Immer mehr Menschen in Deutschland machen die Erfahrung, dass es schwieriger wird, eine Arbeit zu finden. Eine Arbeit, die oberhalb des Niedriglohns bezahlt wird, die sichere Zukunftsperspektiven eröffnet, mit der man sich identifizieren kann und die sich in die persönliche Lebensvorstellung integrieren lässt. Vielfach sind sie gezwungen, ihre Ansprüche an Arbeit und Leben zu senken. Manchen gelingt es, anderen nicht. Unsere Welt wandelt sich und nicht jeder kann und will sich dieser Wandlung anpassen.
Prekarität führt uns den Wandel der Wirtschaft und Gesellschaft vor Augen.
In dieser Arbeit möchte ich die Prozesse betrachten, die Prekarität begründen und selbst von ihr hervorgerufen werden. Wie ergeht es Menschen, die betroffen sind? Welche Anstrengungen müssen sie unternehmen, um im Arbeitsleben zu bestehen? Warum wandelt sich unsere Gesellschaft? Wie geht dieser Wandel voran? Welche Vorstellungen von Arbeit und Leben existieren eigentlich in der heutigen Zeit?
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
Erster Teil
2 Begriffsklärung: Was ist Prekarität
2.1 Definition nach Zahlen und Fakten
2.2 Beschreibung von Prekarität als Prozess und Phänomen
2.3 Beschreibung von Prekarität anhand sozialer und emotionaler Effekte
3 Ökonomische und politische Grundlagen für Prekarität
3.1 Finanzmarktkapitalismus
3.2 Das nachfordistische Produktionsmodell
3.3 Politischer Rahmen: Neoliberalismus und aktivierende Arbeitsmarktpolitik
4 Forschungsansätze, Lösungsangebote und Zukunftsmodelle
4.1 Statistische Betrachtungen und konkrete Untersuchungen
4.2 Lösungsvorschläge und Zukunftsmodelle
5 Exkurs: Prekarität und Öffentlichkeit
6 Die Folgen von Prekarität
6.1 Gesellschaftliche Auswirkungen
6.2 Individuelle Folgen
Zweiter Teil
7 Subjektives Erleben und Verarbeitung von Prekarität
7.1 Erforschung mit Hilfe des narrativen Interviews
7.2 Einleitung Interview I
7.3 Analyse Interview I
7.4 Einleitung Interview II
7.5 Analyse Interview II
8 Vergleich beider Interviews
9 Fazit: Vergleich der theoretischen Betrachtung mit dem subjektiven Erleben
Anhang
Interview I
Interview II
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Immer mehr Menschen in Deutschland machen die Erfahrung, dass es schwieriger wird, eine Arbeit zu finden. Eine Arbeit, die oberhalb des Niedriglohns bezahlt wird, die sichere Zukunftsperspektiven eröffnet, mit der man sich identifizieren kann und die sich in die persönliche Lebensvorstellung integrieren lässt. Vielfach sind sie gezwungen, ihre Ansprüche an Arbeit und Leben zu senken. Manchen gelingt es, anderen nicht. Unsere Welt wandelt sich und nicht jeder kann und will sich dieser Wandlung anpassen.
Prekarität führt uns den Wandel der Wirtschaft und Gesellschaft vor Augen.
In dieser Arbeit möchte ich die Prozesse betrachten, die Prekarität begründen und selbst von ihr hervorgerufen werden. Wie ergeht es Menschen, die betroffen sind? Welche Anstrengungen müssen sie unternehmen, um im Arbeitsleben zu bestehen? Warum wandelt sich unsere Gesellschaft? Wie geht dieser Wandel voran? Welche Vorstellungen von Arbeit und Leben existieren eigentlich in der heutigen Zeit?
Diese Betrachtung hat durchaus persönliche Beweggründe. Die „Generation Praktikum“ traut sich heute kaum noch, überhaupt an unbefristete Arbeitsverhältnisse zu denken. Der Einstieg ins Berufsleben muss zum Teil akribisch geplant werden und ist trotzdem nicht sicher. Gern darf man seine Arbeitskraft über Monate zum Spottpreis im Rahmen von Praktika anbieten. Die Belohnung ist dann aber keine Übernahme in ein festes Verhältnis, sondern dass man seinem Lebenslauf eine weitere Erfahrung zufügen darf, die sich angeblich irgendwann in Form eines Arbeitsvertrages auszahlen soll. Mit dem Abitur und einem hoffentlich bald abgeschlossenem Hochschulstudium habe ich rein theoretisch alles „richtig“ gemacht und sollte gute Voraussetzungen haben, um in der Zukunft zu bestehen. Trotzdem fällt es mir schwer, keine Ängste zu entwickeln. Damit gehöre ich zu eben jener Generation, die schon im Vorhinein, am Beginn des Arbeitslebens, befürchten muss, nicht den gewollten Weg gehen zu können. Es gibt einfach keine Garantien. Die Anforderungen an den Arbeitnehmer von heute sind anders als vor 30 Jahren. Sie zu überblicken und tatsächlich zu leisten, gleicht einer Art Experiment. Ob es überhaupt möglich ist, kann man kaum genau sagen, ob und wie das private Leben leiden wird ist auch unklar.
Was ist also Prekarität, welcher Zustand und welche Lebensbedingungen verstecken sich dahinter? Wie ist dieser Begriff zu umfassen?
In meiner Arbeit soll versucht werden, all diese Fragen zu beantworten. Nach der Begriffsklärung soll zunächst betrachtet werden, wie Prekarität entsteht. Welche ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Faktoren treiben die prekäre Entwicklung voran? Durch welche Mechanismen ändert sich die Lage der Arbeitnehmer, welchen Zwängen werden sie heute ausgesetzt und wie versuchen sie, sich der Lage entgegenzustellen? In einer Welt, in der von jedem verlangt wird, sich selbst als Einzelkämpfer zu betrachten entsteht eine Art von längst vergessener Konkurrenz. Diese soll angeblich bisher unentdeckte Potentiale freilegen und der wirtschaftlichen Entwicklung geben, was diese für weiteres ungehemmtes Wachstum braucht. Konkurrenz fordert aber auch Kosten. Es sind aber weder Staat noch Wirtschaft, die sich bereit erklären, diese Kosten zu tragen. Gefragt wird eigentlich niemand, aber letztlich leiden diejenigen, die sich den Bedingungen vollkommen unterwerfen müssen, und ganz einfach keine andere Wahl haben.
Die ökonomischen Verhältnisse haben sich verschoben, die Funktionen, die Erwerbsarbeit bisher erfüllte, jedoch nicht. Wir sind auf Arbeit angewiesen und werden nicht und wurden nie darauf vorbereitet, ohne sie zu existieren. Arbeit ist der wesentliche Bestandteil des Lebens, der Sicherheit schaffen und geben soll. Die Politik bemerkt diese anderen Bedingungen sicherlich. Doch wie sieht die Reaktion darauf aus? Wird der Versuch unternommen, prekären Verhältnissen entgegenzuwirken oder sind die Bemühungen eher kontraproduktiv? Welche Wirkung haben politische Maßnahmen auf diejenigen, die in irgendeiner Weise von Prekarität betroffen sind, fühlen sie sich vom Staat allein gelassen oder unterstützt?
Der Blick der Wissenschaft auf die Prekarität ist sehr unterschiedlich. Doch tragen vielfältige Methoden sicherlich zu einem ausdifferenzierten Gesamtbild bei. Methodisch wird die ganze Bandbreite der empirischen Sozialforschung geboten, von der Auswertung reiner Statistiken über quantitative Massenerhebungen bis hin zu konkreten Befragungen. Da alle Herangehensweisen ihren Sinn haben, sollen sie auch vorgestellt werden. Statistiken sind in der Lage, ein Problem auf seine Ausbreitung innerhalb der Gesellschaft hinzu untersuchen. Wenn man auch genaue Zahlen anzweifeln kann, sind doch trotzdem Trends zu entdecken, ob prekäre Bedingungen mehr oder weniger Menschen betreffen. Die Befragung größerer Gruppen kann helfen, das Problem besser zu charakterisieren, z.B. zu betrachten, wie sich Einstellungen ändern. Eine Einzelbefragung ist schließlich in der Lage, Verarbeitungsformen und -weisen aufzuzeigen. Alle erkennen Prekarität als wachsendes Problem und versuchen, auch daraus resultierende Lösungsvorschläge abzuleiten.
Die Wirkungsmacht der Massenmedien möchte ich auch nicht unerwähnt lassen. Prekarität breitet sich durch ihre Mithilfe aus. Unser Bild der Gesellschaft wird über Medien vermittelt, und somit auch die Ängste und Vorurteile, die mit Prekarität einhergehen. Zwar gibt es inzwischen immer
wieder Sendungen im Fernsehen, die das Thema durchaus kritisch aufgreifen, doch leider eher auf Sendern, die den fragwürdigen Geschmack der Masse nicht treffen. Diejenigen, die die Beachtung der Masse auf ihrer Seite haben, sorgen leider dafür, das Ängste, Befürchtungen und Stigmatisierungen vermehrt werden.
