Zahlreiche Analysen des „Homo Faber“ haben sich bereits mit Aspekten wie der Wechselbeziehung zwischen Technik und Mensch oder der Schuldproblematik und ihren mythologischen Hintergründen befaßt.
Diesen soll hier ein Ansatz entgegen und/oder zur Seite gestellt werden, der sich auf die Darstellung des Wetters in Fabers „Bericht“ konzentriert. Wettergeschehen bildet einen kaum wegzudenkenden Teil des Romans; es wird häufig und mit wechselnder Intensität geschildert und scheint eine Vielzahl von Funktionen zu erfüllen. Diese näher zu beleuchten, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Dabei soll zum einen auf die Bedeutung eingegangen werden, die das Wetter für Fabers Gesellschaft hat, zum anderen sollen aber auch eventuell bestehende Beziehungen zwischen Fabers Persönlichkeitsentwicklung und dem Wetter aufgedeckt werden. Ein solches Vorgehen könnte im Bestfall als ein Weg dienen, den Roman einmal aus anderer Perspektive aufzuschlüsseln und so vielleicht auch Zusammenhänge in den Vordergrund zu rücken, die bislang weniger
Beachtung gefunden haben.
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Inhalt
1. Einleitung
2. Bedeutung des Wetters für Fabers technische Welt
2.1 Wetter als das berechenbare „Übliche“
2.2 Wetter als unberechenbarer Störfaktor der technischen Welt
2.3 Wetter als Bedrohung für Körper, Geist und Seele
3. Wetter als symbolischer Spiegel und Katalysator
von Fabers Entwicklungsprozeß
3.1 Die Fruchtbarkeitssymbolik
3.2 Motive von Vergänglichkeit und Tod
3.3 Blindheit und Sehen, Dunkelheit und Licht
4. Wetter als (strafende) Schicksalsmacht
5. Schluß
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der von Max Frisch als Titel gewählte lateinische Terminus „homo faber“ definiert einen bestimmten Menschentypus, nämlich jenen Menschen, der „einen tätigen, die Welt technisch, durch Werkzeuge verändernden Bezug zum Dasein hat.“[1] Offenkundig ist Frischs titelgebender Held Walter Faber der Prototyp eines solchen Menschenbildes, was dazu geführt hat, daß Interpretationen des Homo Faber sich vielfach mit den im Roman dargestellten Wechsel-beziehungen zwischen Technik und Mensch befaßt haben. Dies ist sicherlich ein ergiebiger Topos und bietet, ebenso wie die gleichfalls häufig aufgegriffene Schuldproblematik und ihre mythologischen Hintergründe (Faber als Ödipus), geeignete Zugriffsmöglichkeiten auf das Werk.
Dennoch soll hier ein anderer Ansatz gewählt werden, der die Darstellung des Wetters in Fabers Bericht in den Mittelpunkt der Analyse stellen will. Wettergeschehen bildet einen kaum wegzudenkenden Teil des Romans; es wird häufig und mit wechselnder Intensität geschildert und scheint eine Vielzahl von Funktionen zu erfüllen. Diese näher zu beleuchten, ist das Ziel der folgenden Arbeit. Dabei soll zum einen auf die Bedeutung eingegangen werden, die Wetter für die Gesellschaft hat, der Faber entstammt, zum anderen sollen aber auch eventuell bestehende Beziehungen zwischen Fabers Persönlichkeitsentwicklung und dem Wetter aufgedeckt werden. Ein solches Vorgehen könnte im Bestfall als ein Weg dienen, den Roman einmal aus anderer Perspektive aufzuschlüsseln und so vielleicht auch Aspekte in den Vordergrund zu rücken, die bislang weniger Beachtung gefunden haben.
