Da psychische Erkrankungen in Deutschland in der Tendenz häufiger auftreten und auch Kinder und Jugendliche vermehrt von ihnen betroffen sind, steigt der Bedarf für Hilfen, insbesondere im Bereich der Wohnformen. Laut der Bundestherapeutenkammer besagen die Daten des BKK Gesundheitsreports 2005, dass psychische Erkrankungen seit den 90er Jahren in Deutschland um 28 Prozent gestiegen sind , ebenso existiert eine deutliche Zunahme der Störungen im Kindes- und Jugendalter. Bei jungen Erwachsenen ist der Anstieg überproportional, besonders betroffen sind Frauen in der Altersgruppe der 15- bis 29-jährigen und Männer im Alter von 15 bis 34 Jahren. Neben dem aktuellen Anstieg des Bedarfs, führte schon die Herabsetzung der Volljährigkeit 1975 vermehrt zu der Suche nach geeigneten Wohnformen, da mit 18 Jahren entlassene, junge Erwachsene, aus Heimen und Wohngemeinschaften ihren Platz weder in der Jugendhilfe, noch in Einrichtungen mit psychisch erkrankten jeden Alters fanden. Das Seppl-Kuschka-Haus, ein Wohnheim, das sich auf junge Volljährige spezialisiert hat, bestätigt nicht nur die Tendenz, dass immer häufiger junge Erwachsene im Bereich Wohnen Hilfen benötigen, in der Konzeption wird ebenfalls auf die besonders schweren Erkrankungen eingegangen, die diese Klientengruppe auszeichnet. Häufig seien die jungen Erwachsenen an schizophrenen und schizoaffektiven Psychosen, die mit Persönlichkeitsstörungen einhergehen, erkrankt. Zum Teil bestehe zusätzlich noch eine Suchtproblematik.
Psychische Erkrankungen können das Leben der Betroffenen in sämtlichen Lebensbereichen stark beinträchtigen. So geht beispielsweise häufig ein Verlust des sozialen Umfeldes, der Familie und des Arbeitsplatzes mit der Erkrankung einher. Sozialtherapeutische Wohnheime versuchen rehabilitativ eine (Wieder-) Eingliederung in die Gesellschaft zu erzielen. Spezielle Konzepte für die Klientengruppe, psychisch erkrankte junge Erwachsene, gibt es kaum. Der Bedarf aber, sich mit ihnen auseinander zu setzen, steigt.
In dieser Diplomarbeit sollen die Rahmenbedingungen für ein Wohnheim, mit der speziellen Klientengruppe, herausgearbeitet werden, so dass diesen Perspektiven für ihr weiteres Leben geboten werden können.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
1 Die Entwicklung zum jungen Erwachsenen
1.1 Die Kindheit
1.2 Die Jugend
1.3 Der Eintritt ins Erwachsenenalter
2 Die psychischen Erkrankungen
2.1 Begriffsdefinition psychischer Störungen
2.2 Die unterschiedlichen Krankheitsbilder der Bewohner sozial-therapeutischer Wohnheime - Vorstellung der psychischen Störungen
2.2.1 Störungen durch psychotrope Substanzen
2.2.2 Schizophrenie
2.2.3 Affektive Störungen
2.2.4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
2.2.5 Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen
2.2.6 Persönlichkeitsstörungen
2.2.7 Intelligenzminderung
2.2.8 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn der Kindheit und Jugend
3 Wohnform und Milieu
3.1 Sozialtherapeutische Wohnheime für psychisch Erkrankte
3.2 Sozialtherapeutisches Wohnheim mit psychisch erkrankten jungen Erwachsenen
3.3 Exkurs: Konzept der Milieugestaltung für Schizophrene nach Luc Ciompi
4 Rahmenbedingungen für ein Wohnheim mit psychisch erkrankten jungen Erwachsenen
4.1 Milieu
4.2 Strukturen
4.2.1 Haltung
4.2.2 Umgang mit den Bewohnern
4.2.3 Auftrag
5 Perspektiven und Ausblick
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Vorwort
Die Entscheidung die Perspektiven psychisch erkrankter junger Erwachsener[1] in dieser Arbeit aufzuzeigen war schnell aufgrund meines beruflichen Hintergrundes getroffen. Seit Beginn meines Praxissemesters arbeite ich in einem sozialtherapeutischen Wohnheim für psychisch erkrankte Menschen. Da der Träger zunehmend von Anfragen junger Erwachsenen konfrontiert wurde, entstand in dem Wohnheim, in dem ich arbeite, eine Spezialisierung auf diese Zielgruppe. Das „Projekt Junge-Erwachsene“ starte vor ungefähr zwei Jahren ohne eine eindeutige Konzeption. Dementsprechend schwierig gestaltet sich die alltägliche Arbeit für mich und meine Kollegen. Mit dieser Diplomarbeit versuche ich, mich mit den grundsätzlichen Fragen meiner praktischen Tätigkeit auseinander zu setzen. Ich erhoffe mir, ausgehend von der Klientel, Zielformulierungen für diesen Bereich entwickeln zu können und so mein eigenes Handeln zu verbessern und zu reflektieren.
Einleitung
Da psychische Erkrankungen in Deutschland in der Tendenz häufiger auftreten und auch Kinder und Jugendliche vermehrt von ihnen betroffen sind, steigt der Bedarf für Hilfen, insbesondere im Bereich der Wohnformen. Laut der Bundestherapeutenkammer besagen die Daten des BKK Gesundheitsreports 2005, dass psychische Erkrankungen seit den 90er Jahren in Deutschland um 28 Prozent gestiegen sind[2], ebenso existiert eine deutliche Zunahme der Störungen im Kindes- und Jugendalter.[3] Bei jungen Erwachsenen ist der Anstieg überproportional, besonders betroffen sind Frauen in der Altersgruppe der 15- bis 29-jährigen und Männer im Alter von 15 bis 34 Jahren.[4] Neben dem aktuellen Anstieg des Bedarfs, führte schon die Herabsetzung der Volljährigkeit 1975 vermehrt zu der Suche nach geeigneten Wohnformen, da mit 18 Jahren entlassene, junge Erwachsene, aus Heimen und Wohngemeinschaften ihren Platz weder in der Jugendhilfe, noch in Einrichtungen mit psychisch erkrankten jeden Alters fanden.[5] Das Seppl-Kuschka-Haus, ein Wohnheim, das sich auf junge Volljährige spezialisiert hat, bestätigt nicht nur die Tendenz, dass immer häufiger junge Erwachsene im Bereich Wohnen Hilfen benötigen, in der Konzeption wird ebenfalls auf die besonders schweren Erkrankungen eingegangen, die diese Klientengruppe auszeichnet. Häufig seien die jungen Erwachsenen an schizophrenen und schizoaffektiven Psychosen, die mit Persönlichkeitsstörungen einhergehen, erkrankt. Zum Teil bestehe zusätzlich noch eine Suchtproblematik.[6]
Psychische Erkrankungen können das Leben der Betroffenen in sämtlichen Lebensbereichen stark beinträchtigen. So geht beispielsweise häufig ein Verlust des sozialen Umfeldes, der Familie und des Arbeitsplatzes mit der Erkrankung einher.[7] Sozialtherapeutische Wohnheime versuchen rehabilitativ eine (Wieder-) Eingliederung in die Gesellschaft zu erzielen. Spezielle Konzepte für die Klientengruppe, psychisch erkrankte junge Erwachsene, gibt es kaum. Der Bedarf aber, sich mit ihnen auseinander zu setzen, steigt.