Meine Arbeit besteht aus zwei Teilen. Im letzten Kapitel vom ersten Teil möchte ich betrachten, welche persönlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen Prekarität laut der Theorie haben kann. Ich denke, Prekarität betrifft längst nicht nur diejenigen, die eine prekäre Tätigkeit ausüben. Sie strahlt in die gesamte Gesellschaft aus und erfasst alle Teile der Bevölkerung, die auf Erwerbsarbeit angewiesen ist. Zum Drama wird Prekarität dann, wenn sie den Einzelnen zu stark verunsichert und sein gesamtes Leben beeinflusst. Sicherlich gibt es Menschen, die sich einstellen können, oder deren Ansprüche mit den veränderten Anforderungen vereinbar sind. Wie aber ergeht es denen, die Prekarität voll und ganz zu spüren bekommen? Was sind die ganz persönlichen Folgen? Meiner Meinung nach ist es im Endeffekt gar nicht so wichtig, wieviele Menschen genau unter den Bedingungen zu leiden haben. Es reicht doch eigentlich, wenn auch nur ein einziger Mensch Zwängen ausgesetzt ist, die er nicht verkraften kann.
Im zweiten Teil möchte ich deshalb untersuchen, inwieweit die theoretisch erdachten Formen der Erfahrung und Verarbeitung von Prekarität im Einzelfall zutreffen. Dazu wurden zwei Personen betreffs ihres Arbeitslebens mit Hilfe des narrativen Interviews befragt. Diese Art der Befragung sollte es mir ermöglichen, Rückschlüsse auf ihre Erfahrungen, ihre Verarbeitung, ihr Weltbild und Selbstbild zu ziehen. Ich denke, dass Prekarität die Sicht eines Menschen auf sich und die Welt ändert. Diese ganz persönlichen Veränderungen werden auch eine Grundlage für gesellschaftliche Umbrüche sein. Die subjektive Verarbeitung von prekären Verhältnissen wird bei jedem Einzelnen unterschiedlich sein. Je nachdem, welche Möglichkeiten und Ressourcen zum Ausgleich zur Verfügung stehen, werden sich eventuelle negative Folgen erst bemerkbar machen. Dabei dienen die Interviews zu aller erst zur Klärung, wie genau Prekarität erlebt und gelebt wird und wie sie das Leben beeinflusst. Im Vergleich beider Interviews soll annähernd geprüft werden, wie weitreichend Unsicherheit das Verhalten und die Weltsicht ändern kann.
Letzten Endes ist es möglich, nachzuvollziehen inwieweit die theoretischen Voraussagen über die ganz persönlichen Folgen von Prekarität mit meinen empirischen Daten übereinstimmen.
Erster Teil
2 Begriffsklärung: Was ist Prekarität
Der Begriff Prekarität wird auf vielen Wegen definiert. Eine erste Orientierung bieten meist Fakten, die sich augenscheinlich objektiv messen und bewerten lassen. Als Norm gilt gemeinhin das althergebrachte unbefristete und sozialversicherungspflichtige Anstellungsverhältnis mit einem angemessenen Lohn und absichernden Arbeitnehmerrechten. Eine tiefergehende Charakterisierung erfährt der Begriff, wenn Prekarität als Phänomen bzw. als Prozess betrachtet wird und somit die Aufmerksamkeit auch auf persönliche und gesellschaftliche Folgen und Wirkungen gelenkt wird. Aus dem Blickwinkel der individuellen Erfahrung von Prekarität spielen schließlich auch emotionale Effekte und das subjektive Empfinden von Prekarität eine Rolle.
2.1 Definition nach Zahlen und Fakten
Aus einer eher abstrakten Sicht gilt Arbeit hauptsächlich dann als prekär, wenn sie unter dem Durchschnittseinkommen entlohnt wird oder mit lediglich geringen Arbeitnehmerschutzrechten einhergeht. Im Gegensatz dazu wäre „Normalarbeit“ eine unbefristete Vollzeitbeschäftigung mit einem existenzsichernden Einkommen1. Monika Schwarz sagt es noch reduzierter: „Prekär ist ein Arbeitsverhältnis dann, wenn trotz Erwerbstätigkeit Einschränkungen bezüglich der sozialen Sicherung hingenommen werden müssen.“2 Diese Definitionen greifen jedoch zu kurz. Offensichtlich muss man in jedem Fall genau zwischen „prekär“ und „Prekarität“ unterscheiden. Man kann auf diese Weise sicherlich annähernd eine prekäre Arbeit beschreiben, hinter dem Begriff Prekarität steht jedoch immer ein Mensch, bzw. eine ganze Lebensweise. Man braucht sich nur den gern angeführten Unterschied zwischen der „Hausfrau“, die sich nebenbei etwas dazuverdient und dem Familienvater, der sich von einem Minijob zum anderen hangelt, vor Augen führen. Ein wesentliches Merkmal sollte also sein, ob und inwiefern man auf diese Arbeit angewiesen ist, wie dieser Zustand also persönlich erlebt wird.
2.2 Beschreibung von Prekarität als Prozess und Phänomen
Eine wesentliche Charakteristik der Prekarität ist die ihr sozusagen innewohnende Dynamik. Prekäre Arbeitsverhältnisse verändern nicht nur das Leben der Prekarier an sich, sie üben auch Druck auf den restlichen Arbeitsmarkt aus. Castel nennt es „...weder etwas Marginales noch etwas Temporäres. Es ist ein stabiles, chronisches, objektives Phänomen.“3 Damit meint er vor allem, dass Prekarität nicht nur den Rand der Gesellschaft betrifft. Sie wirkt auf den gesamten Rest zurück und auch auf zukünftige Bedingungen. Wenn ein Lohn z.B. zu gering ist, um die Reproduktion der Arbeitskraft an sich zu gewährleisten, kann man sich leicht vorstellen, dass eine Art Teufelskreis beginnt, der sich sowohl auf den einzelnen Arbeiter selbst als auch auf die gesamte Volkswirtschaft negativ auswirken kann, denn die Qualität und auch die Quantität der so geleisteten Arbeit kann auf längere Sicht gar nicht aufrecht erhalten werden.
Dörre spricht in diesem Sinne auch von Desintegrations- und Integrationspotentialen der Prekarität. Diese erstrecken sich auf fünf Ebenen. Aus reproduktiv-materieller Sicht gibt es bei prekärer Arbeit keine die Existenz sichernde Vergütung. Sozial-kommunikativ betrachtet schließt eine solche Arbeit die gleichberechtigte Integration in soziale Netze aus. Rechtlich-institutionell geht der volle Genuss fest verankerter sozialer Rechte wie gesetzliche Tarife, Mitbestimmung, Kündigungsschutz oder auch die Rentenversicherung verloren. In der Status- und Anerkennungsdimension fehlt dem Prekarier eine gesellschaftliche Positionierung oder er sieht sich gleich völliger Missachtung gegenüber. Schließlich geht mit der arbeitsinhaltlichen Dimension ein dauerhafter Sinnverlust oder aber auch eine krankhafte Überidentifikation mit der Arbeit einher, wie Burn-out-Syndrome, Entspannungsunfähigkeit oder auch der Verlust des Privatlebens.4
2.3 Beschreibung von Prekarität anhand sozialer und emotionaler Effekte
Das wesentlichste Merkmal der Prekarität stellt meines Erachtens aber die Unsicherheit dar. Der Prekarier wird vielfältig mit Unsicherheit konfrontiert. Er kann sich weder dem Erhalt seines Arbeitsplatzes sicher sein, noch dass er im Falle erneuter Arbeitslosigkeit in der Lage ist, eine neue Beschäftigung zu finden. Weiterhin besteht oftmals die Sorge, am Monatsende auch tatsächlich den erarbeiteten Lohn zu bekommen, man bedenke auch jene, die gezwungen sind, schwarz zu arbeiten und damit keinerlei rechtlichen Anspruch auf ihren Lohn haben. Die Unsicherheit erstreckt sich auch weiter auf die gesamte Zukunftsplanung, schließlich fehlt es oft an jeglichen Reserven oder dem sogenannten „Ruhekissen“, welches es ermöglichen würde, in Ruhe nach einem besseren Arbeitsplatz zu suchen oder sich ganz neue Perspektiven zu eröffnen5. Dörre beschreibt es so:„Aufgrund der Diskontinuitäten des Beschäftigungsverhältnisses besitzen die „modernen Prekarier“ keine Reserven, kein Ruhekissen. Sie sind die ersten, denen in Krisenzeiten Entlassungen drohen. Ihnen werden bevorzugt die unangenehmen Arbeiten aufgebürdet. Sie sind die Lückenbüßer, die „Mädchen für alles“, deren Ressourcen mit anhaltender Dauer der Unsicherheit allmählich verschlissen werden.“6
Weiterhin gilt Prekarität als ökonomischer, gesellschaftlicher und psychischer Nährboden, nicht nur für Verunsicherung, sondern auch für Existenzangst und Resignation, bis hin zur gesellschaftlichen Entkopplung, politischen Orientierungslosigkeit und sogar ideologischer Fundamentalisierung7.