2. Bedeutung des Wetters für Fabers technische Welt
Die Welt, in der Walter Faber lebt und deren Repräsentant er ist, ist die moderne Welt, geprägt von Oberflächlichkeit, Rationalismus, Fortschritts- und Technikgläubigkeit. Etwas derart Banales wie das Wetter scheint in einem solchen Weltbild auf den ersten Blick bestenfalls eine Randposition einnehmen zu können. Doch Wettergeschehen ist unweigerlich auch in Fabers Gesellschaft eine omnipräsente Größe, auf die in irgendeiner Form zu reagieren die Menschen gezwungen sind. Wie ihre Reaktionen im Einzelnen aussehen, soll Untersuchungsgegenstand des folgenden Kapitels sein.
2.1 Wetter als das berechenbare „Übliche“
Die naheliegende und zugleich pragmatischste Reaktion besteht zunächst einmal darin, Wetter als feste und kalkulierbare Konstante in das alltägliche Geschehen zu integrieren. Dies geschieht in Fabers Gesellschaft vor allem dahingehend, dass man sich dank fortgeschrittener Zivilisation – sprich Technik – dem Wetter überlegen fühlt. Wie alles andere auch können meteorologische Phänomene wissenschaftlich erklärt werden und sind somit beherrschbar. Es besteht keine Abhängigkeit mehr vom Wetter. Klimaanlagen schützen vor Hitze, Blitzableiter vor Gewittern, Flugzeuge vermögen sogar, in heftigem Schneefall zu starten[2], und ermöglichen überdies, innerhalb kürzester Zeit die Klimazonen zu wechseln. Selbst kleine wetterbedingte Störungen der Alltagsroutine sind bereits eingeplant, wenn sie sich aus wissenschaftlichen Analysen ableiten lassen und der statistischen Wahrscheinlichkeit entsprechen. So kann Faber angesichts des holperigen Fluges über der Sierra Madre Oriental nur lapidar feststellen: „Böen wie üblich vor Gebirgen, die normale Thermik“ (19). Oder er kann in der Wüste von Tamaulipas konstatieren: „Ich schlottere, aber ich weiß: in sieben bis acht Stunden kommt wieder die Sonne“ (25). Wetter ist also zum vorhersagbaren Element, zum „Üblichen“ geworden. Es hat scheinbar jegliche Dimension des Geheimnisvollen eingebüßt, so daß selbst den bizarrsten Felsformationen nicht länger mystische Qualitäten zugeschrieben werden müssen, sondern sie mittels wetterbedingter Erosion rational erklärt werden können (24). Die einzig legitime Funktion, die Wetter-phänomenen in diesem Rahmen überhaupt noch zukommen kann, ist die des allgegenwärtigen Hintergrunds, der mehr oder weniger dekorativen Kulisse, die mal als Allgemeinplatz der Konversation herhalten muß („[Herbert Hencke] redete über Wetter“ (8)), mal als Unter-haltungsmittel dient („Es wetterleuchtete jede Nacht, unsere einzige Abendunterhaltung“ (39)), oder einfach obligatorischer Bestandteil einer touristischen Bestandsaufnahme wird, wie Fabers ständiges Abfilmen von Sonnenuntergängen und wiederholte Äußerungen wie „Das Wetter war gut“ (76), „Wir hatten phantastisches Wetter“ (107), etc. beweisen. Wetter wird hier zum Konsumgut degradiert, das jederzeit verfügbar ist, bestenfalls als hübsches Beiwerk dient und schlimmstenfalls auf gelangweilte Gleichgültigkeit stößt („lauter kleine Wolken, [...] Farbspiel wie üblich, ich habe es schon oft genug gefilmt“ (15)), in jedem Fall jedoch unter Kontrolle ist.
Wie so vieles in Fabers Gesellschaft zeugt auch dieses distanzierte Idealverhältnis zum Wettergeschehen von einer äußerst oberflächlichen Betrachtungsweise, die so nicht aufrecht-zuerhalten sein wird.
