Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts und der Auflösung des Ost-West-Konflikts, in welchem jahrzehntelang nur die jeweiligen Arsenale an Atomwaffen und somit das Gleichgewicht des Schreckens, also die Furcht vor gegenseitiger totaler Vernichtung für Stabilität garantieren und einen neuen Weltkrieg verhindern konnten, regte sich bei vielen Staatsmännern der westlichen Welt eine neue Hoffnung auf künftige friedliche Lösung von Konflikten. Es herrschte der Glaube, dass es nun möglich sei, auch im globalen Rahmen Differenzen schnell und friedlich mit Hilfe der internationalen Institutionen, die schon während des Kalten Krieges die Zusammenarbeit der westlichen Staaten bestimmt hatten, beizulegen.
Vor diesem Hintergrund eröffnete der Neorealist John J. Mearsheimer in der Fachwelt eine Debatte darüber, ob und in welchem Maße in der nun veränderten Weltordnung künftig internationale Institutionen eine Rolle in der Sicherheitspolitik spielen würden. Mit einem viel beachteten Beitrag in der Fachzeitschrift „International Security“ bemüht sich Mearsheimer von der Theorie des Realismus ausgehend nachzuweisen, dass auch in der nun herrschenden Lage einzig die „Ballance of Power“, also eine stabile Machtverteilung, für Frieden und Stabilität im internationalen System garantieren könne. Um dies zu belegen versucht er, einen totalitären Geltungsanspruch des Realismus zu beweisen, in dem er die -seiner Meinung nach- logischen Fehler institutionalistischer Theorien aufzeigt. In Folge dessen meldeten sich bald darauf ebenfalls in „International Security“ Anhänger der von ihm kritisierten Theorien zu Wort, um die Fehler in Mearsheimers Analyse darzustellen und den Geltungsanspruch der eigenen Theorien zu belegen. Robert O. Keohane und Lisa L. Martin bemühten sich, die Sichtweise der Theorie des liberalen Institutionalismus auf die Sicherheitspolitik darzustellen und gleichzeitig die Mäkel in Mearsheimers eigenen Annahmen hervorzuheben. Für die Anhänger der Theorie der kollektiven Sicherheit ergriffen Charles A. Kupchan und Clifford A. Kupchan das Wort, während für die Kritische Theorie der Konstruktivist Alexander Wendt Position bezog. Mit dieser Arbeit möchte ich die Debatte von 1994/95 nachzeichnen und die Positionen der Beteiligten darstellen. Im Anschluss versuche ich kurz, die vorgebrachten Argumente und Ansichten anhand eines aktuellen Beispiels auf ihre Erklärungsfähigkeit gegenüber der empirischen Wirklichkeit zu prüfen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Realismus – Eine Theorie mit totalitärem Geltungsanspruch?
3. Institutionalistische Theorien - Oder: Machen Institutionen einen Unterschied?
3.1. Der Liberale Institutionalismus
3.2. Kollektive Sicherheit
3.3. Kritische Theorie
4. Diskussion der Argumente am empirischen Beispiel des Konflikts zwischen Georgien und Russland (2008)
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts und der Auflösung des Ost-West-Konflikts, in welchem jahrzehntelang nur die jeweiligen Arsenale an Atomwaffen und somit das Gleichgewicht des Schreckens, also die Furcht vor gegenseitiger totaler Vernichtung für Stabilität garantieren und einen neuen Weltkrieg verhindern konnten, regte sich bei vielen Staatsmännern der westlichen Welt eine neue Hoffnung auf künftige friedliche Lösung von Konflikten. Es herrschte der Glaube, dass es nun möglich sei, auch im globalen Rahmen Differenzen schnell und friedlich mit Hilfe der internationalen Institutionen, die schon während des Kalten Krieges die Zusammenarbeit der westlichen Staaten bestimmt hatten, beizulegen.[1]
