Ein Ausbau der Betreuungsplätze für Kinder von 0 bis 3 Jahren ist auf dem Vormarsch. Wie im Zuge dieser Entwicklung gleichzeitig Qualität mitgeschaffen werden kann, versucht die vorliegende Diplomarbeit zu beantworten. Sie stellt Überlegungen zu Bildung und Erziehung bei Kindern von 0 bis 3 Jahren an, um zu vermeiden, dass der Ausbau des Krippenwesens „übers Knie gebrochen“ oder „aus dem Bauch heraus“ vollzogen wird. Um Qualität in Erziehung und Bildung zu sichern, ist es wichtig zu fragen, was der aktuelle Bildungsgedanke überhaupt bedeutet. Diese Arbeit nimmt eine Gegenüberstellung theoretischer Anforderungen einer gelungenen Bildungsinitiative, wie sie von Gerd E. Schäfer (Professor für Frühpädagogik an der Universität zu Köln, Herausgeber "Bildung beginnt mit der Geburt") vertreten wird, mit den praktischen Möglichkeiten der Umsetzung vor.
Wichtig ist sich klarzumachen, dass – ebenso wie der Kindergarten keine „verkleinerte Art der Schule“ ist – die Krippe auch keine „verkleinerte Art des Kindergartens“ darstellen darf. Inhalte und Konzeptionen aus der Kindergartenpädagogik dürfen nicht einfach als Krippenpädagogik adaptiert werden.
Was das für die Praxis der Krippenpädagogik bedeutet und wie wir als Pädagogen einen geeigneten Rahmen dafür schaffen können, wird in der vorliegenden Arbeit erörtert.
Sie beginnt mit einem historischen Rückblick. Unter Berücksichtigung der Ideen und Erkenntnisse der Vergangenheit zum Bildungsgedanken folgt eine Bestandsaufnahme der Gegenwart. Was ist es, das Gerd E. Schäfer unter Bildung versteht? Dass es bereits pädagogische Konzepte gibt, die die Anforderungen an den heutigen Bildungsgedanken bemerkenswert gut in die Praxis umsetzen, zeigen die Reggio-Pädagogik und die Pädagogik Emmi Piklers. Beide Konzepte beschäftigen sich explizit mit unter Dreijährigen Kindern und ihrer Selbstbildung. Es folgt der Blick nach Hamburg. Im Rahmen unseres Studiums hospitierten wir in zwei Hamburger Einrichtungen, die gelungene Krippenpädagogik schon jetzt richtungsweisend leben. Unsere dort gemachten Beobachtungen und das Bildmaterial, das wir vor Ort anfertigen durften, dienen dem besseren Verständnis und der Veranschaulichung, wenn wichtige Säulen der Krippenpädagogik auf dem Prüfstand im Praxisbezug stehen (Spiel, ästhetische Bildung, Bewegung, Raumgestaltung, personelle Anforderungen, Beobachtung, Eingewöhnung). Was ändert der Schäfersche Bildungsbegriff an Bestehendem, was kann wie neu geschaffen werden?
INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung und Begründung des Themas (J. F. / C. T.)
2. Historische Herleitung der Kleinkinderziehung (J. F.)
2.1. Die Geburtsstunde einer neuen Gesellschaftsordnung
2.2. Kinderbewahranstalten - Anfänge institutioneller Kleinkinderziehung
2.3. Fröbels Einfluss auf die Kleinkinderziehung
2.4. Wie die Weimarer Republik einen gesetzlichen Rahmen schafft
2.5. Das dritte Reich – ein Rückschritt für die Kleinkinderziehung
2.6. Die Entwicklung des Kindergartens von der Nachkriegszeit bis heute
2.7. Neue Ideen und Konzepte werden zu Wegweisern
2.8. Von verpassten Gelegenheiten
3. Der Bildungsgedanke als roter Faden der frühkindlichen Pädagogik im geschichtlichen Rückblick (J. F.)
4. Was bedeutet Bildung im Elementarbereich? (J. F.)
4.1. Der Bildungsbegriff nach Gerd E. Schäfer
4.2. 15 Thesen zu Bildungsprozessen
5. Bildung und Erziehung bei Kindern von 0 bis 3 Jahren – Vorstellung zweier gelungener Konzepte (C. T. / J. F.)
5.1. Kleinkinderziehung in der Reggio-Pädagogik (C. T.)
5.1.1. Entstehung, Inhalte und Ziele der Kleinkindpädagogik
5.1.2. Das Bild vom Kind
5.1.3. Wahrnehmen, Lernen und Gestalten als Grundgedanken
5.1.4. Die Räume in Reggio Emilia
5.1.5. Die reggianischen Erzieherinnen
5.1.6. Die Eltern
5.1.7. Die Eingewöhnung der Kinder
5.1.8. Ästhetische Bildung in Reggio Emilia
5.1.9. Abschließende Gedanken zur Reggio-Pädagogik
5.2. Das Konzept von Emmi Pikler (J. F.)
5.2.1. Einführung in die Pädagogik von Emmi Pikler
5.2.2. Schwerpunkte in der Piklerschen Pädagogik
5.2.3. Die Rolle der Erzieherin oder: Mütterliche Betreuung ohne Mutter
5.2.4. Das freie Spiel des Kindes
5.2.5. Bewegungsentwicklung
5.2.6. Abschließende Gedanken zur Pädagogik von Emmi Pikler
6. Zu Besuch in Hamburg – Die Krippen Kind & Kegel e. V. und Kegelhofstraße e. V. (C. T.)
7. Krippenpädagogische Säulen auf dem Prüfstand im Praxisbezug (J. F. / C. T.)
7.1. Kindliche Aktivitäten im Zentrum des Krippengeschehens
7.1.1. Spiel (C. T.)
7.1.1.1. Was macht das Spiel zum Spiel?
7.1.1.2. Formen des Spiels
7.1.1.3. Konsequenzen für die Praxis
7.1.2. Ästhetische Bildung (C. T.)
7.1.2.1. Begriffsklärung
7.1.2.2. Gestalten als frühkindliche Tätigkeit
7.1.2.3. Materialien zum Experimentieren und Gestalten
7.1.2.4. Projektarbeit in der Krippe
7.1.3. Bewegung (J. F.)
7.1.3.1. Bewegung und ihre Multifunktionalität
7.1.3.2. Bewegung als erste Denkform des Kindes
7.1.3.3. Differenzierung von Wahrnehmungserfahrungen – Bewegungsentwicklung im Praxisbezug
6.1.3.4. Hamburg „bewegt“: Bewegung in den besuchten Kinderläden
7.2. Der Raum als Quelle zur Selbstbildung (C. T.)
7.2.1. Die Bedeutung des Raumes für Bildung und Erziehung
7.2.2. Der Eingangsbereich in der Krippe
7.2.3. Der Gruppenraum
7.2.4. Sinnesanregende Gestaltung: Farben, Licht, Akustik, Gerüche
7.2.5. Die drei Funktionen des Sanitärraumes: Atelier, Ort zum Spielen und Experimentieren und Körperpflege
7.2.6. Ein Raum zum Essen und Genießen
7.2.7. Ruhen, Schlafen und Träumen
7.2.8. Raum für Angebote und Arbeitsplatz der Erzieherin
7.2.9. Übergänge zwischen Räumen und Bereichen und Räumen und Räumen
7.2.10. Abschließende Gedanken zum Thema Raumgestaltung
7.3. Personelle Anforderungen und Konsequenzen für die Praxis
7.3.1. Die Erzieherin im Schäferschen Sinne (C. T.)
7.3.1.1. Wie personelle Qualität geschaffen werden kann – ein Beispiel aus Hamburg
7.3.2. Beobachten und Dokumentieren als Praxisinstrument (J. F.)
7.3.3. Die ersten Tage in der Krippe – ein sanfter Übergang (C. T. / J. F.)
7.3.3.1. Die Notwendigkeit der Eingewöhnung
7.3.3.2. Das Berliner Eingewöhnungsmodell und seine praktische Umsetzung
7.3.3.3. Die Rollen der Beteiligten
7.3.3.4. Abschließende Gedanken zum Thema Eingewöhnung
8. Fazit (J. F. / C. T.)
9. Literaturverzeichnis (J. F. / C. T.)
1. Einleitung und Begründung des Themas
Die Frage nach einer geeigneten Bildung der Gesellschaft hat in der Menschheit eine lange Tradition. Egal, wie weit der Blick in die Geschichte zurückgeht, es gibt zu fast jeder Zeit Gelehrte und Lernende. Seit jeher wird gelernt. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Lernen ist lebensnotwendig und geht darüber hinaus. Zu Beginn unseres Lebens geht es darum die Din- ge zu lernen, die das Überleben sichern. Gleichzeitig erlernen wir Strategien, die es möglich machen, die vorhandenen gesellschaftlichen, kulturellen, technologischen, wirtschaftlichen und anderen Gegebenheiten unserer Welt in unserem Sinne gebrauchen zu können.
Die Erkenntnis darüber, dass bereits kleine Kinder und Säuglinge ein riesiges Lernspektrum besitzen, ist relativ neu. Erst Ende des 19. Jahrhunderts be- ginnen Wissenschaftler zaghaft, sich mit der Frage nach dem Wissen und der Art, wie es von Säuglingen angeeignet wird, zu beschäftigen. Wirklicher Forschungsgegenstand wurden die Jüngsten erst vor etwa 30 Jahren. Bis heute liefert die Kognitionsforschung und Entwicklungspsychologie, um nur zwei der zahlreichen Wissenschaftsbereiche zu nennen, viele neue Erkennt- nisse darüber, wie Lernen funktioniert und wie sich Menschen bilden. Die Umsetzung dessen, was die Wissenschaft an Erkenntnissen bietet, scheint aber erst am Anfang zu stehen. Zwar ist die Metapher des „dummen, ersten Jahres“ mittlerweile glücklicherweise aus dem Volksmund verschwunden, die Erkenntnis darüber, dass Kinder schon mit ihrer Geburt aktive, soziale We- sen sind, die sich ihre Umwelt selbsttätig aneignen, ist allerdings noch lange nicht überall Gang und Gäbe geworden.
Die Meinungen darüber, was lernenswert ist, gehen nicht selten auseinander. Was ein Säugling und späteres Kleinkind in der Familie lernt, hängt größten- teils von den Vorstellungen und Wünschen seines Umfeldes ab. Das Verhal- ten der Familie spielt dabei eine wichtige Rolle, ebenso wie ihre Erfahrungen und ihr Verständnis von Erziehung. Dies kann sich von Familie zu Familie stark unterscheiden. Ist die Familie in Erziehungsfragen verunsichert, helfen
unter anderem unzählige Beratungsbücher bei der Erziehung. Schließlich möchten die meisten Eltern die Erziehung ihrer Kinder auf das Möglichste optimieren.
Und so ist es nicht nur die Erziehung, die einem ständigen Wandel unterliegt, sondern auch das, was „Bildung“ ausmacht. Von der Vorstellung des einzig richtigen, dem wahren und für alle Menschen gleich geltenden „Bildungsplan“ rückt die Gesellschaft ab. Zu vielfältig sind die Möglichkeiten, zu individuell die Bedürfnisse des Einzelnen.