Durch die oben genannte Dynamik erstreckt sich Unsicherheit aber auch auf jene, die zumindest von diesen Ängsten nicht geplagt werden: „Die Existenz einer beträchtlichen Reservearmee,..., flößt jedem Arbeitnehmer das Gefühl ein, dass er keineswegs unersetzbar ist und seine Arbeit, seine Stelle gewissermaßen ein Privileg darstellt. ... Die objektive Unsicherheit bewirkt eine allgemeine subjektive Unsicherheit, welche heutzutage mitten in einer hoch entwickelten Volkswirtschaft sämtliche Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen unter ihnen in Mitleidenschaft zieht, die gar nicht oder noch nicht direkt von ihr betroffen sind.“8 Bourdieu entwickelt in diesem Sinne den Begriff der „Flexploitation“, der den zweckrationalen Gebrauch beschreibt, der inzwischen mit der Unsicherheit gemacht wird9.
Das subjektive Empfinden von Prekarität wir vor allem durch das Verhältnis zwischen der Erwerbslage und dem Arbeitsbewusstsein bestimmt10. Wesentlich sind die Ansprüche, die der einzelne mit seiner Arbeit verbindet. Ursprünglich wurden Arbeitsverhältnisse, die heute als Mini- und Midijobs bezeichnet werden, für Menschen gedacht, die diesen nicht wirklich benötigen, um ihre Existenz damit aufzubauen oder zu sichern. Ich muss mich wohl wiederum auf die „Hausfrau“, oder auch den Studenten beziehen, die ihre bestehende Grundsicherung, sei es das Gehalt des Ehemannes oder auch Bafög, lediglich aufbessern möchten. Heute sind jedoch auch viele Menschen gezwungen, mit prekärer Arbeit ihren gesamten Lebensunterhalt zu bestreiten. Im Interview weiter unten wird dies noch sehr deutlich werden, denn derjenige, der seine Arbeit tatsächlich als prekär erlebt, erfährt das Fehlen von sozialer Absicherung, Anerkennung und auch subjektiv als sinnvoll betrachtete Beschäftigung, also den „sozialen Abstand zur angestrebten Normalität“11 als besonders schweren Verlust.
Jedoch spielt bei prekären Lebensweisen nicht immer nur die sogenannte atypische Beschäftigung in die emotionale Erfahrung hinein, häufig ist auch, zumindest phasenweise, Arbeitslosigkeit ein wichtiger Faktor:„Beinahe überall hat sie die identischen Wirkungen gezeitigt, die im Extremfall der Arbeitslosen besonders deutlich zutage treten: die Destrukturierung des unter anderem seiner zeitlichen Strukturen beraubten Daseins und der daraus resultierende Verfall jeglichen Verhältnisses zur Welt, zu Raum und Zeit. Prekarität hat bei dem, der sie erleidet, tief greifende Auswirkungen. Indem sie die Zukunft überhaupt im Ungewissen lässt, verwehrt sie den Betroffenen gleichzeitig jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allen Dingen jenes Mindestmaß an Hoffnung und Glauben an die Zukunft, das für eine vor allem kollektive Auflehnung gegen eine noch so unerträgliche Gegenwart notwendig ist.“12 Verstärkt wird Bourdieus Argument der unmöglichen kollektiven Auflehnung durch die Beobachtung, dass es den Prekariern an Gemeinsamkeiten fehlen soll. Sie verfügten eben nicht über eine gemeinsame Arbeitszeit, einen gemeinsamen Ort oder eine gemeinsame Handlung13. Die Abstufungen zwischen einem subproletarischen und hochqualifizierten Prekariat seien das größte Hindernis für solidarische Aktionen und die Formulierung gemeinsamer sozialer Forderungen.
3 Ökonomische und politische Grundlagen für Prekarität
Das Phänomen der Prekarität ist ein deutliches Indiz dafür, dass sich die gewohnten ökonomischen Verhältnisse geändert haben. Soziale Rechte und gute Arbeitsbedingungen mussten hart erkämpft werden, haben aber dazu geführt, dass sich ein bestimmtes Bild von Arbeit, bzw. Erwerbsarbeit in unseren Köpfen manifestiert hat. Arbeit galt als Institution, als „soziales Eigentum“14, welches zur Existenz- und Statussicherung beiträgt. Mit Hilfe von Rentenansprüchen, Kündigungs- und Arbeitsschutz, Mitbestimmungsrechten und verbindlichen tariflichen Normen wurde ein „Bürgerstatus“15 erschaffen, der „zwar besitzlosen Klassen und Gruppen trotz fortbestehender Ungleichheiten zu einem respektierten Status in der Gesellschaft verhalf“16. Es war möglich, anhand der eigenen Erwerbsarbeit auf einen langsamen aber stetig besser werdenden Lebensstandard zu hoffen. Seit den 80er Jahren hat sich dieses Bild jedoch gewandelt.
Als Grundlage dieses Wandels möchte ich in diesem Abschnitt die ökonomischen Verhältnisse näher beleuchten, die diesen Trend verursachen. Aber auch die politischen Rahmenbedingungen gilt es zu betrachten. In der Literatur sind hauptsächlich zwei verschiedene Lager zu finden. Die einen, wie z.B. Dörre legen besonderes Augenmerk auf den sogenannten Finanzmarktkapitalismus, der dafür verantwortlich zeichnet, dass ein neues „Produktionsregime“ entsteht, das nachfordistische Produktionsmodell. Andere, wie z.B. Bourdieu klagen laut und deutlich vor allem die politischen Rahmenbedingungen an, die in diesem Sinne durch den Liberalismus, bzw. Neoliberalismus geschaffen werden.
Naheliegend wäre an diesem Punkt auch ein Blick auf die Globalisierung, welche jedoch sehr unterschiedlich Beachtung findet, wie im weiteren dann beschrieben.
3.1 Finanzmarktkapitalismus
Um die besondere Dynamik des Finanzmarktkapitalismus zu beschreiben, wurde der Begriff der neuen „Landnahme“ geprägt. Diese integriert nach außen hin ganze Subkontinente in den Weltmarkt und konzentriert sich nach innen hin auf eine weit umfassendere Nutzung des menschlichen Arbeitsvermögens und geht ebenfalls mit einer Einschränkung, Beschneidung oder auch gar der Beseitigung von Sozialeigentum einher: „Unter dem Druck finanzmarktgetriebener Konkurrenzen sorgen kapitalmarktorientierte Steuerungsformen von Konzernen, die Führung dezentraler Einheiten mittels Gewinnvorgaben und ständiges Benchmarking für eine Verstetigung von Wettbewerbssituationen im Inneren der Unternehmen. Sämtliche Schutzmechanismen von der tariflichen Begrenzung der Wochenarbeitszeiten bis hin zum arbeitsrechtlich garantierten Kündigungsschutz, also Kernbestände von „Sozialeigentum“, werden tendenziell zum Zielobjekt entgrenzender Verwertungsstrategien.“17
Der Unterschied zwischen dem früheren Kapitalismus und dem Finanzmarktkapitalismus von heute ist, dass man von einer Machtverschiebung zugunsten der Finanzmärkte sprechen kann. Mit der Spekulation auf Aktien wird viel Geld verdient, und da Aktien Beteiligungen an einem Unternehmen sind, wächst so stetig der Einfluss der Finanzmärkte auf die Strategien und Strukturen der Unternehmen. Grundsätzlich sind Aktien vielleicht unproblematisch, wenn sie dazu dienen, sich an einem Unternehmen zu beteiligen und in dieses zu investieren, damit auf längere Sicht größere Gewinne erwirtschaftet werden können. Das ist heute jedoch immer seltener der wirkliche Grund, an der Börse zu spekulieren. Sahra Wagenknecht spricht von einem Übergewicht der reinen Finanzbewegungen, nur rund zwei Prozent der globalen Geldtransaktionen hätten noch irgendeinen Bezug zum realen Welthandel, alles andere diene nur Spekulationen und Arbitragegeschäften18. Dies bedeutet, dass es den Spekulanten lediglich um eine möglichst maximale Rendite geht, und das in möglichst kurzer Zeit. Bekannt ist das Phänomen auch als „neues Produktionsregime“,
„shareholder value“, oder „investor capitalism“19. Sämtlich Begriffe bedeuten, dass längerfristige Strategien eines Unternehmens im Gegensatz zu der gewünschten kurzfristigen Steigerung der Rendite stehen können. Die eigentlichen Eigentümer, die Besitzer der Aktien, sind in der Lage, großen Druck auszuüben und Entscheidungen zu beeinflussen, jedoch werden die Konsequenzen der Entscheidungen nur so lange interessant sein, bis die gewünschte Rendite erwirtschaftet wurde. Ob dabei Arbeitsplätze abgebaut wurden oder Arbeitsbedingungen verschlechtert wurden ist höchstens zweitrangig. Durch Aktien-Optionen orientiert sich auch das Interesse der Manager eben nicht länger an der langfristigen Entwicklung des Unternehmens, sondern eher an der kurzfristigen Manipulation von Aktienkursen. Windolf findet dafür sehr starke Worte: „Darin ist die perverse Anreizstruktur des Finanzmarktkapitalismus begründet.“20
Durch die weltweite Ausweitung der Finanzmärkte ist ein verstärkter ökonomischer Wettbewerb entstanden, der auch globale Interdependenzen hervorgerufen hat. Einzelne Unternehmen sehen sich somit auch größerer Konkurrenz gegenüber, die Reaktion darauf ist dann die Konzentration auf Flexibilität als Mittel der Wahl, um im Wettbewerb bestehen zu können21. Und flexibel gestalten lässt sich inzwischen vieles. Angefangen von der Anzahl der Arbeiter oder Angestellten, über die Höhe der Entlohnung bis hin zur Arbeitszeit und den Arbeitsbedingungen. Auch lassen sich einzelne Produktionszweige in andere Städte, Länder oder gar Kontinente verlagern. Große Unternehmen sind heute eher dezentralisiert, das know-how oder die Verwaltung werden vielleicht noch in hoch industrialisierten Ländern bewerkstelligt, aber produzieren lässt sich woanders sicherlich günstiger.