Vor diesem Hintergrund eröffnete der Neorealist John J. Mearsheimer[2] in der Fachwelt eine Debatte darüber, ob und in welchem Maße in der nun veränderten Weltordnung künftig internationale Institutionen eine Rolle in der Sicherheitspolitik spielen würden. Mit einem viel beachteten Beitrag in der Fachzeitschrift „ International Security “ bemüht sich Mearsheimer von der Theorie des Realismus ausgehend nachzuweisen, dass auch in der nun herrschenden Lage einzig die „ Ballance of Power “, also eine stabile Machtverteilung, für Frieden und Stabilität im internationalen System garantieren könne. Um dies zu belegen versucht er, einen totalitären Geltungsanspruch des Realismus zu beweisen, in dem er die -seiner Meinung nach- logischen Fehler institutionalistischer Theorien aufzeigt. In Folge dessen meldeten sich bald darauf ebenfalls in „ International Security “ Anhänger der von ihm kritisierten Theorien zu Wort, um die Fehler in Mearsheimers Analyse darzustellen und den Geltungsanspruch der eigenen Theorien zu belegen. Robert O. Keohane[3] und Lisa L. Martin[4] bemühten sich, die Sichtweise der Theorie des liberalen Institutionalismus auf die Sicherheitspolitik darzustellen und gleichzeitig die Mäkel in Mearsheimers eigenen Annahmen hervorzuheben. Für die Anhänger der Theorie der kollektiven Sicherheit ergriffen Charles A. Kupchan[5] und Clifford A. Kupchan[6] das Wort, während für die Kritische Theorie der Konstruktivist Alexander Wendt[7] Position bezog. Mit dieser Arbeit möchte ich die Debatte von 1994/95 nachzeichnen und die Positionen der Beteiligten darstellen. Im Anschluss versuche ich kurz, die vorgebrachten Argumente und Ansichten anhand eines aktuellen Beispiels auf ihre Erklärungsfähigkeit gegenüber der empirischen Wirklichkeit zu prüfen.
2. Der Realismus – Eine Theorie mit totalitärem Geltungsanspruch?
In seiner Arbeit The False Promise of International Institutions macht Mearsheimer keinen Hehl aus seiner Meinung, Institutionen hätten kaum Einfluss auf das Verhalten von Staaten und seien daher wenig geeignet, zu Stabilität im internationalen System beizutragen und somit über Krieg und Frieden zu entscheiden.[8] Als überzeugter Anhänger der Theorie des Realismus geht Mearsheimer von fünf Grundannahmen aus, die das internationale System bedingen:
Zum Ersten die Annahme von Anarchie, also Abwesenheit einer zentralen Ordnungsmacht, im internationalen System, zweitens eine gegenseitige Bedrohung der Staaten aufgrund allgemein vorhandener offensiver militärischer Kapazitäten, drittens die ständige Unsicherheit über Intentionen der anderen Staaten, viertens die Grundmotivation aller Staaten souverän zu bleiben und zu überleben und fünftens das grundsätzlich strategische Denken aller Staaten.[9]
Aus diesen Bedingungen resultiere ein Macht- Sicherheits- Dilemma im internationalen System, welches einen ständigen Wettstreit um Akkumulation von Sicherheit zur Folge habe.[10] Dies führe zu drei grundsätzlichen Verhaltensmustern der Staaten: Da jeder Staat für seine Sicherheit selbst garantieren müsse, werde er, getreu dem lateinischen Motto si vis pacem, para bellum, danach trachten, ein möglichst schlagkräftiges militärisches Arsenal aufzubauen.