Während noch vor wenigen Jahrzehnten der Schwerpunkt der Schulbildung auf der Rekonstruktion lag - jedenfalls geht das aus Erzählungen der vorhe- rigen Generationen hervor - prägt das Vermitteln von sogenannten „Schlüs- selkompetenzen“ das heutige Schulbild. So sollte es jedenfalls sein, denn schließlich sind Bildung und Wissenschaft der „Schlüssel zur Welt“ und das Eigenkapital im Wettbewerb mit der globalen Konkurrenz. Dementsprechend sollten die Menschen auch gut gebildet sein. Zwar investiert die Politik in Deutschland seit vielen Jahren, verglichen mit anderen Ländern Europas, nicht viel in die Bildung seines Volkes (man denke dabei an den schlechten Zustand vieler Schulen oder an das veraltete Schulsystem), und dennoch spricht man im gleichen Land nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der Pisa-Studie vom „Pisa-Schock“.
Die derzeitige Bildungsdiskussion in Deutschland basiert nun auf dem schlechten Abschneiden internationaler Bildungsvergleiche wie der „Pisa- Studie“. Sie zwingt die Politik, das vorhandene Bildungssystem zu überden- ken. Die Ergebnisse der Pisa-Studie lassen Deutschland als immer noch ei- nes der reichsten Industriestaaten, in keinem guten Licht erscheinen. In kei- nem anderen Staat steht eine gute Bildung in einem solch engen Zusam- menhang von guter Herkunft und besseren finanziellen Möglichkeiten der Eltern wie in unserem Land. Im Umkehrschluss bedeutet das, man beachte hierbei die steigende Anzahl der in Armut lebender Kinder, dass Kinder
„schlechterer“ Herkunftsfamilien (in unserem Land oft Einwandererfamilien oder Familien von Alleinerziehenden), kaum Zugang finden in eine verbes-
serte Bildungsschicht. Der Austritt aus diesem Teufelskreis gelingt nur weni- gen.
Den entscheidenden Unterschied zwischen Deutschland und den Ländern, die gut abgeschnitten haben, sehen viele mittlerweile in der Vergeudung der frühen Kindheit als verschwendete Bildungszeit. Diese gilt es nun besser zu nutzen.
Prompt reagiert die Politik. Ursula von der Leyen (Bundesministerin für Fami- lie, Senioren, Frauen und Jugend) fordert unter anderem den Ausbau von Kinderkrippenplätzen von 13,5% auf 35% (das sind in Zahlen 750.000 Plät- ze) deutschlandweit und stößt damit nicht überall auf Zustimmung. Zum The- ma, wie zufrieden Eltern mit der Kinderbetreuung sind, wurde seitens des Forsa-Instituts der Bertelsmann Stiftung und der Deutschen Industrie und Handelskammer (DIHK) eine Umfrage durchgeführt. Das Ergebnis: Zwei Drit- tel der Befragten sind der Meinung, es gäbe zu wenig Betreuungsangebote für Kinder von null bis drei Jahren. Weiter wünschen sie sich flexiblere Öff- nungszeiten, die ihren Arbeitszeiten besser angeglichen sind. Sie halten die öffentlichen Angebote zur Förderung von Kleinkindern für unzureichend und befürworten einen bundesweiten Rechtsanspruch auf Bildungs- und Betreu- ungsangebote. Mehr als 80% der Befragten sprachen den Krippen die Wich- tigkeit des zeitlichen Umfangs der Betreuung und dem hierfür zu zahlenden Preis zu, betonten vor allem aber auch die Wichtigkeit von Qualität (Wehr- mann, Ilse: Betrifft Kinder. Qualität von Anfang an. URL: http://www.verlagdasnetz.de (17.08.08)).
Ein Ausbau der Betreuungsplätze für Kinder von null bis drei Jahren ist be- reits auf dem Vormarsch. Wie im Zuge dieser Entwicklung gleichzeitig Quali- tät mitgeschaffen werden kann, versucht die vorliegende Diplomarbeit zu beantworten. Sie stellt Überlegungen zu Bildung und Erziehung bei Kindern von null bis drei Jahren an, um zu vermeiden, dass der Ausbau des Krip- penwesens einfach „übers Knie gebrochen“ oder „aus dem Bauch heraus“ vollzogen wird. Um Qualität in Erziehung und Bildung zu sichern, ist es wich- tig, sich zunächst einmal zu fragen, was der aktuelle Bildungsgedanke über-
haupt bedeutet. Diese Arbeit versucht daher, eine Gegenüberstellung von den theoretischen Anforderungen einer gelungenen Bildungsinitiative, wie sie von Gerd E. Schäfer vertreten wird, mit den praktischen Möglichkeiten der Umsetzung vorzunehmen. Der von Schäfer entwickelte Bildungsansatz be- schreibt differenziert, wie kompetent bereits kleine Kinder sind. Natürlich können sie noch nicht alles, aber sie können alles lernen. Wichtig hierbei ist sich klarzumachen, dass – ebenso wie der Kindergarten keine „verkleinerte Art der Schule“ sein sollte – die Krippe auch keine „verkleinerte Art des Kin- dergarten“ darstellen darf. Inhalte und Konzeptionen aus der Kindergarten- pädagogik dürfen nicht einfach als Krippenpädagogik adaptiert werden. Aus- gehend vom Grundgedanken, dass wir Kinder nicht bilden können, muss an- erkannt werden, dass allein sie selbst das tun können. Was das für die Pra- xis der Krippenpädagogik bedeutet und wie wir als Pädagogen einen geeig- neten Rahmen dafür schaffen können, wollen wir hier erörtern.
Die vorliegende Arbeit beginnt zunächst mit einem historischen Rückblick in die vergangenen Jahrhunderte und -zehnte (Kapitel 2). Der Schwerpunkt hierbei liegt darauf, wie institutionelle Kleinkindbetreuung überhaupt entstan- den ist und wie sie sich bis heute entwickelt hat. Unter Berücksichtigung der Ideen und Erkenntnisse der Vergangenheit zum Bildungsgedanken (Kapitel
3) folgt eine Bestandsaufnahme der Gegenwart. Was ist es, das Gerd E. Schäfer unter Bildung versteht? Dieser Frage gehen wir in Kapitel 4 auf den Grund. Dass es bereits pädagogische Konzepte gibt, die den Anforderungen an den heutigen Bildungsgedanken bemerkenswert gut in die Praxis umset- zen, zeigen wir in Kapitel 5. Hier stellen wir die Reggio-Pädagogik und die Pädagogik Emmi Piklers vor. Beide Konzepte beschäftigen sich explizit mit unter dreijährigen Kindern und ihrer Selbstbildung. Hier nehmen wir ersten Bezug zu unseren Praxiserfahrungen, die wir in verschiedenen Einrichtungen des Elementarbereiches in Nordrhein-Westfalen gesammelt haben. In Kapitel 6 folgt der Blick nach Hamburg. Im Rahmen unseres Studiums hospitierten wir in zwei Hamburger Einrichtungen, die gelungene Krippenpädagogik schon jetzt richtungsweisend leben. Unsere dort gemachten Beobachtungen und das Bildmaterial, das wir vor Ort anfertigen durften, dienen dem besse- ren Verständnis und der Veranschaulichung, wenn im folgenden Kapitel 7
wichtige Säulen der Krippenpädagogik auf dem Prüfstand im Praxisbezug stehen. Was ändert der Schäfersche Bildungsbegriff an Bestehendem, was kann wie neu geschaffen werden? Im Rahmen dessen beschäftigen wir uns mit den kindlichen Aktivitäten, die im Mittelpunkt des Krippengeschehens stehen (Spiel, ästhetische Bildung und Bewegung), dem Raum als Quelle zur Selbstbildung und den personellen Anforderungen und Konsequenzen, die sich durch einen neuen Bildungsgedanken ergeben. Die Arbeit schließt mit dem Fazit in Kapitel 8, fasst darin die wichtigsten Ergebnisse zusammen und stellt Schlussfolgerungen für die zukünftige praktische Umsetzung gelunge- ner Bildungsarbeit für Kinder unter drei Jahren an. Unsere Intention der vor- liegenden Arbeit ist dabei nicht, lückenlos alle für dieses Thema relevanten Aspekte zu bearbeiten. Schwerpunkte wie beispielsweise der Bildungsbe- reich Sprache oder der Bildungsbereich Natur wurden herausgelassen bzw. nicht explizit als solcher behandelt, da diese zu gewichtig sind, als dass sie kurzgefasst werden könnten. Viel wichtiger ist es uns, den Blick für eine neue Auffassung von Bildung und für die Selbstbildungspotentiale der Kinder zu schärfen. Denn, so unsere Vermutung, hat man diesen erst einmal für sich angenommen und verinnerlicht, so lassen sich inhaltliche Konsequenzen in der Praxis auch ganz selbstständig vornehmen. Im Vordergrund dieser Arbeit steht also die Erörterung eines veränderten Bildungsverständnisses, auf das anschließend relevante Aspekte aus Theorie und Praxis für eine richtungs- weisende Umsetzung folgen.
2. Historische Herleitung der Kleinkinderziehung
2.1. Die Geburtsstunde einer neuen Gesellschaftsordnung
Der Kindergarten ist eine Institution, die heute fest in unserer Gesellschaft verankert ist. Für viele Menschen weltweit gehört der Kindergartenbesuch in die persönliche Biographie. Trotzdem ist auch der Kindergarten eine Erfin- dung der heutigen, modernen Zeit. Um die Entwicklung der Kleinkinderzie- hung zu verstehen, ist es notwendig, sich die geschichtlichen Ereignisse der vergangenen Jahrhunderte vor Augen zu führen. Denn der Kindergarten ist
zunächst eine Antwort auf bedeutende Umwandlungsprozesse in der Gesell- schaft.
Bis zum Beginn der Industrialisierung wuchsen Kinder in ihren Herkunftsfami- lien auf und wurden dort von ihren Eltern oder näheren Verwandten erzogen. Was sie für ihr späteres Leben brauchten, erlernten sie, indem sie die Er- wachsenen beobachteten, nachahmten und von ihnen zur Mitarbeit aufge- fordert wurden. Die Entwicklung zur vollwertigen Arbeitskraft hatten die Kin- der mit dem sechsten oder siebten Lebensjahr durchzogen. Es war nicht un- üblich, die Kinder bereits in jungen Jahren in einen anderen Haushalt zur Lehre zu geben. Auch Kinder des Adels wurden in diesem Alter in fremde Hände gegeben, um ihre von den Eltern begonnene Erziehung abzuschlie- ßen. So kamen sie auf Internatschulen oder auf fremde Höfe (Vgl. Konrad, Franz-Michael: Der Kindergarten. Seine Geschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart. 2004, S. 7ff.).
Die frühen Jahre der Kinder wurden von den Eltern als belastend empfun- den. Das Kind selbst konnte noch nichts zur Ernährung der Familie beisteu- ern und kostete wertvolle Zeit, da es Aufsicht und Pflege brauchte. Um den Ausfall der eigenen Arbeitskraft so gering wie möglich zu halten, wurden Säuglinge in Wickelkissen eingeschnürt und an den Ort, an dem man zu ar- beiten hatte, mitgenommen. Die Art des Wickelns war über Jahrhunderte eine beliebte Form der Säuglingspflege. Ein so eingewickeltes Kind konnte sich nicht bewegen und schlief mehr, da ihm förmlich die Luft zum Leben fehlte.
