehr globalen Massenereignissen wie der alljährlichen Hajj der Muslime in Mekka und Umgebung, aber auch immer mehr lokalen Ansammlungen wie in Flughäfen, Stadien, Theatern und Fußgängerzonen. Beim Entwurf und der Ausführung dieser Anlagen müssen nicht nur ihre Ästhetik und Effizienz, sondern auch ihre Angepaßtheit an unvermeidliche Phänomene der Selbstorganisation von Fußgängermengen und damit ihre Sicherheit fortlaufend erwogen werden, um Paniken wie zuletzt bei der Hajj 2004, bei der fast 250 Menschen umkamen, bereits im Vorfeld durch geeignete bauliche Maßnahmen zu verhindern. Da Feldversuche, um hinreichend aussagekräftig zu sein, sehr viel Geld, Zeit, Platz und Logistik und einer großen Zahl von Versuchspersonen bedürften, die in mitunter lebensgefährliche Situationen versetzt werden müßten, ist es nötig, auf möglichst wirklichkeitsnahe Modelle zur Fußgängersimulation zurückzugreifen. Auf den nächsten Seiten stelle ich dar, welche Phänomene ein solches Modell reproduzieren sollte, und bewerte einige gängige Modelle anhand dieser Kriterien.
2. Phänomene in Fußgängermengen
[Hel00, Hel02, Hel03] Fußgängermengen werden seit gut vierzig Jahren mithilfe von direkter Beobachtung, Fotografien und Videoanalysen untersucht, vorwiegend zur Verhaltensforschung und Entwicklung von Planungsrichtlinien und Entwurfselementen für Fußgängeranlagen. Obwohl es aus den oben genannten Gründen allgemein an systematischen Studien und besonders für Paniken, zu denen die Forschung meist empirisch und sozialpsychologisch orientiert ist, an quantitativen Theorien mangelt, konnten dennoch einige sich weltweit wiederholende Regeln und Phänomene bestimmt werden. Gute Simulationen sollten diese so wirklichkeitsnah wie möglich reproduzieren, um zuverlässige Vorhersagen machen zu können.
Fußgänger wollen Umwege und ein Umkehren auf dem Weg zu ihrem Wunschziel möglichst vermeiden, was unter anderem zu Trampelpfaden in Grünanlagen und Parks führt. Ist ein kürzerer Weg jedoch nicht schneller oder weniger komfortabel als ein längerer, gehen Fußgänger diesen, wobei sie immer die Geschwindigkeit bevorzugen, in der sie am wenigsten Energie verbrauchen, solange sie nicht schneller gehen müssen, um rechtzeitig zu ihrem Ziel zu gelangen. Auf ihrem Weg halten Fußgänger Abstände zu anderen Fußgängern, Begrenzungen, Hindernissen und möglichen Gefahren und ändern dafür nötigenfalls ihre Richtung und Geschwindigkeit. Diese Abstände sinken mit der Erhöhung der Fußgängerdichte und der Gehgeschwindigkeit.
Bereits aus diesen wenigen grundlegenden Regeln entstehen viele komplexe Phänomene der Selbstorganisation.
2.1. Bahnen
Auf einem Weg in entgegengesetzte Richtungen gehende Fußgänger organisieren sich ohne Kommunikation oder Absicht in Bahnen. Das Gehen in einer Bahn senkt die Anzahl der Interaktionen mit entgegenkommenden Fußgängern, also die Anzahl der nötigen Richtungs- und Geschwindigkeitsänderungen, was die Effizienz, also die Durchschnittsgeschwindigkeit, für jeden einzelnen Fußgänger erhöht. Die Anzahl der Bahnen hängt hierbei von der Breite und Länge des Weges und der Anzahl von Ein- und Ausflüssen, Fluktuationen und Störungen ab. Auf welcher Seite eines Weges sich eine Bahn entwickelt, ist kulturell verschieden - in Mitteleuropa gehen Fußgänger bevorzugt auf der rechten, in Japan und Korea bevorzugt auf der linken Seite. Durch allmähliche Effizienzsteigerung aufgrund wachsender Konformität hat sich hier eine soziale Konvention herausgebildet, denn beide Seiten eines Weges sind zum Gehen natürlich gleich vorteilhaft.
2.2. Freezing by heating
Bei hoher Fußgängerdichte und vielen Fluktuationen werden die Bahnen zerstört und die Fußgänger blockiert, und ein metastabiler, das heißt, für strukturelle Störungen anfälliger Zustand höherer Ordnung, aber höherer innerer Energie entsteht, entgegen äußerlich ähnlichen Phänomenen in der Natur, die bei höherer Ordnung geringere Energie aufweisen. Aus Ungeduld und dem Wunsch, die Blockade aufzulösen, entstehende höhere Wunschgeschwindigkeiten erhöhen hierbei noch die Reibung zwischen den Fußgängern und verstärken die Blockade.
2.3. Kreuzungen
Zwei sich kreuzende Fußgängerströme bilden Streifen rechtwinklig zur Summe der Vektoren der angestrebten Bewegungsrichtungen, was erneut die Anzahl der nötigen Interaktionen senkt und damit die Effizienz erhöht. Kreuzen sich mehr als zwei Ströme, werden Kreisverkehre, Oszillationen und kurzlebige Streifen beobachtet, die aber ständig in Konkurrenz stehen und einander stören und behindern, was die Effizienz stark verringert.
