Die vorliegende Arbeit möchte die von Wolfgang Iser entwickelte wirkungsästhetische Theorie skizzieren. Dabei beziehe ich mich vor allem auf die in den 1960er und 70er Jahren ausgearbeiteten, zuerst in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung Die Appellstruktur der Texte im Jahre 1969 formulierten und in seinem 1976 erschienenen Buch Der Akt des Lesens systematisierten Grundlagen einer Theorie, die Iser bis zu seinem Tod Anfang 2007 – entsprechend der sich verändernden geistes-wissenschaftlichen Diskurslandschaft – fortwährend weiterentwickelt hat. Nach einer Einordnung in den literaturwissenschaftlichen Bezugsrahmen soll die isersche Theorie durch Fokussierung auf grundlegende Konzepte wirkungsästhetischer Theoriebildung wie Leerstelle, impliziter Leser, Textrepertoire und -strategien in ihren Grundzügen dargestellt werden. Die Arbeit wird mit einem kurzen Ausblick auf die Weiterentwicklung der Wirkungsästhetik ab den 1980er Jahren ihren Abschluss finden.
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Inhaltsverzeichnis
Abstract
1. Einleitung
1.1 Verortung der Wirkungstheorie im literaturwissenschaftlichen Bezugsrahmen
2. Theoretische Grundlagen der iserschen Wirkungsästhetik
2.1 Die Leerstelle – Unbestimmtheit als Kommunikationsbedingung
2.2 Das Textrepertoire – Verweisfunktion des Nicht-Identischen
2.3 Die Textstrategien – Erfassen und Auffassen
2.4 Der Lesevorgang als Erfahrung des Textes
3. Schlussbemerkung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Abstract
Having died early last year at the age of 80, Wolfgang Iser was a renown literary scholar whose work commanded respect from his colleagues all over the globe. Together with Hans Robert Jauß, Iser is recognized as the founding theorist behind the interpretive paradigm known as reception theory. Having been involved in the establishment of the innovative University of Constance in the late 1960s, his research helped to shift the focus of contemporary German literary theory from the author to the reader. Henceforth, attention was turned to the question of what a text does to the reader when being read as opposed to excavating a hidden meaning within the text itself. In his book The Act of Reading, first published in German in 1976, Iser sets out to provide a first systematic – although already fully-fledged – framework of his communicative theory, which was to have a major impact on the field of literary studies far beyond the borders of Germany and continues to exert a far-reaching influence on other academic fields of research as well.
This paper shall try to outline his early theory of aesthetic response as put forth in The Act of Reading, focussing on the interplay between text and reader. Answering the question of what happens in the act of reading a work of literature calls for an in-depth analysis of a whole chain of activities set in motion by the reading process. Special attention shall be given to the gaps or blanks as the key concept of Iser’s theory, but other essential Iserian concepts, such as the notorious “implied reader”, the repertoire and the strategies of the text, as well as the synthesizing operations which eventually lead to the production of the aesthetic object, will also be discussed in detail.
1. Einleitung
„Wirkung entsteht aus der Differenz zwischen Gesagtem und Gemeintem, oder anders gewendet, aus der Dialektik von Zeigen und Verschweigen“ (Iser 1994: 79).
Die vorliegende Arbeit möchte die von Wolfgang Iser entwickelte wirkungsästhetische Theorie skizzieren. Dabei beziehe ich mich vor allem auf die in den 1960er und 70er Jahren ausgearbeiteten, zuerst in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung Die Appellstruktur der Texte im Jahre 1969 formulierten und in seinem 1976 erschienenen Buch Der Akt des Lesens systematisierten Grundlagen einer Theorie, die Iser bis zu seinem Tod Anfang 2007 – entsprechend der sich verändernden geistes-wissenschaftlichen Diskurslandschaft – fortwährend weiterentwickelt hat. Nach einer Einordnung in den literaturwissenschaftlichen Bezugsrahmen soll die isersche Theorie durch Fokussierung auf grundlegende Konzepte wirkungsästhetischer Theoriebildung wie Leerstelle, impliziter Leser, Textrepertoire und -strategien in ihren Grundzügen dargestellt werden. Die Arbeit wird mit einem kurzen Ausblick auf die Weiterentwicklung der Wirkungsästhetik ab den 1980er Jahren ihren Abschluss finden.