Erst im 18. Jahrhundert bildeten sich neben der Familie Formen der außer- familiären Betreuung. Die Veränderung der Art der Produktionsweise von einer subsistenzwirtschaflichen (selbstversorgenden) in eine auf der Markt- wirtschaft basierenden, bildeten das Fundament einer Gesellschaft, wie wir sie bis heute kennen (Vgl. ebd. S.10). Unter dem Druck der Frühindustriali- sierung und einer neuen Vorstellung von persönlicher Freiheit, die einherging mit der Bauernbefreiung, löste sich der alte Zusammenhalt der Großfamilie. An ihre Stelle trat die Klein- oder Kernfamilie. Eine Folge der Befreiung ist die
stark wachsende Bevölkerungszahl Deutschlands. So lebten 1816 knapp 24 Millionen Menschen im damaligen Deutschland, 1864 waren es bereits 37,8 Millionen. Die schnell wachsende Bevölkerung wird zum Dynamo der Indust- rialisierung. Der wirtschaftlich und gesellschaftlich erzwungene Umstrukturie- rungsprozess der Familie, die, als das Zuhause noch gleichzeitig Pro- duktionsstätte bedeutete, ihre Kinder leicht nebenher betreuen konnte oder auf die Hilfe der Großfamilie zählen konnte, muss von nun an andere Mög- lichkeiten der Betreuung suchen. Wegen der ärmlichen Verhältnisse und der Vollbeschäftigung des Fabrikproletariats schafft es diese Bevölkerungs- schicht nicht, das Betreuungsproblem selbst zu lösen.
2.2. Kinderbewahranstalten – Anfänge institutioneller Kleinkinderziehung
Ein Sozial- und Wohlfahrtstaat ist zu der Zeit noch nicht geschaffen. Hier ist es hauptsächlich das freiwillige Engagement des Bürgertums, was die ersten Betreuungsangebote schafft. Die Beweggründe der meist bürgerlichen Frau- en lassen sich folgendermaßen erklären: neben der Möglichkeit, so am öf- fentlichen Leben teilhaben zu können, werden sie - überspitzt gesagt - „be- flügelt“ durch das neu aufkommende Interesse an der Erziehung vorschuli- scher Kinder. Dieses erlebt um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert einen wahren Boom. Durch eine erhöhte Anzahl Publikationen von der Erziehungsbedürftigkeit des Kleinkindes ausgehend, werden eben- falls neue Ansätze entwickelt, wie diese Erziehung aussehen sollte (Vgl. ebd. S.25).
Als Vorläufer des Kindergartens sind die Kleinkinderschulen und Kleinkind- bewahranstalten anzusehen. Ihre Ausbreitung ist ein europäisches Phäno- men. Im Folgenden sei hier ein Beispiel für solch eine „Strickstube“ genannt:
Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gründete der Pastor Johann Friedrich Oberlin im Elsass erste „Strickstuben“. Diese wurden sowohl von Kindern im Vorschulalter als auch von Schulkindern besucht. Die Strickstuben hatten
einen klaren Bildungsauftrag zu erfüllen und sind somit als Vorläufer des Fröbelschen Kindergartens anzusehen, der erst 70 Jahre später entstand. Der Bildungsauftrag bestand hauptsächlich darin die Kinder in der französi- schen Sprache zu unterrichten. Daraus erkennbar wird das Bestreben Frank- reichs seinen Nationalstaat zu festigen, indem die französische Hochsprache anstelle der Dialekte gefördert wurde. Zudem wurden die Kinder mit Dingen der Umwelt vertraut gemacht, in Heimatkunde angewiesen, ihre körperliche Ausbildung wurde unterstützt und schließlich lernten die Kinder stricken (Vgl. Grossmann, Wilma: KinderGarten. Eine historisch-systematische Einführung in seine Entwicklung und Pädagogik. 1994, S. 16).
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts widmeten sich viele bürgerliche Vereine so- zialen Aufgaben, so auch der Armenpflege. Motiviert durch ihren christlichen Glauben engagierten sich hauptsächlich Frauen in diesen Vereinen, um aus
„Nächstenliebe“ zu helfen. Diese Vereine bildeten auch Kleinkindbewahran- stalten. Die Idee für diese Einrichtungen stammte von Samuel Wilderspan (1792 – 1866). Sein Buch über die frühzeitige Erziehung der Armen erschien 1826 in deutscher Sprache. Nach Wilderspan erfüllten die Kleinkindbewahr- anstalten drei Funktionen: Erstens die der Verbrechensverhütung, zweitens mit ihr die Möglichkeit für ältere Kinder zur Schule gehen, anstatt auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen zu müssen und drittens den Anfang einer christlichen Erziehung. Bei einem Verhältnis von einem Erzieher zu 120 Kin- dern wird der Schwerpunkt der Kleinkindbewahranstalten deutlich: Es galt, die hauptsächlich aus dem Proletariat stammenden Kinder vor der Verwahr- losung zu schützen. Wilderspan setzte dabei auf ein Helfersystem, bei dem ältere Kinder auf eine Gruppe jüngerer Kinder aufpassten. Unterrichtet wur- den die Kinder hauptsächlich in biblischer Geschichte und Naturgeschichte (Vgl. ebd. S. 17).
Die organisierte Tätigkeit der Diakonissen ersetzten nach und nach die bür- gerlichen Vereine. Im 19. Jahrhundert gab es an die 2000 von Diakonissen geführte Kleinkindbewahranstalten. 1850 wurden drei Viertel der Einrichtun- gen von kirchennahen Vereinen getragen, bei 20% sind es Einzelpersonen (wie beispielsweise Herrschergattinnen) und bei 5% die Kommunen. Das
Interesse des Staates wird erst später geweckt. Allerdings kontrollierte der Staat die Kindergärten durch eine Genehmigungspflicht und führte Kontrollen durch. Die Verteilung der Einrichtungen im Land war unterschiedlich stark. Während in den Städten bereits 10% der Kinder eine Einrichtung aufsuchten, gab es Bereiche im Land, in denen es keine einzige Einrichtung gab. Ergat- terte ein Kind eine Betreuungsstelle, musste es sich die „Erzieherin“ mit 100 weiteren Kindern teilen (Vgl. Konrad 2004, S. 77). Kinder bürgerlicher Her- kunft hingegen besuchten familienergänzende Einrichtungen, die vor- und nachmittags für je zwei Stunden besucht werden konnten.
2.3. Fröbels Einfluss auf die Kleinkinderziehung
Als Namensgeber des Kindergartens gilt Friedrich Fröbel (1782 – 1852). Die- sen verdankt er der Tatsache, dass zu der Ausstattung des Hauses, in dem Fröbel die Kinder betreute, auch ein Garten gehörte. Dieser wurde von Frö- bel ebenfalls für pädagogische Zwecke genutzt. Und so gab Fröbel dem Haus den Namen „Kindergarten“.
Im Vergleich der Kleinkindbewahranstalten zu dem, was wir heute unter Kin- dergarten verstehen, wird schnell deutlich, dass Fröbels Auffassung der Kleinkinderziehung für die damalige Zeit revolutionär war. Sie entsprang ei- nerseits seiner persönlichen Biographie als auch seiner aus der Romantik und dem Idealismus stammenden Auffassung.
Zunächst zu seinem biographischen Hintergrund: Friedrich Fröbel war vor seinem zweiten Lebensjahr Halbwaise geworden. Seine Mutter verstarb. In seinen Kindheitserinnerungen ist er von einer tiefen Traurigkeit erfasst, die er darauf zurückführt, dass ihm die fehlende Mutter nicht ersetzt werden konnte. Die fehlende mütterliche Zuneigung machte er dafür verantwortlich, dass er ein verschlossener Junge gewesen war. Aus dieser Erkenntnis heraus setzte er die Mutter-Kind-Beziehung in den Mittelpunkt seiner Lehre und machte sie zum wichtigsten Kriterium für eine gelungene Erziehung. Ziel seiner Erzie- hung waren Freiheit und Selbstbestimmung. Dabei ließ er dem kindlichen
Spiel eine wichtige Rolle zukommen. In dessen Förderung sah er die not- wendige Voraussetzung für eine spätere Entwicklung zu einem ausgegliche- nen Menschen (Vgl. ebd. S.23).
Fröbel bezeichnete die Geburt des Kindes als den Zeitpunkt des Erzie- hungsbeginns. Er erkannte die Bedeutung des Stillens und die des ersten Lächelns. Er forderte, das erste Lebensjahr des Kindes mit der Pflege zu verbringen, alle Schmerz oder Unwohlsein verursachenden Dinge zu entfer- nen, um so ein positives Lebensgefühl zu erreichen. Als Unterstützung dien- ten den Müttern von Fröbel erfundene Lieder, die gleichzeitig eine Anleitung enthielten mit dem Kind zu spielen. Diese gezielte Form des Spiels sollte ei- nerseits die Beziehung zwischen Mutter und Kind festigen, anderseits einzel- ne Fähigkeiten des Kindes gezielt fördern. Als Beispiel zu nennen wäre das Lied: „Bautz, da fällt mein Kindchen nieder! Körperspiel zur Stärkung des ganzen Körpers“. Als Anleitung dazu schrieb Fröbel, das Kind solle von sei- nem Kissen an den Armen angehoben und dann wieder zurückfallen gelas- sen werden, um eine leichte Erschütterung zu spüren (Vgl. Fröbel, 1919). Unverkennbar soll mit diesem Lied die Motorik des Kindes gestärkt werden. In anderen Liedern lag der Schwerpunkt bei der Förderung der Sinne und auch die Sprache des Kindes und die kognitive Entwicklung wurden durch Lieder gefördert. Lieder dieser Art zu schreiben und zu publizieren, lässt fol- genden Schluss zu: Fröbel war überzeugt davon, dass bereits in der frühes- ten Kindheit Lernprozesse stattfinden und gezielt gefördert werden können. Darüber hinaus wirkt eine weitere Auffassung Fröbels modern: Erziehungs- schwierigkeiten sieht er als Verletzung und Störung des ursprünglich gesun- den Zustands. Diese Auffassung zeugt davon, dass Fröbel an das „Gute im Menschen“ glaubte. Zudem widersprach er dem Glauben der Erbsünde. In dem angeblichen Mangel an religiöser Erziehung innerhalb des Fröbelschen Konzeptes liegt die schleppende Ausbreitung seiner Pädagogik begründet, dies vor allem bei Einrichtungen mit christlicher Trägerschaft.
Der erste Kindergarten machte 1840 in Rudolfstadt auf. Dabei handelte es sich vielmehr um einen Spielkreis, wie wir ihn heute nennen würden. Es tra- fen sich 24 Kinder zwischen 2 und 5 Jahren mit ihren Müttern, um zwei Stun-
den gemeinsam zu spielen. Mit einer institutionellen Betreuung hat das wenig gemein. Es überrascht nicht, dass das Klientel der ersten Kindergärten eher in der gehobenen Mittelschicht zu finden war. Fröbel regte die Gründung von Elternvereinen an. Sie wurden Träger der ersten Kindergärten. 1847 gab es davon sieben. 1873 wird der „Deutsche Fröbel-Verband“ gegründet. Er gilt als Dachverband aller bis dato entstandenen Fröbelvereine.
Der damalige Kindergarten erfüllte nach Fröbel drei wesentliche Faktoren: Erstens war er zu sehen als direkte Vorbereitung auf die Schule und auf die einzelnen Lebensstufen durch kindgerechte Beschäftigung und Förderung. Zweitens sollte dieser als eine Art Ausbildungsstätte für Erzieher dienen. Drit- tens sollten dort neue kindgerechte Spielgaben erfunden werden und die dort gesammelten Erfahrungen in einer Fachzeitschrift publiziert werden.
