Die Magisterarbeit zeigt anhand von Paul Austers Erzählung „Stadt aus Glas“, wie der Autor im Gewand einer scheinbar geradlinigen Detektivgeschichte Identitätssuche und Identitätsverlust in einer postmodernen Gesellschaft behandelt. Dabei macht Auster als postmoderner Autor die Postmoderne selbst zum Thema, indem er die literaturwissenschaftlich-philosophische Theorie in Erzählpraxis umsetzt. Zugleich zeigt Auster auf einer für interlektuelle Leser offenbaren, tieferen Erzählebene, aus welchen Elementen sich die Identität des Subjekts eigentlich zusammensetzt – beispielsweise Sprache, Bezeichnungen, Namen und Rollen, mit deren Hilfe sich das Subjekt gegenüber der Umwelt darstellt und abgrenzt. Und Auster zeigt, wie zerbrechlich diese Identität letztlich ist. Für ihre Analyse stützt sich die Magisterarbeit auf die soziologische Identitätstheorie und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, wie sie Berger und Luckmann dargestellt haben. Abschließend erforscht sie die Erzähltechnik, die Auster für seine postmoderne Erzählung nutzt.
Inhaltsverzeichnis:
Einleitung
Hauptteil
1. Identitätssuche und –verlust in der New York-Trilogie
2. Was ist Identität?
2.1 Die soziale Identität
2.2 Die soziale Rolle
2.3 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit
2.4 Sozialisation
2.4.1 Primärsozialisation
2.4.2 Sekundärsozialisation
2.5 Die Bedeutung der signifikanten und generalisierten Anderen
2.6 Bedeutung der Sprache
2.7 Veränderbarkeit subjektiver Wirklichkeit
2.8 Identitätspluralismus
2.9 Identität in der Moderne
2.10 Identität in der Postmoderne und Darstellung des Problems in der New York-Trilogie
3. Identitätssuche und Identitätsverlust in Stadt aus Glas
3.1 Kapitel 1
3.1.1 Was ist Wirklichkeit? – Ein Bündel zufälliger Ereignisse
3.1.2 Protagonist ohne Identität: völlige Außengerichtetheit
3.1.3 Detektiv und Schriftsteller: Ikonen der Sinnsuche in kontingenter Umwelt
3.2 Kapitel 2
3.2.1 Begegnung mit Peter Stillman junior: Grenzläufer zwischen Ordnung und Chaos
3.2.2 Sprache als Kategorisierungsmittel und Wirklichkeitsvehikel
3.3 Kapitel 3
3.3.1 Systematische detektivische Ermittlungen: die Hintergründe des Falls Stillman
3.4 Kapitel 4: Historische Fälle isolierter Kinder
3.5 Kapitel 5
3.5.1 Alltagswahrnehmung und Alltagsinteraktion
3.5.2 Das rote Notizbuch: Versuch, über fremde und eigene Identitäten Herr zu werden
3.6 Kapitel 6: Stillmans Buch über das Auseinanderfallen von Bezeichnung und Gegenstand
3.7 Kapitel 7
3.7.1 Stetiger Verlust der eigenen Identität
3.7.2 Begriffe als relativierte Hilfsmittel zur Kategorisierung der Umwelt
3.7.3 Schriftsteller, Text, Leser: Vollendung des Kunstwerkes durch den Rezipienten
3.7.4 Identitätsauflösung: Stillmans Doppelgänger
3.8 Kapitel 8
3.8.1 Quinn kettet sich an Stillman
3.8.2 Die Suche nach Zeichen: Wer ist Stillman?
3.8.3 Erste Spuren: Wahrheit oder Fiktion?
3.9 Kapitel 9
3.9.1 Erste Begegnung mit Spracherfinder Stillman
3.9.2 Zweite Begegnung: das zerbrochene Ei Humpty Dumpty
3.9.3 Dritte Begegnung: von Vater zu Sohn – der Abschied Stillmans
3.9.4 Das Ende des Falls Stillman
3.10 Kapitel 10
3.10.1 Schriftsteller Paul Auster: Quinns positives Spiegelbild
3.10.2 Die Urheberproblematik des Don Quijote
3.10.3 Parallelen zu Stadt aus Glas: „Alle sind Daniel“ – die undefinierbare Identität Quinns
3.10.4 Fiktionalität aller Figuren
3.10.5 Vom ersten Roman bis zum postmodernen Helden
3.11 Kapitel 11
3.11.1 Eindrücke über Gesellschafts-Entfremdete
3.11.2 Abhängigkeit vom Fall trotz Kontaktabbruch zur signifikanten Anderen Virginia
3.12 Kapitel 12
3.12.1 Gesellschaftliche Ausgrenzung: völliger Verlust der sozialen Identität
3.12.2 Die Rückkehr in einen sozialen Bezugsrahmen misslingt
3.13 Kapitel 13
3.13.1 Quinns völlige Selbstverneinung und transzendentalistische Sinnsuche
3.13.2 Die Transparenz der Stadt aus Glas: konstruierte Wirklichkeit
4. Erzähltheorie
4.1 Ausnutzung der Fiktionalität
4.2 Erzählform
4.3 Erzählerstandort
4.4 Erzählverhalten
4.5 Erzählhaltung
4.6 Arten der Darbietung
4.7 Sprachstile
4.8 Reliefbildung
5. Fazit: Dimensionen der Identitätsproblematik in Austers Stadt aus Glas
Literatur:
Einleitung
Bei der Lektüre der New York-Trilogie des zeitgenössischen amerikanischen Autors Paul Auster werden gleich in der ersten Erzählung Stadt aus Glas Erinnerungen an Arbeiten Edgar Allan Poes wach. Das liegt zunächst an der ähnlichen Intention beim Schreiben. Denn wie auch Poe gelingt Auster der Brückenschlag zwischen spannender Erzählung und intellektuellem Gedankenspiel. Wie Poe schreibt er sowohl für ein breites Publikum als auch für den intellektuellen Leser und Wissenschaftler, auf Unterhaltungs- wie auch auf einer tiefer reichenden Bedeutungsebene. Die Herausgeber der Essaysammlung Strange as the world meinen:
Ohne Scheuklappen verbindet Auster Leichtigkeit und Tiefgang, eingängiges Fabulieren und erzähltechnische Finesse. Seine Romane und Kurzgeschichten lassen sich als packende Detektivgeschichten, aber auch als metaphysische Spekulation über Zufall, Schein und Identität lesen. Nicht umsonst wird Auster in der Kritik häufig mit Kafka oder Beckett verglichen. (Lienkamp, World: 9)
Schließlich verweist der im ersten Teil der Trilogie verwendete Name William Wilson unmittelbar auf ein gleichnamiges Werk Poes – und damit auf das Motiv des unheimlichen Doppelgängers, dem wir in den drei Kriminalerzählungen immer wieder begegnen. Einem Doppelgänger gegenüberzustehen heißt, seine eigene Identität auf den Prüfstand zu stellen. Und eben um diese Suche nach der Identität und ihren drohenden Verlust, so lautet die These dieser Arbeit, geht es in Austers Werk. Die Thematik ist eine speziell postmoderne, denn aus soziologischer, theater- wie literaturgeschichtlicher Perspektive scheint die Instanz des Selbst nach ihrer Problematisierung in der Moderne inzwischen zunehmend zu schwinden.
Die oben genannte Essaysammlung wurde durch eine Studientagung der katholischen Akademie des Bistums Essens und des Instituts für Amerikanistik/Nordamerikastudien der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg (Dezember 1999, Mühlheim/Ruhr) angeregt und versammelt Abhandlungen, die dort teilweise präsentiert und diskutiert wurden. Sie will, so verkündet der Untertitel, eine „Annäherung an das Werk des Erzählers und Filmemachers Paul Auster“ sein, ist nicht als erschöpfende Abhandlung, sondern als Anregung für eine weitere Auseinandersetzung mit dem Werk des Autors gedacht.
Dieses doch noch recht aktuelle Angebot wird hier bei der Bearbeitung von Austers Stadt aus Glas aus seinem wohl bekanntesten Buch, der New York-Trilogie, aufgegriffen. Grundlage für die Analyse ist Georg Deggerichs Aufsatz Watching the Detectives. Identitätssuche und Identitätsverlust in Paul Austers New York Trilogy. Deggerichs Argumentation soll nachvollzogen und seine These unter Zuhilfenahme der soziologischen Identitätstheorie Hettlages und der Theorie gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion von Berger und Luckmann überprüft werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Begriffen Identität, Sinn und Wirklichkeit.
Im ersten Kapitel werden die zentralen Ideen Georg Deggerichs vorgestellt und Anknüpfungspunkte an die verschiedenen Blickwinkel geliefert, unter denen wir später an Austers Erzählung herangehen. Kapitel 2 beschäftigt sich mit dem Begriff der Identität. Zunächst wird eine soziologische Identitätstheorie geliefert, anschließend in eine umfassendere Theorie der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion integriert. Zentrale Frage werden hierbei also die Mechanismen sein, unter denen der Mensch Ordnung und Sinn, eine bzw. seine jeweils subjektive und intersubjektiv greifbare Wirklichkeit herstellt – immer im Hinblick darauf, dass diese Wirklichkeit ihm ja eine Identität gewährleistet. Mit der Frage nach der Identität in Moderne und Postmoderne knüpft die Arbeit mit knappen Verweisen sogleich an die New York-Trilogie an.
Kapitel 3 ist dann der textnahen Analyse der Erzählung Stadt aus Glas gewidmet.
Nach dieser Abhandlung inhaltlicher Aspekte befasst sich das letzte Kapitel schließlich mit der Erzählstruktur und -technik, die Auster anwendet, um die Identitätssuche des Protagonisten zu Papier zu bringen. Die besondere Rolle des Erzählers wird in diesem Abschnitt im Mittelpunkt stehen. Diese Analyse stützt sich auf Jürgen H. Petersens Werk Erzählsysteme.
Das Fazit enthält noch einmal alle Dimensionen der Suche und des Verlustes von Identität in Austers Stadt aus Glas und einen Vorschlag zur möglichen Thesenausweitung auf die gesamte Trilogie. In der gebotenen Kürze verzichtet die Untersuchung auf den Anspruch, erschöpfend zu sein, will aber die Beobachtung Georg Deggerichs auf ein umfassenderes soziologisches Fundament stellen.