2.2 Wetter als unberechenbarer Störfaktor der technischen Welt
Dies wird zunächst immer dann deutlich, wenn der vermeintlich so reibungslose Ablauf der technischen Maschinerie in Fabers Welt durch wetterbedingte Phänomene gestört wird und ins Stocken gerät. In solchen Fällen zeigt sich, wie wenig berechenbar Wetter in Wahrheit ist, und wie fragil sich sämtliche technischen Errungenschaften seiner elementaren Macht gegenüber ausnehmen. Das Motiv des Wetters als Hindernis der Technikwelt unterminiert jegliche Technik-gläubigkeit vom allerersten Satz des Homo Faber an: „Wir starteten in La Guardia, New York, mit dreistündiger Verspätung infolge Schneestürmen“ (7). Selbst eine Super-Constellation, der In-begriff des technischen Fortschritts, muß sich den Elementen unterordnen, und Faber bleibt nichts anderes übrig, als „einfach im Sessel [zu sitzen]“ (7) und zu warten. Da hilft es auch nicht, wenn er später dem „Düsseldorfer“ mit mathematischer Präzision vorrechnet: „Ohne unsere Verspätung wegen Schneesturm [...] wären wir jetzt in Mexico City gelandet“ (16). Die äußere Ordnung wurde unumkehrbar gestört. Auch die bereits angesprochenen Böen, so normal sie auch sein mögen, bringen doch das Wunder-Flugzeug aus dem Gleichgewicht. Und ebenso müssen dessen Reifen nach der Bruchlandung vor der Sonne geschützt werden (21). Faber bringt das wahre Verhältnis zwischen Wettergewalten und „Macht“ der Technik in einer seiner ersten Metaphern wohl eher unbewußt auf den Punkt: „Meine DC-4 nach Mexico City, sie flog gerade über uns hinweg, [...] wo sie im heißen Himmel sich sozusagen auflöste wie in einer blauen Säure“ (35). Beständiger sind die Erzeugnisse der modernen Welt nicht und können es auch nicht sein.
Am deutlichsten wird die unberechenbare Gefahr, die das Wetter für die äußere Ordnung der technischen Zivilisation darstellt, dann allerdings im Dschungel von Guatemala. Der anfängliche Pragmatismus, der Faber die Nutzbarmachung von Palenque mit der Floskel „alles nur eine Frage der Verbindungen“ (15) abtun läßt, entpuppt sich angesichts der dortigen klimatischen Bedingungen sehr bald als schiere Hybris. Gewitter und Regen drohen, die Weiterfahrt zu behindern, da sie die Fährte zerstören (56) und so, ebenso wie das fehlende Mondlicht (69), Orientierungslosigkeit verursachen. Elektrischen Strom gibt es nur bis 21.00 Uhr, danach ist man den weit mächtigeren Energien des Wetterleuchtens ausgeliefert. Das eindrucks-vollste Bild von aufgrund des Wetters versagender Technik liefert schließlich der zerlegte Motor des Landrovers, dessen Bestandteile nach heftigen Regengüssen „im Schlamm bereits versunken waren, einfach verschluckt“ (168). Aus all dem ergibt sich, dass die oberflächliche Vorstellung eines durch technische Überlegenheit kontrollierten Wettergeschehens nichts weiter ist als ein Wunschbild. Ganz im Gegenteil stört das Wetter wiederholt das Ordnungssystem der technik-abhängigen Zivilisation und verlangsamt deren „übliche[s] Lebenstempo bis zur absoluten Bewegungslosigkeit.“[3] Diese Unkontrollierbarkeit wird auch Faber am Ende erkennen, wenn er auf seinem letzten Flug beobachtet: „Gewölk in der Sonne vor uns: als müsse unsere Maschine daran zerschellen“ (196).