In dieser Diplomarbeit sollen die Rahmenbedingungen für ein Wohnheim, mit der speziellen Klientengruppe, herausgearbeitet werden, so dass diesen Perspektiven für ihr weiteres Leben geboten werden können.
In den ersten beiden Kapiteln dieser Arbeit soll die Klientengruppe möglichst differenziert dargestellt werden, da auf der Grundlage der Erkenntnisse, der nötige Bedarf nach spezifizierten Wohnheimen abzuleiten ist. Hier soll auch die (psychische) Entwicklung zum jungen Erwachsenen dargestellt werden. Unter Einbezug der möglichen Risikofaktoren für psychische Erkrankungen soll eine Basis für das Verständnis der Zielgruppe geschaffen werden. Das zweite Kapitel wird sich mit den psychischen Störungen befassen. Einleitend müssen Begrifflichkeiten definiert und sich der Thematik genähert werden. Im Folgenden sollen die einzelnen Krankheitsbilder vorgestellt werden. Da sich diese sehr vielfältig gestalten, liegt der Fokus auf den insbesondere in Wohnheimen häufig Behandelten. Außerdem sollen zum Teil schon rehabilitative Ansatzpunkte benannt werden. Die Vorstellung der psychischen Störungen orientiert sich dabei an der ICD-10[8], da diese das gängige Klassifikationssystem in der Praxis darstellt.
Das dritte Kapitel wird sich mit den Gegebenheiten der praktischen Arbeit im Wohnheim auseinander setzen. Es soll zum einen Aufschluss geben über sozialtherapeutische Wohnheime im gesamten und zum anderen ein Konzept für die Arbeit mit der speziellen Klientengruppe vorstellen. Zusätzlich werden in einem Exkurs die konzeptionellen Überlegungen zur Milieugestaltung für Schizophrene von Luc Ciompi dargestellt, da diese durch den sehr humanistischen Ansatz, einen anderen Blickwinkel auf die Arbeit mit psychisch Erkrankten ermöglicht.
Im fünften Kapitel sollen die Zielformulierungen für den sozialtherapeutischen Rahmen im Wohnheim vorgestellt werden. Hierzu werden die Erkenntnisse der bisherigen Arbeit die Grundlage schaffen. In diesem Zuge soll auch auf die sozialarbeiterische Tätigkeit im Wohnheim genauer eingegangen werden.
Im Ausblick möchte ich auf die Perspektiven der jungen erwachsenen psychisch Erkrankten eingehen. Diese sollen im Hinblick auf die gegebene Situation in sozialtherapeutischen Wohnheimen und auf ein möglichst förderliches Milieu in eben diesen thematisiert werden.
1 Die Entwicklung zum jungen Erwachsenen
Das Leben wird seit jeher in Phasen, Abschnitte, Stadien oder Etappen, von der Geburt bis zum Tod, eingeteilt. Die Entwicklung soll Anhand dieser Phasen, einem deutlich eingegrenzten Rahmen, bestimmten Merkmalen zugeordnet werden.[9] Von Cicero[10], über Freud, Erikson und Piaget versuchten Gelehrte den Gesetzmäßigkeiten der Lebensphasen auf die Spur zu kommen. Freud analysierte das Modell der psychischen Entwicklung aus psychoanalytischer Sicht, ebenso wie Erikson[11], der diese jedoch noch sozialpsychologisch interpretierte[12], und Piaget bezog sich auf den interaktionellen Aspekt.[13]
Die meisten Menschen erleben die einzelnen Lebensabschnitte in der gleichen Weise, jedoch zu ihrer eigenen Zeit und auf ihre eigene Art. Jeder Abschnitt hat ein Potential für bestimmte Belastungen, die sich durch unterschiedliche Faktoren - biologische, psychologische oder umweltbedingte - zu psychischen Störungen entwickeln können.[14] Gilt es, den Lebensabschnitt und die mit ihm verbundenen Störungen der jungen Erwachsenen zu betrachten, so sollte ebenfalls die Entwicklung des Menschen und die Risikofaktoren für psychische Störungen von Geburt an mit einbezogen werden. Die Kindheit und die Jugend bilden die Basis für die Persönlichkeit der jungen Erwachsenen und aus ihr resultieren meist die Störungen die später eine Behandlungsbedürftigkeit mit sich bringen.
1.1 Die Kindheit
Während im Mittelalter die Kindheit bis zum 25. Lebensjahr dauerte, ist heute eine differenziertere Einteilung bis zum 14. Lebensjahr gängig. Unterschieden werden Neugeborene, von der Geburt bis zum 10. Lebenstag, von Säuglingen, vom 11. Lebenstag bis zum 12. Monat, von Kleinkindern, im Alter von 2 bis 5 Jahren, und Schulkindern, im Alter von 6 bis 14 Jahren.[15]
Die Kindheit gilt häufig als eine sorglose und glückliche Zeit, ohne Verantwortung und Leistungsdruck, oft rückblickend verklärt von älteren Menschen. Dabei gibt es in dieser Zeit viel Neues zu entdecken. Kinder werden mit immer neuen fremden Situationen, Menschen und Hindernissen konfrontiert, was selbstverständlich auch beängstigend und beunruhigend auf die sie wirken kann. Rund die Hälfte aller Kinder leidet an multiplen Ängsten, vor der Schule, im Bezug auf die Gesundheit, und die persönliche Sicherheit. Verbreitete Probleme von Kindern wie Bettnässen, Alpträume, Wutanfälle und Unruhe sind von diesen Ängsten bedingt.[16] Diese Probleme können sich zu Störungen entwickeln, dies muss jedoch nicht der Fall sein.