Hauptteil
1. Identitätssuche und –verlust in der New York-Trilogie
Die Identitätsproblematik in Austers Romanen wurde bisher zumeist als Teil einer dekonstruktivistischen Auflösung althergebrachter Wahrnehmungsweisen und Erzählmuster betrachtet. Sozusagen als „Exekutor“ postmoderner Erzähltheorien führt Auster die Überwindung logozentrischen Erzählens vor, wirbelt damit solch scheinbar feste Begriffe wie Wahrheit, Subjekt, Referenz durcheinander. Aber es sind eben nur fest gelegte Begriffe, reine Konventionen. Er vertauscht konsequent die Rollen von Erzähler, Protagonist, Täter und Opfer seiner Kriminalerzählungen, spielt mit den Leseerwartungen seines Publikums, indem er zunächst mittels klassischer Stilelemente und Einstiegsstrukturen die sukzessive Auflösung der Fälle suggeriert. Die Beschattung der Zielpersonen (Stadt; Schlagschatten) bzw. die Suche (Türen) nach der Person gerät jedoch im Laufe der Fälle für die Protagonisten zu einer Suche nach der eigenen Identität. Die Fälle selbst werden zu einem verwirrenden Rätsel, offenbaren die Erosion der zu Beginn noch so vermeintlich sicheren Ordnung der Wirklichkeit und des Lebenssinns. Die Identität der Protagonisten ist entweder von vorne herein unscharf, verloren und entschwindet mehr und mehr als lebenserhaltende Kraft im Inneren des Subjekts (Stadt), muss im Laufe des Auftrags als verloren erkannt und durch eine radikale Umkehrung der Ordnung wiedererlangt werden (Schlagschatten) oder wird gegen eine möglicherweise „bessere“ Identität eingetauscht (Türen), welche sich aber während der Ermittlungen mehr und mehr als Illusion entpuppt. Verfolger und Verfolgter, Innen und Außen, Subjekt und Objekt verschmelzen. In allen drei Fällen ist die Identität des Protagonisten im erheblichen Maße von der des Gesuchten, Persekuierten, Beschatteten abhängig. Diese Abhängigkeit nimmt jedes Mal dramatische Ausmaße an, reicht gar bis hin zu einer lebensbedrohlichen Auslöschung des Selbst.
Doch nicht nur die Hauptfiguren ringen um ihre Integrität und Unversehrtheit. Die Prämissen des dekonstruktivistischen Erzählens wendet der Text Stadt aus Glas, so findet William Lavender, noch auf sich selbst an, da er die Form des Romans gegen den Kanon der Literaturkritik, gegen Theorie und Tradition „dekonstruiert“: „[…] it literally falls apart in its progression.“ (Lavender, Engagement: 220) Mit der Dekonstruktion, das sollte an dieser Stelle erwähnt werden, ist im Sinne Jaques Derridas natürlich nicht nur die Auflösung einer althergebrachten Struktur bzw. Konstruktion gemeint (vgl. Zapf, Dekonstruktion: 101). Die Bezeichnung „Dekonstruktion“ beinhaltet bereits das dieser ganzen literaturwissenschaftlichen Tradition eigentümliche Paradoxon des De-konstruierens, des Konstruierens im negativen Sinne. Diese Konstruktion baut zwangsläufig auf einem vorhandenen Begriffssystem auf, das sie zugleich anzweifelt. Damit ist gemeint, dass die Dekonstruktion paradoxerweise auf die Begriffskategorien der klassischen Hermeneutik zugreifen muss. Sie stellt diese zwar in Frage, kann sich jedoch nicht wirklich über die Hermeneutik erheben, wie es etwa Paul de Man auf Kosten der Vertreter der klassischen Hermeneutik in sehr schroffer Weise versucht und sich, sowie dem ganzen Projekt der Dekonstruktion, den Unmut der etablierten Richtungen der Literaturwissenschaft zugezogen hat (vgl. Man, Formulierung: 205-233). Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Dekonstruktion häufig lediglich angesehen wird als „Kalkül, das bei der Lektüre von Texten angewandt wird, um die Geltungsansprüche einer auf die Ermittlung von Sinn zentrierten Interpretation zu unterlaufen.“ (Wegmann, Dekonstruktion: 334) Man spricht ihr dabei keine Autonomie, keine von der Tradition losgelöste Aussagekraft zu. Ihre Absage an die traditionelle Hermeneutik wird ihr zum Verhängnis. Gehalten hat sich die Dekonstruktion bis heute, hat Eingang in die feministische, marxistische und postkoloniale Literaturtheorie und –kritik sowie in die psychoanalytische Literaturwissenschaft gefunden (vgl. Zapf, Dekonstruktion: 102). So wird sie zwar aus Perspektive des literaturwissenschaftlichen Kanons größtenteils stiefmütterlich behandelt, man verspricht sich von ihr jedoch nach wie vor erhebliches, hermeneutisch-kritisches Potential. Kritische Distanz zu der Annahme einer absoluten Aussagekraft des Wortes, Zweifel an der vollkommenen Herrschaft des Autors über sein Werkzeug, die Sprache, ein ungewöhnlicher Zugang zu Texten, der stillschweigende Konventionen zu deren Leseart immer wieder aufzubrechen vermag, gehören zu den Stärken der Dekonstruktion. Mit Dekonstruktion und Poststrukturalismus haben entscheidende Elemente Einzug in die Literaturtheorie gehalten, die sich in Austers Werken wiederfinden lassen: der Mut, unbequeme Fragen an Proklamierungen absoluter Wahrheit(en) zu stellen und Verdacht gegenüber jeder Ordnung, Misstrauen gegenüber augenscheinlich menschengemachter, auf Verträglichkeit und Homogenität hin konstruierter Wirklichkeit aufzuwerfen.
William G. Little etwa sieht Austers größten Verdienst darin, das repressive Paradigma der einzigen, unumstößlichen und monopolistischen Wahrheit unterlaufen zu haben und das für die Postmoderne charakteristische Paradigma pluraler, unerschöpflicher Wirklichkeiten aufleben zu lassen. Pluralität ersetzt Wahrheit, so lässt sich die Prämisse zusammenfassen, die Auster in den Augen Littles zum „großen Befreier vom totalitären Anspruch der einen wahren Erzählung“ (Deggerich, Detectives: 119) werden lässt. „Du kannst nicht wissen, was wahr oder nicht wahr ist. Du wirst es nie wissen.“ (Türen: 372) Fanshawes Worte an den Ich-Erzähler sind bezeichnend für die gesamte Trilogie.
Auster ist auch insofern dekonstruktivistischer Schriftsteller, als er das traditionelle Paradigma des Erzählens keineswegs aufgibt. Bei aller Sprachskepsis halte er, meint Deggerich, an der Vorstellung der Vergewisserung unserer Identität durch Geschichten fest. Die angehäuften, einzelnen Lebensmomente verbinden sich erst durch die sie integrierenden, sie in einen sinnhaften Zusammenhang und reziproken Bezug stellenden Geschichten zu einer plausiblen Biographie. Diese Geschichten müssen immer wieder erzählt, erneuert, ergänzt werden. Wir müssen uns erinnern, wer wir sind, um entscheiden zu können, welche Handlungen wir vornehmen, wo wir hinstreben. Wir müssen definieren können, was zu uns gehört, was nicht Teil von uns ist, was Außen und Innen, Subjekt und Objekt ausmacht, kurz: Was unsere Identität ist.
Deggerich findet klare Hinweise, dass sich die Trilogie mit dem drohenden Verlust von Identität beschäftigt. In Hinter verschlossenen Türen heißt es: „Am Ende ist jedes Leben nicht mehr als die Summe von Zufällen, eine Chronologie von unerwarteten Überschneidungen, glücklichen Zufällen, wahllosen Ereignissen, die nichts als ihre eigene Planlosigkeit enthüllen.“ (Türen: 261) Ohne unsere Geschichten ständen wir vor einem Scherbenhaufen der zusammenhangslosen Erinnerungsfragmente. Fakten werden in ein fiktives Netz eingesponnen, um Kohärenz und Sinn zu erhalten. Wir schaffen uns ein Gesicht. Die Herstellung von Identität ist somit ein aktiver Geistesprozess. Die erzählte Identität selbst bleibt immer eine Erfindung, der vorläufige Entwurf eines angeblich festen Wesens, der ständig aktualisiert und mit vergangenem identitätsrelevanten Handeln und Verhalten abgestimmt werden muss, um die Einheit des Selbst zu bewahren. Identität ist eine konstruierte Illusion. Auster offenbart nicht nur stetig diese Illusion, sondern betont zugleich die Notwendigkeit des Erzählens. Wenn wir unser Leben lediglich aus Geschichten erfahren können, darf die Erzählung nie an ein Ende gelangen. Kirkegaard meint: „Auster is a strong believer in the fundamental need for stories about ourselves, - we have to make them up every day, in almost the same way that we have to eat every day.” (Kirkegaard, Cities: 175) Die New York-Trilogie sei, so Deggerichs Ansicht, nicht nur ein virtuoses Spiel mit den Konventionen des Kriminal-Genres, sondern ebenso ein fulminanter Einspruch gegen die so oft konstatierte Krise des Erzählens (vgl. Detectives: 120).
Der Begriff der Identität wird nun theoretisch definiert, um ihn anschließend in Stadt aus Glas aufzuzeigen und dann herauszuarbeiten, wie es dort im Einzelnen um die Identitäten des Protagonisten und einiger Nebencharaktere bestellt ist, welche Wandlungsprozesse diese mitunter durchlaufen.