Im August 1851 kam es zu einem Verbot des Kindergartens. Der damaligen Regierung war der Kindergarten ein Dorn im Auge. Es wurde ihm die Erzie- hung der Jugend zum Atheismus unterstellt. Es folgte das Aus für viele Kin- dergärten. Die Kinderbewahranstalten fanden jedoch immer mehr Interesse an den Fröbelschen Spielgaben und so wurden immer mehr von ihnen zu Volkskindergärten (Vgl. Grossmann 1994, S. 31) und Fröbels Spielgaben wesentlicher Bestandteil der Kindergartenpädagogik.
Trotz des eindeutigen Lerncharakters der Fröbelschen Pädagogik muss ge- sagt werden, dass die Kleinkindpädagogik sich nicht als Vorstufe zur Schule durchsetzen konnte und somit eine strenge Abgrenzung zur Schule darstell- te. Anders als im Ausland: Dort wurde der Kindergarten als Vorstufe der Schule angesehen und inhaltlich auch so geführt.
2.4. Wie die Weimarer Republik einen gesetzlichen Rahmen schafft
Die Bismarcksche Sozialgesetzgebung setzte den Startschuss für das Deut- sche Reich, ein moderner Wohlfahrtstaat zu werden. Die weitere Entwicklung der frühkindlichen Betreuungsangebote wurde ebenfalls durch die Bismarck- sche Sozialgesetzgebung beeinflusst. Die meisten Einrichtungen blieben zwar in privater Trägerschaft, hinzu kam nun aber auch das verstärkte Inte- resse des Staates. Die Anzahl der kommunalen Einrichtungen nahm zu. Drei weitere Felder zeichneten sich ab. Erstens: der Aufbau eines eigenständigen Rechtsbezirks, dem bald auch die Kleinkinderziehung zugeordnet wird. Zwei- tens: der Staat unterstützt von nun auch finanziell. Einrichtungen privater Trägerschaft können von nun an auf die Mitfinanzierung des Staates zählen - ein System, wie es bis heute Gültigkeit hat. Drittens: der Staat erlässt Prü- fungsordnungen und Ausbildungsrichtlinien, kümmert sich um die Einrichtung eigener Ausbildungsstätten und professionalisiert so die in der Kleinkinder- ziehung tätigen Kräfte. Es entsteht ein neuer Frauenberuf. Bis heute hat sich an der Art der Ausbildung nichts geändert. Neben der Absolvierung eines pädagogischen Ausbildungsganges ist der Erwerb einer staatlichen Lizenz notwendig. Trotz der bedeutenden Entwicklung in der Politik und des 1860 bis 1870 stattfindenden Gründungsbooms beträgt die Besuchsquote der Kin- der im Jahr 1914 nur 13%.
Der Trend setzt sich in der Weimarer Republik fort und so kommt es auch in der Kleinkinderziehung zu bedeutenden Veränderungen. Die Reichsschul- konferenz vom 11. – 19.06.1920 beschäftigte sich mit dem zukünftigen Aus- bau einer Einheitsschule. Außerdem wurde der Zusammenhang des Kinder- gartens zur Schule und zur Jugendwohlfahrt erörtert (Vgl. Grossmann 1994,
S. 37). Hier fielen wichtige politische Entscheidungen, obwohl diese keine Beschlüsse fassen konnte, sondern lediglich Empfehlungen aussprach. Durch die Einführung einer vierjährigen gemeinsamen Grundschule wurde die Frage laut, wie die vorschulische Erziehung organisiert werden sollte. Letztendlich stellte die Reichsschulkonferenz eine Tagung dar, um Ideen, Meinungen und Politikberatung für die neue Staatsform zu tätigen (Vgl. Kon- rad 2004, S. 152ff.). Zum einen wurde empfohlen, dass der Kindergarten ei- ne Einrichtung der Jugendwohlfahrt werden sollte und somit nicht an die
Schule angegliedert wurde. Weiter einigten sich die Experten, unter anderem Vertreter von Behörden und Verbänden, Berichtserstatter des Reichsministe- riums und Einzelpersonen, ebenfalls eingeladen vom Reichsministerium, darüber, dass die Einrichtung und Unterhaltung der Kindergärten Sache der privaten Fürsorge bleiben sollte.
Zusammenfassend hat die Weimarer Republik vieles ermöglicht, was sich zu Zeiten des Kaiserreichs abgezeichnet hatte. Im Einzelnen heißt das ein auf Reichsebene zentrales und eigenständiges Jugendgesetz (RJWG 1922) mit eigenständiger Jugendbürokratie und der weitere Ausbau des Kindergartens als eigenständiger Bereich als die Errungenschaften der Weimarer Republik.
Aufgrund der Notlage der Kinder nach dem ersten Weltkrieg wurde die Kin- der- und Jugendfürsorge gesetzlich geregelt. So wurde der Kindergarten als Teil der Jugendhilfe im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz verankert. Im ersten Paragraphen des RJWG wurde erstmalig das Recht des Kindes auf Erzie- hung in einem Gesetzestext aufgenommen. Der Schwerpunkt lagert hier in der Fürsorge:
„§1. Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seeli- schen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit.“ (RJWG 1922. In: Grossmann, 1994, S. 39)
Die gegebene Trägerstruktur wird im RJWG, wie oben bereits angedeutet, ebenfalls bestätigt. „Das Verbindungsglied zwischen Staat und privater An- bieterschaft ist das neu geschaffene Jugendamt, das allerdings nicht nur kontrollierend und überwachend tätig ist, sondern den Kindergärtnerinnen auch Beratung, Hilfe und Unterstützung anbietet; der Keim der späteren Kin- dergartenfachberatung.“ (Konrad 2004, S. 153). Ein Angebot zur Beratung ist aus unterschiedlicher Hinsicht unumgänglich: Erstens werden die erzieheri- schen Anforderungen erhöht. Die Eltern sind durch die Umstrukturierung des Landes verunsichert, wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen hinzu. Die Entwicklungspsychologie etabliert sich und liefert neues Wissen über die Entwicklung des Kindes, welches nicht ungeachtet bleiben darf. Die Kinder-
gärtnerinnen brauchen Hilfe bei der Orientierung, welches pädagogische Konzept ausgewählt werden soll. Es kommen neben der Fröbelpädagogik mit der Waldorfpädagogik, der psychoanalytischen Kleinkindpädagogik und der Montessori-Pädagogik drei weitere Ansätze auf, die es wert sind kennen gelernt zu werden. Die neuen Konzepte prägen das zukünftige Bild des Kin- dergartens. Was den Erzieherinnen als brauchbar erscheint, wird übernom- men und in die Arbeit mit Kindern einbezogen. Eine Entwicklung von einem Kindergarten als Ort fürsorglicher Arbeit mit Kindern wandelt sich zu einem auf Pädagogik basierenden Lernort für Kinder.
2.5. Das dritte Reich – ein Rückschritt für die Kleinkinderziehung
Die Jahre während der Machtergreifung der Nationalsozialisten sind aus dem Blickwinkel der Kindergärten einseitig, inhaltsarm und ausgerichtet an natio- nalsozialistischen Vorstellungen. Die in der Weimarer Republik entstandene Vielfalt sowohl in der Trägerschaft als auch in der Konzeption wurde von der NSDAP zerstört. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte überwog die Anzahl der staatlich geführten Einrichtungen. Das vom Staat durchgesetzte Konzept ist eine Mischung aus der Fröbelpädagogik und spezifischen natio- nalsozialistischen Erziehungsgrundsätzen. Schwerpunkt ist die im frühen Alter beginnende Erziehung zur körperlichen Fitness, die Militärisierung der Erziehung (Kriegsspiele und Führerliebe werden gefördert) und das Denken in Kategorien und Rassen (Vgl. Konrad 2004, S. 176).
2.6. Die Entwicklung des Kindergartens von der Nachkriegszeit bis heute
Nach dem zweiten Weltkrieg beginnen die Kindergärten ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Die von der NSDAP geführten Kindergärten werden geschlos- sen, die, die vor 1933 existierten, organisieren sich neu und beginnen dort, wo sie unmittelbar vor dem zweiten Weltkrieg aufgehört hatten. Allerdings geht die Entwicklung nur schleppend voran. Das Land ist mit dem Wieder- aufbau beschäftigt, viele Familien sind verwaist oder Flüchtlinge. Es sind
kaum Wohnmöglichkeiten vorhanden. Die Staatskassen sind leer und die alten Verbände müssen sich erst wieder organisieren. Das erklärt, warum die Besucherquote der Kindergärten erst 1950 33% beträgt, was etwa dem Stand der Vorkriegszeit entspricht (Vgl. Konrad 2004, S.180).
Angelehnt an die Bestimmungen der Weimarer Verfassung hatte auch das Grundgesetz in seinem Artikel 6, 2 bestimmt: „Pflege und Erziehung der Kin- der sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvorderst ihnen obliegende Pflicht.“. Eine Familienpolitik, die an dem traditionellen Familienbild der bür- gerlichen Familie festhält, sprich: die Erziehung der Kinder ist Frauenangele- genheit, legt auf den Ausbau der Kindergärten keinen Schwerpunkt. Ver- mehrt werden den Familien Hilfen und Unterstützung angeboten. Es wundert nicht, dass der Kindergarten zu einem Ort degradiert wird, in dem haupt- sächlich Kinder erzogen werden, denen es zu Hause an Erziehung fehlt. Dies wird sich in den 1960er Jahren abrupt ändern.
Von da an wird kindliche Entwicklung als eine vom Kind aktiv zu bewältigen- de Aufgabe begriffen. Hinzu kommt, dass eine gute, frühzeitige Förderung nicht nur entscheidend ist für die persönliche Lernbiographie, sondern auch wichtig im Hinblick auf die Zukunft der gesamten Gesellschaft. Diese ist be- müht aus den Kindern Erwachsene heranzuziehen, die den technischen und ökologischen Ansprüchen der anderen Nationen standhalten können. Früh- kindliche Bildung wird begriffen als erste wichtige Säule. Gleichzeitig kommt in den 1960er Jahren die Frage der Bildungsbenachteiligung von Kindern aus sozialen Unterschichten auf. Unzählige Vorbeugungsmaßnahmen und Versuche, die Entwicklung zu beeinflussen, finden statt. Die Resultate dabei sind mäßig und verlaufen schließlich im Sande. Chancengleichheit ist ein Begriff der 1960er Jahre.
Trotz des Wandlungsprozesses des Kindergartens von einer Ausnahmeinsti- tution zum Normalgegenstand persönlicher Biographie, bleibt er Teil der Kin- der- und Jugendhilfe, die Inanspruchnahme also freiwillig und kostenpflichtig (Vgl. Konrad 2004, S. 181ff.).
2.7. Neue Ideen und Konzepte werden zu Wegweisern
Zuletzt ist es wichtig zu erwähnen, welche Ideen die Zeit der 1960er bis 1980er Jahre hervorgebracht hat. Zum einen ist es die aus der Studenten- bewegung entstandene antiautoritäre Pädagogik, die sich besonders in der Gründung der Kinderläden widerspiegelt. Diese sollten den Kindern eine möglichst zwangs- und kontrollfreie und auf ihre Bedürfnisse bezogene Er- ziehung ermöglichen. Etablieren konnten die Kinderläden sich nicht. Jedoch setzten sie mit der Öffnung der Einrichtung zum gesellschaftlichen Umfeld, einer neuen Erzieherrolle, dem freien Umgang mit Zeitstrukturen und der Se- xualität neue Akzente für die weitere Entwicklung der Kindergärten.