2.3 Wetter als Bedrohung für Körper, Geist und Seele
Die bisherige Analyse hat gezeigt, daß Wetter in Homo Faber an den äußerlichen Grundpfeilern der Gesellschaft rüttelt, indem es deren vermeintlich unangreifbare technische Errungenschaften seiner Willkür unterwirft. Doch sein Einfluß macht hier nicht halt. Es bemächtigt sich zudem der Menschen selbst, gefährdet in ganz konkretem Sinn ihren Körper und unterwandert ihre Ratio und ihre Emotionen. Den ersten Hinweis darauf liefert die Unterhaltung zwischen Faber und Herbert Hencke über dessen Bruder Joachim, der in Palenque „offenbar Mühe mit dem Klima [hat]“ (15). Bezeichnenderweise führen Joachims Probleme mit dem Klima ihn letztlich in den Selbstmord. Auch Faber wird sich zumindest der körperlichen Auswirkungen der extremen klimatischen Bedingungen recht deutlich bewußt. In der Wüste von Tamaulipas beklagt er wiederholt die Kälte und vor allem die „Irrsinnshitze“ (27), die ihn schwitzen läßt „wie in der Sauna“ (29) und unter den Passagieren Kopfschmerzen und Erbrechen hervorruft. Zudem nötigt sie die Bruchgelandeten, ihre Kleider und damit einen Teil ihrer Zivilisation abzulegen und reduziert sie so zu einer eher lächerlich anmutenden „Gesellschaft in Büstenhaltern und Unter-hosen“ (29). Auch im guatemaltekischen Dschungel und auf Akrokorinth sind die Auswirkungen der „Höllenhitze“ (42) körperlich spürbar. Faber leidet unter Schwindel (42), Müdigkeit (54), Herzklopfen (43, 151) und Durst (151). Der Schweiß läßt ihn sich wie ein Kranker fühlen (38), und er erweist sich als dem Wetter ebenso unterworfen wie der kreischende Truthahn in Palenque, „der das Wetterleuchten nicht vertrug“ (39, 166) – trotz allen technischen Fortschritts. Daß er um diese Angreifbarkeit weiß, zeigt sich auch immer wieder darin, dass er Sabeth vor wetterbedingten „Gefahren“ zu schützen versucht: Er gibt „ihr [s]eine Jacke, damit sie sich nicht erkältete“ (90), führt sie „hinunter, weil sie schlotterte“ (90), deckt sie zu, „denn die Nacht durchs offene Fenster war kühl“ (122), und bedeckt ihre Schultern zum Schutz gegen Sonnenbrand (157).
Die anderen Gefahren, denen das Wetter ihn ausliefert, sind ihm dagegen weniger bewußt. Wiederholt bringen Wetterphänomene Aspekte seiner Persönlichkeit zum Vorschein, die nicht in sein Selbstbildnis als rationaler Ingenieur zu passen scheinen, und die er daher nicht wahrhaben will. Oder, wie Schmitz es formuliert: „Was Faber in seiner Seele verkapselt und verloren glaubt, bietet ihm die Außenwelt allenthalben dar.“[4] So erscheinen ihm die die Sonne spiegelnden Lagunen „himmelblau und wässerig (wie die Augen von Ivy)“ (18). Die Sonnenreflexion wird ihm hier „zum bedrohlichen Bild eines Lebens, dem er gerade entkommen zu sein glaubt.“[5] Obwohl er Gefühle für Ermüdungserscheinungen“ (92) hält, die nicht in sein Weltbild passen, muß er also auf dieses Lichtphänomen emotional reagieren, noch dazu, ohne sich dessen bewußt zu sein. Ähnlich geht es ihm in der Wüste von Tamaulipas und während der Mondfinsternis in Avignon: Auch wenn er noch so sehr betont, daß er in den von Wind und Wetter geformten Fels- und Sandformationen der mondbeschienenen Sierra Madre Oriental keine mystischen Entitäten zu erkennen vermag (24) – allein die Tatsache, daß er auf diese Weise sein naturwissenschaftliches Weltbild verteidigt, verdeutlicht, daß es ins Wanken gekommen ist. Seine tatsächliche Betroffenheit zeigt sich an der unmittelbar auf das Erlebnis folgenden, recht unmotiviert wirkenden Frage an Herbert Hen name="_ftnref6" title="">[6]
Ebenso bringt ihn die „verständliche Erscheinung“ (124) der Mondfinsternis „aus der Ruhe“ (124). Sabeth gegenüber versucht er zwar noch, eine rationale Erklärung für das Phänomen abzugeben, kann aber nicht verhehlen, dass ihn der „beklemmend[e]“ (124) Anblick genauso aufgeregt macht und verwirrt wie seine Tochter.