2. Was ist Identität?
Identität (von lat. „idem“ – dasselbe) umfasst alle Antworten auf die Frage: Wer bin ich? Wer sind wir (vgl. Bevers, Identität: 276-279)?[1] Erik Homburger Erikson betont die Kontinuität des Selbsterlebens eines Individuums. Es besitzt ein mit sich selbst identisches Inneres, das als Kontinuum erlebt wird. Dies ist kein passiver, statischer Zustand, sondern ein dynamischer und aktiver Vorgang. Identität beschreibt das Vermögen eines Individuums, über wechselnde Situationen und biographische Lebenskontexte hinweg für sich und andere der/ die Gleiche zu bleiben, als solcher/ solche sich selbst zu identifizieren und von anderen identifiziert zu werden. Dieses Vermögen drückt sich in der Leistung aus, die eigenen Interaktionen in der Flut ständig aufeinanderfolgender Situationen sinnhaft miteinander zu verknüpfen. Bei Auster heißt diese Verknüpfungsleistung Erzählung. Amerikanische Autoren wir George Herbert Mead, Charles Horton Cooley oder William Isaac Thomas entwickelten die Grundlagen soziologischer Identitätstheorien. Sie teilen die Auffassung, dass Identität ein Produkt sozialer Interaktion ist. Die Beteiligten definieren und konstruieren eine Wirklichkeit – diese wäre damit genuin gesellschaftlich - in deren Kontext ihre Identität erst entsteht, erst Sinn und Stabilität erlangt. Im Identitätsbegriff setzen die Autoren Individuum und Gesellschaft theoretisch in Beziehung. Aus soziologischer Sicht besteht dann auch die Identität aus zwei Komponenten, einer sozialen und einer persönlichen Identität. Die persönliche entsteht aus einer subjektiven Sinnhaftigkeit, der jeweils einzigartigen Biographie, bestehend aus einer unverwechselbaren Kombination von Daten, Ereignissen und Erfahrungen. Die soziale erwächst in einem Individuum, das Träger einer Rolle ist. Eine Rolle ist die Summe aller Verhaltenserwartungen, die dem Inhaber einer sozialen Position von Seiten der anderen Gesellschaftsmitglieder begegnen.
Voraussetzung für eine intakte Identität ist die gelungene Vermittlung beider Komponenten; d.h. dass die durch die Interaktionspartner und Gesellschaftsmitglieder an das Subjekt herangetragenen Verhaltenserwartungen mit den persönlich definierten Handlungszielen abgestimmt und verbunden werden müssen. Es handelt sich, anders ausgedrückt, um einen Ausgleich der individuellen und funktionalen Interessen, also der Interessen, die dem Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung dienen. Identitätsbalance ist ein permanenter und unabschließbarer Syntheseprozess. Notwendig ist er durch das dauerhafte Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Der Idealzustand einer „Symmetrie zwischen subjektiver und objektiver Wirklichkeit“ (Berger, Wirklichkeit: 157) wird nie ganz erreicht. Gerade die persönliche Identität ist ja einzigartig und entsteht auf einem individuellen Weg, den das Subjekt in der Gesellschaft mit ihren Möglichkeiten und Beschränkungen beschreitet.[2] Identität hat zudem immer die Einnahme bestimmter Rollen und die Ablehnung anderer zur Voraussetzung. Wenn man sich allen Verhaltenserwartungen beugen würde, wäre man nicht mehr als homogene Persönlichkeit erkennbar.
Es wird bereits ersichtlich, welch große Bedeutung die Gesellschaft für die Bildung einer Identität hat. Die soziale Identität soll nun etwas genauer betrachtet werden.
2.1 Die soziale Identität
Anthropologisch gesehen wäre die Menschwerdung, die Entwicklung des Menschen zu einem Individuum mit gerichtetem Bewusstsein, ohne ein ihn umgebendes soziales Umfeld überhaupt nicht möglich.
Das Tier besitzt im Gegensatz zum Menschen einen vollständig ausgebildeten Instinktapparat. Dieser stattet es mit einem festen Verhaltensprogramm aus, das auf die jeweils artspezifische Umwelt bezogen ist. Das Programm reicht vollkommen aus, liefert die notwendige Orientierung und Überlebensstrategien. Das Tier lebt also in einer strukturell geschlossenen Welt.
Der Mensch ist hingegen durch Weltoffenheit gekennzeichnet. Sein Instinkt ist unterentwickelt. Durch das Fehlen biologischer Fixierung kann er zwar im Rahmen seiner physischen Grenzen seine konstitutionell vorgegebenen Fähigkeiten in verschiedensten Tätigkeiten einsetzen und sich an die unterschiedlichsten Umweltbedingungen anpassen. Andererseits weist er jedoch genau wie die Tiere Triebe auf, die in seinem Fall zunächst ungerichtet sind. Es fehlt ihm ein Verhaltensprogramm, an dem er sich unreflektiert orientieren könnte. Eine weitere Besonderheit fällt auf, schaut man auf die organismische Entwicklung: Etwa ein Jahr der fetalen Periode verbringt das menschliche Kind außerhalb des Mutterleibs[3]. Während ein Tier mit abgeschlossener biologischer Ausstattung zur Welt kommt, finden wichtige Entwicklungen des Organismus beim Menschen bereits unter einer Wechselbeziehung mit der Außenwelt statt. Die Umwelt des Kindes hat sowohl teils natürlichen, als auch teils menschlich-sozialen Charakter. Das Kind tritt bereits mit der kulturellen und sozialen Ordnung in Verbindung und ist beständig ihren Eingriffen ausgesetzt. In der Reaktion auf Umweltkräfte ist der Mensch äußerst elastisch. Die Völkerkunde kennt so viele Arten des Menschseins, wie es Kulturen gibt. Menschsein ist folglich soziokulturell variabel. Gesellschaftlich-kulturelle Formen hängen nicht von der biologischen Natur ab. Menschliche Natur existiert lediglich in Form anthropologischer Konstanten wie Bildbarkeit des Instinkts und Weltoffenheit (vgl. Berger, Wirklichkeit: 51). Diese Konstanten ermöglichen und beschränken zugleich soziokulturelle Schöpfungen. Sie machen diese Schöpfungen jedoch umgekehrt auch notwendig: Soziokulturelle Gebilde bestimmen das Menschsein, sind ein Teil von ihm. Sie sind nicht das Produkt biologischer Konstanten des Menschen, sondern diese Konstanten setzen lediglich den begrenzenden Rahmen. Der Mensch macht seine eigene Natur, produziert sich selbst (vgl. Wirklichkeit: 52).
Mead stellte fest, dass das menschliche Selbst gerade in dem Zeitraum entsteht, in dem die Entwicklung des Organismus in Wechselwirkung mit der Umwelt abgeschlossen wird. Die Genese des Selbst ist ein Vorgang, der sich gleichermaßen auf die Weiterentwicklung des Organismus (Ausbildung des Gehirns oder körperlicher Möglichkeiten) und die Vermittlung der Umwelt durch „signifikante Andere“ (Familienmitglieder, Erziehende) stützt. Die genetischen Voraussetzungen für ein Selbst, wie es in der subjektiv-persönlichen und objektiv-sozialen Identität erlebt wird, rühren von der Geburt her, es ergibt sich aber letztlich im Sozialisationsprozess. „Die Selbstproduktion des Menschen ist notwendig und immer eine gesellschaftliche Tat. Zusammen produzieren die Menschen eine menschliche Welt mit der ganzen Fülle ihrer soziokulturellen und psychologischen Gebilde.“ (Wirklichkeit: 54) In Vereinzelung ist es dem Menschen weder möglich, sich zum Menschen zu entwickeln noch eine menschliche Umwelt zu produzieren. Dies wäre, so Berger und Luckmann, „Sein auf animalischem Niveau“ (Wirklichkeit: 54). Auf rein organismische Hilfsmittel beschränkt, würde der Mensch ein Leben im Chaos führen.
Empirisch findet sich menschliche Existenz jedoch innerhalb einer gewissen Matrix aus Ordnung und Stabilität. Jedem Kind ist eine Gesellschaftsordnung vorgegeben: Die Weltoffenheit als biologische Konstante ist bereits gesellschaftlich antizipiert. Sie wird mittels der Sozialisation, der Vermittlung gesellschaftlicher Ordnung und Wirklichkeit, in eine relative Weltgeschlossenheit umgewandelt, die aber niemals die Geschlossenheit eines Instinktapparates erreichen kann, da sie vom Menschen stammt, also künstlich ist. Allerdings sichert sie der menschlichen Lebensführung relative Stabilität und Gerichtetheit[4].
Die Menschlichkeit des Menschen als Existenz über dem „animalischen Niveau“ ist Produkt seiner gesellschaftlichen Existenz. Da es dem Menschen an dem nötigen Instrumentarium für eine Stabilisierung menschlicher Lebensweise mangelt, braucht er eine soziale Ordnung. Er muss sich orientieren, seine Existenz stabilisieren. Nach Freud ist Kultur, zugleich sichtbares Ergebnis menschlicher Schaffenskraft und menschliches Sinnsystem, das Erzeugnis sublimierter Triebenergien. Der ungerichtete Triebapparat braucht ein Sinnsystem, in dem er zugunsten eines stabilen Zusammenlebens kontrolliert und ausgerichtet werden kann[5]. Oder, struktur-funktionalistisch ausgedrückt: Die unspezifischen Antriebsenergien müssen in zu den gesellschaftlichen Werten konforme Handlungsmotivationen umgeformt werden.
Für die Genese der Identität hat also die Gesellschaft eine wesentliche Bedeutung. Wie bildet sich Identität? Für Mead sind Sinnerfahrungen, Bewusstsein, Geist und Identität keine dem Menschen inhärente Eigenschaften, sondern die Produkte sozialer Interaktionen. Sie entstehen dort nicht nur, sondern wirken zugleich auf diese zurück. Auch Cooley hat die Selbst-Erfahrung des Individuums über die Perspektive anderer betont. Das Individuum gewinnt seine Identität aus den Vorstellungen der anderen, richtet sein Verhalten an diesen aus. Mead hat diesen Teil der Identität, das gesellschaftlich-kulturell vorgebildete Selbst als „me“ bezeichnet. Es enthält die soziale Rolle, d.h. die Erwartungen, die während der Interaktion internalisiert werden. Als Voraussetzung für diesen Vorgang der Internalisierung, also der Umformung unspezifischer Antriebsenergien in wertkonforme Handlungsmotive, erkennt er die menschliche Fähigkeit, sich in die Rolle des anderen hineinzuversetzen (er nennt dies „role-taking“). Dies ist sowohl für das Individuum als auch für das möglichst reibungslose Zusammenleben der Menschen unverzichtbar. Denn zur Einigung auf gemeinsame Verhaltenserwartungen können sich die Interaktionspartner wiederum zu der jeweils antizipierten Rolle des anderen in Relation setzen, das heißt ihr eigenes Verhalten, ihre eigene Rolle festlegen („role-making“). Diesen anderen Teil des Selbst, der die aktive Internalisierung einer sozialen Rolle, die Identifikation mit ihr und die kritische Selbstreflexion und Distanzierung von ihr ermöglicht, nennt Mead das spontane, aktive Selbst bzw. „I“. Im wechselseitigen, intersubjektiven Prozess definieren die Individuen sich selbst, den jeweils anderen, die aktuelle Situation, in der sie gerade ihre Interaktion führen und nicht zuletzt die gesellschaftliche Ordnung und ihre (für die spezifische Kultur relevante) Lebenswirklichkeit. „Role-taking“ wechselt mit „role-making“ ab. Für Ralph H. Turner, der Meads Theorie weiter ausbaute, gewährt erst die Festlegung der eigenen Rolle („role-making“), die situationsgerechte Definition und innovative Gestaltung der eigenen Handlungssequenzen eine Kontinuität der Interaktionen (vgl. Prigge, Rollentheorie: 542).