An dieser Stelle zu benennen ist der Situationsansatz. Hervorgebracht wurde er als Modellprogramm zur Curriculumsentwicklung im Elementarbereich. Der Deutsche Bildungsrat hatte diesen empfohlen und den Vorschlag ge- macht, „von den realen Lebenssituationen der Kinder auszugehen und durch gezielte Förderung die Kinder instand zu setzen, ihre Lebenssituationen zu beeinflussen und zunehmend selbständiger zu bewältigen“ (Deutscher Bil- dungsrat (1973)). Ziel des Situationsansatzes war es, die vorschulische Er- ziehung stärker an der Lebenswelt des Kindes zu orientieren und ihm so die Möglichkeit zugeben, daraus entstandene Probleme und Herausforderungen selbständig bewältigen zu lernen (Vgl. Konrad 2004, S. 193). Die von der Arbeitsgruppe ausgewählten Situationen stammen aus der Lebenswelt der Kinder, in denen soziale Kompetenzen gefragt waren.
Beispielhaft hier zu benennen seien Situationen, von denen die Kinder be- troffen sind (Ich und meine Familie), beängstigende (Kinder im Kranken- haus), aus dem Umfeld des Kindes entnommene (Bau eines Spielplatzes) oder ganz alltägliche Situationen (beispielsweise das Wochenende). Diese wurden anhand von Fotos, Büchern und Filmen dargestellt und sollten den Erzieherinnen als Anregung dienen, selbst solche Situationen gemeinsam mit den Kindern zu entdecken.
Die ausgewählten Situationen sollten die Handlungsfähigkeit der Kinder her- ausfordern und von den Kindern beeinflussbar sein. Dem liegt ein Lernbegriff zugrunde, der auf der kindlichen Eigentätigkeit beruht. Das Kind wird „im Sinne der ab Mitte der 1970er Jahre breit rezipierten konstruktivistischen Entwicklungspsychologie als kompetenter Akteur und Gestalter seiner Welt aufgefasst.“ (Konrad, 2004, S. 195). Die Altersmischung wird als einzige Möglichkeit gesehen, in der die Kinder soziale Grunderfahrungen des Hel- fens, der Solidarität und des voneinander Lernens erfahren können.
Ein weiterer an dieser Stelle zu benennender Ansatz ist der aus Italien kom- mende Reformansatz, bekannt geworden unter dem Namen „Reggio- Pädagogik“. In der politisch traditionellen linken Provinz Italiens Emilia Ro- magna war, ausgehend vom bürgerlichen Engagement, eine kinderpädago- gische Reform in Gang gebracht worden. Ab 1963 startete man in damals neu eingerichteten kommunalen Kindertagesstätten der Stadt einen Modell- versuch für vorschulpädagogische Arbeit mit Kindern von 0-6 Jahren, das in den 1980er Jahren für Aufsehen sorgte und zur Nachahmung einlud.
Den Ursprung der Reggio-Pädagogik ist in der konstruktivistischen Entwick- lungspsychologie, der materialistischen Anthropologie und der Theorie des
„entdeckenden Lernens“ zu finden. Das Kind wird gesehen als aktiver, sich seine Welt selbst erschaffender, mit allen Sinnen wahrnehmender und er- kennender kleiner Mensch, der sich der vielfältigsten Ausdruckmittel bedient (Vgl. Konrad 2004, S. 196). Die Reggianer sprechen passend dazu von den
„100 Sprachen des Kindes“ (Vgl. Kapitel 10). Ihre Aufgabe sehen sie darin, dem Kind eine all seine Sinne ansprechende und seine Kreativität herausfor- dernde Umgebung zur Verfügung zu stellen. Deutlich wird diese Absicht in den Räumen der reggianischen Einrichtungen. Die Räume sind offen, farben- froh, voller Licht und Schattenspiele, mit Bau- und Konstruktionsecken ver- sehen, mit Puppenküchen, Klettergerüsten, Kuschelecken und Leuchttischen ausgestattet. Die Kinder sollten so zum genauen Beobachten, Spielen und Experimentieren angeregt werden. Anders gesagt, die Räume sollen die Kin- der einladen zum Handeln und Kommunizieren. Die Erzieher in der Reggio- Pädagogik sprechen deshalb vom Raum als „Gesprächspartner des Kindes“
oder vom Raum als „dritter Erzieher“. Berühmt geworden sind auch die zahl- reichen Spiegel, die in verschiedenen Anordnungen die Räume schmücken. Diese dienen den Kindern zur Identitätsfindung. Die Arbeit der Erzieherinnen wird bei Reggio verstanden als Arbeit einer Forscherin, die die aktuellen Be- dürfnisse der Kinder erkennen und verstehen lernen soll. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt im Beobachten und Begleiten. Sie sind ausgestattet mit Pro- tokollheften, Kameras und Aufnahmegeräten, um so die gemachten Beo- bachtungen festzuhalten und sie später im Team auszuwerten. Um den al- terspezifischen Anforderungen der Kinder gerecht zu werden, gibt es inner- halb der Reggio-Pädagogik keine altersgemischten Gruppen. Die vorliegen- de Arbeit greift in Kapitel 5.1 das Konzept der Reggio-Pädagogik detailliert auf.
2.8. Von verpassten Gelegenheiten
Die letzte große Veränderung in der Geschichte der Kleinkinderziehung stellt der Übergang der ostdeutschen Kindergärten in das westdeutsche System dar. Mit dem bedeutenden politischen Ereignis des Mauerfalls und damit dem einleitenden Beginn der deutschen Wiedervereinigung wurde der Früherzie- hung eine große Chance der Veränderung geboten. In der Stunde der Er- neuerung hätte man das Beste aus beiden, dem West- und Ostsystem her- ausarbeiten können und so eine Verbesserung des Gesamtsystems erwirken können. Leider ist dies nicht passiert. (Vgl. Konrad 2004, S. 259). Der ost- deutsche Kindergarten musste aus dem Bildungsbereich der ehemaligen DDR ausgegliedert werden und einem neu erschaffenen Gesetzgeber der Kinder- und Jugendhilfe untergeordnet werden. Die Ausbildung der Erziehe- rinnen wurde ebenfalls an die westdeutschen Inhalte angepasst. Für die aus dem Osten stammenden Erzieherinnen bedeutete dies eine Herabstufung ihres Berufes, waren sie dort nämlich noch den Grundschullehrerinnen gleichgestellt gewesen. Das flächendeckende System der „Unterbringung“ von bereits unter dreijährigen Kindern wurde ebenfalls nicht übernommen.
Erst 1996 wurde der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz in ganz Deutschland festgelegt. Für die Bevölkerung der ehemaligen DDR bedeutete das, dieses Gesetz mit einem gewissen Schulterzucken hinzunehmen. Die flächendeckende Betreuung kannten sie bereits (Die Betreuungsquote betrug im Jahre 1991 in Ostdeutschland 91,1%, in Westdeutschland 67,9% (Vgl. Grossmann 1994, S.178)), nur dass dieses Gesetz die unter Dreijährigen ausklammerte, also für diese Bevölkerungsgruppe einem Rückschritt gleich- kam.
Im eben dargestellten kurzen Abriss der geschichtlichen Entwicklung der Elementarpädagogik ist deutlich der Zusammenhang von der gesellschaftli- chen, geschichtlichen und sozialen Entwicklung und der Entwicklung des Kindergartens zu sehen. Die Kleinkindpädagogik reagiert auf die geschichtli- chen Gegebenheiten immer mit einer zeitlichen Verzögerung. So waren die ersten Betreuungsangebote für Kinder nicht mehr als ein Versuch, der Ver- wahrlosung und der hohen Kindersterblichkeit Herr zu werden. Auffällig ist weiterhin, dass lange Zeit die Erziehung und Bildung von unter dreijährigen Kindern nicht als eigenständige Pädagogik angesehen wurde. In einigen Bundesländern, so beispielsweise auch in Nordrhein-Westfalen, kommt der Zeit „vor dem Kindergarten“ immer noch wenig explizite Beachtung zu. Die jüngeren Kinder werden inzwischen zwar ebenfalls in außerfamiliäre Instituti- onen aufgenommen, bedienen sich aber den Inhalten der Elementarpädago- gik, die auch für die älteren Kinder in der Einrichtung gelten. Wollen wir Krip- penpädagogik aber nun die Beachtung als eine eigenständige Pädagogik zukommen lassen, die ihr zweifelsohne zusteht, so muss zunächst überprüft werden, was Bildung in diesem Alter eigentlich bedeutet. Dazu folgt an dieser Stelle ein weiterer kurzer historischer Abriss, und zwar ausschließlich dar- über, wie sich der Bildungsgedanke geschichtlich veränderte.
3. Der Bildungsgedanke als roter Faden der frühkindlichen Päda- gogik im geschichtlichen Rückblick
Den Bildungsgedanken für die frühkindliche Pädagogik verfolgend, angefan- gen bei der Entstehungszeit des Kindergartens bis heute, ist hier an erster Stelle Friedrich Fröbel zu nennen. Er erkannte die Bildungsfähigkeit im frü- hen Kindesalter und war so seiner Zeit weit voraus. Sowohl im institutionellen Rahmen, hauptsächlich jedoch innerhalb der Familie, erkannte er Möglichkei- ten, wie Kindern Bildungswege ermöglicht werden können. Dabei setzte er auf Spielgaben, Beschäftigungsmittel und Bewegungsspiele (Vgl. Konrad 2004, S. 86). Diese konnten autodidaktisch genutzt werden. Damit spricht er dem Kind eine hohe Selbsttätigkeit zu. Eine weitere wichtige Komponente der Bildungsfähigkeit des Kindes erkennt er in der Beziehungsebene. Nur wenn ein Kind eine Beziehung zu einer Bezugsperson aufbaut, kann sich der Bildungsprozess optimiert entfalten. Darauf basierend verfasst er die „Mutter- und Koselieder“.
Anhand eines Skriptes zum späteren Kindergarten wird ersichtlich, wie bis heute aktuell seine Ideen waren. So lautete der Name des Kindergartens zunächst einmal „Anstalt zur Selbstbelehrung, Selbsterziehung und Selbst- bildung des Menschen, wie zur allgemeinen, so zur in sich einigen Ausbil- dung desselben durch Spiele schaffende Selbsttätigkeit und freitätigen Selbstunterricht zunächst für Familien und Kleinkinder-Pflegeschulen, für Begründungs- und Volksschulen.“ (Konrad, 2004, S. 84). Anhand dieses recht umständlichen Namens wird Fröbels Vorstellung von der frühkindlichen Bildung deutlich. Zwar wird der Begriff der „Selbstbildung“ heute anders ver- standen als damals, seine ursprüngliche Bedeutung aber machte sich schon Fröbel zunutze. Er sah die frühkindliche Bildung als eine Vorstufe zur Schule.