Jordan W. Schmoller beschreibt in seinem Aufsatz „Die Entstehung und Behandlung von Kindheit“[17] die Kindheit als ernst zu nehmende grassierende Krankheit, deren Symptome, beginnend mit der Geburt, Zwergenwuchs, emotionale Unausgeglichenheit und Unreife, Wissensdefizite und Spinatphobie, sind.[18] Auf eine humorvolle Art und Weise präsentiert er die Kindheit wie eine klassifizierte Störung des DSM[19] oder auch der ICD. Aus diesem Aufsatz wird trotz der vielen Witze eines deutlich: Die Kindheit ist die Phase des Heranwachsens, Kinder lernen und bilden erst nach und nach eine Persönlichkeit, sind nicht von Geburt an eigenständige Menschen. Sie benötigen Unterstützung zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihrer individuellen Ressourcen und vor allem ein förderndes Umfeld.
Ähnliche Schlüsse lässt auch der Verlauf der psychischen Entwicklung laut Nissen und Trott zu. Auch hier ist die Kindheit in Stadien unterteilt. Diese, einerseits abhängig von biologischen Gesetzmäßigkeiten, sind andererseits durch peristatische Einflüsse, wie Eltern, Kindergarten, Schule oder allgemein die Gesellschaft, gestaltet und festgelegt. In der groben Einordnung gehen Nissen und Trott davon aus, dass mit dem ersten Lebensjahr das Stadium der Kontaktaufnahme beginnt. Hier löst sich der Säugling erstmals aus der Dualunion mit der Mutter und setzt erste Meilensteine im Bezug auf seine Vulnerabilität gegenüber verschiedenen Arten von späteren Beziehungen. Im dritten Lebensjahr beginnt laut Nissen und Trott das Stadium der motorischen Integration. Das Kind kann sich mittlerweile sprachlich verständigen und erfährt, dass es durch eigene Handlungen, Ansprüche und Forderungen die Welt verändern kann. Ein Einhergehen mit Macht- und Besitzstreben kann für das Kind zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Umwelt führen, die dann in die Trotzphase münden. In diesem Stadium der motorischen Integration wird das Kind von den Eltern in seinem aktiv-aggressiven oder passiv-resignierendem Verhalten bestärkt oder behindert. Das nächste Stadium beginnt im fünften Lebensjahr und ist das der kritischen Realitätsprüfung. Es beginnt, sich mit seiner Umwelt auseinander zu setzten und stellt sich Fragen nach dem ‚woher’, dem ‚wohin’ und vor allem nach dem ‚warum’. Neben das konkrete ist das abstrakte Denken getreten und das Kind nimmt sich erstmals selbst als ‚ich’ wahr. Im zehnten Lebensjahr beginnt das Stadium der sozialen Integration. Markanteste Merkmale sind, dass das Kind nun die Voraussetzungen zur objektiven Wissensaneignung erreicht hat, wie in der Schule, und dass die Gewissensbildung so weit fortgeschritten ist, dass es Schuldgefühle bekommt, wenn sich das Lustprinzip gegenüber dem der Verantwortung durchgesetzt hat. Unter dem Stadium der Neuorientierung, im 14. Lebensjahr, versteht man den Beginn der Adoleszenz. Dieses Stadium bringt das Ende der Kindheit und den Beginn der Jugendzeit mit sich.[20]
1.2 Die Jugend
Die voranginge Entwicklungsaufgabe der Jugend ist die Bildung einer Identität. Sie äußert sich im Einssein mit sich selbst und dem Verbundensein mit der sich umgebenden Gemeinschaft.[21] Die prägnanteste Veränderung in der Jugend geht mit der Adoleszenz einher. Diese kann zwischen dem 11. und 21. Lebensjahr auftreten[22] und bringt sowohl eine seelische, als auch eine körperliche Neuorientierung mit sich.[23] Die biologischen Reifungsschritte bewirken den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein und gehen mit tief greifenden Veränderungen einher. So verändern sich nicht nur der Körper, sondern auch der Denkstil, Meinungen, Haltungen, der Selbstbezug, die sozialen Rollen und Verantwortlichkeiten für den Jugendlichen in der Pubertät. Die körperlichen Veränderungen, wie das Einsetzten der Schambehaarung, bei Mädchen die Brustentwicklung, die erste Periode, oder bei Jungen der Peniswuchs, unterliegen der Steuerung von verschiedenen Hormonen. Ebenso kommt es neben den Veränderungen der Geschlechtsmerkmale und des Wachstumsschubes[24] zu Veränderungen der Hirnreifung und zu einer Spezifikation der neuronalen Netzwerke. Hieraus verändern sich ebenfalls eine Reihe psychischer Steuerungsphänomene, die kognitiven und die affektiven Prozesse des Jugendlichen. In diesem Zusammenhang ist auch auf das Problem der Akzeleration einzugehen. Unter Akzeleration wird die Diskrepanz zwischen der beschleunigten körperlichen und der verlangsamten sozio-emotionalen Entwicklung verstanden. So kommt es vor, dass Jugendliche nahezu kindliche emotionale Bedürfnisse und Erwartungen pflegen, aber auf Grund ihres Aussehens wie Erwachsene behandelt werden. Dies kann die Entwicklung der psychischen Strukturen stark beeinflussen.[25]