1.1 Verortung der Wirkungstheorie im literaturwissenschaftlichen Bezugsrahmen
Isers Wirkungstheorie ist im Rahmen des Denkens der Konstanzer Schule zu sehen, die einen kommunikationsorientierten Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft eingeleitet hat, indem sie den Rezipienten literarischer Texte – oder genauer: deren Interaktion – in den Vordergrund der Analysetätigkeit rückte und die klassisch-klassizistische Vorstellung einer von vornherein in den Text eingeschriebenen und damit unveränderlichen Bedeutung ablehnte (vgl. Antor 2004: 344; Warning 1975: 9f.). Wolfgang Iser gehört dabei neben Hans Robert Jauß zu den wichtigsten Vertretern der Konstanzer Schule. Während Letzterer, in der Tradition Hans-Georg Gadamers stehend, einen rezeptionsgeschichtlichen Ansatz in den Mittelpunkt seines Interesses stellte, beschäftigte sich der auf den Erkenntnissen Husserls und Ingardens aufbauende Iser vorrangig mit der Frage, wie sich der Leser den literarischen Text aneignet, und untersucht dementsprechend die Strukturen und Prozesse, die diese Interaktion ermöglichen und beschreibbar machen.1 Daher soll eine „Wirkungstheorie [...] die intersubjektive Diskutierbarkeit individueller Sinnvollzüge des Lesens sowie solche der Interpretation fundieren helfen“ (Iser 1994: 8), wobei die Pluralität möglicher Sinnvollzüge gegen-über der klassischen Interpretationsnorm explizit betont wird. Im Gegensatz dazu zielte Letztere darauf ab, aus den Untiefen des Werkes die korrekte Lesart – idealerweise vermittels einer Autorität wie der des Literaturkritikers – zu Tage zu fördern (vgl. Iser 1994: 16f; 23f.). Die Suche nach der alles erklärenden und das Werk erschöpfenden Bedeutung, wie sie auch heutzutage noch in der Frage des Deutschlehrers „Was wollte uns der Autor damit sagen?“ zum Tragen kommt, blendete Fragestellungen nach der Beschaffenheit textimmanenter Strukturen und deren Rezeptions-bedingungen vollständig aus. Erklärungen für das Vorhandensein individuell verschiedener Lesarten sowie historisch wandelbarer Sinnvollzüge, wie sie Wirkungs- und Rezeptionstheorie leisten, wurden mit Verweis auf die fehlende Legitimität pluralistisch-individueller Interpretationen gar nicht erst gesucht, wurde doch vorausgesetzt, dass sich die „wahre“ Bedeutung nur mit Hilfe des nötigen Fachwissens aufspüren ließ, welches sich wiederum der klassischen Interpretationsnorm und ihrer Vorstellung von Kunst als der repräsentativen Abbildung einer hinter dem Werk verborgen liegenden Bedeutung verschrieben hatte.2 Hierzu meint Iser:
Wenn es sich die Interpretation lange Zeit zur Aufgabe gemacht hat, die Bedeutung eines literarischen Textes zu ermitteln, so setzt dies voraus, daß der Text seine Bedeutung nicht formuliert. Wie aber kommt es dann überhaupt zur Erfahrung einer Textbedeutung, die von der hier diskutierten Interpretationsnorm als so selbst-verständlich angenommen wird, daß sie sich nur noch mit ihrer diskursiven Erklärung befassen zu müssen glaubt? Der Vorgang, in dessen Verlauf eine solche Bedeutung zum Vorschein kommt, liegt daher allen diesen Bemühungen voraus. Folglich sollte die Konstitution von Sinn und nicht ein bestimmter, durch Interpretation ermittelter Sinn von vorrangigem Interesse sein. Rückt dieser Sachverhalt in den Blick, dann kann sich die Interpretation nicht mehr darin erschöpfen, ihren Lesern zu sagen, welchen Inhalts der Sinn des Textes sei; vielmehr muß sie dann die Bedingung der Sinnkonstitution selbst zu ihrem Gegenstand machen. Sie hört dann auf, ein Werk zu erklären, und legt statt dessen die Bedingung seiner möglichen Wirkung frei. Verdeutlicht sie das Wirkungspotential eines Textes, so verschwindet die fatale Konkurrenz, in die sie geraten ist, daß sie dem Leser die von ihr ermittelte Bedeutung als die richtigere oder bessere aufzudrängen versucht (a.a.O.: 36).