Maria Montessori (1870-1952) knüpfte an die Selbsttätigkeit des Kindes an und entwickelte anhand von Beobachtungen ein autodidaktisches Material, das von Kindern selbständig genutzt werden konnte. Anhand dieser Sinnes- materialien sollten die Kinder die Welt selbständig erschließen. Das Material
ist so entwickelt, dass die Kinder ausgehend von „elementarisierter Lern- schritte einzelne sinnliche und lebenspraktische oder geistige Funktionen […] selbst entwickeln können (Schäfer, Gerd E.: Der Bildungsbegriff in der Päda- gogik der frühen Kindheit. In: Fried, Lilian und Roux, Susanna (Hrsg.): Päda- gogik der frühen Kindheit. Handbuch und Nachschlagewerk. Weinheim/Basel 2006, S. 36). Ihr Bildungsgedanke lässt sich gut aufzeigen in der von ihr ent- wickelten Theorie von der Entwicklung des Kindes und dem Leitsatz „Hilf mir, es selbst zu tun“. Die Selbsttätigkeit des Kindes sieht sie von Anfang an im von ihr so benannten „absorbierenden Geist“ (ebd.). Damit meint sie die Fä- higkeit jedes Kindes, die vorgefundenen Gegebenheiten in seiner Umwelt mit den Sinnen aufzunehmen und sie als eine Art Ordnungssystem des Geistes zu gebrauchen. Das kleine Kind beschreibt sie als „geistiges Embryo“ und die erste Entwicklungszeit als „sensible Periode“ (ebd.). Somit räumt sie der frühen Kindheit eine besondere Zeit ein, die das Kind hauptsächlich selb- ständig nutzt, um sich die Welt zu erschließen. Dabei nutzt das Kind die „Po- larisation der Aufmerksamkeit“ (ebd.). Montessori beschreibt damit den Zu- stand der höchsten Konzentration des Kindes auf eine Tätigkeit, bei der es nicht gestört werden möchte. Diese Phase geht aus der Wahrnehmung, Ver- arbeitung der Wahrnehmung, dem Abgleich mit bereits vorhandenem Wissen und einer anregenden Umwelt selbständig hervor. Sie dient dem Kind zur selbständigen Erkenntnisgewinnung und verbindet Sinneseindrücke mit Den- ken. Allerdings, so Montessori, sind diese Eindrücke noch nicht ausgereift. Durch die Gabe von verschiedenen Materialien durch einen Erwachsenen kann das Kind seine Eindrücke sortieren und so zu einer inneren Ordnung finden. Im Gegensatz zu Fröbel wird hier nicht die Beziehungsebene zwi- schen Kind und Erwachsenem genutzt, sondern das Material in den Mittel- punkt gestellt. Die Erzieherin soll sich laut Montessori zurücknehmen und das Material mit dem Kind sprechen lassen.
In beiden Ansätzen sind stark die Bemühungen erkennbar, dem Kind eine gute Bildung zukommen zu lassen. Die Materialien, von denen angenommen wird, dass sie die Kinder in ihren Bildungsprozessen weiterbringen, werden von Erwachsenen ausgesucht und den Kindern zu Verfügung gestellt. An- hand dieser Materialien kann sich das Kind gemäß seinem Entwicklungs-
stand bilden. Der Bildungsgedanke dieser Zeit, so erscheint es aus der heu- tigen Zeit, unterschätzt das Kind in seinen Möglichkeiten. Sowohl die Eigen- initiative als auch die Individualität des Kindes finden in den Vorstellungen der damaligen Pädagogen wenig Raum.
In der Bildungsdiskussion beginnend um 1960 wird man sich der Tatsache bewusst, dass die Zeit vor der Schule wichtige Bildungszeit vergeudet. Zu- dem wird Bildung als Kapital eines Staates erkannt. Die Bildungsangebote erreichen nicht alle Bürger gleichermaßen, soziale Ungerechtigkeiten im Bil- dungswesen werden bekannt (ebd., S.37). Der damalige Bildungsgedanke wird als Form der schulischen Bildung angesehen, will man doch im Konkur- renzkampf mit anderen Nationen herausstechen. Das wirtschaftliche Wachs- tum hängt von der Bildung der Bevölkerung ab. Dieser Hintergrund führt da- zu, dass funktionsorientierte Ansätze, die besonders auf die Einübung be- sonderer Techniken wert legten, entstanden. Diese trainierten bestimmte Grundfähigkeiten wie beispielsweise das Zählen, das Messen und das sys- tematische Unterscheiden mit Hilfe von Übungskästen, Lernspielen und an- deren vorgegebenen Materialien (Vgl. Konrad 2004, S. 192). Fernab der Re- alität der Kinder versuchte man so Lerninhalte zu vermitteln. Einer starken kognitivistischen Ausrichtung und der daraus resultierenden Verschulung der Elementarerziehung wie sie aus den funktionsorientierten Ansätzen hervor- ging, setzten sich die Situationsansätze entgegen.
Ausgehend von einem Bildungsgedanken, der die Selbstbestimmung des Lernenden und eine Entschulung des Lernens zu bewirken versucht und darüber hinaus Lernen als Kompetenzerwerb für künftige Lebenssituationen ansieht, richten sich die situationsorientierten Ansätze an der Lebenswelt der Kinder aus. Bildung bedeutet den aus der Wirklichkeit entstehenden Heraus- forderungen und Problemlagen kompetent und selbstverantwortlich zu be- gegnen und mit ihnen umzugehen (Konrad, 2004, S. 193). Somit wird sowohl die Individualität des Kindes gewürdigt, als auch ein Bezug zu seinem Alltag hergestellt.
Eine weitere interessante Haltung in der Bildungsdiskussion nehmen die Kinderläden ein. Ihre Konzeption stammt aus der Psychoanalyse und der marxistischen Gesellschaftstheorie (Schäfer, 2006, S. 38). Der bereits in den 1920er Jahren angefangene Einfluss der Psychoanalyse auf die frühkindliche Pädagogik bekommt somit in der Bildungsdiskussion der 1960er Jahre einen Aufschwung. In diesem Zusammenhang ist hier Nelly Wolffheim (1879-1965) zu nennen. Sie, eine gelernte Fröbel-Kindergärtnerin, überträgt die psycho- analytischen Erkenntnisse Freuds auf den Kindergarten. Dabei wird frühpä- dagogische Erziehung vor allem als Triebsteuerung im Sinne einer Überwin- dung des Lustprinzips zur allmählichen Anpassung des Kindes an die Erfor- dernisse der kulturellen und gesellschaftlichen Umwelt gesehen. Das Kind leitet seine Triebe um oder unterdrückt sie, um an einem Leben in der Ge- sellschaft teilhaben zu können. Aus den Normen und Werten der Gesell- schaft vermittelt durch Eltern und Erzieher kann es ein stabiles „Über-Ich“ bilden (Konrad, 2004, S. 142ff).
Der Bildungsgedanke der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts ist ein stark gespaltener. Auf der einen Seite wird er mit dem Wissen, wie es aus der Schule gekannt wird, bemessen, auf der anderen Seite wird das Kind als
„Akteur seiner Entwicklung“ (Schäfer, Gerd E.: Bildung beginnt mit der Ge- burt, Weinheim und Basel, 2005, S. 44) gesehen und dementsprechend die Bildung nur in Zusammenhang mit der Welt des Kindes und seinen Bezie- hungen verstanden.
Weitere neue Erkenntnisse aus verschiedenen wissenschaftlichen Fachrich- tungen wie zum Beispiel der Entwicklungspsychologie, der Hirnforschung, aber auch der Säuglings- und Kleinkindforschung bestätigen die Vorstellung vom sich selbst bildenden Kind. Die Gehirnstruktur und das Denken des Kin- des sind nicht bereits vorgegeben, sondern entwickeln sich erst aus den Er- fahrungen heraus, die das Kind in seiner Umwelt macht. Ein Bildungsgedan- ke, der diesen Erkenntnissen folgt, wird in seiner praktischen Umsetzung auf besondere Herausforderungen treffen. Dazu später mehr. Zunächst folgt der Versuch, herauszufinden, was heute mit „Bildung“ konkret gemeint ist.
4. Was bedeutet Bildung im Elementarbereich?
4.1. Der Bildungsbegriff nach Gerd E. Schäfer
All zu schnell verwendet man den Begriff der Bildung, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was dieser eigentlich bedeutet. Wer an dieser Stelle eine kla- re Definition erwartet, wird enttäuscht sein. Es ist nicht einfach diesen Begriff zu definieren. Denn wer sich die Mühe macht und über den Begriff nach- denkt, der stellt schnell fest, dass dieser mehr umschreibt, als dass es kurz gefasst werden sollte. Würde man dennoch eine stark verkürzte Definition des Begriffs in Kauf nehmen, so wäre das Ergebnis enttäuschend. Es würde nicht mehr dem gerecht werden, was Bildung ist. Bildung kann sich nicht der einen richtigen, auf den Punkt genauen Definition bedienen. Und wir können diese folglich auch nicht anwenden, wie wir es mit einer mathematischen Formel tun würden. Denn wäre „Bildung“ eine Gleichung, dann hätte sie zu- nächst viele Unbekannte.
Gerd E. Schäfer beschäftigt sich in seinem Buch „Bildung beginnt mit der Geburt“ genau mit dieser Thematik. Er schafft es, im Verlauf seines Buches die Unbekannten der Gleichung zu besetzen. Würde man nun doch den ris- kanten Versuch wagen, Schäfers Verständnis von Bildung in einem Satz zu formulieren, so könnte dieser wie folgt lauten:
„Bildung“ meint im Kind stattfindende, komplexe Prozesse, die ohne jegliches Zutun im Kind ablaufen. Diese nutzt es, um sich mit seinen zur Verfügung stehenden und von der Umwelt geschaffenen Möglich- keiten zu bedienen, um sich seine Umwelt und vor allem sich selbst er- schließen zu können.
Nach einer solchen Definition steht eines fest: Um Bildungsprozesse in der Kindheit zu verstehen, sollte man sich die Zeit nehmen, um Kleinkinder in ihrem Tun zu beobachten. Bildungsprozesse der frühen Kindheit sind für uns Erwachsene nicht immer auf Anhieb als solche erkennbar. Schäfer warnt
davor, das kindliche Handeln als unsinnig abzutun. Was dem Beobachter vielleicht als unsinnig oder eben als „Kindskram“ erscheint, könnte gerade der eigenständige, vom Kind aus gesteuerte Versuch gewesen sein, eine passende Antwort auf eine von ihm gestellte Frage zu finden. Das, was da stattfindet, beginnt lange vor dem Erwerb der Sprache und bevor das Kind darüber nachdenkt, wie Lernen funktioniert, also von Geburt an. Und wenn das keine Bildung ist, was dann?
Um sich nicht vollkommen in einem Desaster von hochkomplexen Erklä- rungsstrategien zu verlaufen, hat Schäfer die Bildungsprozesse des Kindes in fünfzehn Thesen veranschaulicht (Schäfer, Gerd E.: Bildung beginnt mit der Geburt, Weinheim und Basel, 2005. S. 62-75). Diese seien an dieser Stelle kurz zusammengefasst:
4.2. 15 Thesen zu Bildungsprozessen
1. „Der Elementarbereich ist ein eigener Bildungsbereich“
Dieser braucht eine eigene Zeitspanne vom Krippenalter an und darf nicht von der Schule für sich eingenommen werden. Das Hauptanlie- gen ist es kindliche Bildungsprozesse zu unterstützen.
2. „Orientierung am kindlichen Bildungsbedarf“
Frühkindliche Bildung muss sich zunächst am Kind selbst und seiner Tätigkeit orientieren. Dabei gibt es vier wesentliche Bildungsbereiche, nämlich
1. den der Bewegung,
2. den des Spielens, Gestaltens und der Medien,
3. den der Sprache und
4. den der Natur und der kulturellen Umwelt.
3. „Frühkindliche Bildung ist in erster Linie Selbstbildung im sozia- len Kontext“
Frühkindliche Bildung ist in erster Linie Selbstbildung. Sie entsteht an- hand von Ereignissen, die das Kind in seinem Lebenszusammenhän- gen erlebt. Diese werden bewertet, ihnen wird eine Bedeutung zuge- teilt. Dafür sind soziale Bezüge unumgänglich.