Ferner zählen zu den psychischen Veränderungen Anpassungsturbulenzen[26], wie die Überprüfung und die Korrektur des Elternbildes, Ambivalenzkrisen und Konfrontationen. An die Stelle der Eltern treten in der Regel neue Vor- und Leitbilder, mit dem Jugendliche ein neues und starkes Lebensgefühl verbinden. Ambivalenzkrisen herrschen zwischen den Wünschen und der Wirklichkeit des Jugendlichen, mit dieser Differenz hat er sich auseinanderzusetzen. Zu Konfrontationen kommt es in dieser Lebensphase in fast allen Bereichen. So können die abgelösten Autoritäten, wie Eltern oder Lehrer, die sich weiter für den Jugendlichen verantwortlich fühlen, ebenso wie der Jugendliche selbst, zur Zielscheibe der Konfrontation werden. Der Jugendliche muss sich selbst klar werden, wer er ist und sein Ideal-Ich mit seiner Ich-Identität vereinen. Dieser Rollen- und Identitätskonflikt kann über Jahre andauern und sich durch die bestehende Gesellschaftsstruktur jeweils verändern und bedingen.[27] So vergleicht beispielsweise Michael Winterhoff in seinem Buch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“[28] die heutige Gesellschaftsstruktur mit der vor 30 Jahren, in der der technische Wandel, so Winterhoff, eher „gemütlich unterwegs“[29] war. Er bezieht sich auf die Erziehungsstrukturen, die früher als solche gar nicht empfunden wurden, und kritisiert die Aufhebung der Grenze, die zwischen Erwachsenenthemen und der Kinderwelt lag. Kinder sollten, gemäß Winterhoff, in der Adoleszenz langsam an das Erwachsensein herangeführt werden und Eltern, die ihre Rolle in einer klaren Abgrenzung zu dem Kind verstehen, sollten das Kind führen, spiegeln und schützen.[30]
Die veränderten Rahmenbedingungen haben allerdings noch einen wesentlich weiter reichenden Einfluss auf das Aufwachsen. Nicht nur die Erziehung ist von dem gesellschaftlichen Wandel im Bezug auf die Jugend von Bedeutung. So birgt etwa die Entstandardisierung von Lebensläufen Unsicherheit für Jugendliche. Durch die gesellschaftliche Veränderung existiert kein gegenwärtiger Konsens über anzustrebende Ziele. Der Wandel von geschlossenen und verbindlichen Systemen, wie das Aufwachsen in kleinen, lokal überschaubaren Kontrollnetzen, mit klaren Weltanschauungen, Autoritäten und Pflichtkatalogen, zu offenen und flexiblen Systemen, bringt neue Beziehungsstrukturen ohne Traditionen und mit nahezu zufälligen Mustern mit sich. Kompetenzen zur Entscheidungsfindung und zur Beziehungsgestaltung gewinnen daher an Bedeutung, es entsteht ein Höchstmaß an Selbstverantwortung für Jugendliche. Diese entwickeln klare Vorstellungen von Gelingen und Versagen, wobei die Möglichkeit zu Versagen wahrscheinlicher scheint und auch ist. Dies liegt zum einen an dem Niveau eventuell erreichbarer oder als erreichbar suggerierter Ziele und zum anderen an den eingeschränkten Möglichkeiten, wie sie aus dem in die Krise geratenen Arbeitsmarkt resultieren.[31]
Umso gravierender ist die Veränderung der emotionalen Befindlichkeit bei Jugendlichen. Besonders sensibel sind sie gegenüber Werten. Ihr meist hohes Werteideal lässt sie besonders auf Verlogenheiten oder Kompromisse Erwachsener zwischen Moral und Bedürfnisbefriedigung achten. Eine Diffusion der Wertehaltung kann zu einer so genannten „no future-Perspektive“[32] führen, die sämtliche Moralvorstellungen nihilistisch abwertet und durch Macht- und Gewaltdemonstrationen ihre Frustration verdeutlicht.[33]
Im Gegensatz zu der Akzeleration kann es Jugendlichen auch passieren, dass sie trotz abgeschlossener körperlicher Reifung und des Erhalts ausreichender Kompetenzen als Erwachsene nicht anerkannt werden. Entgegen der oft als lästig empfundene Fürsorge der Eltern kann in diesem Zeitalter der Aus- und Weiterbildung zumindest eine materielle Abhängigkeit noch über Jahre bestehen bleiben.[34] Aus den Veränderungen resultieren meist leichte Formen von Angst, Verwirrung und Depression. Über die üblichen Schwierigkeiten hinaus haben ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen diagnostizierbare psychische Störungen. Interessant ist es, dass während der Jugend mehr Jungen als Mädchen psychische Störungen aufweisen, im Erwachsenenalter allerdings eindeutig mehr Frauen als Männer erkranken. Zum Teil bestehen die Störungen, die ihren Ursprung in der Jugend haben, weiter bis ins Erwachsenenalter und verändern sich kaum, wie die Störung des Sozialverhaltens, Depressionen oder Angststörungen, andere hingegen verändern sich radikal oder enden mit der Jugend, wie Ausscheidungsstörungen.[35]
In der stationären Erziehungshilfe liegt der Hauptschwerpunkt der Neuaufnahmen mit steigender Tendenz in der Altersgruppe der Zwölf- bis Achtzehnjährigen. Laut Richard Günder werden immer mehr ältere Kinder und Jugendliche mit größeren Schwierigkeiten und persönlichen Problemen aufgenommen werden[36]. Eine Studie des Forschungsprojektes JULE[37] bestätigt dies. Bei der Analyse von 197 Jugendhilfeakten wurden als inhaltliche Gründe für die Aufnahme in die stationäre Erziehungshilfe neben der Störung der Eltern-Kind-Beziehung hauptsächlich Gründe wie das Kind als Opfer familiärer Kämpfe, Vernachlässigung, Gewalt- und Missbrauchserfahrungen, Lern- und Leistungsrückstände, Konzentrations- und Motivationsprobleme, aggressives Verhalten und psychische Auffälligkeiten festgestellt.[38] Die Erfahrungen der stationären Erziehungshilfe verdeutlichen zum einen die drastischen Schwierigkeiten die mit dem Lebensabschnitt der Jugend verbunden sein können und lassen ferner Rückschlüsse auf die Wohnheimsituation der psychisch kranken jungen Erwachsenen zu. Einige der genannten Gründe für die Aufnahme in Heimen der Jugendhilfe sind sowohl Risikofaktoren für psychische Störungen als auch Gründe für die Aufnahme in von jungen Erwachsenen in sozialtherapeutischen Wohnheimen.
1.3 Der Eintritt ins Erwachsenenalter
Die ‚Phase’ in der sich junge Erwachsene befinden, ist nicht weniger schwierig als die der Jugend. In der Jugend ist die Suche nach der eigenen Identität legitim und von Bedeutung. Als Erwachsener sollte sie allerdings weitestgehend abgeschlossen sein. Da nun jeder Mensch zu seiner eigenen Zeit seine Ich-Identität entwickelt ist eine abgeschlossene Entwicklung beim Eintritt ins Erwachsenenalter nicht zwangsläufig gewährleistet. Deshalb werden junge Erwachsene grob dem chronologischen Alter von 18 – 35 Jahren zugeordnet.