Identität und Gesellschaft sind nicht nur eng miteinander verzahnt, sondern auch aufeinander angewiesen. Eine gesellschaftliche Ordnung verschafft erst dem Einzelnen eine Identität, der ja, wie oben bereits dargelegt wurde, aufgrund seiner biologischen Konstitution in völliger Isolation kein gerichtetes Individuum werden könnte, sondern ein Leben im Chaos und auf animalischem Niveau führen würde. Umgekehrt sind es erst die wertkonform handlungsmotivierten Individuen, die eine gesellschaftliche Ordnung bilden und aufrechterhalten. Nach dem sozialphänomenologischen Theorieansatz von Berger und Luckmann ist Gesellschaftsordnung sowohl nach ihrer Genese (als Ergebnis vergangenen menschlichen Handelns) als auch in ihrer Präsenz (sie besteht nur, solange menschliche Aktivität sie aufrechterhält) ein Produkt des Menschen.
Die soziale Rolle steht als vermittelnde Instanz zwischen Subjekt und gesellschaftlicher Ordnung. Die Begrifflichkeit der Rolle soll nun – nach der sehr allgemeinen Definition weiter oben - näher erläutert werden.
2.2 Die soziale Rolle
Die institutionale Ordnung der Gesellschaft hat ihren Ursprung in der Typisierung eigener und fremder Tätigkeiten. Diese Typisierung, also standardisierte Auffassung von Tätigkeiten, setzt voraus, dass die Akteure gemeinsame Ziele und Phasen der Verrichtung ihrer Handlungen aufweisen. Gewisse Ziele, Handlungen und Handlungsverläufe müssen gesellschaftliche Relevanz besitzen. Nicht nur der Akteur, der eine Handlung wiederholt, wird dann allgemein anerkannt, sondern auch seine Aktion. Diese wird durch jeden anderen Akteur, für den sie Relevanz besitzt, nachvollziehbar. Das Handeln und sein Sinn erscheinen nun losgelöst von der jeweils individuellen Ausführung. Das Subjekt und jeder andere Akteur des entsprechenden Typus kann als Vollzieher der objektiven, allgemeinen Handlung in Erscheinung treten. Im Verlauf dieses Vollzugs identifiziert sich der Ausführende mit dem objektiven Sinn der Handlung. Im Augenblick des Vollzugs bestimmt die Handlung seine Selbstauffassung – sie entspricht nun dem objektiven, von der Gesellschaft zugeschriebenen Sinn, entspricht der gesellschaftlichen Verhaltenserwartung. Das Subjekt ist eingebunden in die Routine der Alltagswelt, ist identisch mit der gesellschaftlich objektivierten Handlung: Es ist, was es tut.
Erst im Nachhinein, nach dem Vollzug der Handlung, zieht sich das spontane, aktive Selbst oder „I“ von der Handlung zurück. Das Subjekt identifiziert sich nur teilweise mit dieser Rolle, bzw., in extremen und selteneren Fällen, vollständig oder überhaupt nicht. Diese Teilobjektivationen oder -identifizierungen häufen sich und bestimmten einen großen Teil des Bewusstseins vom Selbst. Sie werden oft als Gegenüber zum Selbst in seiner Ganzheit erlebt. Es entsteht eine Distanz zwischen dem Akteur und seiner Aktion: Der Akteur projiziert diese Distanz auf künftige Aktionswiederholungen. Die Akteure empfinden sich (als Subjekt) oder die anderen in ihren Handlungen nicht mehr als einzigartig, sondern als bloße Typen von Handelnden. Als Rollen können diese Typen erst bezeichnet werden, wenn die Form der Typisierung im Wissensbestand einer Mehrheit von Handelnden verankert ist. Die Akteure gelten in diesem Fall als Rollenträger.
Die Rollenbildung ergänzt notwendigerweise die Institutionalisierung des Verhaltens. Über Rollen kann das Subjekt die zunächst abstrakten Institutionen der individuellen Erfahrung einverleiben. Als Rollenträger nimmt er an der sozialen Welt teil. Diese wird ihm subjektiv verständlich, indem er seine Rollen internalisiert, also das Sinn- und Wertesystem der Gesellschaft in sein individuelles Bedürfnismuster und Weltbild integriert. Er passt sich in die Gesellschaft ein, hilft, sie zu stützen. Umgekehrt behält er sich seine Individualität bis zu einem gewissen Maße, im Rahmen seiner Gesellschaft, vor.
Peter L. Berger und Thomas Luckmann behandeln in ihrem Buch Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit die Identitätsbildung als Ergebnis des Sozialisationsprozesses. Im Zentrum steht hier zunächst die Bildung der persönlichen, individuellen Identität, die sich jedoch im Verlaufe der Sozialisation als Schnittstelle zwischen Subjekt und der objektivierten, gesellschaftlichen Ordnung an dieser weiterentwickelt und somit das bildet, was Mead als „self“, also Identität in ihrer Ganzheit, bezeichnet. Das Bewusstsein vom Ich ergibt sich während der sozialen Interaktion aus der Internalisierung angebotener Rollen; Rolleninternalisierung wiederum aus dem Zusammenspiel von Eigenidentifikation und Fremdidentifikation. Diese Dialektik, in der objektiv vorgegebene Identität durch den Filter subjektiver Aneignung von Identität läuft, ist für Berger und Luckmann lediglich eine Spezifizierung der allgemeinen Dialektik der Gesellschaft, in der objektive und subjektive Wirklichkeit sich wechselseitig beeinflussen bzw. bilden. Es sollen nun abschließend drei Punkte geklärt werden: Wie ist die von Berger und Luckmann beschriebene gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit zu verstehen? Was ist Sozialisation? Welche Bedeutung haben in diesem Rahmen signifikante Andere und generalisierte Andere für die Bildung und Wahrung der Identität?
2.3 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit
Gesellschaftliche Ordnung – eine menschliche Konstruktion - ist wirklichkeitsbildend. Die gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit formt die Identität eines Menschen in erheblichem Maße: So sieht es die sozialphänomenologische Wissenssoziologie, allen voran Peter L. Berger und Thomas Luckmann[6]. Die Wissenssoziologie hat ihrer Ansicht nach die Prozesse, in denen gesellschaftliche Ordnung und ihre Wirklichkeit entstehen, bewahrt und weitervermittelt werden, zu untersuchen. „Wirklichkeit“ und „Wissen“ sind dabei Schlüsselbegriffe und werden aus spezifisch soziologischer Sicht definiert: „Wirklichkeit“ ist „eine Qualität von Phänomenen […], die ungeachtet ihres Wollens vorhanden sind – wir können sie ver- aber nicht wegwünschen“ (Wirklichkeit: 1). „’Wissen’ heißt die Gewissheit, dass Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben.“ (Wirklichkeit: 1)
Es geht den Autoren dabei nicht um einen absoluten Wirklichkeitsbegriff, wie ihn etwa der Philosoph aufstellen würde, sondern um die Wirklichkeit der Alltagswelt: Der einfache Mann von der Straße, so die Ansicht der Autoren, bewohnt die „wirkliche“ Welt und „weiß“ im Rahmen seiner Kultur über ihre Charakteristika Bescheid. Unterschiedliche Gesellschaften stellen unterschiedliche objektivierte Wirklichkeiten bereit. Wirklichkeit beruht auf der Konstruktion handelnder Individuen. Diese Individuen handeln aufgrund eines bestimmten Wissensvorrates. Wissen ist in diesem Sinne nicht als Expertenwissen, Ideologie, wissenschaftliches Wissen usw. zu begreifen, sondern in einem umfassenderen Sinne: ganz allgemein als das Instrument, mit dem sich ein Individuum in seiner Alltagswelt, der es allzeit umgebenden Welt, zurechtfindet. Dazu gehört auch das Wissen um das eigene Selbst, die Identität, und um das Selbst der anderen, die Fremdtypisierung bzw. -identifikation. Nicht jeder besitzt das gleiche Wissen: Wissen ist unterschiedlich verteilt, aber die spezifischen Wissenskonglomerate speisen sich doch weitgehend aus einem überindividuellen, kulturellen, gesellschaftlichen Wissensvorrat, der aus vielen Individuen erst eine Gemeinschaft werden lässt, indem diese Individuen zusammen an ihm teilhaben, ihn ständig neu aushandeln und bewahren.
Ausgangspunkt ist die subjektive Aneignung von Wirklichkeit: Das Individuum bewegt sich in der „Alltäglichen Lebenswelt“[7] oder Alltagswelt. Diese es allzeit umgebende Welt ist ihm vertraut, es nimmt sie als selbstverständlich hin. Sie ist intersubjektiv, d.h. das Individuum handelt sie ständig in der Interaktion mit anderen aus, versichert sich ihrer Wahrhaftigkeit, indem es sich mit den anderen über ihre Begriffe und Elemente verständigt. Die Alltagswelt ist die oberste Wirklichkeit, das Gefäß für alle Subsinnwelten und Sinnenklaven wie etwa Träume: Das Individuum kehrt immer wieder zu ihr zurück, und sie reicht noch mittels ihrer Bilder, ihrer Kategorien, ihrer Sprache in die abstraktesten Sinnenklaven hinein. Sie steckt voller Objektivationen, also Erzeugnissen menschlicher Tätigkeit und Externalisierung, manifestierten menschlichen Ausdrucks. Objektivationen sind Zeichen und Zeichensysteme, welche die Situation ihrer eigenen Entstehung überdauern. Als überlieferte, kollektive Erinnerungssedimente bzw. Traditionen setzten sie die Muster, in denen die Phänomene der alltäglichen Lebenswelt vorarrangiert sind. Die Alltagswelt mit ihren Strukturen ist dem Individuum vorgängig. Diese Muster überlagern die subjektive Erfahrung der Phänomene. Als wohl wichtigstes, ordnungssetzendes Zeichensystem kann die Sprache bezeichnet werden. Dieses System von Lauten und graphischen Zeichen entsteht, sobald über bloße affektive Lautäußerungen hinaus Laute bewusst geformt und zu Ketten verbunden werden. Damit wird eine Bedeutung transportiert, die über die unmittelbare Situation hinausgeht. Die Sprache ist das ideale Werkzeug, um eine bereits existierende gesellschaftliche Ordnung von Generation zu Generation weiterzureichen. Alles hat seinen Namen, seinen Platz, seine Ordnung. Die Sprache ist selbst sowohl vorgegebene Ordnung als auch wichtigstes Werkzeug, um Ordnung zu bewahren und zu vermitteln, denn sie stellt ein Begriffsarsenal, eine Kategorisierung zur Verfügung, in denen stets die jeweilige Bedeutung und das Bezeichnete mitschwingt.