Angesichts des partialen Charakters insbesondere moderner Kunst3 sieht sich die klassische Interpretationsnorm zunehmend künstlerischen Formen gegenüber, die sich mit ihrem Anspruch der Repräsentation von Stimmigkeit, Ganzheit und Symmetrie bis hin zu sinnhafter Bedeutung nicht mehr in Einklang bringen lassen und sich vor diesem Paradigma als uninterpretierbar erweisen (vgl. a.a.O.: 27-31). Die klassische Interpretationsnorm sieht sich nunmehr dem Dilemma gegenüber, diesen Ausdrucksformen das Attribut „künstlerisch“ abzuerkennen, oder das Fundament auf dem sie fußt – der Existenz einer bestimmten, dem Werk inhärenten und diskursiv hervorzubringenden Bedeutung –, untergraben zu sehen (vgl. a.a.O.: 24-31). Die Wirkungstheorie umgeht dieses Dilemma, indem sie der klassischen Interpretationsnorm abschwört und ihr Augenmerk auf die im Werk stattfindenden Prozesse und deren Wirkungen auf den Leser richtet (vgl. hierzu auch Iser 2006: 60):
Daraus folgt, daß man die alte Frage, was dieses Gedicht, dieses Drama, dieser Roman bedeutet, durch die Frage ersetzen muß, was dem Leser geschieht, wenn er fiktionale Texte durch die Lektüre zum Leben erweckt. Bedeutung hätte dann viel eher die Struktur des Ereignisses; sie ist selbst ein Geschehen, das sich nicht auf die Denotation empirischer oder wie immer angenommener Gegebenheiten zurückbringen lässt. Dadurch aber verändert sich der Charakter, zumindest aber die Einschätzung der Bedeutung selbst. Wenn der fiktionale Text durch die Wirkung existiert, die er in uns auszulösen vermag, dann wäre Bedeutung viel eher als das Produkt erfahrener und das heißt letztlich verarbeiteter Wirkung zu begreifen, nicht aber als eine dem Werk vorgegeben Idee, die durch das Werk zur Erscheinung käme (Iser 1994: 41).
Es stellt sich nun die Frage, wie die Beziehung zwischen Text und Rezipient geartet ist, damit die Generierung von Bedeutung im Leseprozess als individueller Schaffensakt erfahren werden kann, und welche strukturell-formalen Merkmale den literarischen Text als Voraussetzung für eine solche Beziehung auszeichnen.