Für den Wohlfahrtsstaat ist diese Entwicklung eine Bedrohung. Sehr anschaulich spricht Castel in diesem Sinne von „Schockwellen“, die sich ausgehend von den veränderten Bedingungen an den Finanzmärkten in den Unternehmensstrategien und Organisationsformen wie eben beschrieben festsetzen und dann dazu beitragen, die institutionellen Stützpfeiler des Wohlfahrtsstaates zu unterspülen22. Das Fundament dieser Stützpfeiler bildet die Erwerbsarbeit, aber nur so lange, wie sie z.B. mit der Sozial- oder Arbeitslosenversicherung zusammenspielt. Wird aber genau diese Form der Arbeit im Zuge erhöhter Flexibilisierung weiter verdrängt, kann auch der Wohlfahrtsstaat nicht funktionieren.
Aus der Sicht des Arbeiters oder Angestellten ist nicht unbedingt der Wohlfahrtsstaat gefährdet, sondern die eigene Existenz: „Erwerbsarbeit, die unter dem Gesetz der Reichtumsvermehrung durch Kapitalakkumulation steht, kann aber weder für alle Erwerbstätigen, schon gar nicht für die Nicht-Erwerbstätigen, einen angemessenen Lebensstandard garantieren noch eine materiell und sozial abgesicherte Zukunftsperspektive.“23
Innerhalb des Finanzmarktkapitalismus wird die Arbeit wieder zur Ware. Der Prekarier muss seine Arbeitskraft im wahrsten Sinne des Wortes zu Markte tragen und sich dabei sämtlichen Bedingungen des Arbeitgebers unterordnen, denn er kann sich sicher sein, dass es immer einen anderen geben wird, der sich ebenfalls unterordnet. Die Tendenz zur Rekommodifizierung kann man gewissermaßen als Funktionsbedingung des Finanzmarktkapitalismus sehen24. Innerhalb des Systems wird der Warencharakter der Arbeitskraft immer stärker, während marktbegrenzende Institutionen und Regulationen an Kraft verlieren. Als Folge von Rekommodifizierung und kapitalmarktorientierter Steuerung der Unternehmen steigt die Konkurrenz unter den Angestellten und Arbeitern weiter an. Sie ist „...der entscheidende Hebel, um neben Arbeitsformen, Arbeitszeiten und Entgelten auch die Beschäftigungsverhältnisse zu flexibilisieren.“25 Es werden also an Angestellte und Arbeiter inzwischen ganz andere Forderungen gestellt. Früher galt es, möglichst verlässlich, diszipliniert, treu und sesshaft zu sein. Heute ist aber eher das Modell des „employable man“ gefragt: „Der marktgängige Arbeitnehmer ist geografisch mobil und beruflich flexibel und weiß dies mit seinen privaten Lebensarrangements in Einklang zu bringen, welche dadurch tendenziell auch den Charakter von zeitlich begrenzten Projekten annehmen.“26 Wie sieht dann der Arbeitnehmer aus, den sich die Unternehmen wünschen? Schultheis hat in diesem Sinne einen Prototypen entwickelt:
Homo McKinnseyanus
Alter: 25-30 Jahre Geschlecht: Männlich
Qualifikation: Abschluss an einer renommierten Hochschule, hohes kulturelles Kapital Zivilstand: Mehrheitlich unverheiratet, sonst weit mehrheitlich kinderlos
Lebensstil: Hohe geografische Mobilität (modernes Nomadentum), hohe zeitliche Disponsibilität, Pluri-Kompetenz und funktionale Flexibilität
Arbeitsstil: Anstellung in zeitlich begrenzten Projekten (befristete Arbeitsverträge), nach Abschluss jeden Projektes kritische (Selbst-) Evaluation und Möglichkeit, Konsequenzen zu ziehen und sich zu trennen, häufiger Wechsel des Arbeitgebers, extrem hohe Beanspruchung (Zeit, Energie,...) bei laufenden Projekten (totales Engagement mit Leib und Seele hohes Einkommen und attraktive Boni, exzellente künftige Berufschancen auf dem Arbeitsmarkt (oft bei Unternehmen, die man zuvor
„beriet“27. Sesshaftwerdung im mittleren Alter. Ausgeprägter Corps-Geist und Pflege des Sozialkapitals (Seilschaften))28
Ich denke, dieser Steckbrief macht deutlich, dass es sehr schwer ist, die modernen Anforderungen zu erfüllen. Sicherlich gibt es einige Menschen auf dieser Welt, die das bewerkstelligen können, jedoch kann das für die Masse nicht gelten. Allen voran zum Beispiel die „Masse“ der Frauen. Grundlage dieses Typus ist das hohe Niveau der Ausbildung, mit entsprechendem finanziellem Hintergrund, der einem den Einstieg ins Berufsleben, die nötige Qualifikation, erst ermöglicht. Es eröffnet sich also eine Art elitärer Club, von dem doch viele ausgeschlossen bleiben. Unabhängig von der hohen Qualifikation gelten diese Ansprüche aber auch für die Prekarier. Diese müssen jedoch meist ohne das hohe Einkommen und sonstige Belohnungen auskommen. Und wer nicht bereit oder in der Lage ist, praktisch sein ganzes Leben diesen Ansprüchen unterzuordnen, kann im System kaum bestehen. Schließlich sind ganz herkömmliche Lebensbestandteile wie Familie,
Freunde, Freizeit und Hobbys oder einfach auch eine private Erfüllung außerhalb des Berufslebens in diesem System nicht unbedingt vorgesehen.
Grundsätzlich könnten Gewerkschaften und Betriebsräte an dieser Stelle eingreifen und helfen, dass mögliche Folgen abgemildert werden, jedoch gelten genau die prekär Beschäftigten meist als jene, die am wenigsten gewerkschaftlich organisiert sind und somit über keine Institution verfügen, die ihre Interessen wahrnehmen könnte. Die Macht von Gewerkschaften ist aber begrenzt. Über Staatsgrenzen hinaus kann zumindest eine Gewerkschaft allein keine Wirkung entfalten. Droht ein Unternehmen also an, im Falle von zu wenig Flexibilität seitens der Angestellten notfalls ins Ausland zu gehen, sehen sich besagte Angestellte einer weit größeren Konkurrenz gegenüber als die der „Reservearmee“ im eigenen Land. Auslandsinvestitionen und -Produktionen können durchaus von den Unternehmen dazu genutzt werden, um Druck auf einheimische Gewerkschaften und Interessenvertretungen auszuüben. Lohn- und Arbeitszeitstandards werden auch in Frage gestellt, denn innerhalb einer Verhandlung mit Gewerkschaften oder Interessenvertretungen genügt „...schon der Hinweis auf das Trumpf-As Globalisierung, um Geschäftsleitungen, Betriebsräte, Gewerkschaften oder auch politische Entscheidungsträger gefügig zu machen.“29
Abgesehen von der Tatsache der schwer erfüllbaren Ansprüche an den Arbeitnehmer sieht dieser sich mit einer weiteren Problematik konfrontiert. Arbeit bildete lange Zeit den Grundpfeiler der sozialen Sicherung und, was ebenfalls immanent wichtig ist, sie war auch die Grundlage für die Bestimmung der eigenen Position in der Gesellschaft. Sicherlich muss man an dieser Stelle sagen, dass diese Art der Positionsbestimmung größtenteils für Männer galt, es also schon immer eine Gruppe, die der Frauen gab, die sich mit anderen Mitteln ihren Platz in der Gesellschaft suchen musste. Um nicht zu weit abzuschweifen würde ich aber sagen, dass es in dieser Zeit auch andere Rollenbilder und -Verhältnisse gab, weshalb es vielleicht nicht so „schlimm“ war, dass sie andere Wege nutzen mussten, bzw. konnten. Abgesehen davon war es aber eben möglich, mit Hilfe von Erwerbsarbeit eine Art gesellschaftlicher und auch selbst erlebter Anerkennung zu finden. Gesellschaftliche Anerkennung gab es sicher, wenn man sich lange Zeit in einem Unternehmen verdient gemacht hat, oder innerhalb diesem aufsteigen konnte und somit eine bestimmte Position bekleidete, die mit einem gewissen Status einherging. Nicht umsonst wurden oder werden auch noch Mitarbeiter, die das größte „Dienstalter“ aufweisen besser bezahlt als jene, die erst neu dazu kommen. Mit selbst erlebter Anerkennung meine ich auch, dass man ganz einfach durch eine angemessene Entlohnung eine Wertschätzung der erbrachten Arbeit erfährt. Man kann sich leicht vorstellen, dass beide Formen der Anerkennung dem durchschnittlichen Prekarier verwehrt bleiben.