Die Selbstdefinition als Jugendlicher oder Erwachsener ist von dem Vollzug sozialer Übergänge abhängig. Die Übernahme der Erwachsenenrolle geht mit individuellen Schlüsselereignissen einher, wie der Auszug aus dem Elternhaus, dem Erreichen eines Schulabschlusses oder dem Beginn der Berufstätigkeit, einer Heirat oder der Geburt des ersten Kindes. In welchem Alter Menschen diesen sozialen Übergang vollziehen, ist ebenso individuell wie die Entwicklung der Ich-Identität, allerdings abhängig von verschiedenen Faktoren. Zum einen bestimmen das jeweilige Alter Faktoren, die in der Person liegen, wie der Zeitpunkt in dem die Pubertät eingesetzt hat oder der eingeschlagene Bildungsweg. So beginnt beispielsweise die Berufstätigkeit bei Abiturienten, die ein Studium abgeschlossen haben ca. ab dem 26. Lebensjahr, bei Hauptschülern allerdings schon mit ca. 16 Jahren. Zum anderen spielt die Herkunftsfamilie eine entscheidende Rolle, beispielsweise geht ein hoher sozioökonomischer Status mit Kindern einher, die länger im Bildungssystem verbleibenden. Außerdem ist der makrosoziale Kontext bedingend – es existieren nationale Unterschiede.[39]
Auch weil die Entwicklungsübergänge gravierenden sozialen Wandlungsprozessen ausgesetzt sind, vor allem im Bezug auf die Entstandardisierung von Lebensläufen, werden Lebensereignisse zeitlich verschoben erlebt.[40] Wie in der Jugend können der gesellschaftliche Wandel und die mit ihm einhergehenden Veränderungen den jungen Erwachsenen verunsichern. Die Entwicklung zum Erwachsenen wird demnach stark durch die Umwelt beeinflusst und ist immer in ihrem Kontext zu betrachten.[41]
Der Übergang ins Erwachsenenalter birgt Gefahren im Sinne psychischer Erkrankungen. So kann beispielsweise, der mit der Übernahme der Erwachsenenrolle einhergehende Auszug aus dem Elternhaus und dem damit verbundenem Verlust des Bezugsrahmens, wie zum Beispiel der Herkunftsfamilie, Trauer auslösend sein. Stellt die neue Umgebung für den jungen Erwachsenen eine Brückenfunktion dar, indem sie den alten Bezugsrahmen anerkennt, hat der sich entwickelnde Mensch die Möglichkeit an der Erfahrung zu wachsen. Ist diese positive Bedingung nicht gegeben, kann die Trennung jedoch Auslöser für psychiatrische Symptome sein. Das Verlassen des alten Bezugssystems kann ferner an eigenen Interessen begründet sein und so bei dem sich Entwickelnden Schuldgefühle auslösen. Grade wenn er im Vorfeld das Gefühl hatte, sich lediglich den Erwartungen und Vorstellungen Anderer untergeordnet zu haben, läuft er Gefahr sein eigenes Selbst aufgrund der Trennung zu verlieren. Isolation und Einsamkeit können die Folge sein. In dem Beitrag von Mathias Heißler et al. wird diese Entwicklung wie folgt beschrieben:
„Im Übergang kommt es […] zu dem Gefühl, dass die persönliche Organisation bedroht ist, zur Angst, die eigene Kontrolle und das Gefühl der eigenen Getrenntheit zu verlieren. Vorübergehend wird unklar, was das Selbst ist, und was die anderen sind, es kommt zur Furcht, sich in der neu erworbenen Nähe zu verlieren, aufgesogen zu werden.“[42]
Wird der junge Erwachsene in dieser Phase von seinem neuen Umfeld nicht unterstützt, können Depression oder stellvertretende Symptome wie Arbeitssucht die Folge sein.[43]
Was die Generation der jungen Erwachsenen vereint, ist schwer zu definieren aufgrund ihrer Individualität. Aufschluss über gemeinsam wahrgenommenen Problematiken geben beispielsweise junge Erwachsen-Gruppen, wie die des Universitätsklinikums in Mannheim[44] oder kirchlicher Vereinigungen[45]. Die Junge-Erwachsenen-Gruppe in Mannheim hat den Rahmen einer Selbsthilfegruppe und beschäftigt sich mit Themen wie Zukunftsangst, Einsamkeit, Ausbildungs- und Studienabbruch, Prüfungsangst, depressiven Verstimmungen, Problemen bei der Partnerwahl und der Ablösung vom Elternhaus.[46] Hier finden sich die gerade genannten Erkenntnisse aus Sicht der jungen Erwachsenen selbst wieder.
Indizien für das Lebensgefühl der jungen Erwachsenen sind auch in Zeitungen und Magazinen zu finden, die in dieser Generation ihre Zielgruppe sehen. So ist beispielsweise die NEON[47] bis 2006 mit dem Untertitel ‚Eigentlich sollten wir erwachsen werden’ erschienen, sie sieht ihre Zielgruppe bei Männern und Frauen zwischen 20 und 30 Jahren.[48] Neben den Bereichen Politik, Gesellschaft, Mode, Sexualität, Karriere und Popkultur ist das Thema ‚Erwachsen werden’ ein fester Bestandteil des Magazins. Die Popularität dieses Themas lässt den Rückschluss zu, dass die Generation der jungen Erwachsenen, den Bedarf nach Aufklärung verspürt. Außerdem wird durch die Unbefangenheit deutlich, dass sich, durch den sozialen Wandel bedingt, die Notwendigkeit, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, chronologisch nach hinten verschoben hat.
In dem NEON-Artikel „Keine Frage des Alters“[49] geht der Autor Tobias Zick auf die oben genannte Entstandardisierung von Lebensläufen ein und bezieht sich darauf, dass das chronologische Alter an Gewicht verliert. Früher habe die Jugend mit der Volljährigkeit geendet, heute würden sich die Grenzen immer mehr nach hinten verschieben. Laut Zick lege sich kaum noch ein Wissenschaftler auf bestimmte Altersgrenzen fest. In der Lebensspanne der jungen Erwachsenen, bestehe die entwicklungspsychologische Aufgabe Intimität zu entwickeln. Ferner zitiert er die Entwicklungspsychologin Prof. Ursula Staudinger der Jacobs University in Bremen, die sich im Gegensatz zu dem chronologischen Alter ebenso auf die Schwellen bezieht, die mit dem Übergang zum Erwachsenenalter verbunden sind. Bis Mitte 20, so Staudinger, entwickele sich natürlich das komplexe Geflecht aus Eigenschaften wie sozialem Einfühlungsvermögen, Offenheit und Lebenserfahrung, später würde es Einflüssen von außen bedürfen, damit diese sich weiterentwickeln.