Weiter handle jeder Staat stets eigennützig und versuche seine relative Macht im internationalen System auszubauen, indem er andere Staaten übervorteilt. Da dies auch die Möglichkeit eines Militärschlages beinhalte, wären alle Staaten neben ihrer defensiven Grundhaltung auch permanent offensiv orientiert, was Frieden zu einer sehr unwahrscheinlichen Alternative mache.[11]
Trotz dieser recht pessimistischen Lage sei jedoch Kooperation zwischen Staaten möglich, z.B. um einen übermächtigen Aggressor auszubalancieren. Jegliche Kooperation im internationalen System werde jedoch durch zwei Probleme behindert: Da jeder Staat nach relativem Machtzuwachs strebe, werde er nur kooperieren, wenn er zumindest keine relativen Verluste zu befürchten habe, d.h. mindestens die momentane Machtverteilung gewahrt bleibe. Ferner herrsche die ständige Furcht, von anderen betrogen und übervorteilt zu werden, was besonders im Bereich der der militärischen Kooperation zu enormen Vorbehalten führe, da eine Übervorteilung in diesem Ressort besonders schwerwiegenden Nachteilen verursachen könne.[12]
Bei Kooperation zwischen Staaten werde manchmal zum Mittel der Institution gegriffen. Diese beruhten jedoch auf eigennützigen Kalkulationen und würden von den mächtigsten Staaten geformt, um ihre Machtposition zu sichern. Institutionen bildeten also lediglich die herrschende Machtverteilung ab, weshalb sie kaum dazu geeignet seien, über Krieg und Frieden zu entscheiden. Für Stabilität und Frieden sorge also nur eine stabile Machtverteilung („ ballance of power “).[13]
Doch Mearsheimers scheinbar durchwegs schlüssige Theorie beinhaltet für Keohane und Martin einige Unstimmigkeiten. Sie werfen Mearsheimer in The Promise of Institutionalist Theory drei Hauptfehler seiner Theorie vor. Zum einen gehe Mearsheimer in beinahe überheblicher Art und Weise von der Überlegenheit des Realismus aus. Im Gegensatz zu institutionalistischen Theorien besitze dieser für ihn solange Gültigkeit, bis gravierende Gegenbeweise erbracht würden, eine Grundhaltung, die anbetracht der gewaltigen Investitionen der einzelnen Staaten in internationale Organisationen kaum haltbar seien, denn diese Investitionen seien nicht erklärbar, wenn davon auszugehen sei, dass, bis zum Beweis des Gegenteils, Institutionen keinen Nutzen hätten[14]. Weiter neige der Realismus zu unqualifizierten Generalisierungen.[15] Da sich Theorien über einzelne Institutionen, wie z.B. eine Auflösung der NATO nach Ende des Kalten Krieges, nicht bewahrheitet hätten, gehe Mearsheimer nun dazu über, daraus allgemeine Behauptungen zu konstruieren, nach denen Institutionen kaum Einfluss auf Verhalten von Staaten und Stabilität im internationalen System hätten.[16] Dieser Hang zu Generalisierungen verursache in der realistischen Theorie teilweise Probleme in der Logik, wenn Mearsheimer beispielsweise behaupte, Institutionen hätten keinen Einfluss auf Krieg oder Frieden, gleichzeitig aber einräume, dass die NATO eine Institution sei und mit dazu beigetragen hätte, den Dritten Weltkrieg zu verhindern.[17] Solchen Widersprüchen würden dann durch rhetorische Kunstgriffe[18] oder Konstruktion von Ausnahmeregeln[19] begegnet.
Der dritte Mangel, den die Realistische Theorie aufweise, sei die Tatsache, dass sie aufgrund des eigenen universellen Geltungsanspruchs nur äußerst ungenau die Rahmenbedingungen definiere, unter denen ihre Annahmen zuträfen. Im Gegensatz dazu strebe der Institutionalismus danach, genau festzulegen, unter welchen Bedingungen seine Annahmen funktionieren und unter welchen Bedingungen eher die realistische Theorie Erklärungsfähigkeit besitzt. In diesem Zusammenhang könne man gar den Realismus unter die Theorie des Institutionalismus subsumieren.[20]
Auch Charles und Clifford Kupchan sind mit Mearsheimers Weltbild des strukturellen Realismus nicht einverstanden. Seine Behauptungen über die Entstehung von Krieg und Frieden beruhten auf der Annahme, alle größeren Mächte im internationalen System wären gleich beschaffen und strebten stets danach, einander zu übervorteilen, aus Furcht, ansonsten zu einem späteren Zeitpunkt selbst übervorteilt zu werden. Dementsprechend würden Kalkulationen über Machtverteilungen stets alle internationalen Normen dominieren und daher Institutionen nur in Feldern von marginaler Bedeutung eine Rolle spielen.[21] Die Kupchans dagegen gehen von anderen Voraussetzungen aus. Einzelne Staaten wären ihrer Meinung nach keinesfalls gleich, sondern unterscheiden sich durch innere Faktoren, wie etwa die jeweilige Innenpolitik oder unterschiedliche herrschende Ideologien. Diese hätten neben machtpolitischen Kalkulationen einen großen Einfluss auf das Verhalten von Staaten. So seien alle großen Konflikte des 20. Jahrhunderts, beide Weltkriege und der kalte Krieg, von aggressiven Staaten, wie z.B. Nazi-Deutschland, verursacht worden, die aufgrund ihrer inneren, bösartigen Ideologien nach größerer Macht strebten, nicht nach größerer Sicherheit.[22]
Da also Machtpolitik allein nicht über Krieg und Frieden zu entscheiden vermag, kann durchaus bezweifelt werden, dass Mearsheimers Ansichten über die Ballance of Power und die lediglich marginalen Einflussmöglichkeiten internationaler Institutionen Gültigkeit besitzen.