Kraemer/Speidel sprechen in diesem Zusammenhang davon, dass Arbeit eben zwar einen Wandel erfährt, sie aber in unseren Köpfen immernoch die althergebrachte „soziale Relevanz“30 hat. Sie ist weiterhin mit dem gesellschaftlichen Status eng verbunden, kann aber von immer weniger Menschen erreicht werden: „Stabile und auf Dauer gestellte Erwerbschancen sind nicht nur eine wichtige Möglichkeitsbedingung für ökonomische Integration, sondern zugleich auch konstitutiv für alltagspraktische und symbolische Teilhabechancen an den pluralen Optionen der materiellen Kultur.“31 Wenn es andere Möglichkeiten gäbe, in unserer Gesellschaft Anerkennung zu finden, wäre das nicht so problematisch, aber es gibt ja eher die Tendenz, Menschen ohne „richtigen“ Job als Schmarotzer zu betrachten, was im weiteren aber noch näher erläutert wird.
3.2 Das nachfordistische Produktionsmodell
Im System des Finanzmarktkapitalismus passen sich die Unternehmen in der Art und Weise an, dass inzwischen ein neues Produktionsmodell entstanden ist. Der Vorgänger, das fordistische Produktionsmodell zeichnete sich durch eine weiterentwickelte Arbeitsteilung und Massenproduktion aus. Die Arbeit am Laufband war der entscheidende Faktor. Ein einzelner Arbeiter musste nicht länger sämtliche Schritte der Produktion bewerkstelligen können, es reichte ein kleiner Teil, in dem er sich dann aber besser auskannte als jeder andere und der ihm somit sehr schnell gelang. Durch die Masse der produzierten Güter und die relativ günstigen Herstellungskosten sollte eben auch jener Arbeiter selbst in der Lage sein, die von ihm produzierten Güter zu konsumieren. Dies gelang zum einen dadurch, das die Kosten gesenkt wurden und zum anderen, dass der Arbeiter auch einen entsprechenden Lohn erhielt. Ich denke, die Entwickler dieser Produktionsweise waren vielleicht ein wenig weitsichtiger als heute. Schließlich muss jedes produzierte Gut auch irgendwo einen Käufer finden, wenn man aber die Kaufkraft der Masse immer weiter senkt, schadet man sich eigentlich nur selbst. Die fordistische Produktionsweise war also in jedem Fall darauf ausgelegt, sich zumindest der Kaufkraft der Arbeiter anzupassen, indem günstiger produziert wurde, und in Masse konsumiert wurde. Sicherlich gibt es heute immernoch Massenproduktion, die auch darauf bestrebt ist, nebenbei die Kosten zu senken, aber anscheinend hat sich das Verhältnis zwischen Kaufkraft und Konsum verschoben. Durch eine fordistische Produktionsweise wurde der Konsum angeregt, man könnte auch sagen, dass sie überhaupt nur auf
der Grundlage des ausgeweiteten Konsums funktioniert hat. Heute ist die Art der Produktion jedoch dermaßen, sicher auch auf dieser Grundlage, weiterentwickelt, dass sich die Entscheidungsträger nur einer Möglichkeit gegenüber sehen, die Kosten weiter zu senken, nämlich die des Lohnes. Das ist aber genau der Faktor, der früher das ganze System am laufen hielt und der, wie oben bereits angedeutet auch das System Wohlfahrtsstaat erst begründen konnte. Ich denke, wenn immer weiter versucht wird, die Kosten für den Lohn zu senken, dadurch, dass man den Arbeitern und Angestellten schlichtweg weniger bezahlt oder auch durch Beschäftigungsverhältnisse ohne Sozialversicherungspflicht, werden zwei folgenschwere Ergebnisse sichtbar. Neben dem Abbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates, weil dieser einfach nicht länger finanziert werden kann: „Der alte fordistische Nexus aus Managementkonzepten, Firmenorganisation, Bildungssystem und Arbeitsbeziehungen, die in einem überwölbenden sozialstaatlichen Basiskompromiss eingebettet sind, wird irreversibel aufgebrochen.“32 Auch wird die Wirtschaft immer größere Anstrengungen unternehmen müssen, sich neue Absatzmärkte zu erschließen, denn dem eigenen hat man bereits einen Großteil der Kaufkraft genommen. Da die Welt aber nunmal nicht unendlich groß ist, wird auch diese Erschließung eines Tages ein Ende finden und, vorausgesetzt es produzieren immer mehr Unternehmen auf die nachfordistische Art und Weise, werden sie schlichtweg keinen Käufer mehr für ihre Waren finden und können daran eigentlich nur zugrunde gehen. Sicherlich ist diese Vision sehr dunkel und pessimistisch, aber der eingeschlagene Weg ist eben auch sehr bedenklich. Noch können zwar Gewerkschaften und Betriebsräte ihr Mitbestimmungsrecht geltend machen und Interessen wahrnehmen, die z.B. von der Politik immer öfter den wirtschaftlichen Strategien untergeordnet werden. Doch wie wird die Entwicklung voranschreiten, wenn bevorzugt Arbeiter und Angestellte eingestellt werden, die keine starke Gewerkschaft hinter sich wissen, oder wenn sich noch mehr Firmen weigern, ihren Mitarbeitern einen Betriebsrat zuzugestehen?
Dörre beschreibt diese Entwicklungen folgendermaßen: „In mikropolitische Entscheidungsprozesse übersetzt, führt das offenbar dazu, dass sich Anstrengungen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit zunächst auf jene Faktoren beschränken, die am leichtesten beeinflussbar erscheinen: auf Arbeitskosten, Löhne, Sozialstandards, Arbeitszeiten sowie auf das Beschäftigungsvolumen. Dadurch geraten jene Spielregeln und Kompromißgleichgewichte unter Druck, die in der Arena organisierter Arbeitsbeziehungen ausgehandelt werden.“33 Mit dieser Tendenz zur Rekommodifizierung kehrt dann wiederum ein gewisses Maß an Unsicherheit mitten in die Gesellschaft zurück, die eigentlich geglaubt hatte, es mit Hilfe der sozialstaatlichen Errungenschaften überwunden zu haben.
Unternehmen, die ihre Arbeits- und Produktionsweise auf diese Art anpassen, sind zwar in der Lage eine „Flexibilisierungsarbitrage“34 zu erzielen, mit der sie jedoch nur flüchtige Wettbewerbsvorteile erreichen können. Vorher angepriesene Wohlfahrts- und Beschäftigungseffekte treten dann doch nicht ein und so findet sich nur ein weiterer Grund, noch umfassender zu flexibilisieren und zu deregulieren35, was jedoch nicht der Gipfel der Weisheit sein kann: „Wo sich die Abschaffung der Stechuhr als Instrument zur Leistungsintensivierung entpuppt, wo Stress und Gesundheitsgefährdung aus flexiblen Arbeitszeiten und -formen herrühren, die Arbeitsroutine gerade nicht aufkommen lassen sollen und wo die Diskontinuität von Projektarbeit zur psychologischen Dauerbelastung wird, versagt ein Instrumentarium, das entwickelt wurde, um die Restriktionen industrieller Produktionsarbeit aufzubrechen.“36
Weiterhin entsteht in der nachfordistischen Arbeitsgesellschaft eine neue Hierarchie. Die Sicherheit, die Beschäftigung auf lange Sicht behalten zu können, die Sicherheit, die mit einem angemessenen Einkommen einhergeht und jene, die der errungene Status mit sich bringt, nehmen so gesehen von oben nach unten ab. Die Identifikation mit der eigenen Tätigkeit und die damit verbundene soziale Anerkennung sind ebenfalls eher einer Gruppe vorbehalten, die sich weniger flexibel oder auch prekär durchs Leben schlagen muss.37 Auch die Zugehörigkeit zu sozialen Netzen ist umso schwieriger aufrecht zu erhalten oder überhaupt zu erlangen, wenn man häufiger den Arbeitsplatz oder den damit verbundenen Wohnort wechseln muss. Auch die Teilhabe an vielen kulturellen Veranstaltungen, sei es die Mitgliedschaft in einem Verein, der Abend in der Kneipe oder das gemeinsame Erlebnis im Kino oder Theater sind mit finanziellen und auch zeitlichen Kapazitäten eng verknüpft. Wie wichtig diese sozialen Netzwerke vor allem im Falle von Arbeitslosigkeit sind, wird sicherlich auch daran deutlich, dass der Begriff „Vitamin B“ doch eigentlich jedermann vertraut ist und viele bestätigen, dass dies die sicherste Methode ist, an einen neuen Arbeitsplatz zu kommen.