Berger und Luckmann greifen Alfred Schütz’ Begriff der „Wir-Beziehung“ auf. Diese von den Autoren sogenannte Vis-à-vis-Beziehung ist gegeben, wenn zwei Akteure im direkten Augenkontakt interagieren[8]. Diese Form der sozialen Beziehung bezeichnen die Autoren als Vis-à-vis-Situation. Moderne Gesellschaften, und hier greifen sie weiter Schütz’ Gedanken auf, sind immer weniger durch solche Kontakte gekennzeichnet. An die Stelle von Vis-à-vis-Kontakten treten zunehmend Ihr-Beziehungen. Die Mitmenschen werden anonymer. Dies ist auf den immensen Anstieg von Kontakten und deren daraus resultierende, zunehmende Beliebigkeit und Entbehrlichkeit angesichts zahlreicher möglicher Alternativkontakte zurückzuführen. Alles in allem wird die gegenwärtige Welt immer differenzierter und undurchschaubarer. Die Individuen bahnen sich einen Weg durch diese Alltagswelt, und zwar mit Hilfe des Alltagswissens, bestehend aus einem Wissensvorrat (Fertigkeiten, Gebrauchswissen, Rezeptwissen), Erfahrungen (Erwartungen im Bezug auf Vertrautes) und Typisierungen (Stilisierung bestimmter Eigenschaften von Mitmenschen, Objekten und Sachverhalten bis hin zur Klischeebildung; dies dient einer vermeintlich besseren, zumindest aber schnelleren Orientierung). Wie oben bereits gesagt, ist das Alltagswissen ungleich verteilt. Es reicht von personenbezogenem Wissen – mein Wissen ist anders zusammengesetzt als dass meiner Mitmenschen - bis hin zu hochspezialisiertem Expertentum. Die Menschen finden sich nur deswegen noch zurecht, weil der Großteil der sie umgebenden Welt für sie im Dunkeln bleibt. Aktuelle Handlungsfelder und potentielle Handlungsfelder werden nach ihrer Relevanz aus der unüberschaubaren Masse selektiert.
Wissen und Wirklichkeit legitimieren sich zwar teilweise bereits durch ihr bloßes Vorhandensein, müssen jedoch zusätzlich durch Stützkonzeptionen unterschiedlicher Tragweite abgesichert werden: Allerweltswissen, Sprichwörter, Lebensweisheiten, explizite Legitimationstheorien (wie rechtliche oder religiöse Vorschriften), Glaubenssysteme (Mythologien, Theologie), Ideologien, wissenschaftliche Disziplinen (Philosophie, Naturwissenschaften) sowie symbolische Sinnwelten.
Symbolische Sinnwelten sind der alles überspannende, beschirmende Kosmos, der das Gedankengut einer Gesellschaft, eines Kulturkreises ebenso birgt, legitimiert und bestimmt wie dessen institutionale Ordnung, dessen einzelnes Individualleben sowie Relevanz und Zugehörigkeit von Personen, Ideen, Objekten etc. Beispiele wie der „real existierende Sozialismus“, die „christlich-abendländische Kultur“, „Postmoderne“ und „Rationalität“ verdeutlichen den Anspruch symbolischer Sinnwelten, alles umfassend erklären zu können. Sie ordnen in dieser nomischen Funktion die Wirklichkeit, rücken als institutionalisierte Wirklichkeitsdefinitionen jedes Ding an den rechten Platz.
Zusammenfassend lässt sich auf die Frage, was gesellschaftliche Ordnung ist und wie sie zustande kommt, antworten:
Gesellschaftliche Ordnung erwächst aus der Institutionalisierung von Verhaltensweisen; sie erhält sich über die Vermittlung verbindlichen Wissens im Prozess der Sozialisation und durch Bestätigung dieses gemeinsamen Wissens in den Interaktionen des Alltags. Im Denken und Handeln wird Wirklichkeit immer wieder von uns hergestellt. Da wir es mit Mitteln, die uns die Gesellschaft zur Verfügung stellt, tun – Sprache, Wissen, Handlungsformen: Institutionen – erhalten wir die soziale Ordnung. (Abels, Einführung: 128)
Soziale Ordnung ist durch Menschen mit Hilfe der von ihnen akkumulierten Zeichensysteme und Wissensvorräte konstruierte Wirklichkeit: ein System zur Kategorisierung der den Menschen umgebenden Lebenswelt, das dessen anthropologisch vorgegebene Weltoffenheit in eine relative Weltgeschlossenheit umwandelt, ihm ein gerichtetes Bewusstsein und damit eine Identität verleiht.
2.4 Sozialisation
In allen Gesellschaften, wo Wissen ungleich verteilt ist und Alltagswelt aus verschiedenen Subwelten besteht, sind fortgesetzte Sozialisationen zur Internalisierung der Werte und Normen dieser Subwelten erforderlich. Je ausdifferenzierter eine Gesellschaft ist, umso mehr aufeinanderfolgende Sozialisationsprozesse sind zur Internalisierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit notwendig. Eine Primärsozialisation würde lediglich in einer einfach strukturierten Gesellschaft ausreichen.
Sozialisation lässt sich definieren als der Prozess der Aneignung von Werten, Normen und Handlungsmustern in einer Gesellschaft. Die Internalisierung dieser Ordnung ermöglicht dem ohne Instinkt geborenen Menschen erst, handlungsfähig zu werden und eine Identität zu erwerben. In der primären Sozialisation werden innerhalb der Familie Urvertrauen, Sprache, Werte und Normen erlernt. Mit sekundärer Sozialisation ist die Phase bezeichnet, in der die Institutionen wie Kindergarten, Schule, Betriebe, Universität usw. zusätzliche gesellschaftsrelevante Wissensvorräte, Werte, Normen und Verhaltensschemata vermitteln. Die Sozialisationsforschung hat nach den großen gesellschaftlichen Umwälzungen im 20. Jahrhundert gesellschaftsanalytisches Potential gewonnen. Nach Wegfall bzw. Abschwächung traditioneller Bindungen und Orientierungen (wie die relative Abnahme der integrierenden Wirkung von Familie oder Dorfgemeinschaften), nach der technischen Rationalisierung, die eine Differenzierung und Abspaltung ganzer Lebensbereiche zur Folge hatte, ist eine Abnahme zwischenmenschlicher Kommunikation zu beobachten. Mediale Kommunikationsangebote können diese nicht kompensieren. Somit stellt sich im Rahmen der Sozialisationsforschung eben die soziale Frage nach den Selbstfindungs- und Selbstbestimmungsfähigkeiten des im modernen, industriellen Lebensapparates eingebundenen und davon abhängigen Menschen, die Frage nach der Herstellung und Aufrechterhaltung dieser Fähigkeiten.