Auch Alexander Wendts Ausführungen tragen in keiner Weise dazu bei den Geltungsanspruch des Realismus zu unterstützen. Seiner Meinung nach unterliegen Mearsheimers Annahmen einem grundsätzlichen, definitorischen Fehler. Zwar teile er Mearsheimers fünf Grundannahmen über den Einfluss auf das internationale System[23], doch handle es sich beim Realismus um eine rein explanative Theorie, die nicht geeignet sei, die Beschaffenheit des internationalen Systems zu beschreiben, sondern einzig, warum dieses so ist.[24] Wenn also Staaten nach relativen Gewinnen streben, Kriege führen oder einander durch Allianzen ausbalancieren, so sei dies kein Beleg der Richtigkeit der realistischen Theorie, sondern lediglich eine Anwendung von Realpolitik[25], was die Erbringung empirischer Belege für Mearsheimers Behauptungen wohl ungleich erschweren dürfte.
[...]
[1] Vgl. Mearsheimer, John J.: The False Promise of Institutionalist Theory, in: International Security 19:3, Cambridge, 1995, S. 5-6.
[2] John J. Mearsheimer ist Professor an der Fakultät für Politikwissenschaft der Universität von Chicago.
[3] Robert O. Keohane ist Professor für Internationalen Frieden an der Harvard Universität.
[4] Lisa L. Martin ist Professorin für Regierung an der Harvard Universität.
[5] Charles A. Kupchan ist Professor für internationale Beziehungen an der Universität von Georgetown.
[6] Clifford A. Kupchan ist außenpolitischer Berater des US-Kongress.
[7] Alexander Wendt ist Professor für Politikwissenschaft an der Yale Universität.
[8] Vgl. Mearsheimer: Promise, S. 7.
[9] Vgl. Mearsheimer: Promise, S. 10.
[10] Vgl. Mearsheimer: Promise, S. 9.
[11] Vgl. Mearsheimer: Promise, S. 11-12.
[12] Vgl. Mearsheimer: Promise, S. 12-13.
[13] Vgl. Mearsheimer: Promise, S. 13-14.
[14] Vgl. Keohane, Robert O. und Martin, Lisa L.: The Promise of Institutionalist Theory, in: International Security 20:1, Cambridge, 1995, S.40-41.
[15] Vgl. Keohane u.a.: Institutionalist Theory, S.42.
[16] Vgl. Keohane u.a.: Institutionalist Theory, S.40.
[17] Vgl. Keohane u.a.: Institutionalist Theory, S.42.
[18] Vgl. Keohane u.a.: Institutionalist Theory, S.42.
[19] Vgl. Keohane u.a.: Institutionalist Theory, S.41.
[20] Vgl. Keohane u.a.: Institutionalist Theory, S.42.
[21] Vgl. Kupchan, Charles A. und Kupchan, Clifford A.: The Promise of Collective Security, in: International Security 20:1, Cambridge, 1995, S.59.
[22] Vgl. Kupchan u.a.: Collective Security, S.60.
[23] Vgl. Wendt, Alexander: Constructing International Politics, in: International Security 20:1, Cambridge, 1995, S. 72.
[24] Vgl. Wendt: Constructing, S. 76.
[25] Vgl. Wendt: Constructing, S. 76.
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- Thorsten Häußler (Author), 2008, Welche Bedeutung haben internationale Organisationen in der Sicherheitspolitik?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123702
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