Ebenso plädiert Staudinger „[für eine] Transformation der Lebensläufe“[50], sie ist überzeugt, „dass es immer normaler werden wird, zwei oder mehr Berufskarrieren zu durchleben.“[51] Da es für sie unverantwortlich wäre, die gewonnen drei Jahrzehnte Lebensspanne ungenutzt verstreichen zu lassen. Sie bezieht sich hier auf die Lebenserwartung, die im letzten Jahrhundert in den Industrienationen um drei Jahrzehnte gestiegen ist. Die Veränderungen durch den sozialen Wandel bedeuten aber auch, dass der Mensch immer mehr Entscheidungen treffen muss, die wiederum immer komplexer werden. Zick verweist in diesem Zusammenhang auf den Altersforscher Paul Baltes, der von dem Gefühl spricht, alles richtig machen zu wollen, ohne zu wissen, was das Richtige ist.[52]
Dies entspricht der Aussage von Klatetzki et al.[53], dass zurzeit durch den gesellschaftlichen Wandel kein gegenwärtiger Konsens über die anzustrebenden Ziele besteht. Auf das von Paul Baltes genannte Gefühl reagiere die Psyche mit Sinnkrisen, wie dem bis dato unbekannten Phänomen der ‚Quaterlife Crises’. Es beschreibt den quälenden Zweifel der Ende Zwanzigjährigen in westlichen Gesellschaften, ob sie das richtige tun.[54] Die Erkenntnisse Zicks stehen in einem klaren Zusammenhang zu den schon genannten Problematiken, die mit dem sozialen Wandel einhergehen.
Im Bezug auf die Entwicklung psychischer Störungen bei jungen Erwachsenen ist festzuhalten, dass die Umwelt entscheidende Einflüsse hat. Ob in der Kindheit durch peristatische Einflüsse, die Beziehung zu den Eltern, Bestärkung und Hemmung oder in der Jugend durch die komplexen Erfahrungen der Adoleszenz, der Neuorientierung oder des sozialen Wandels. Der Übergang in das Erwachsenenalter birgt vermehrt die Gefahr psychische Störungen zu erleiden. Laut Heißler et al. herrscht innerhalb des psychiatrischen Diskurses jeher der Streit, ob eine Hilfe eher an Symptomen, Eigenschaften, dem Verhalten und Klassifikationen oder an der individuellen Entwicklung orientiert sein sollte.[55] Um zu verstehen, wer die Bewohner sozialtherapeutischer Wohnheime für psychisch erkrankte junge Erwachsene sind, ist es daher unumgänglich neben der Entwicklung auch allgemein den Begriff der psychischen Störung zu klären und die verschiedenen Formen vorzustellen.
2 Die psychischen Erkrankungen
2.1 Begriffsdefinition psychischer Störungen
Im Gegensatz zu körperlichen Befunden sind psychische Erkrankungen weit weniger eindeutig zu definieren, da sie sich auf das Fühlen und Denken eines Menschen beziehen.[56] Wer ist also dieser psychisch Kranke und wo ist die Grenze des sozialen Verständnisses zwischen normal und verrückt?
Für eine Definition des Begriffes Krankheit gibt es verschiedene Ansätze, außerdem sollte der Begriff Gesundheit berücksichtigt und erhellt werden. Medizinisch betrachtet geht eine Krankheit mit gewissen Symptomen und Ursachen einher. In diesem Zusammenhang beschreibt die gesetzliche Krankenversicherung Krankheit als einen Zustand geistiger oder körperlicher Regelwidrigkeit mit der Folge einer Behandlungsbedürftig- oder Arbeitslosigkeit. Eine geistige oder körperliche Regelwidrigkeit ist dann vorhanden, wenn sie eine Abweichung von der durch das Leitbild des gesunden Menschen geprägten Norm darstellt. Laut Sunder[57] formuliert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Präambel zu ihrer Satzung, Gesundheit als Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens. Das Frei-Sein von Gebrechen oder Krankheit ist hier nicht verankert.[58]
Die von der WHO herausgegebene ICD ist ein Diagnoseschlüssel, der Krankheiten international klassifiziert. Die aktuelle Revision ist die ICD-10, also die zehnte Fassung. Das amerikanische Vergleichswerk im Bezug auf psychische Störungen ist der DSM[59], herausgegeben von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung. Im Gegensatz zu der ICD-10 ist dieses ein nationales Klassifikationssystem. In Deutschland wurde am 1. Januar 2000 die ICD-10 für die gesamte medizinische Versorgung eingeführt und ist seitdem die Abrechnungsgrundlage von Gesundheitsleistungen im ambulanten wie im stationären Bereich. Das Kapitel V der ICD-10 stellt unter den Notationen F0-F9 psychische sowie Verhaltensstörungen vor. Der Begriff „Störung“ ersetzt den der Krankheit. Im Vergleich zu dem Gesamtverzeichnis stellt sich für die Psychiatrie eine Besonderheit heraus, die für keinen anderen Bereich der ICD-10 gilt: Allen Diagnosen ist eine Definition, ein erklärender Text, zugeordnet. Dies verdeutlicht den hoch einzuschätzenden Schwierigkeitsgrad der psychiatrischen Diagnostik.