2.4.1 Primärsozialisation
Die Integration von Triebstrukturen und sozialen Verhaltenserwartungen, von Organismus und Gesellschaft - die Synthese des „Ich“ - wird heute als lebenslanger Prozess angesehen, bei dem Umwelt wie Identität als menschlich-gesellschaftliche Konstruktionen von subjektiver und objektiver Wirklichkeit im Bewusstsein verankert werden. Für ihren Bestand ist die Dialektik von Externalisierung, Objektivation und Internalisierung unerlässlich. Die Phase der primären Sozialisation führt an die Teilhaberschaft an der gesellschaftlichen Dialektik heran bzw. in die Gesellschaft an sich ein. Dies geschieht, vom in die vorgegebene Gesellschaft hineingeborenen Individuum aus gesehen, über die Internalisierung. Das Individuum erfasst objektive Vorgänge und Ereignisse, die einen Sinn transportieren, also subjektive Vorgänge im anderen offenbaren. Sie erhalten im Individuum auf diese Weise subjektiven Sinn. Es „versteht“ den anderen, ob richtig oder falsch – d.h. ob der subjektiv gemeinte Sinn mit dem subjektiven verstandenen Sinn zusammenfällt oder nicht. Dieser Vorgang ist die Grundlage, um die Mitmenschen zu verstehen und die Welt als bereits vorgegebene, sinnhafte, gesellschaftliche Wirklichkeit zu erfassen. Damit die subjektiven Vorgänge des anderen und dessen Welt die des Subjekts werden, ist eine gemeinsame Zeit und eine übergreifende Perspektive notwendig – einzelne, auseinanderfallende Situationen werden nun intersubjektiv verbunden. Man bestimmt die Situationen nun wechselseitig füreinander, hat Teil am Sein des anderen. Die Vermittlungsbedingungen sind in hohem Maße gefühlsgeladen. Es wird sogar davon ausgegangen, dass eine Gefühlsbindung elementar für den Lernprozess ist. Das Kind identifiziert sich emotional mit dem signifikanten Anderen – nur dann ist eine Internalisierung überhaupt möglich, übernimmt es Rollen und Einstellungen, wird es erst fähig, sich als sich selbst, mit sich selbst zu identifizieren und schließlich eine eigene, subjektiv kohärente wie plausible Identität zu bilden. Das Selbst spiegelt zugleich die Einstellungen der anderen – der Mensch wird, was die signifikanten Anderen in ihn hineingepflanzt haben: „Das Kind lernt zu sein, wen man es heißt.“ (Wirklichkeit: 143) Über die Rollen und Einstellungen der signifikanten Anderen hat der Einzelne zunächst Anteil an der allgemeinen Dialektik der Gesellschaft. Die Identität ist objektiv gesehen ein Ort in einer bestimmten Welt, kann subjektiv nur gemeinsam mit dieser Welt erworben werden. Selbst ein Name – und damit kommt die Sprache wieder ins Spiel – ist schon einem bestimmten Sprachbereich zugeordnet und markiert einen gesellschaftlichen Ort. Die Welt jener Menschen, die dem Individuum als signifikante Andere auferlegt werden, ist nicht irgend eine, sondern die Welt schlechthin. Sie ist in doppelter Weise gefiltert: Zum einen wählen die elterlichen Personen das, was erziehungsrelevant ist, aus ihrer sozialen Position, zum anderen wird der eigene Umgang mit dieser Position noch einmal von ihnen selbst modifiziert. Im Laufe der Primärsozialisation findet jedoch eine Loslösung von den Rollen und Einstellungen dieser speziellen Anderen statt, synchron zu einer Hinwendung zur Allgemeinheit der anderen überhaupt, zum generalisierten Anderen. Das Kind identifiziert sich progressiv mit dieser Allgemeinheit; Normen gelten nun verallgemeinert auf eine ganze signifikante Gesellschaft. Nicht nur die Vis-à-vis-Identität mit konkreten Anderen, sondern Identität generell angesichts vieler erhält Dauer und Stabilität, wird subjektiv als gleichbleibend erfahren. Gesellschaft, Identität und Wirklichkeit werden gleichzeitig im erwachten Bewusstsein etabliert – Kopf an Kopf mit der Internalisierung von Sprache als wichtigstem Inhalt und zugleich wichtigstem Instrument der Sozialisation. Zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit, die sich in einer annäherungsweisen Symmetrie befinden, entwickelt sich ein Übersetzungsprozess, dessen wichtigstes Vehikel die Sprache ist. Eine echte Symmetrie kann nicht erreicht werden, da mehr objektive Wirklichkeit erreichbar ist, als das Subjekt internalisieren kann. So ist der Inhalt der Sozialisation durch die gesellschaftliche Zuteilung von Wissen bestimmt. Umgekehrt weist die subjektive Wirklichkeit Bestandteile auf, die nicht aus der Sozialisation herrühren: etwa das dem eigenen Körper Innesein. Der Mensch erlebt sich zugleich als innerhalb und außerhalb der Gesellschaft, und seinen Ausgleich zwischen beiden Wirklichkeiten muss er stets reproduzieren. Die Zufälligkeiten, die die Welt der Kindheit ergeben, erlebt das Subjekt als unproblematisch. Es identifiziert sich automatisch mit dieser Welt, da sie die einzig vorhandene ist. Sie ist umso fester ins Bewusstsein gepflanzt als die zahlreichen Welten der sekundären Sozialisation. Als und mittels Sprache werden beliebige institutionelle Begründungs- und Auslegungszusammenhänge internalisiert – diese Erziehungsprogramme sind es, die die Identitäten unterscheiden (etwa zwischen Mädchen und Jungen) und den Grundstein des notwendigen Legitimierungsapparates legen. Die Kinderwelt ist Heimat, stiftet Vertrauen zu signifikanten Anderen und deren Situationsbestimmung. Erst später wird das Vertrauen durch den „Luxus des Zweifels“ (Wirklichkeit: 146) verdrängt, sieht sich das Subjekt nach vielen Lernsequenzen, nach denen es in Besitz eines Selbst und einer Welt bzw. einer Wirklichkeit ist, mit einer neuen Situation konfrontiert: Gesellschaft, Identität, Wirklichkeit sind nie abgeschlossene Größen.
2.4.2 Sekundärsozialisation
In der anschließenden sekundären Sozialisation werden institutionale oder in Institutionen gründende Subwelten mit ihrem jeweiligen, rollenspezifischen Wissen und Vokabular internalisiert. Dieses semantische Feld reguliert Routineauffassung und –verhalten und schließt bestimmte Wertbestimmungen und Affektnuancen mit ein. Einerseits stehen die neuen Subwelten in Kontrast zur Grundwelt, sind aber auch mit ihren normativen, kognitiven und affektiven Komponenten für sich betrachtet kohärent. Der durch Sprache gestützte Legitimationsapparat wird zusätzlich durch rituelle und materielle Symbole gestützt. Sekundäre Sozialisation hat mit der Schwierigkeit zu tun, auf ein bereits primär vorgeprägtes Selbst mit einer komplett internalisierten Welt angewendet zu werden. Diese bereits vorhandene Wirklichkeit muss überlagert werden. Mit Hilfe theoretischer Konstruktionen müssen neue, isolierte Wissensbestände integriert werden. Die sekundäre Sozialisation vollzieht sich ohne Identifikation mit den vermittelnden Anderen. Diese übernehmen die Rolle des Lehrers, die förmliche Vermittlung speziellen Wissens und institutioneller Zusammenhänge. Sie sind als Lehrer typisiert - keine Vermittler von absoluter Wirklichkeit, wie etwa die Eltern. Ihre Rollen sind anonym, von den individuellen Trägern leicht ablösbar. Diese werden damit austauschbar. Auch die Inhalte sind kaum mit subjektiver Unausweichlichkeit befrachtet, der Wirklichkeitsgehalt des Wissens ist leichter verwischbar. Die sekundäre Sozialisation wird erst gefühlsbetont, wenn sie versucht, die subjektive Wirklichkeit des lernenden Individuums umzuwandeln. In der sekundären Sozialisation ergibt sich die Möglichkeit, einen Teil des Wissens, welches nur für rollenspezifische Situationen relevant ist, beiseite zu stellen. So muss sich der Lehrer vertraut und seine Lehrinhalte relevant machen, will er sie im Bewusstsein der Schüler festigen. Er muss die Wissensinhalte in die vertraute Welt und in die bereits bestehenden Relevanzstrukturen einbauen, damit eine subjektive Kontinuität entsteht. Zwar ermöglicht der künstliche Charakter der sekundären Wirklichkeiten rational und emotional kontrollierte Lernsequenzen, diese Wirklichkeiten sind dafür aber besonders zerbrechlich. Die Identifikation mit ihnen, ihr Unabänderlichkeitscharakter hängt immer davon ab, wie gut eine Beziehung zum Personal mit Signifikanz ausgestattet wurde. So wird für die Aneignung sekundärer Sinnwelten in einem unterschiedlichen Maß Versenkung und Hingabe gefordert. Gerade in religiösen Bereichen lässt sich die absolute Zuspitzung solcher Entwicklungen zeigen: Sie gipfelt in der Bereitschaft zur Selbstaufopferung.
2.5 Die Bedeutung der signifikanten und generalisierten Anderen
Die Möglichkeit, dass sich subjektive Wirklichkeit verändert, ist jederzeit gegeben. Selbst die Alltagswelt, die der Mensch als oberste Wirklichkeit empfindet und erfährt, ist durch Grenzsituationen bedroht. Dem Menschen begegnen – nicht nur in seinen Träumen – unheimliche Metamorphosen und dräuende konkurrierende Wirklichkeitsbestimmungen. Der künstliche Charakter der sekundären Sozialisation macht die subjektive Wirklichkeit verwundbar. Umso bedeutender ist es, diese Wirklichkeit in die Routine gesellschaftlicher Prozesse einzubetten und sie so im Bewusstsein präsent und greifbar zu halten. Alles, was den Menschen im Alltag umgibt – Objektivationen und Personen – versichert ihn seiner Wirklichkeit. Die Mitmenschen bekleiden jedoch einen unterschiedlichen Rang in ihrer Funktion als Bewahrer, je nachdem, ob sie signifikante oder eher generelle Andere sind. Die signifikanten Anderen besitzen eine zentrale Stellung, während die sonstigen Anderen eine Art Chor darstellen und auf unterschwellige Weise eine Identität mit der dazugehörenden Wirklichkeit stützen oder in Frage stellen. Berger und Luckmann sprechen von der „stillen Bruderschaft im Vorortzug“ (Wirklichkeit: 160): Sitzt das Individuum erst einmal zwischen Zeitung lesenden Mitfahrern, die ihm die Routine des Alltags, an der er selbst Teil hat, vor Augen führen, verblassen die wirren Träume der frühen Morgenstunden und das Gefühl, die Familienmitglieder und sich selbst im Spiegel nicht erkannt zu haben. Mit der Wirklichkeit wird ein entscheidendes Element der Identität abgesichert. Die Familie und private, intensivere Bekannte nehmen dabei die „Starbesetzung“ als „Versicherungsagenten“ ein: Sie liefern nicht nur eine indirekte, sondern die direkte, gefühlsgetragene Gewissheit bezüglich des Selbst und seiner Umwelt. Diese Versicherung des Selbstbildes kann auch seitens der wichtigen Personen im Leben entzogen werden – in diesem Fall muss das Individuum entweder seine Wirklichkeitsauffassung oder seine Kontakte verändern. Die Organisation wirklichkeitssichernder Beziehungen ist gerade in modernen, hochmobilen und nach Rollen differenzierten und differenzierenden Gesellschaften äußerst tückenreich und kompliziert. Die Mitmenschen treten wiederum in eine dialektische Beziehung untereinander und mit dem Subjekt. Eine negative Identifizierung aus dem weiter gefassten sozialen Umfeld beeinflusst die Identifizierung seitens signifikanter Anderer – und umgekehrt. Die Wirklichkeits- und Identitätsversicherung betrifft die gesamte soziale Umwelt.