2. Theoretische Grundlagen der iserschen Wirkungsästhetik
Isers Annahmen basieren – wie die der Konstanzer Schule im Allgemeinen4 – auf der phänomeno-logischen Ästhetik Roman Ingardens5, von der er sich jedoch in einigen wesentlichen Aspekten distanziert. Dies betrifft insbesondere Ingardens Vorstellung der „polyphonen Harmonie“ als Grundprinzip des künstlerischen Werks, die die Affinität der ingardenschen Theorie zur klassischen Interpretationsnorm verrät (vgl. Iser 2006: 22f; Warning 1975: 12). Stärker als bei Ingarden steht der Leseprozess im Mittelpunkt des Interesses, denn „[i]m Gelesenwerden geschieht die für jedes literarische Werk zentrale Interaktion zwischen seiner Struktur und seinem Empfänger“ (Iser 1994: 38). Der Text wird damit als Wirkungspotential betrachtet, das im Lesevorgang konkretisiert wird. Daraus folgt, dass das literarische Werk nicht mit dem materiellen Text gleichzusetzen ist; genauso wenig jedoch mit dem Leser bzw. dessen individueller Disposition, der den Text lediglich als Folie für die Projektion eines vollkommen arbiträren Sinns benutzt. Es verhält sich vielmehr so, dass Text und Leser als verschiedene Pole des Werkes anzusehen sind, die von Iser als künstlerischer Pol – der vom Autor verfasste Text – und ästhetischer Pol – die Konkretisation durch den Leser – klassifiziert werden, welcher damit als gleichberechtigter Partner neben den Künstler tritt (vgl. ebd.):
Dort also, wo Text und Leser zur Konvergenz gelangen, liegt der Ort des literarischen Werks, und dieser hat zwangsläufig einen virtuellen Charakter, da er weder auf die Realität des Textes noch auf die den Leser kennzeichnenden Dispositionen reduziert werden kann. [...] Der Text gelangt folglich erst durch die Konstitutionsleistung des ihn rezipierenden Bewußtseins zu seiner Gegebenheit, so daß sich das Werk zu seinem eigentlichen Charakter als Prozeß nur im Lesevorgang zu entfalten vermag. [...] Das Werk ist das Konstituiertsein des Textes im Bewußtsein des Lesers (a.a.O.: 38f.).
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1 Iser selbst unterscheidet im Vorwort zur ersten Auflage von Der Akt des Lesens zwischen den Begriffen Wirkungs- und Rezeptionstheorie: „[Es] stellt sich für eine Wirkungstheorie das Problem, wie ein bislang unformulierter Sachverhalt verarbeitet und gar verstanden werden kann. Rezeptionstheorie hat es dagegen immer mit historisch ausmachbaren Lesern zu tun, durch deren Reaktion etwas über Literatur in Erfahrung gebracht werden soll. Eine Wirkungstheorie ist im Text verankert – eine Rezeptionstheorie in den historischen Urteilen der Leser“ (Iser 1994: 8). Einige Sätze zuvor weist er ausdrücklich darauf hin, dass seine Theorie als Wirkungstheorie und nicht als Rezeptionstheorie verstanden werden will. Nichtsdestotrotz werden die Begriffe im heutigen akademischen Gebrauch oft synonym gebraucht. Darüber hinaus ist auch die Bezeichnung „Wirkungsästhetik“ gebräuchlich, die Iser selbst für die speziell von ihm erarbeitete Theorie vorgesehen hatte und die im Folgenden als Bezeichnung der iserschen Theorie verwendet werden soll, „weil sie – obwohl vom Text verursacht – vorstellende und wahrnehmende Tätigkeiten des Lesers in Anspruch nimmt, um ihn zu einer Einstellungsdifferenz zu veranlassen“ (ebd.). Im Englischen hat sich der Begriff „reader-response theory“ oder auch „reader-response crtiticism“ eingebürgert. Vgl. hierzu auch Iser 2006: 57f..
2 Vgl. auch Iser 1975a: 229; Iser 1994: 23 mit einem Zitat aus Susan Sontags Essay Against Interpretation (1966).
3 Iser nennt als Beispiel die pop art (vgl. a.a.O.: 24), aber auch die an anderer Stelle (vgl. Iser 1975a: 245ff.) von ihm angeführten Werke von Beckett und Joyce fallen natürlich in die Kategorie der „partialen“ Kunst. Dieser von Dieter Henrich geliehene Ausdruck soll andeuten, dass moderne Kunstformen gegenüber den pluralistischen und „abstrakt gewordenen Lebensverhältnisse[n] der Moderne“ (Henrich in Iser 1994: 26) nicht mehr zur Repräsentation eines Ganzen imstande sind und sich dadurch auszeichnen, dass sich Form und Formbruch in ständigem Widerstreit zueinander befinden (vgl. a.a.O: 26f.).
4 Vgl. Antor 2004: 344.
5 Vgl. Ingarden, Roman (1960): Das literarische Kunstwerk. Tübingen: 1960.
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