Ausgangspunkt für eine Bestimmung des Pathologischen ist die Annahme, dass es Normen des Psychischen gibt und eine Normalität des Verhaltens sowie des Erlebens. Normen sind definiert als allgemein akzeptierte Regeln. Abweichungen von Normen sind Delinquenz oder Verstöße gegen Gebräuche und Sitten. Abweichungen von der Normalität werden als Störungen der Funktion, des Erlebens, der Intelligenz, des Bewusstseins oder des Verhaltens verstanden. Die Erfassung einer Normalität des Erlebens begründet sich auf objektive Kriterien, die statistische Norm und die Idealnorm, die durch subjektive Anteile gelöst wird.[60] Ebenso unterliegt die Normalität dem sozialen Wandel,[61] was bedeutet, dass sie mit Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen variiert. Die Individualität liegt immer in der Reichweite der Normalität. Werden Erkenntnisse über die Realität, über die ein gesellschaftlicher Konsens besteht, oder realitätsbezogenes Handeln, beeinträchtigt oder aufgehoben, gilt dies als Störung, Abweichung oder nicht normal. Im Bezug auf psychische Störungen gilt die Normalitätsannahme, dass die Sinnesreize den Menschen über die Außenwelt informieren. Im Falle von Halluzinationen etwa ist dies nicht gegeben. Werden psychische Störungen beurteilt, ist zu bedenken, dass die Basis der Erkenntnis, also die Norm, an der sie gemessen werden, sich nicht aus bestimmten Phänomenen ergibt, sondern eine subjektive Wertung darstellt. Verhalten, das als nicht normal gilt, darf als dieses nicht zugeschrieben werden „durch die Gesellschaft oder den Psychiater als ‚Agent[en]’ der Gesellschaft“[62]. Es sollte von dem Betroffenen selbst als Abweichung erlebt und formuliert werden.[63] Schwierig sind in diesem Zusammenhang die so genannten Zwangseinweisungen durch das PsychKG[64]. Die Psychiatrischen Krankengesetze der jeweiligen Bundesländer waren ursprünglich gedacht als Ausführungsgesetzte zu Artikel 2 Absatz 2 und Artikel 104 Absatz 2 des Grundgesetzes:
Art. 2 Abs. 2 GG „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Personen ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“[65]
Art. 104 Abs. 2 GG: „Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheits-entziehung hat nur der Richter zu entscheiden. Bei jeder nicht auf richterlicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung ist unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen. Die Polizei darf aus eigener Machtvollkommenheit niemanden länger als bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen in einem Gewahrsam halten. Das Nähere ist gesetzlich zu regeln.“[66]
Heute regeln die PsychKGs allerdings nicht nur die Unterbringung psychisch kranker Menschen, sondern auch mögliche Hilfen, Krisenintervention und Schutzmaßnahmen. Die richterliche Anordnung, wie sie in Artikel 104 des Grundgesetzes beschrieben wird, ist unbedingt nötig, da in psychiatrischen Krankenhäusern die zwangsweise Unterbringung eine Freiheitsentziehung darstellt. Als Voraussetzung einer Unterbringung muss eine erhebliche behandlungsbedürftige psychische Störung oder Behinderung vorliegen, die mit selbst- oder fremdgefährdendem Verhalten einhergeht. Die Unterbringung als Freiheitsentziehung muss in einem angemessenen Verhältnis zu der Art und dem Grad der Gefährdung stehen, die von dem Kranken ausgeht.[67] Die Beurteilung des angemessenen Verhältnisses liegt bei dem zuständigen Richter, sie ist also subjektiv und meist geprägt durch die Meinung des psychiatrischen Arztes.
Der in der Psychiatrie gängige Krankheitsbegriff bezieht sich auf Störungen im Ablauf der Lebensvorgänge, gekoppelt an eine verminderte Leistungsfähigkeit und häufig auch Veränderungen des Körpers.[68] Deshalb lösen psychisch Erkrankte bei ihrem Gegenüber oft Betroffenheit, Angst, Abwehr und Befremden aus.[69]
Es sind verschiedene Blickwinkel auf eine psychische Erkrankung denkbar. Der grundsätzliche Unterschied liegt darin, ob der Fokus auf den Menschen als soziales Wesen mit abweichendem Verhalten[70] oder auf die individuelle Geschichte und die damit verbundenen ätiologischen Bedingungen[71] der Krankheit gerichtet ist. Der soziale und der interaktionelle Aspekt bei dem Menschen als soziales Wesen bedeutet, dass der Erkrankte sein Verhalten gegenüber seiner Umwelt verändert und die Umwelt auf den Erkrankten verändert reagiert. Der Erkrankte und die Umwelt modulieren sich gegenseitig. Dieser Kontext ist für die Klassifikation von Störungen und deren Ausprägung dementsprechend von entscheidender Bedeutung.[72]
[...]
[1] Zur Verbesserung der Lesbarkeit wird in dieser Arbeit ausschließlich die männliche Form verwendet. Diese impliziert aber immer auch die weibliche Form.
[2] Vgl. http://www.bptk.de/aktuelles/news/98148.html; Stand: 13.01.2009.
[3] Vgl. Winterhoff, Michael, Warum unsere Kinder Tyrannen werden – Oder: Die Abschaffung der Kindheit, München 2008, S. 12, ebenso http://www.welt.de/ welt_print/article2890437/Die-neuen-Kinderkrankheiten.html und auch: http://www.welt.de /wissenschaft/article743320/Seelische_Krankheiten_bei_Kindern_nehmen_massiv_zu. html, Stand: 13.01.2009.
[4] Vgl. http://www.gesundheit.de/krankheiten/gehirn-nerven/psychische-erkrankungen-nehmen-zu/index.html; Stand: 13.01.2009.
[5] Brill, Karl-Ernst, Grundrecht Wohnen – „Ein Bett ist keine Wohnung“, in: Bock, Thomas / Weigand, Hildegand (Hrsg.), Hand-werks-buch Psychiatrie, Bonn 1992, S. 126.
[6] Vgl. http://www.awo-mh.de/html/spe/Microsoft_Word__Konzeption_Jugendhilfe.pdf; Stand: 02.01.2009, Konzept zur Arbeit mit jungen, psychisch erkrankten Volljährigen im Seppl-Kuschka-Haus, S. 3.
[7] Bock, Thomas / Weigand, Hildegard (Hrsg.), Hand-werks-buch Psychiatrie, Bonn 1992.
[8] I nternational Statistical C lassification of D iseases and Related Health Problems
[9] Vgl. Nissen, Gerhardt / Trott, Götz Erik, Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter, Berlin Heidelberg 1995, S. 5f.
[10] Vgl. Zapotoczky, Hans Georg / Fischhof, Peter Kurt, Psychiatrie der Lebensabschnitte – ein Kompendium, Wien 2002, S. 1.
[11] Vgl. Nissen / Trott, Störungen, 1995, S. 6.
[12] Vgl. Zapotoczky / Fischhof, Lebensabschnitte, 2002, S. 1.
[13] Vgl. ebenda, S. 27f.
[14] Vgl. Comer, Ronald J., Klinische Psychologie, Heidelberg 2008, S. 448.
[15] Vgl. Lange, Andreas, Kindesalter, in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Hrsg.), Fachlexikon der Sozialen Arbeit, Baden-Baden 2007, S. 555f.
[16] Vgl. Comer, Psychologie, 2008, S. 448.
[17] Schmoller, Jordan W., Die Entstehung und Behandlung von Kindheit, in: Comer, Klinische Psychologie, Heidelberg 2008, S. 450.
[18] Vgl. ebenda, S. 450f.
[19] D iagnostic and S tatistical Manual of M ental Disorders, deutsch: Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen
[20] Vgl. Nissen / Trott, Störungen, 1995, S. 5-9.