2.6 Bedeutung der Sprache
Wirklichkeitserhaltung kommt nicht ohne das Vehikel der Unterhaltung aus: „Das Alltagsleben des Menschen ist wie das Rattern einer Konversationsmaschine, die ihm unentwegt seine subjektive Wirklichkeit garantiert, modifiziert und rekonstruiert.“ (Wirklichkeit: 163) Dabei betonen die Autoren, dass der größte Teil dieser Stütze implizit im Gespräch vorhanden ist. Gespräche drehen sich nicht unmittelbar um Wirklichkeit – ihre Bestimmung läuft indirekt vor dem Hintergrund einer Welt, die stillschweigend für gewiss gehalten wird, ab. Dies geschieht in Aussagen, dir nur innerhalb dieser Welt einen Sinn haben. Noch so nebensächlich, stützen sie den von den Interaktionspartnern vorausgesetzten Horizont. In der Alltagsroutine gewinnt die subjektive Wirklichkeit durch Häufigkeit und Dichte der Unterhaltungen Volumen. „Der Verlust an Beiläufigkeit ist das Signal für einen Bruch in den Routinen und, mindestens potentiell, eine Gefahr für die Gewißheit […].“ (Wirklichkeit: 164)
Das Gespräch modifiziert das als gewiss eingeschätzte Gegebene zugleich. Gesprächsgegenstände werden aufgenommen, fallen gelassen, bestärkt oder abgeschwächt. Das Durchsprechen von Erfahrungselementen und ihre Einordnung in die wirkliche Welt bewirkt eine Verwirklichung der Konversationsmaschine. Inhärent ist dies bereits durch die Objektivationsmacht der Sprache gegeben. Sprache transformiert Erfahrungen in eine kohärente Ordnung und verwirklicht die Welt im doppelten Sinne: Sie begreift und erzeugt sie. Das Gespräch aktualisiert ihre verwirklichende Wirkung. Die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft stellen folglich füreinander verwirklichende Andere dar. Gespräche können nach ihrer Wirklichkeitsdichte unterschieden werden, bis hin zu einer legitimierten Vorzugsstellung von Gesprächen mit Fachleuten, wie z.B. Therapeuten, Theologen, Ärzten, Wissenschaftlern und Politikern. Subjektive Wirklichkeit ist an bestimmte Plausibilitätsstrukturen und an die sie liefernde und lebendig haltende Umgebung gebunden. Sie muss im Gespräch mit anderen, für die sie ebenso relevant ist, aufrecht erhalten werden, um jeder Art von Zweifeln eine Absage erteilen zu können. Wirklichkeitsbedrohungen werden nihiliert – die Härte der Sanktionen bestimmt sich nach der Größe der Bedrohung für die etablierte Wirklichkeit.
2.7 Veränderbarkeit subjektiver Wirklichkeit
In all diesen Ausführungen schwingt die Veränderbarkeit subjektiver Wirklichkeit mit. Dies kommt in verschiedenen Graden bis hin zur Transformation vor. Eine solche Transformation ist allerdings niemals vollständig, da die subjektive Wirklichkeit – wie bereits erwähnt – nie völlig ansozialisiert ist. Zumindest der eigene Körper und die bewohnte physische Welt bleiben gleich. Um eine Verwandlung zu erreichen, muss eine Resozialisation durchgeführt werden – sie ähnelt der Primärsozialisation. Da sie jedoch neue Wirklichkeitsakzente auf alte nomische Strukturen setzen muss, ist sie gezwungen, diese völlig zu demontieren. Sie bedarf zudem zweier Bedingungen: einer überzeugenden Plausibilitätsstruktur und der Identifikation mit dem Vermittlungspersonal, da es ja um eine gesellschaftlich völlig neue, kognitive wie affektive Ausrichtung geht. Entscheidend ist des Weiteren die Stabilität des neuen Weltsinns in der Gemeinschaft. Die neue Welt muss die alte verdrängen, und dies macht eine Absonderung von der alten und ihren Vertretern notwendig – im Idealfall physisch, ansonsten durch eine Definition. Vor allem im frühen Stadium des Sinneswandels ist es notwendig, nicht dem Einfluss der „Ungläubigen“ ausgesetzt zu sein. Die Beziehungen zu den Außenseitern können wieder aufgenommen werden, wenn die neue Wirklichkeit erst einmal verfestigt ist. Theoretische Voraussetzung ist ein geeigneter Legitimationsapparat, der die Aneignung und Erhaltung des neuen Sinngefüges ebenso plausibel macht wie die Verkettung mit den alternativen, demontierten Wirklichkeiten. Die alte Welt muss von dem Zeitpunkt an, zu dem der Bruch mit ihr vollzogen ist, neu dargestellt werden. Was der Verwandlung voranlief, wird auf sie hinführend präsentiert, negativ bewertet und damit zum „strategischen Ausgangspunkt“ erhoben. Da es schwerer ist, Vergangenes zu vergessen, wird dieses mit Fiktionen ergänzt und neu interpretiert, um Erinnerung und neue Sinngebilde aufeinander abzustimmen. So ist vermeintliche Aufrichtigkeit bezüglich vergangener Ereignisse und Personen möglich. Empirisch gesehen finden sich, gerade in modernen Gesellschaften mit ihrer sozialen Mobilität und ihren unterschiedlichsten Berufsausbildungen, viele Zwischentypen und Teilumwandlungen. Ein Vertreter der höheren Mittelklasse etwa muss, zumal er womöglich noch von alten Bekannten umgeben ist, die ihm die Vergangenheit vorhalten, einen Zusammenhang zwischen früheren und späteren Lebenselementen finden, um seine subjektive Wirklichkeit zu sichern. Je näher die sekundäre Sozialisation einer Resozialisation steht, umso dringlicher wird dieses Unterfangen. Bei den vielfältigen Umformungen im Rahmen hoher sozialer Mobilität liefert die Gesellschaft bereits vorgefertigte Interpretationsmuster, da gewisse Veränderungen allgemein als erwünscht und sogar notwendig angesehen werden. Diese schon vor der sozialen Positionsveränderung internalisierten Interpretationsmuster sichern die persönliche Mobilität und mildern Kontraste ab. Ähnliche Mechanismen wirken bei radikalen Transformationen auf Zeit, wie etwa beim Militärdienst oder einem Aufenthalt im Krankenhaus. Das Subjekt bewahrt hier den Zusammenhang durch das Gefühl, dass es als Zivilist bzw. Gesunder zurückkehren kann. Die Resozialisation bezieht sich, was die Wirklichkeitsgrundlage betrifft, auf die Gegenwart, die sekundäre Sozialisation baut auf der Vergangenheit auf.
2.8 Identitätspluralismus
Das Maß des Sozialisierungserfolges hat soziokulturelle Grundlagen und Folgen. Eine erfolglose Sozialisierung zeichnet sich durch eine Asymmetrie zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit aus. In einer Gesellschaft mit einfacher Arbeitsteiligkeit und Wissensaufsplitterung ist wahrscheinlich ein maximaler Erfolg möglich. Das Selbst liegt nicht geschichtet vor, in dem Sinne, dass es keine tiefere, wirklichere Rolle gibt – ein Bauer des Mittelalters fühlt sich als Bauer, ist unteilbar er selbst, egal welche Teilrolle er gerade ausfüllt (ob Feldarbeit oder Erziehung des Kindes) und ihm im Moment gegenwärtiger ist, also an der Oberfläche liegt. In differenzierteren Gesellschaften vermitteln verschiedenartige Andere verschiedenartige objektive Wirklichkeiten. Die hier gemeinte Widersprüchlichkeit im Personal ergibt sich aus unterschiedlichen Typen (wie Männer und Frauen), nicht aus Individualität. Eine misslungene Sozialisation ist in diesem Fall schon eher möglich. Normalerweise bestimmen die signifikanten Anderen den richtigen Ort für das Kind. Bei einer Konkurrenz von Wirklichkeitsbestimmungen kann es zu einem Abweichen von der Norm kommen – das Kind identifiziert sich nicht mit der „richtigen“, gesellschaftlich zugedachten, Version. Aber erfolglose Sozialisation kann auch Ergebnis widersprüchlicher Weltvermittlung sein: Bei der Aufteilung des Wissens sind widersprüchliche Welten erreichbar – statt verschiedener Versionen einer gemeinsamen Welt, die auf das Sozialisierungspersonal verteilt sind, liegen hier unterschiedliche Wirklichkeiten vor. Eine bestimmte Identifizierung kann von außen herangetragen werden – im Inneren des Subjekts sieht aber die Rangfolge internalisierter Welten anders aus (Beispiel: Ein Kind aus bürgerlichem Haus wird von einem Kindermädchen aus den unteren Schichten erzogen und nimmt ihre Werte und Ansichten an). Eine Verwandlung wird möglich durch die schärfere Wahl, vor die nun das Subjekt gestellt ist. Es gerät in den Zwiespalt vieler Identitäten und befreit sich daraus durch eine geheime Identität, die gesellschaftlich nicht anerkannt oder erwartet wird. „Wahrscheinlich sind alle Menschen, wenn sie erst sozialisiert sind, latente ‚Verräter an sich selbst’“ (Wirklichkeit: 181), indem sie stets vor der schwierigen Entscheidung stehen, welches Selbst in bestimmten Situationen verraten werden soll. Dies ist der Fall, wenn sie sich mit verschiedenen signifikanten und generalisierten Anderen identifizieren. Falls diese Möglichkeit zur Option bereits primär internalisiert wurde, besteht die Gefahr der Verwandlung ein Leben lang. Der Charakterzug des Individualismus mildert diese Gefahr ab, da er ja darin besteht, sich individuell zwischen verschiedenen Wirklichkeiten und Identitäten zu entscheiden und favorisierte Elemente zu übernehmen. Auch für erfolgreich sozialisierte Menschen stellt sich die Frage nach der eigenen Identität, indem sie erfolglos sozialisierten Menschen begegnen – Menschen mit verborgenem Selbst, Verräter, Wanderer zwischen den konträren Welten – und sich über sie unter Einbezug des eigenen Selbst Gedanken machen. Es ist die Konfrontation mit der Freiheit, zu wählen, ob man nun in seiner Kindheit „richtig“ oder „falsch“ determiniert wurde. Der besondere gesellschaftliche Typ des Individualisten hat immerhin den Mut zum Wanderer: Er konstruiert individuell und setzt aus dem Material, welches ihm verschiedene optionale Identitäten bereitstellen, seine eigene zusammen. Die dritte Situation misslungener Sozialisation entsteht bei einem starkem Widerspruch zwischen primärer und sekundärer Sozialisation. Zwar vermittelte die primäre Sozialisation eine Einheit, in der sekundären Sozialisation tauchen dann jedoch alternative Wirklichkeiten und Identitäten auf. Die eigenen Grenzen sind durch den soziokulturellen Zusammenhang gezogen. In der Differenzierung der sekundären Sozialisation ist es jedoch möglich, die Identifikation mit dem eigenen, gesellschaftlich erwünschten, „richtigen“ Platz aufzuheben. Die soziale Struktur verhindert die subjektiv gewünschte Identität. Als einziger Ausweg bleibt eine Phantasieidentität. Das Selbstbild entspricht nicht der objektiv zugewiesenen und primär internalisierten Identität. Häuft sich dieses Phänomen in einer Gesellschaft, kommt es sehr wahrscheinlich zu ernsthaften sozialen Spannungen. Während eine Wahl zwischen Identitäten aus der primären Sozialisation, eine Identifikation, Entidentifikation und Verwandlung in diesem Zusammenhang von emotionalen Krisen begleitet ist, gestaltet sich die Lage in der sekundären Sozialisation anders: Eine Internalisierung verschiedener Wirklichkeiten ist ohne Identifikation möglich. Damit kann die Option manipuliert werden, eine „kühle Verwandlung“ (Wirklichkeit: 183) stattfinden. Die neue Wirklichkeit ist damit nicht zwangsläufig die dem Individuum entsprechende, sondern irgend eine Wirklichkeit für besondere Zwecke. Das Rollenspiel kann mit subjektiver Distanz ausgeführt werden. Als breiteres gesellschaftliches Phänomen, auf die institutionale Ordnung übertragen, läge ein Netzwerk wechselseitiger Manipulationen vor. In modernen Gesellschaften mit ihren konträren Welten wächst das Gefühl für die Relativität aller Welten, die eigene eingeschlossen. Das eigene Verhalten wird als Rolle aufgefasst, die benutzt und kontrolliert werden kann. Man spielt nun auch eine dauerhafte Scheinidentität, die aber so von anderen als die „richtige“ angenommen wird. Der Begriff einer festen Identität weicht zunehmend auf. Durch Arbeitsteiligkeit, Differenzierung, Pluralisierung und die zunehmende Aufteilung von Wissen ist ein Wirklichkeits- und Identitätspluralismus entstanden.