3.3 Politischer Rahmen: Neoliberalismus und aktivierende Arbeitsmarktpolitik
In der Theorie herrschen vernehmlich zwei sehr verschiedene Möglichkeiten, mit deren Hilfe die Politik die Wirtschaft eines Landes beeinflussen sollte. Diese könnten gegensätzlicher gar nicht
sein. Um es sehr vereinfacht zu sagen, kann sich Politik entweder einmischen oder eben nicht. In der, wie das Wort schon beinhaltet, liberalen Betrachtung sollte die Wirtschaft eines Landes von der Politik größtenteils frei, bzw. unangetastet bleiben. Es gilt grundsätzlich der Leitspruch, dass der Markt sich am besten selbst reguliere und sich somit auch sogenannte Wohlfahrtseffekte ganz von allein einstellen werden, wenn es die wirtschaftlichen Bedingungen denn zulassen. Jedoch muss gesagt werden, dass sich die Definition von Wohlfahrt innerhalb der Wirtschaftswissenschaft von der landläufigen Variante stark unterscheidet. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht ist gesellschaftliche Wohlfahrt eigentlich nur die Summe aus dem Gewinn der Unternehmen und der Differenz zwischen dem Preis, den der Konsument bereit wäre, zu zahlen und dem, den er tatsächlich zahlen muss. Jegliche Einmischung von Seiten der Politik wird in dieser Betrachtung als Störung der Gleichgewichte gesehen, die entweder die eine, oder die andere „Wohlfahrt“ reduziert und sich auch auf weitere Gleichgewichte auswirkt. Also solle der Staat sich am besten vollständig aus wirtschaftlichen Belangen raushalten. Im Neoliberalismus wird außerdem die Forderung nach mehr Flexibilisierung in den Mittelpunkt gerückt. Die Deregulierung sei die wichtigste Möglichkeitsbedingung, um das bestehende Wohlfahrtsniveau nicht zu gefährden und Wachstum und Beschäftigung zu sichern38.
Was in wirtschaftswissenschaftlichen Theorien liberaler und neoliberaler Art leider immer fast völlig fehlt, sind Menschen. Innerhalb der Produktion werden Menschen schlicht auf ihre Arbeitskraft reduziert und nur noch als reiner Kostenfaktor gesehen, den es möglichst gering zu halten geht. Innerhalb des Konsums werden menschliche Emotionen und andere Eigenschaften, die uns von Robotern unterscheiden würden, dann völlig ausgeblendet und anhand von Kosten-Nutzen- Funktionen vorausgesagt, wer bereit ist, welches Produkt zu welchem Preis zu erwerben. Im Unterschied zur Wirtschaftssoziologie kennt die Wirtschaftswissenschaft nur einen Typ Mensch, der äußerst berechenbar handelt, weil er sehr rational denkt und seine Entscheidungen wirklich nur danach lenkt, wie hoch der voraussichtliche Nutzen sein wird und welcher Preis das persönliche Maximum darstellt. Die Wirtschaftssoziologie wiederum unterscheidet in vier Typen, die jeweils ungefähr den gleichen Anteil an der Bevölkerung ausmachen. Der eben angesprochene Typ ist einer davon (homo oeconomicus), jedoch gibt es weitere, die sich entweder größtenteils von Emotionen leiten lassen (emotional men), anhand ihrer eigenen Identität Entscheidungen treffen (Identitätsbehaupter) oder ihr persönliches und soziales Umfeld einbeziehen (homo sociologicus) und so schwer anhand von Kosten-Nutzen-Funktionen zu berechnen sind. Fraglich ist also, wie ein System denn funktionieren soll, das drei Viertel aller Menschen einfach ignoriert, weil diese nunmal nicht berechenbar sind. Ich möchte es ganz deutlich sagen: ob es innerhalb eines liberalen
Wirtschaftssystems eventuell Menschen gibt, die nicht mal mehr als Kostenfaktor im Produktionsprozess dienen dürfen, können, oder wollen, und deshalb völlig aus diesem System rausfallen, das etwas wie ein soziales Auffangnetz überhaupt nicht vorsieht, ist völlig uninteressant. Man glaubt schlicht ganz fest daran, dass sich alles von allein reguliert. Ich will den Wirtschaftswissenschaftlern gar nicht unbedingt vorwerfen, dass sie wieder besseres Wissen eine Auffassung verbreiten, die sich als menschlich sehr fragwürdig entpuppen könnte. Eher macht es den Eindruck, als lernten sie es einfach nicht anders und besser. Tragisch ist jedoch, dass vor allem die Politik sich inzwischen gern von liberalen „Wirtschaftsexperten“ beraten lässt und Gefahr läuft, diese Vorstellungen zu übernehmen, im Glauben, beim Wähler damit den Eindruck zu erwecken, sich um das wichtigste Thema, welches sämtliche Bürger betrifft, nämlich die Wirtschaft, darin vor allem dem Arbeitsmarkt, besonders effektiv kümmern zu können. Bourdieu sieht sogar ein gewisse Arroganz, mit der die „ehernen“ Gesetze des Liberalismus auch von der Politik verkündet werden, und in diesem Zuge der Anstieg der Arbeitslosigkeit, die Verhärtung von Machtbeziehungen und die
„Rückkehr zu jenen Formen sozialen und psychischen Zwangs und Drucks, den man für längst überwunden hielt“39 ohne Hinterfragen hingenommen werden. Dabei gelingt die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft immer besser, auch durch die gesellschaftliche Spaltung, die die Gruppe der Arbeitslosen stetig weiter von denen entfernt, die noch Arbeit haben40. Viele unterstellen der Politik aber auch ganz wissentliche liberale Hintergründe: „Moralisch beeindruckt die Schamlosigkeit, politisch die Interessenklarheit, mit der neoliberale Politik die Öffentlichkeit manipuliert.“41 Die angesprochene Manipulation erstreckt sich vor allem darauf, dass mögliche Alternativen zum Liberalismus gar nicht erst erwähnt werden, bzw. diejenigen politischen Gruppen kaum Gehör finden, oder auch in ihrer Wirtschaftskompetenz bei der Bevölkerung stark unterschätzt werden, die andere Ansichten vertreten. Um die Spannung nicht unnötig weiter zu erhöhen: die ober erwähnte andere Möglichkeit des Eingreifens des Staates in die Wirtschaft orientiert sich an den Theorien des Keynesianismus und vertritt die Ansicht, dass der Staat sich sehr wohl einmischen müsse, und zwar immer gegensätzlich zur wirtschaftlichen Entwicklung. In Zeiten einer Depression sollte der Staat also Geld ausgeben, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln und am laufen zu halten, in Zeiten des Aufschwungs gilt es dann, das für die nächste Depression benötigte Geld praktisch wieder einzusparen. Ich gebe gern zu, diese Variante für vernünftiger zu halten, allein schon aus dem Grund, dass ein Staat sich nicht voll und ganz den wirtschaftlichen Belangen unterordnen sollte. Er muss sich eigentlich an erster Stelle um die Bevölkerung kümmern und eben auch versuchen, diese in wirtschaftlich schweren Zeiten zu unterstützen.
Ulrich Beck sieht ein weiteres Problem bei der Konzentration auf neoliberale Verhaltensweisen:„Man muß es den Neoliberalen weltweit hinter ihre von historischer Erfahrungslosigkeit tauben Ohren schreiben: Der Markt- Fundamentalismus, dem sie huldigen, ist eine Form demokratischen Analphabetentums. Der Markt trägt seine Rechtfertigung gerade nicht in sich. Diese Wirtschaftsweise ist nur im Wechselspiel mit materieller Sicherheit, sozialen Rechten und Demokratie überlebensfähig. Wer ausschließlich auf den Markt setzt, zerstört mit der Demokratie auch diese Wirtschaftsweise.“42 Auch Bruse findet deutliche Worte:„Wer Regulierung zum Schimpfwort degradiert und Deregulierung zur neudeutschen Beschreibung einer quasi naturrechtlichen Prämisse für den wirtschaftlichen Aufschwung Europas und damit auch Deutschlands, hat die soziale Bodenhaftung verloren.“43 Fehrmann schließlich sieht im neoliberalen Paradigma eine Flucht vor der Gesamtverantwortung, die eigentlich die ökonomische und demokratische Zivilisierung des Kapitalismus unterstützen sollte44.