4. „Auch kleine Kinder erleben Sinn und Bedeutung“
Zunächst ist alles, was ein Kind macht, dem subjektiven Sinnerleben des Kindes unterstellt. Mit der Erfahrung, wie Erwachsene auf das re- agieren, was das Kind macht, wird es dazu genötigt, seine Gefühle mit denen der anderen zu vergleichen. So lernt es, dass es ein Wechsel- spiel gibt zwischen dem, was es selbst als bedeutungsvoll ansieht und dem, was Erwachsene an es herantragen.
5. „Frühkindliche Bildung ist komplex“
Alltagserfahrungen des Kindes können nicht in einzelne Bereiche wie beispielsweise sinnliche, kognitive oder emotionale eingeteilt werden. Dies entspräche nicht der Realität. Jedes Kind lernt mit der Zeit, aus welchen Bereichen Lösungen für Alltagsprobleme geschöpft werden können. Wenn die Lern- und Bildungsbereiche eines Kindes sinnvoll gefördert werden sollen, so braucht das Kind Gelegenheiten, bei de- nen es auf der Grundlage seiner Wahrnehmung und der Suche nach der persönlichen Bedeutung davon Erfahrungen sammeln kann. Den Schwerpunkt der Unterstützung von Bildungsprozessen bildet dabei das Filtern, Wählen, Konzentrieren, Hervorheben und Präzisieren der Wahrnehmung, dem das Kind die besondere Gestalt der subjektiven Bedeutung gibt.
6. „Frühkindliche Bildung ist zunächst ästhetische Bildung“
Die eigene sowie die emotionale Wahrnehmung unterlaufen einer Feinabstimmung an die jeweils gegebene Lebenswelt. Dabei werden sie anhand von bereits vorhandenem Wissen vorsortiert. So entstehen typische Muster. Ästhetische Bildung ist die Ordnung der sinnlichen Erfahrungen des Kindes gespeichert in bestimmten Bildern (Vgl. Kapi- tel 7.1.1).
7. „Kinder sind Erforscher ihrer sachlichen Umwelt und ihrer sozia- len Mitwelt“
Damit Kinder in der Lage sind Probleme, die sich ihnen aus ihrem All- tag heraus stellen, bewältigen zu können, brauchen sie Erwachsene, die ihnen eine Umwelt bieten, welche ihre Neugierde anregt und her- ausfordert. Erwachsene sollten dabei „…die Lebensbedingungen und Alltagszusammenhänge, […] so gestalten, dass die Kinder die Kräfte, die sie haben, neugierig forschend einsetzen können.“ (ebd. S.66).
8. „Frühkindliche Bildung beruht auf Beziehungen“
Das Herstellen von Beziehungen zu Dingen, Ereignissen oder Perso- nen, die subjektiv als bedeutend erlebt werden, sind Zeichen eines kindlichen Lern- und Aneignungsmodelles des Denkens. Mit frühkind- licher Bildung ist also nicht die Vermittlung von Kompetenzen gemeint.
9. „Frühkindliche Bildung erzeugt innere Bilder“
Von Kindern erlebte Wahrnehmungserfahrungen werden zu inneren Bildern verarbeitet. Diese werden von ihnen im Spiel, in Fantasie, in Imaginationen und in Geschichten organisiert und dienen später als Grundlage für Denkmodelle.
10. „Nicht Kompetenzen vermitteln, sondern Problemlösungen för- dern“
In der frühen Kindheit ist der Mensch auf Antworten aus seinem eige- nen Handeln und Wissen angewiesen, da er noch nicht in der Lagen ist, die Antworten anderer zu kopieren oder zu übernehmen. Bildung bedeutet also auch Problemlösungen aus eigener Kraft heraus zu er- möglichen.
11 .„Frühkindliche Bildung stützt sich auf die Selbstbildungspoten- ziale der Kinder“
Die sinnliche Erfahrung, Fantasien, Spielen und Gestalten sowie die soziale Abstimmung und die Umwandlung von sinnlichen Erfahrungen
in symbolisches Denken, aber auch das forschende Lernen, in dem sich all diese Bereiche wiederfinden, bezeichnet man als Selbstbil- dungspotentiale. Die Bildung dieser zu fördern und diese zu unterstüt- zen, ist die wichtigste pädagogische Aufgabe frühkindlicher Bildung.
12 .„Frühkindliche Bildung ist in soziale Prozesse der Verständigung eingebettet“
Kindliches Lernen darf nicht aus der kindlichen Lebenswelt herausge- gliedert werden. Je mehr wir auf die Individualität des kleinen Kindes eingehen, desto besser gelingt es, sein Interesse wach zu halten und es in forschende Neugierde zu verwandeln.
13 .„Durch die frühkindliche Bildung entwickelt das Kind Vorstellun- gen davon, wie und was man in seinem Umfeld wahrnehmen, denken und aussprechen kann“
Das Kind muss selbst herausfinden, welche Gedanken, Sehnsüchte, Vorstellungen und Wünsche „gesellschaftsfähig“ sind, was nicht gese- hen, nicht wahrgenommen werden darf, aber auch das, worüber ge- sprochen werden darf und was tabuisiert wird. So erachten leider viele Familien Gefühle immer noch als unwichtig. Daraus resultiert, dass das Kind in solch einer Familie wahrscheinlich nicht lernen wird über seine Gefühle zu sprechen, da dies seitens der Erwachsenen uner- wünscht ist.
14 .„Die Erwartungen von Gesellschaft und Kultur“
Akzeptiert man die vorangegangenen Überlegungen, so sollte päda- gogisches Handeln nicht nur die Erwartungen der Gesellschaft zum Ausgangspunkt für Bildungsprozesse schaffen, sondern ebenso die Einstellungen, Erwartungen, Vorstellungen und Fantasien der Kinder berücksichtigen und einbeziehen. Konkret heißt das: Kinder brauchen genügend Spielraum für ihre Eigentätigkeit.
15 .„Bildung ist das Wissen und Können, mit dem wir tatsächlich denken und handeln“
Bildung stellt somit das Wissen und Handeln dar, welches wir im Alltag tatsächlich gebrauchen, um zu überleben.
Aus den genannten 15 Thesen zur frühkindlichen Bildung entstehen Ansätze für die Praxis. Kann dieser Bildungsgedanke als ein bedeutendes Ziel in die Krippenpädagogik integriert werden? Findet die Realisierung des Bildungs- gedankens vielleicht sogar schon unbemerkt statt? Eignen sich dafür be- stimmte frühpädagogische Konzepte besser als andere? Kann eine Verein- barkeit zwischen der Praxis und der Theorie überhaupt stattfinden?
Um sich den Antworten dieser Fragen zu stellen, werden zunächst zwei Kon- zepte, die sich in der jahrelangen Arbeit mit Kindern unter drei Jahren be- währt haben, vorgestellt. Dabei handelt es sich zum einen um die Reggio– Pädagogik, zum anderen um die Pädagogik von Emmi Pikler. Die Herkunft, die Schwerpunkte und die praktische Umsetzung beider Konzepte werden im Einzelnen aufgeführt. Die Besonderheiten im Hinblick auf den Schäferschen Bildungsgedanken werden herauskristallisiert und erläutert. Die guten Ideen und Vorsätze der Konzepte finden eine stärkere Betonung durch kurze Bei- spiele unserer Praxiserfahrungen, in der eine gute Umsetzung leider nicht immer gelang.
5. Bildung und Erziehung bei Kindern von 0 – 3 Jahren – Vorstellung zweier gelungener Konzepte
Das, was Gerd E. Schäfer und eine frühkindliche Bildungstheorie, die Ver- trauen in die Selbstbildungspotentiale der Kinder hat, fordert, lässt sich zu großen Teilen bereits in zwei pädagogischen Konzepten finden, die im vor- liegenden Kapitel vorgestellt seien. Es handelt sich hierbei um ein Konzept aus Norditalien und eines aus Ungarn. Wir fassen ihre inhaltlichen Schwer- punkte und pädagogischen Ziele zusammen und nehmen innerhalb mancher Aspekte Bezug zu Praxiserfahrungen, die wir während unseres Studiums innerhalb des Elementarbereiches machten.
5.1. Kleinkinderziehung in der Reggio-Pädagogik
5.1.1. Entstehung, Inhalte und Ziele der reggianischen Kleinkind- pädagogik
Die Idee der Reggio-Pädagogik entstand im April 1945 in Villa Cella, einem Vorort von Reggio Emilia. Der Krieg war gerade beendet und einige Männer und Frauen überlegten, was mit dem Erlös der Panzerteile, die sie auf dem Schwarzmarkt verkauft hatten, geschehen sollte. Sie beschlossen, das Geld in einen Kindergarten zu stecken, da das die besten Antwort auf einen Krieg sei, nämlich eine neue Generation zu erziehen. Daran beteiligt war die ge- samte Dorfbevölkerung, ohne finanzielle Unterstützung, ohne Fachwissen, aber mit ganz viel Engagement. Schnell wurden hier die ersten Kinder be- treut. Davon „Wind“ bekam Loris Malaguzzi, ein junger Grundschullehrer. Er war fasziniert vom Engagement der Bevölkerung und ihrer Arbeit und proto- kolliert den Aufbau des Kindergartens und die Anfänge der Kinderbetreuung. In Zusammenarbeit mit den Bürgern übernahm er die Leitung der kommuna- len Kindereinrichtungen in Reggio Emilia.
Was ist nun das Besondere am Konzept der Reggio-Pädagogik? Was ist es, das in den 1980er Jahren einerseits international „die Runde machte“ und 1991 sogar einen Oskar von der amerikanischen Zeitschrift Newsweek er- hielt, andererseits aber nur kommunal in Reggio wirkt, nicht aber im restli- chen Italien? Wofür bekam 1999 die Konzeption von nur zwölf kommunalen Krippen und 20 kommunalen Kindergärten in Reggio Emilia eine Auszeich- nung von der UNESCO als weltweit beste Vorschulpädagogik?
Dies zum einen, weil sich in Reggio bis heute der Grundsatz durchsetzt, dass öffentliche Kindererziehung eine gemeinschaftliche Aufgabe ist. Eltern, Er- zieher/innen, Berater/innen und Bürger/innen der Stadt sind beteiligt, sie pla- nen und gestalten gemeinschaftlich die pädagogische Arbeit. Reggio ist kei- ne Pädagogik „von oben nach unten“, sondern „von unten nach oben“. Nicht Behörden geben vor, was in der scuola dell´infanzia („Schule der Kindheit“)
geschieht, sondern in gemeinsamer Erarbeitung und Abstimmung von „oben und unten“ wird gemeinsam darüber nachgedacht, diskutiert und entschie- den. Es herrscht keine Trennung von familiärer und öffentlicher Kindererzie- hung, sondern vielmehr eine enge Zusammenarbeit. Die Krippen und Kin- dergärten in Reggio Emilia sind nicht allein Orte für Kinder, sondern genera- tionenübergreifende Treffpunkte für die gesamte Bevölkerung. Anders als in vielen Teilen des restlichen Italiens, in denen Krippen noch immer als Notlö- sung für die Kinderbetreuung gelten, gehören die Krippen und Kindergärten in Reggio Emilia zum gesamten Erziehungs- und Bildungssystem dazu (Vgl. Dreier, Annette: Was tut der Wind, wenn er nicht weht? Begegnungen mit der Kleinkind-Pädagogik in Reggio Emilia. Weinheim und Basel 2006, S. 10ff.).