[21] Vgl. Klatetzki, Thomas / Rößler, Jochen / Winter, Hagen, Lebensphase Jugend, in: Bock, Thomas / Weigand, Hildegard (Hrsg.), Hand-werks-buch Psychiatrie, Bonn 1992, S. 441.
[22] Vgl. Zapotoczky / Fischhof, Lebensabschnitte, 2002, S. 59.
[23] Vgl. Nissen / Trott, Störungen, 1995, S. 9.
[24] Vgl. Zapotoczky / Fischhof, Lebensabschnitte, 2002, S. 55f.
[25] Vgl. ebenda, S. 57.
[26] Vgl. ebenda, S. 58.
[27] Vgl. Nissen / Trott, Störungen, 1995, S. 9.
[28] Winterhoff, Tyrannen, 2008.
[29] Ebenda, S. 89.
[30] Vgl. Winterhoff, Tyrannen, 2008, S. 88f.
[31] Vgl. Klatetzki et al., Jugend, in: Bock, Thomas / Weigand, Hildegard (Hrsg.), Hand-werks-buch Psychiatrie, Bonn 1992, S. 446f.
[32] Zapotoczky / Fischhof, Lebensabschnitte, 2002, S. 58.
[33] Vgl. ebenda, S. 58.
[34] Vgl. Nissen / Trott, Störungen, 1995, S. 9.
[35] Vgl. Comer, Psychologie, 2008, S. 449.
[36] Günder, Richard, Praxis und Methoden der Heimerziehung, Freiburg im Breisgau 2007, S. 37.
[37] Das Forschungsprojekt Jugendhilfeleistungen ist ein vom Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Tübingen durchgeführte Evaluationsstudie zur retrospektiven Längsschnittuntersuchung über den Erfolg von stationären und teilstationären Hilfen zur Erziehung.
[38] Günder, Heimerziehung, 2007, S. 34-37.
[39] Vgl. http://www.students.uni-marburg.de/~Nauj/downloads/03.%20Semester/ewp2/
zusammenfassungen/03-Enzyklop%C3%A4die%20der%20Psychologie.pdf;
Stand: 03.01.2009.
[40] Vgl. http://www.soziologie.uni-rostock.de/Sozialstruktur/tagungen/sektion/generation/ Konietzka_Huinink_Abstract_Erfurt.pdf; Stand: 03.01.2009.
[41] Heißler, Mathias / Heißler, Renate / Bock, Thomas, Übergänge: Entwicklung und Krisen Erwachsener – Hilfen jenseits der Medizin, in: Bock / Weigand (Hrsg.), Hand-werks-buch Psychiatrie, Bonn 1992, S. 469.
[42] Heißler et al., Übergänge, in: Bock / Weigand (Hrsg.), Hand-werks-buch Psychiatrie, Bonn 1992, S 479.
[43] Vgl. ebenda, S. 478f.
[44] http://junge-erwachsene.npage.de/treffen_75082630.html; Stand: 19.12.2008.
[45] Z.B. http://www.kja-freiburg.de/efj/dcms/sites/kja/fachstellen/jungeerwachsene/
ueberuns/index.html; Stand: 19.12.2008.
[46] Vgl. http://junge-erwachsene.npage.de/treffen_75082630.html; Stand: 19.12.2008.
[47] Vom Hamburger Verlagshaus Gruner und Jahr herausgegeben, nach eigener Aussage
das junge Magazin vom ‚stern’.
[48] Vgl. http://www.stern.de/presse/stern/:23.06.2003-Eigentlich/509564.html; Stand: 04.01.2009.
[49] Zick, Tobias, Keine Frage des Alters, in: NEON, 11/2008, S. 54-62.
[50] Zick, Alter, in: NEON, 11/2008, S. 62.
[51] Ebenda, S. 62.
[52] Vgl. Zick, Alter, in: NEON, 11/2008, S. 54-62.
[53] Vgl. S. 6 dieser Arbeit.
[54] Vgl. Zick, Alter, in: NEON, 11/2008, S. 54-62
[55] Vgl. Heißler et al., Übergange, in: Bock / Weigand (Hrsg.), Hand-werks-buch
Psychiatrie, Bonn 1992, S. 447
[56] Vgl. Haring, Claus, Psychiatrie, Stuttgart 1995, S. 7.
[57] Sunder, Ellen, Krankheit, in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Hrsg.), Fachlexikon der Sozialen Arbeit, Baden-Baden 2007, S. 589f.
[58] Vgl. ebenda.
[59] in der vierten Auflage
[60] Vgl. Haring, Psychiatrie, 1995, S. 13f.
[61] Vgl. Habich, Roland, „Sozialer Wandel“, in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Hrsg.), Fachlexikon der Sozialen Arbeit, Baden-Baden 2007, S. 865f.
[62] Haring, Psychiatrie, 1995, S. 15.
[63] Vgl. ebenda, S. 14f.
[64] Psychiatrisches Krankengesetz
[65] Art. 2 Persönliche Freiheitsrechte Abs. 2 GG, in: Stascheit, Ulrich, Gesetze für Sozialberufe, Stand: 1. September 2007, Baden-Baden 2007, S. 18.
[66] Art. 104 Freiheitsentzug Abs. 2 GG, in: Stascheit, Ulrich, Gesetze für Sozialberufe, Stand: 1. September 2007, Baden-Baden 2007, S. 43.
[67] Vgl. Marschner, Rolf, Psychisch-Kranken Gesetz (PsychKG), in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Hrsg.), Fachlexikon der Sozialen Arbeit, Baden-Baden 2007, S. 734f.
[68] Vgl. Dörner, Klaus / Plog, Ursula, Irren ist menschlich, Bonn 1996, S. 34.
[69] Vgl. Schröder-Rosenstock, Karl, Psychisch kranke Mensch, in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Hrsg.), Fachlexikon der Sozialen Arbeit, Baden-Baden 2007, S. 733f.
[70] Vgl. Dörner, Klaus, Mosaiksteine für ein Menschen- und Gesellschaftsbild – zur Orientierung psychiatrischen Handelns, in: Bock / Weigand (Hrsg.), Hand-werks-buch Psychiatrie, Bonn 1992, S. 38.
[71] Vgl. Buck, Dorothea / Bock, Thomas, Selbst-Verständlichkeit von Psychosen, in Bock, Thomas / Weigand, Hildegand (Hrsg.), Hand-werks-buch Psychiatrie, Bonn 1992, S. 15.
[72] Vgl. Rahn, Ewald, Umgang mit Borderline Patienten, Bonn 2003, S. 12.
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