Innerhalb neoliberaler politischer Debatten wird aber auch immer wieder an die Globalisierung erinnert, die uns alle dazu zwingen würde, größere Flexibilisierungsanstregungen zu unternehmen. Laut Bourdieu ist Globalisierung ein: „...Mythos im starken Wortsinne, ein Machtdiskurs, eine
„Ideenmacht“, eine Vorstellung, die gesellschaftliche Macht besitzt, die Glauben auf sich zieht. Sie ist die entscheidende Waffe der Kämpfe gegen die Errungenschaften des welfare state: die europäischen Arbeiter, wird gesagt, müssen sich dem Wettbewerb mit den Arbeitern auf der ganzen Welt stellen. Man weist dabei auf Länder, in denen es keinen Mindestlohn gibt, in denen 12 Stunden am Tag gearbeitet wird, für einen Lohn, der zwischen einem Viertel und einem Fünfzehntel des europäischen Lohns beträgt, in denen es keine Gewerkschaften gibt, in denen man Kinder arbeiten lässt. Und im Namen dieses Modells verlangt man von ihnen größere Flexibilität, ein anderes Schlüsselwort des Liberalismus, das Nachtarbeit, Wochenendarbeit, Überstunden meint,...“45. Die Globalisierung ist in diesem Sinne eher ein Rechtfertigungsmythos, der nur erfunden wurde, um es einer kleinen Anzahl vorherrschender Nationen zu ermöglichen, auf die Finanzmärkte der ganzen Welt zuzugreifen und ihren Einfluss auszuüben. Da sie als Begriff schon längere Zeit existiert, ziehen manche auch erschreckende Bilanz: „Die Globalisierung in ihrer heutigen Form ist keine Erfolgsgeschichte. Sie hat das Schicksal der meisten Armen in der Welt nicht gemindert, sie ist ökologisch bedenklich. Sie hat die Weltwirtschaft nicht stabilisiert.“46
Die deutsche Arbeitsmarktpolitik folgt inzwischen dieser liberalen Ideologie. Jeder ist sich selbst
verantwortlich, was die Planung und Organisation der eigenen Karriere betrifft, vor allem im Falle von Arbeitslosigkeit. Arbeitsagenturen verwalten eher, dass sie wirklich als hilfreich erscheinen, wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu gelangen. In schwierigen Zeiten gilt es, Eigenaktivität zu zeigen, jedoch wird diese eventuell verhindert durch eine gewisse Lähmung, hervorgerufen durch die Abhängigkeit von Sozialtransfers, die immer strengere Richtlinien vorgeben, wie man sich im Falle von Arbeitslosigkeit zu verhalten hat47.
Der Sozialstaat nach Hartz IV ist weniger status- sondern eher existenzsichernd. Galt früher noch, auch im Fall der Arbeitslosigkeit den Lebensstandard aufrecht erhalten zu wollen, ist dies dem Staat inzwischen zu teuer. Nach einem Jahr droht der absolute Absturz, der einen stetig unter Druck setzen wird und sicherlich nicht dazu beiträgt, dass es in Zukunft besser wird. Wenn der Druck größer wird, ist man eher bereit, einen weniger gut bezahlten Job anzunehmen, weitere Entfernungen zum Arbeitsplatz oder schlechtere Bedingungen zu akzeptieren. Argumentiert wird, dass man sich genau deshalb mehr Mühe geben wird, wieder beschäftigt zu werden. Man soll gar nicht erst auf die Idee kommen, sich in der „sozialen Hängematte“ einzurichten. Jedoch ist es unterhalb einer bestimmten Schwelle schwierig, eine Aktivierung herbeizuführen, weshalb man sagen könnte, dass die Politik der Aktivierung eigentlich gleich ganz ihr Ziel verfehlt: „Ohne ein Minimum an sozialer Sicherheit keine Basis für individuell-planerisches Zukunftsbewusstsein und ohne planerisches Zukunftsbewusstsein keine Selbstaktivierung.“48 Durch fehlende Ressourcen ist jemand, der den vollen Druck der „Aktivierung“ zu spüren bekommt, nicht in der Lage, eventuell seine Lebenslage überhaupt erst einmal zu überdenken. Vielleicht wäre es möglich, in eine andere Richtung zu gehen und mit Hilfe von bisher unbeachteten Fähigkeiten und Interessen eine neue berufliche Laufbahn einzuschlagen. Gäbe es Ressourcen, wäre eine Neuanfang vielleicht möglich, ohne besteht aber wahrscheinlich eher ein solcher Druck, dass man gar nicht in der Lage ist, sein Berufsleben auf die notwendige abstrakte Weise zu betrachten und weitergehende Schlüsse zu ziehen.
Ursprünglich galt für die Politik das Ziel, Formen von unterwertiger Beschäftigung zu vermeiden. Für Hartz IV-Empfänger gilt das aber nicht einmal: „Das in §1 SGB III immer noch formulierte Ziel, unterwertiger Beschäftigung entgegen zu wirken, hat in der praktischen Umsetzung der Arbeitsmarktpolitik keine wahrnehmbare Wirkung, für das quantitativ weit bedeutsamere System des SGB II, d.h. für die Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II, gilt es ohnehin nicht. In der Arbeitsmarktpolitik wird seit geraumer Zeit ein Konzept verfolgt, das auf den Abbau von Leistungs- und Schutzrechten bei gleichzeitigem Ausbau von rechtlich weitgehend ungeschützten Arbeitsverhältnissen und autoritären Fürsorgeangeboten zielt und deshalb zur Ausweitung nicht existenzsichernder Beschäftigung beträgt.49 Eine ganze Reihe von Gesetzen wurde geschaffen oder aktualisiert, um, je nach Sichtweise, eine Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen und beschleunigen, oder den Unternehmen sehr günstige, immer bereite und willige Mitarbeiter zu beschaffen: Das Beschäftigungsförderungsgesetz (1985), das Arbeitszeitgesetz (1994), das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (1996), das Teilzeit- und Befristungsgesetz (2001), das Job- AQTIV- Gesetz (2002) sowie das erste (Hartz 1) und zweite (Hartz 2) Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (2003)50. Fakt ist, dass es erst durch diese Gesetze möglich ist, atypische Beschäftigungsverhältnisse auf breiter Ebene zu etablieren. Und es ist eigentlich auch nicht sehr verwunderlich, warum die bereits skizzierten Unternehmen, die sich streng auf die Reduzierung der Kosten, die der Arbeitnehmer verursacht, konzentrieren, nicht von dem Angebot Gebrauch machen sollten, dass sie einen vollwertigen Arbeitsplatz auch zum Großteil vom Staat subventioniert bekommen können. Zusätzlich wird der Arbeitssuchende auch noch stärker unter Druck gesetzt, indem Transferleistungen grundsätzlich gesenkt werden und die Regeln der Zumutbarkeit, eine Arbeit anzunehmen, verschärft werden. Allein schon die Androhung von Leistungskürzungen reicht, dass eine Arbeit angenommen wird, unabhängig davon, ob sie nach ortsüblichen oder auch tarifvertraglichen Standards bezahlt wird51, mit weitreichenden Folgen: „Das staatlich subventionierte Lohndumping drückt das gesamte Lohnniveau. Wenn der Staat zu niedrige Arbeitsentgelte aufstockt und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse steuerbegünstigt, werden die Unternehmen von der Notwendigkeit entbunden einen existenzsichernden Lohn zu zahlen. Es entsteht ein öffentlich subventioniertes Sonderangebot an Arbeitskraft. Die Konkurrenz der Billiglöhner erhöht die Verzichtsbereitschaft aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.“52
Angelehnt sind die Gesetzesänderung an sogenannte Flexicurity-Konzepte, wie sie z.B. in den Niederlanden vorgemacht werden. Diese müssen jedoch genau austariert und angepasst werden. Flexicurity bedeutet, eine neue Balance zwischen Flexibilität und Sicherheit zu finden. Somit ist es in Ordnung, wenn Arbeit immer flexibler gestaltet wird, jedoch nur unter der Bedingung, wenn im gleichen Zug auch soziale Rechte stärker gesichert werden53. Z.B. ist es weniger folgenschwer, einen schlecht bezahlten Job auszuüben, wenn im Gegenzug die Rente auf einem erträglichen Mindestmaß festgesetzt würde, welches von eben diesem schlechten Einkommen nicht weiter gesenkt wird. Die deutsche Gesetzgebung hat zwar viel für die Flexibilisierung getan, aber den Punkt der Sicherheit vernachlässigt, womit das gesamte Konzept natürlich nicht funktionieren kann. Eine Schieflage erkennt man schon daran, dass flexible Beschäftigungsverhältnisse eigentlich für registrierte Arbeitslose gedacht waren, inzwischen aber zu rund 70% von Rentnern, Studenten und Dazuverdienern ausgeübt werden54. Somit können diese Beschäftigungsverhältnisse gar nicht als die propagierte Brücke in den ersten Arbeitsmarkt fungieren. Das Resultat aus Hartz-Gesetzen und anderen ist eher: „...eine fundamentale Krise der sozialen Sicherungssysteme, die nach wie vor auf Beiträgen aus der Erwerbsarbeit und insbesondere dem Normalarbeitsverhältnis aufbauen.“55
4 Forschungsansätze, Lösungsangebote und Zukunftsmodelle
In diesem Kapitel möchte ich die Herangehensweisen der Forschung an das Thema Prekarität untersuchen. Sie unterscheiden sich, parallel zur Begriffsklärung ebenfalls darin, ob man anhand offizieller Statistiken Tatsachen feststellt und die Bevölkerung strukturiert, oder eher konkret selbst Untersuchungen und Betrachtungen durchführt. Diese kann man ebenfalls auf quantitative oder qualitative Art anstellen. Gerade beim Thema Prekarität wird besonders deutlich, welche unterschiedlichen Wege auch verschiedene Ziele erreichen. Einerseits kann anhand der offiziellen Statistik die Gesellschaft beobachtet und sozusagen in Prototypen unterteilt werden, ohne dass daraus gleich spezielle Forderungen an die Politik vorgebracht werden müssen. Wie aber auch die Begriffsklärung anhand von Zahlen und Fakten kann man so nur Momentaufnahmen machen und Veränderungen feststellen. Direkte Prozesse zu erkennen oder Hintergründe aufzuzeigen ist schon schwieriger und bedarf eher der genaueren Untersuchung. Welches Drama Prekarität schließlich für den einzelnen Menschen darstellt, kann mit Hilfe direkter Befragung angetastet werden.