Die in den Jahren 1968 für den Kindergarten und 1971 für die Krippe verab- schiedeten Gesetze wurden maßgeblich von Wissenschaftlern, Politikern und Bürgern aus der Emilia mitgestaltet. Es regelt unter anderem die Funktion der Einrichtungen als familienunterstützende Einrichtungen, sichert pädago- gische Standards wie zum Beispiel die Aus- und Weiterbildung der Erziehe- rinnen zu und hat die Mitwirkung von Eltern in Form einer kollektiven Leitung in sich verankert (Dreier, Annette: Was tut der Wind, wenn er nicht weht? Begegnungen mit der Kleinkind-Pädagogik in Reggio Emilia. Weinheim und Basel, 2006, S. 19ff.).
Diese kollektive Leitung berät nicht nur über praktische und organisatorische Themen wie Öffnungszeiten, Tagsabläufe, pädagogische Themen und Pro- jekte, sondern setzt sich auch regelmäßig mit den „höheren Zielen“ der Kin- dererziehung auseinander. Die Frage „Wohin wollen wir unsere Kinder erzie- hen?“ ist seit dem ersten Tag in der Villa Cella die zentrale Frage geblieben, die den pädagogischen Alltag bestimmt. Der demokratische Grundgedanke einer kollektiven Leitung folgt dem Anspruch einer gemeinschaftlichen Ver- antwortung für die Kinder. „Die Erziehung von Kindern ist eine Sache der Familien, der öffentlichen Einrichtungen und der Gesellschaft. Als solche er- fordert sie Solidarität und gemeinschaftliche Antworten, die über rein indivi- duelle hinausgehen.“ (Malaguzzi 1984, S. 9 in Dreier, 2006, S. 63). Dies setzt eine ständige Auseinandersetzung mit den Zielen der pädagogischen Arbeit
voraus. Bei der Frage nach dem „Wohin?“ einer Erziehung müssen immer auch die aktuellen Veränderungen beachtet werden. „Wenn sich das Leben der Familien, ihre Bedürfnisse und Erwartungen verändern, können auch die Kindereinrichtungen nicht gleichgültig gegenüber diesen Wandlungsprozes- sen bleiben.“ (Spaggiari, 1983, S. 105 in Dreier, 2006, S. 63). Die Reggianer bezeichnen deshalb ihre Pädagogik als eine „Pädagogik des Werdens“. Ihre Konzeption enthält in einer Satzung die Aufgaben und pädagogischen Ziele der Kindereinrichtungen und bietet eine verbindliche Grundlage und Orientie- rungshilfe für die gesamte Praxis. Diese Satzung ist nicht starr, sondern eine Sammlung von Grundsätzen, die jährlich überarbeitet, ergänzt und vervoll- ständigt werden.
Was sind nun konkret die Grundsätze und Ziele einer solchen Satzung, die die Leitungsräte, welche alle zwei Jahre in jeder Einrichtung innerhalb der Eltern- und Erzieherschaft gewählt werden, vertreten und inhaltlich ausges- talten? Ihre Aufgabenbereiche lassen sich in vier Bereiche unterteilen:
1.) Sie recherchieren die sozio-kulturellen Lebensbedingungen der Fami- lien. Fragen wie „Wie viele Alleinerziehende gibt es?“ oder „In welchen Familien arbeiten beide Elternteile?“ helfen bei Entscheidungen über Öffnungszeiten, Personalschlüssel und Aufnahme-Kriterien neuer Kinder. Frauen soll dabei der Zugang zur Arbeitswelt erleichtert wer- den. Zur Beantwortung von Fragen dieser Art wurden Fragebögen entwickelt, die die Einrichtungen regelmäßig an die Eltern verteilen.
2.) Sie planen die Öffentlichkeitsarbeit, Treffen zwischen Eltern und Er- zieherinnen und übergreifende Aktivitäten.
3.) Sie diskutieren die Inhalte der pädagogischen Vorhaben und legen Formen der Durchführung fest.
4.) Sie richten einzelne Arbeitsgruppen zur Beschäftigung mit relevanten Themen der Kindheit ein, dies in enger Zusammenarbeit mit Kommu- nalpolitikern, um auf die Bedürfnisse und Belange der Kinder auf- merksam zu machen und eingehen zu können.
Als pädagogische Zielsetzung gilt: „Eine ganzheitliche Entwicklung der Kin- der soll vor allem durch die Verbindung ihrer familiären und institutionellen Erfahrungsräume gesichert werden, unter anderem mit dem Ziel, die „[…] unnatürliche Trennung und Distanz der Kinder von der Lebenswelt der Er- wachsenen aufzuheben.““ (Dreier, 2006, S. 72). Kenntnisse über die Le- benssituationen, Gespräche mit den Eltern und Hausbesuche sind dabei un- umgänglich und werden meist innerhalb der sanften Eingewöhnung erwor- ben. Die Eltern und der Umgang zwischen Eltern und Kind werden dabei nicht ausgehorcht oder kontrolliert, sondern lediglich kennen gelernt.
Diese Auffassung deckt sich mit der Schäferschen, der frühkindliche Bildung als Selbstbildung im sozialen Kontext betrachtet. Das Kind braucht soziale Bezüge, um das, was es erlebt, in Zusammenhang zu setzen (Vgl. Kapitel 4.2.).
Weil Kinder in Reggio Emilia nicht lediglich verwahrt, sondern erzogen und gebildet werden sollen, sind interne Weiterbildungen und Beratung durch Fachpersonal verbindlich für alle Mitarbeiter festgesetzt. Die reggianischen Pädagogen arbeiten auf die Zielsetzung „[…] Kindern im Rahmen der Krip- pen und Kindergärten eine ganzheitliche Entwicklung zu ermöglichen, indem ihre Autonomie, ihre Kompetenz und die Solidarität in der Kindergruppe ge- fördert werden.“ (Dreier, 2006, S. 74). Fähigkeiten wie Kritikfähigkeit, Urteils- kraft, experimentelles Denken, Kreativität, Kooperation und soziales Verhal- ten gegenüber anderen Kindern soll vermittelt, Gleichberechtigung von Jun- gen und Mädchen, behinderten und nicht-behinderten Kindern gelebt wer- den. Nicht vielfältige Kenntnisse über die Welt sollen erworben werden, die Kinder sollen vielmehr lernen zu lernen. Das wichtigste Ziel in der Satzung lautet: „die umfassend gebildete kindliche Persönlichkeit, die eine individuelle Entfaltung des Kindes mit der Entwicklung eines gesellschaftlichen Bewusst- seins verbindet“ (ebd.).
Dieser Punkt verdeutlicht die auch von Schäfer geforderte Wichtigkeit, den Elementarbereich als eigenen Bildungsbereich zu verstehen (Vgl. Kapitel 4.2.). Nicht vorschulische Fertigkeiten sind es, die das Kind so früh wie mög-
lich lernen muss, sondern Fähigkeiten, die es zu einer starken Persönlichkeit werden lassen, die darauf vorbereitet ist, den Anforderungen des späteren Lebens gerecht zu werden.
5.1.2. Das Bild vom Kind
Die Pädagogen in Reggio setzen dem vielerorts vorherrschenden defizitären Bild vom Kind eine andere Sichtweise entgegen. Sie betrachten das Kind von Geburt an als aktiven und kreativen Gestalter seiner eigenen Entwicklung und seiner Beziehung zur Umwelt. Es hat ihrer Auffassung nach „hundert Sprachen“ (Vgl. hierzu Kapitel 10: Loris Malaguzzi: Die hundert Sprachen des Kindes), was bedeutet, dass Kinder auf eigene und kreative Weise ihren Eindrücken über die Welt Ausdruck verleihen. Sie wenden sich damit von Erziehungskonzepten ab, die „erst Defizite bei dem Kind festschreiben, um sie dann mit Hilfe gezielter Lern- und Förderprogramme auszugleichen, und gegen eine Praxis, deren Hauptaugenmerk darauf ausgerichtet ist, was Kin- der „noch nicht können“ (ebd. S. 80). Kindern werden in unserer heutigen Gesellschaft Objekte einer „ungeduldigen, leistungsbesessenen sozialen Umwelt. Sie werden frühzeitig in Lernprogramme „gesteckt“ und müssen
„funktionieren“, damit sie den Anforderungen unserer Gesellschaft gerecht werden. Malaguzzi kommentiert dies wie folgt: „Dem Kind werden Normen gesetzt, die die Erwachsenen für sich selbst geschaffen haben. Dadurch nehmen wir dem Kind einen großen Teil seiner Lebensfreude und seiner Fä- higkeiten, die Welt zu entdecken und zu verändern.“ (Malaguzzi 1984 in Dreier 2006, S. 83). Um etwas über Kinder zu erfahren, bringen Regeln „von oben“ nichts, man muss sich dort aufhalten, wo sie tatsächlich leben. Das A und O und wesentlicher Bestandteil ist dabei die Beobachtung der Kinder in der Praxis. Das Augenmerk ist in Reggio dabei auf Fragen folgender Art ge- richtet, Fragen, die nicht Defizite sehen, sondern auf die Kompetenzen der Kinder vertrauen:
- „Welche Potentiale bringen Kinder von Geburt an mit sich?
- Wie nehmen sie die Welt wahr?
- Wie interpretieren sie ihre Wahrnehmungen und Erlebnisse?
- Wie lernen sie?
- Wie gestalten sie ihre Beziehungen zur Welt und zu anderen Men- schen?
- Wie verleihen sie ihren Eindrücken Ausdruck?“ (Dreier, 2006, S. 83)
Ihre in der Praxis gemachten Beobachtungen versuchen sie mit verschiede- nen theoretischen Erklärungsmodellen zu verknüpfen. Sie nehmen dabei Bezug zu Arbeiten von Piaget, Wygotski oder Bruner, aber auch zu Philoso- phen, Kunst- und Musikwissenschaftlern, Naturwissenschaftlern und die Neurologie. Theorie und Praxis können nicht voneinander getrennt betrachtet werden. Kindererziehung ist nach Fachberaterin Filippini ein „permanentes Wechselspiel von Gedanken, Praxis, Reflexion der Handlungen, neuen Er- kenntnissen, einem Wechsel der Perspektive und veränderten Praxis“ (ebd.). Die Reggianer orientieren sich also am kindlichen Bildungsbedarf.
5.1.3. Wahrnehmen, Lernen und Gestalten als Grundgedanken
Aus diesem neuen Bild vom Kind und den Erkenntnissen aus der Kindheits- Forschung ergeben sich drei wesentliche Grundbegriffe für die Reggio- Konzeption, nämlich das Wahrnehmen, das Lernen und das Gestalten.
1. Wahrnehmen
Die Pädagogen in Reggio wissen um den durch Piaget untersuchten Zu- sammenhang von sinnlicher Anregung und aktivem Lernen, von Wahrneh- mung und Exploration, also von Wahrnehmung und aktivem Tun. Als Ziel sollen also Wahrnehmungsvorgänge und die Sinne des Kindes aktiviert und intensiviert werden. Konkret helfen dabei visuelle Angebote durch vielfarbige Erkundungselemente wie Kaleidoskope, bewegliche Objekte, verschiedene Spiegel, Licht- und Schattenspiele und auch Tast- und Fühlobjekte, verän- derbare Skulpturen und geräuschproduzierende Gegenstände. Sehen, Be- greifen und Verstehen gehören für die Reggianer zusammen
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- Carina Tillmann (Author), Jolanta Figas (Author), 2008, Überlegungen zu Bildung und Erziehung bei Kindern von 0 bis 3 Jahren, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123438
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