2.4. Engstellen
An Flaschenhälsen kommt es, da Fußgänger nur schlecht mit ihren Nachfolgern kommunizieren können, zu Störungen, Behinderungen und Verstopfungen durch Koordinationsprobleme und unabsichtlich unterbundene Überholmanöver. Daher kann die Effizienz an kurzen Engstellen für zwei entgegengesetzte Fußgängerströme wie beispielsweise beim Haltevorgang einer Straßenbahn entgegen der Intuition sogar höher als für einen einzigen Strom sein, da die Fußgänger einander sehen und so besser miteinander kommunizieren können. Trotzdem kommt es dabei proportional zur Länge der Engstelle zu immer deutlicheren Oszillationen, bei denen Gruppen aus der einen Richtung so lange den Flaschenhals passieren, bis der durch Ungeduld und dem Wunsch, die Engstelle zu passieren, gesteigerte Druck und die Störungen der jeweils anderen Seite den Gegenstrom blockieren und die eigene Passage erzwingen.
Auch wenn sich ein Weg weitet und später wieder verengt, kommt es zu Behinderungen durch Fußgänger, die die Verbreiterung nutzen, um sich voneinander zu entfernen und einander zu überholen und an der Engstelle wieder zusammentreffen. Dieser Effekt wird umso stärker, je unterschiedlicher die Wunschgeschwindigkeiten, je enger der Weg und je höher die Fußgängerdichte sind und ist beispielsweise einer der Hauptauslöser der wiederkehrenden Katastrophen beim Ritual der „Steinigung des Teufels“ der Hajj. Hierbei müssen die Pilger zwischen Mittag und Sonnenuntergang nacheinander jeweils sieben Steine auf drei den Teufel symbolisierende Säulen werfen, die sich auf einer Brücke befinden. Da diese Brücke sich zuerst weitet und zur letzten Säule hin verengt und da die Säulen und die sie umgebenden Steinsammelbecken nicht auf die heutigen Pilgermengen hin ausgelegt und die Pilger aufgrund der Zeitbeschränkung in Eile sind, kommt es an der dritten Säule regelmäßig zu großen Verstopfungen und folglich Paniken mit hunderten Toten.
2. 5. Paniken
Seit 1945 gab es weltweit mehr als 30 große Massenpaniken mit weit über 1000 Toten und 3500 Verletzten. Die Gründe für die Stampeden reichen von Einstürzen und Feuern über verspätete oder nicht gewertete Tore bei Fußballspielen bis zur Flucht vor Regen und Hagel. Selten konnte auch überhaupt keine Ursache festgestellt werden. Die meisten Opfer entstanden in fast allen Fällen durch die Panik selbst, nicht ihren Grund, denn bei der Verstopfung von Ausgängen durch gegenseitige Behinderung panischer Fußgänger, die alle möglichst schnell entkommen wollen, kann es zu addierten Kräften von über 4500 Newton kommen, wobei ein Sturz in der Regel dazu führt, daß man niedergetrampelt und erstickt wird und der Menge als zusätzliches Hindernis ein Entkommen weiter erschwert.
Die instinktive physiologische Übermannung durch eine Panik, die zu erhöhtem Adrenalinausstoß führt und die Wahrnehmung auf für die Flucht wichtige Reize reduziert, bevor man kognitive Entscheidungen treffen kann, spielt eine weitere wichtige Rolle. Die Fußgänger versuchen schneller als gewöhnlich zu gehen, um der Gefahr zu entkommen, fluktuieren aufgrund ihrer Nervosität viel mehr und lassen sich auf mehr physische Interaktionen ein, was die Bewegungen und das Passieren von Engstellen unkoordiniert macht und zur Verstärkung von Verstopfungen und Staus führt.
Schließlich tritt in Paniken oft Herdenverhalten auf, also ein Transfer von Individual- zu Massenpsychologie, in dem jeder die Kontrolle an alle anderen abgibt, was zu oft fehlgeleiteter Konformität führt, die bewirken kann, daß die Menge sich in einer Sackgasse oder an einem einzigen Ausgang – meist dem, durch den sie in die Einrichtung gelangt ist - drängt und weitere Ausgänge übersieht, auch wenn diese nicht durch Rauch oder einen Stromausfall schwer aufzufinden sind. So können auch ohne objektive Notsituationen gefährliche Staus und Verstopfungen entstehen.
3. Makroskopische Modelle
[Hel02, Hen74, Kin03] Traditionell makroskopische und aus ihnen hervorgegangene Modelle wie die Sicht der Fußgängerströme als Gase und kompressible Fluide durch Henderson erlauben Untersuchungen der Fußgängergeschwindigkeiten abhängig von der Dichte in einem Gebiet, setzen aber einen Impuls- und Energieerhalt voraus, der so im Fußgängerverkehr natürlich nicht existiert, auch wenn Phänomene wie Fußabdrücke von Fußgängerströmen im Schnee und die Selbstorganisation in Bahnen äußerlich an Fluidströme erinnern. Diese Modelle sind des weiteren schlecht für Simulationen in besonderen Umgebungen oder unter besonderen Bedingungen geeignet, da sie nicht die individuellen Interaktionen zwischen Fußgängern und ihre Selbstorganisationseffekte mit einbeziehen, die zu unerwarteten Behinderungen führen können.
Auch ein granulares Modell der Fußgängersimulation ist nur wenig besser, da die Verstopfungen an Engstellen und Flaschenhälsen wie beispielsweise in Salzstreuern in ihnen nur von statischen Reibungen und der Größe des Ausgangs statt von im Fußgängerverkehr relevanten entfernten Interaktionen und Triebkräften abhängen. Auch das Phänomen des „freezing by heating“ ist wie bereits erwähnt dem physikalischen Verhalten von Granulaten entgegengesetzt, obwohl es ihm äußerlich gleicht. Die Forschung konzentriert sich daher in den letzten Jahren auf mikroskopische Modelle, die einzelne Fußgänger und die auf sie wirkenden Kräfte abbilden und sich für den praktischen Gebrauch als flexibler und auf weit mehr Situationen als makroskopische Modelle anwendbar erwiesen haben.
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