Die daraus resultierenden Lösungsangebote und Zukunftsmodelle reichen dann von dem eher geringfügigen Eingriff seitens der Politik von der Festsetzung eines Mindestlohns, über eine gewisse „Umerziehung“ der Gesellschaft, die darauf abzielt, die mit Erwerbsarbeit verbundenen Ansprüche und Ängste zu ändern, was dann in völlig neue Gesellschaften münden könnte, in denen man soziale Anerkennung und einen gesicherten Status auch durch nicht direkt bezahlte Ehrenämter bekommt. Schließlich gibt es auch ganz offen revolutionäre Forderungen, die die Gesellschaft und vor allem die Ökonomie von Grund auf umgestalten wollen.
4.1 Statistische Betrachtungen und konkrete Untersuchungen
Ich möchte in diesem Abschnitt zwischen zwei verschiedenen quantitativen Arten der Untersuchung unterscheiden. Durch das Statistische Bundesamt und andere offizielle Behörden können Daten beschafft werden, die doch grundlegend anders sind als solche, die mit Hilfe von größer angelegten Befragungen gewonnen werden können. Wie bereits erwähnt, kann eine offizielle Statistik vielleicht einen ersten Überblick geben, und auch von Nutzen sein, wenn man tatsächlich eine Vorstellung bekommen möchte, wieviele Menschen ein gewisses Phänomen nun genau betrifft. Um es noch klarer zu sagen: Ich kann mir gut vorstellen, dass Forscher wie z.B. Claudia Weinkopf anhand von Daten berechnen können, wieviele Deutsche zu einem bestimmten Zeitpunkt in welchem Beschäftigungsverhältnis mit welchem Lohn gearbeitet haben. Aber sogar abgesehen davon, dass eine Statistik immer manipuliert werden kann und manche Menschen einfach mal gar nicht erfasst werden können, weil sie nicht offiziell gemeldet sind mit der Arbeit, der sie in Wirklichkeit nachgehen oder wenn es sich gleich ganz um Schwarzarbeit handelt, geht einer solchen Perspektive immer ein wenig Menschlichkeit verloren. Man kann praktisch ein Problem quantifizieren, aber die Definition eines Problems muss anders erfolgen. Was trotzdem festzustellen ist, ist, dass im Laufe der Zeit die Schere zwischen Arm und Reich, oder anders gesagt die Lohnspreizung immer weiter vorangeschritten ist56. Es arbeiten also immer weniger zu einem eher durchschnittlichem Einkommen, viele sind weit darunter oder auch darüber. Abgesehen von den Glücklichen, die darüber liegen, stellen natürlich diejenigen, die unterhalb des angesetzten Niedriglohns ihre Arbeitskraft zu Markte tragen eine Gruppe dar, die es genauer zu beobachten gilt. Dabei werden als Maß für den Niedriglohn zwei Drittel des Medianlohns angenommen57. Wer also, bei Vollzeitbeschäftigung darunter liegt, kann fast schon in die prekäre Gruppe gesteckt werden. Ob man das nun tut oder nicht ist erst in zweiter Reihe wichtig. Diese Entwicklung ist aber durchaus ein Indikator dafür, dass sich tatsächlich ein Wandel auf dem Arbeitsmarkt vollzieht, der in erster Konsequenz darauf hinausläuft, dass zwar nicht unbedingt mehr Menschen Arbeit haben, es aber immer mehr gibt, die für einen niedrigeren Lohn arbeiten.
[...]
1 vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2006, S. 5
2 Schwarz, 2007, S. 12
3 zitiert von Binger, 2006, S. 31
4 vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2006, S.18
5 vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2006, S. 17
6 Dörre, in Lorenz/Schneider, 2007, S. 23
7 vgl. Bruse, 2007, S. 36
8 Bourdieu, 1998, S. 97
9 vgl. Bourdieu, 1998, S. 100
10 vgl. Kraemer/Speidel, 2004, S. 5
11 Dörre, in Lorenz/Schneider, 2007, S. 18
12 Bourdieu, 1998, S. 97
13 vgl. Binger, 2006, S. 30
14 Dörre, in soFid,2007, S. 13
15 Dörre, in soFid,2007, S. 13
16 Dörre, in soFid,2007, S. 13
17 Dörre, in soFid, 2007, S. 13/14.
18 vgl. Wagenknecht, 2001, S. 61
19 Windolf, 2005, S. 14
20 Windolf, 2005, S. 16
21 vgl. Moser, 2003, S. 90
22 vgl. Castel, 2000, S. 385
23 Kronauer, 2007, S. 50
24 vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2006, S. 11
25 Friedrich-Ebert-Stiftung, 2006, S. 13
26 Schultheis, 2007, S. 63
27 An dieser Stelle muss ich einfügen, dass Schultheis in seinem Text großes Augenmerk darauf legt, dass es vor allem Unternehmensberatungen sind, die heutzutage dafür sorgen, dass in Unternehmen die Flexibilisierung immer mehr voranschreitet und sich dies für den Großteil der Arbeitnehmer negativ auswirkt.
28 Schultheis, 2007, S. 70
29 Dörre, in Cattero, 1998, S. 125
30 Kraemer/Speidel, 2004, S. 8
31 Kraemer/Speidel, 2004, S. 9
32 Friedrich-Ebert-Stiftung, 2006, S. 13
33 Dörre in Cattero, 1998, S. 124
34 Dörre in soFid, 2007, S. 14
35 vgl. Dörre in soFid, 2007, S. 14
36 Dörre in Lorenz/Schneider, 2007, S. 25
37 vgl. Dörre in soFid, 2007, S. 14
38 vgl. Kraemer/Speidel, 2004, S. 1
39 Bourdieu, 1998, S. 8
40 vgl. Bourdieu, 1998, S. 100
41 Fehrmann, 1997, S. 8
42 Beck, 1997, S. 24
43 Bruse, 2007, S. 36
44 vgl. Fehrmann, 1997, S. 7
45 Bourdieu, 1998, S. 44/45
46 Stiglitz, 2002, S. 246
47 vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2006, S. 85
48 Friedrich-Ebert-Stiftung, 2006, S. 88
49 Wagner, 2006, S. 51
50 vgl. Kraemer/Speidel, 2004, S. 4
51 vgl. Schulten, 2006, S. 45
52 Binger, 2006, S. 36
53 vgl. Weinkopf, 2003, S. 26
54 vgl. Weinkopf im Radiointerview, WDR5, 27.06.2006
55 Binger, 2006, S. 31
56 vgl. Bosch/Weinkopf, 2006, S. 26
57 vgl. Kalina/Weinkopf 2007, S. 1
- Quote paper
- Elke Neuschulz (Author), 2008, Die Erfahrung und Verarbeitung von Prekarität, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123196
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