Doch nicht nur fördern atmosphärische und Wetterphänomene irrationale Empfindungen in ihm zutage, die er eigentlich verborgen halten will; umgekehrt gefährden sie auch das Aufrechterhalten derjenigen Aspekte seiner Person, die sein Menschheitsideal ausmachen. Das extreme Klima des Dschungels zwingt ihm eine Existenzform auf, die ihm zutiefst zuwider und dem „zivilisierten“ Leben entgegengesetzt ist. Das Zuviel an Hitze beeinträchtigt nicht nur seine physische Existenz, es führt auch zu einer „Herabminderung des Bewußtseins, [der] teilweise[n] Ausschaltung des Verstandesmäßigen [und der] Reduzierung des Lebensbewußtseins.“[7] Die „Glutluft“ (21) lähmt das Tätigkeitsstreben Fabers und läßt ihn allmählich in einen Zustand der Apathie verfallen: „[E]s war einfach zu heiß, um etwas zu glauben, oder dann glaubte man geradezu alles“ (38), und „es war einfach zu heiß und zu feucht, um zu widersprechen“ (50). Die Fähigkeit zur rationalen Argumentation geht ihm verloren, der ursprüngliche Sinn der Reise gerät langsam in Vergessenheit: „[I]ch wußte nicht, was wir eigentlich wollten.“ (37) Alles, wofür die technisierte Welt steht – Vernunftdenken, Zielstrebigkeit, aktives Handeln, unentwegtes Tätig-sein, etc. –, zerfließt in der brütenden Hitze des Dschungels ins Nichts. Übrig bleiben nur die „splitternackten“ Körper von Faber und Herbert (34). Leber spricht hier von einer „alles homo-genisierenden Entropie, die jedes menschliche Ordnungsstreben in sein Gegenteil verkehren muß.“[8] In einer solchen Umgebung kann jeder Gedanke an Fortschritt nur in der Bewegungs-losigkeit enden. Wenn Faber berichtet: „Fünf Tage hingen wir in Palenque“ (37), liegt eine Assoziation mit dem erhängten Joachim daher nicht allzu fern. Ein derartiges Klima bedeutet das Todesurteil für die Technikwelt und gefährdet Fabers mühsam errichtetes Weltbild aufs Äußerste.
3. Wetter als symbolischer Spiegel und Katalysator von Fabers Entwicklungsprozeß
Der erste Teil der vorliegenden Arbeit hat versucht zu zeigen, welche Rollen dem Wetter- geschehen in Fabers Gesellschaft zukommen können und inwieweit es diese beeinflußt oder gefährdet. Im Folgenden soll nun die Perspektive verengt werden, indem Faber nicht mehr nur als Repräsentant seiner Zivilisation, sondern als eigenständige Persönlichkeit dem Wetter gegenübergestellt wird. Unzweifelhaft macht er im Verlauf der Handlung eine Entwicklung durch, und diese wird vom Wetter sowohl gefördert wie auch gespiegelt.
3.1 Die Fruchtbarkeitssymbolik
Walter Faber ist ein Mensch, der alles, was in irgendeiner Weise mit organisch-körperlichen Prozessen in Verbindung steht, am liebsten aus seinem Lebenshorizont verbannen würde. Das zeigt sich an seinem Rasierzwang ebenso wie an dem Verleugnen der Krankheit bis zuletzt und seinem Idealbild des Roboters (75). Da verwundert es wenig, daß er auch zu Fruchtbarkeit und Fortpflanzung ein gespaltenes Verhältnis hat. „Menschen sind keine Kaninchen, Konsequenz des Fortschritts: wir haben die Sache selbst zu regeln“ (105), argumentiert er beispielsweise für die Abtreibung und empfindet „Verwunderung“ und „Schreck“ (93) angesichts der Vorstellung, „wie Mann und Weib sich paaren“ (93). Der Dschungel von Guatemala führt ihm dann jedoch ein solches Übermaß an Fruchtbarkeit vor Augen, daß er es nicht mehr ausblenden kann. Die „schleimigen“ Himmelskörper, die „klebrige Luft“ (34), die extreme Hitze und Feuchtigkeit, die Stille und das allgegenwärtige Wetterleuchten schaffen eine Umgebung, die Assoziationen an die Ursuppe aufkommen läßt, in der alles Leben seinen Anfang nahm. „Es stinkt nach Frucht-barkeit“ (51) und „wo man hinspuckt, keimt es!“ (51) Ein einziges Gewitter erschafft „Tümpel von schmutzigem Blut, Monatsblut, Tümpel voller Molche, nichts als schwarze Köpfe mit zuckenden Schwänzchen wie ein Gewimmel von Spermatozoen“ (68). Sogar Faber selbst wird, zumindest auf symbolischer Ebene, Teil dieses klimatischen Schöpfungszyklus: Auf der Rück-fahrt von Palenque werden er und Marcel nachts von einem sintflutartigen Regenguß am Weiterfahren gehindert, dessen Ende sie im Innern des Landrovers abwarten. Die völlige Dunkelheit ringsum und der alles verschluckende Regen, der die Dschungelpflanzen glänzen läßt „wie Eingeweide“ (69), lassen die Wartezeit im schützenden Jeep wie eine Art „uterines Eingeschlossensein“[9] erscheinen. Dem entspricht auch, daß die Morgenröte den Blick auf zwei Menschen freigibt, die „naß von Schweiß und Regen und Öl, schmierig wie Neugeborene“ (69) sind. Kein Wunder also, daß Faber Ekel vor dem Wasser empfindet (69) und „froh [ist], nicht allein zu sein“ (69). Die klimatischen Bedingungen des Dschungels offenbaren ihm auf eindring-liche Weise den Lebensursprung, dessen Erkennen als Teil des ewigen Kreislaufs des Lebens wesentlich sein wird für seine eigene „Wiedergeburt“.
[...]
[1] Der große Brockhaus. Aktualisierte Auflage in 26 Bänden. Bd. 10. Wiesbaden: Brockhaus 1984. S. 46.
[2] Vgl. Max Frisch: Homo Faber. Ein Bericht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977 (= Suhrkamp Taschenbuch 354) S. 7.
Im Folgenden werden Zitate der Primärliteratur in Klammern im laufenden Text durch Seitenzahl belegt.
[3] Reinhard Meurer: Max Frisch. Homo Faber. München: Oldenbourg Verlag 21988 (= Oldenbourg Interpreta-tionen; Bd. 13) S. 94.
[4] Walter Schmitz: Max Frischs Roman „Homo faber“. Eine Interpretation. In: Frischs „Homo Faber.“ Hg. von Walter Schmitz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983. S. 214.
[5] Manfred Jurgensen: Max Frisch. Die Romane. Interpretationen. Bern: A. Francke AG 21976. S. 107.
[6] Vgl. Manfred Leber: Vom modernen Roman zur antiken Tragödie. Interpretationen von Max Frischs „Homo Faber“. Berlin/New York: Walter de Gruyter 1990 (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker; N.F.: 93 = 217). S. 113.
[7] Wassili Loukopoulos: Max Frisch. Homo Faber. Eine Motivanalyse. – Heinrich von Kleist. Der Zweikampf. Die Stellung des Subjekts. Stuttgart: HochschulVerlag 1978 (= Hochschulsammlung Philosophie. Literatur-wissenschaft; Bd. 1). S. 25.
[8] Leber (1990), S. 116.
[9] Leber (1990).
- Quote paper
- Antje Wulff (Author), 2001, Die Bedeutung des Wetters in Max Frischs "Homo Faber", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123321
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