2.9 Identität in der Moderne
Die Frage nach dem Selbst hat eine lange Geschichte, war jedoch zunächst, wie in der Antike, in ernsthafter Form nur wenigen Denkern und Philosophen vorbehalten, die dem harten Geschäft des täglichen Lebensunterhalts enthoben und auf vielfältige Weise privilegiert waren – auch wenn der anthropologisch-philosophische Anspruch, etwa eines Sokrates, für die Allgemeinheit galt. Im 19. Jahrhundert gehörte Identität längst zum Themenkreis des Bürgertums. In persönlichen Schriften wie Briefen, Tagebüchern, Charakterstudien und Biographien scheint der Diskussionsbedarf bezüglich der Selbstauffassung durch. Aber eben auch die Art der Selbstwahrnehmung erfährt zur Wende des 20. Jahrhunderts etwa mit Marx (Ideologiekritik) und Freud (Psychoanalyse) eine zentrale Problematisierung. Der Bürger wird sich der Subjektivität aller Fremd- und Selbstwahrnehmung bewusst und stößt damit auf die Erkenntnis, dass das Selbst erst im Akt der Selbstdarstellung geschaffen wird (vgl. Hettlage, Identitäten: 10f.). Für die Moderne kann dann ein extremer Reflexionsschub bescheinigt werden, der sich aus wachsenden Identitätskrisen, Selbstzweifeln und Orientierungsschwierigkeiten ergibt. Bahnbrechende Beschleunigungs- und Differenzierungsentwicklungen in den westlichen Gesellschaften, ausgehend von der Mitte des 19. Jahrhunderts, haben zu diesem Defizit geführt. Die Ordnung des Lebens, stabile, auf Traditionen beruhende Geltungskriterien werden brüchig. Wissenschaft und Kunst markieren mit ihrer Abwendung von alten Themen, Orientierungsmaßstäben und Selbstdefinitionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt dieser Entwicklung (vgl. Identitäten: 11). Vier gesellschaftliche Entwicklungen bereiten im Wesentlichen die bürgerliche Identitätskrise (bezogen auf Europa) vor und ermöglichen ihre Entfaltung: a) Das Bild einer geordneten, geplanten, in Ruhe und Stabilität lagernden Geschichte und eines geradlinigen Fortschrittes muss relativiert werden. Dynamik und Wechselhaftigkeit werden zum zentralen Thema. Im Zuge dreier Wirtschaftskrisen (1871, 1885 und 1889ff.) verliert das Bürgertum den ungetrübten Glauben an Fortschritt und sichere Zukunftsplanung, angesichts zunehmender funktionaler Differenzierung und sozialer Mobilität die Hoffnung auf die Wahrung bürgerlichen Sinnes und Standesbewusstseins. b) Die Privatheit und mit ihr stabile Raum- und Zeiterfahrung werden von zunehmend unpersönlicher Öffentlichkeit im Sinne einer Verstädterung und einer Häufung von Außenreizen verdrängt. c) Freud betont die Macht der libidinösen Energien. Das rational ordnende Bewusstsein gebietet nun nicht mehr allein über das Selbst. Gemäß Freud sind, neben im Widerstreit des Individuums mit den Kulturerfordernissen enstehenden Idealen, Ängsten, Reizen und Bedrohungen, auch aggressive und sexuelle Triebenergien und –bedürfnisse an der Formung des Bewusstseins beteiligt. d) Die beherrschende Position des Adels und aufstrebenden Bürgertums wird obsolet, kleinbürgerliche und proletarische Schichten gewinnen an Macht, da sich die Marktgesellschaft vom Liberalismus zur staatlich geregelten Marktwirtschaft bewegt. Bürgerliche Vorstellungen einer festen, nationalen, milieuspezifischen, individuellen Identität wanken.
Die Hegemonie des Bürgertums, Sinnbild für Stabilität und Ordnung, geht im vorangetriebenen Lebensstil der Moderne unter. Der Mensch erlangt individuelle Freiheit - zum Preis einer Herauslösung aus alten Ordnungssystemen, völliger Ich-Bezogenheit und Identitätspluralismus, unter der er sich, auf sich zurückgeworfen, alleine zurechtfinden, eigenverantwortlich seine Biographie „zusammenbasteln“ und ihr zur Wahrung seiner eigenen „Basis-Identität“ (Identitäten: 26) Sinn verleihen muss. Der Selbstentwurf bedarf, wie bereits mehrfach gesagt, der anderen. Er entsteht in der Interaktion – ist eine Konstruktion - und daher sowohl immer vorläufiger Identitätsentwurf als auch äußerst verletzlich, bei jeder Interaktion der Gefahr der Entweihung ausgesetzt. Der „urbanisierte, säkularisierte Mensch“ (Identitäten: 19) hütet sein Selbstbild als „letztes Heiligtum“, das der Verehrung, der „Entprofanisierung“ bedarf (Identitäten: 20) . Dazu ist er auf das Urteil anderer angewiesen: Er muss erkannt werden, muss sich allerdings – und darin besteht das Drama - im selben Maße wieder von den anderen abheben, ihnen Widerstand leisten, um als Individuum identifizierbar zu bleiben. Diese anderen gehören jedoch selbst bestimmten sozialen Körperschaften an und stellen somit Anforderung an das Individuum, will dieses von ihnen anerkannt werden. Identität ist ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Erkennen, Erkannt- und Anerkanntwerden, eine „balancierende Identität“ (Hettlage, 21). In der Postmoderne verschärft sich nun das Problem der Identitätsfindung und –wahrung.
[...]
[1] Identität setzt voraus, a) sich selbst zu erkennen (Wer bin ich bzw. wer war ich?): Ich verknüpfe sinnhaft die fragmentarischen Lebensmomente und unterschiedlichen Rollen, die ich in der Gesellschaft spiele bzw. erfülle; b) erkannt zu werden (Wer bin ich nicht?): Ich versichere mich über die anderen einer bestimmten Identität, sehe mich sozusagen durch die Augen der anderen und richte mein Verhalten und Handeln entsprechend aus. Mein soziales Umfeld weißt mir bestimmte Rollen zu. Diese Rollen beinhalten immer die Abgrenzung zu anderen möglichen Rollen; c) anerkannt zu werden (Zu welcher Gruppe gehöre ich?): Bei der Rollenzuweisung bestimmt das soziale Umfeld, was allgemein nicht erwünscht, was normal und anormal, was gesellschaftlich relevant oder irrelevant ist. Das Subjekt ordnet sich einer bestimmten Gruppe zu, in der es soziale Anerkennung sucht. Diese Gruppe versichert es im Idealfall seiner gewünschten Identität.
[2] In der subjektiven Internalisierung der sozialen Ordnung durch die Primärsozialisation (in der Familie) und durch die darauf folgenden Sekundärsozialisationen (durch generalisierte Andere, gesellschaftlich ernannte Lehrer etc.) kann nie die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit erfasst werden. Das Subjekt kann sich in einer modernen, hochkomplexen Gesellschaft nur noch zurechtfinden, indem es sich auf relevante Handlungsfelder beschränkt (s. auch Abschnitt zur gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion).
[3] Der Gedanke stammt von Adolf Portmann (das „extrauterine Frühjahr“); vgl. Portmann, Zoologie: o. A. ; vgl. Berger, Wirklichkeit: 50.
[4] In der Literaturgeschichte finden sich zahlreiche Schriften, die sich mit der Unvollkommenheit der menschlichen Kultur beschäftigen. Der Mensch, so die Aussage, ist auf einer ewigen Suche nach der im Paradies verlorenen Unschuld der naiven Existenz. Kultur umfasst danach die Ergebnisse der unablässigen Bemühung, die abhanden gekommene Perfektion wiederzuerlangen. Die alte Verbundenheit des Menschen mit den ihn umgebenden Dingen (wie etwa das Eingebundensein der Griechen in eine göttliche Ordnung) ist einer ständigen Reflexion über das Wesen der Dinge und der eigenen Existenz – ist der Last des Bewusstseins - gewichen.
Als Beispiele solcher Gedankengänge seien die Ästhetiktheorie Friedrich Schillers in Über naive und sentimentalische Dichtung oder Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater genannt. Schiller stellt dem zu kopflastigen und daher wirkungslosen Idealismus der sentimentalen Dichtung, die nach dem Wesen des Seins fragt, den zu kurzsichtigen Pragmatismus des einfachen Volkes gegenüber, das sich in flacher Unterhaltung ergeht, statt über seine Existenz nachzudenken. Dennoch gesteht er den Vertretern der Ästhetik politisches Potential für eine Verbesserung der Gesellschaft zu. Kunst, insbesondere verwirklicht durch den Typus des Genies, hat die Macht, Menschen auf eine bessere Stufe der Existenz und Selbsterkenntnis zu heben, indem sie ihm das Ideal menschlichen Daseins vorführt. Ernesto Grassi (Kunst und Mythos) als Vertreter des Neohumanismus gesteht insbesondere der Dichtkunst, also der Sprache, heilenden Charakter zu, während ein postmoderner Autor wie Paul Auster nicht derart pathetisch denken und der Sprache als Werkzeug für die „große Erzählung“ lediglich Unentbehrlichkeit bezüglich der Sicherung der Identität des Menschen zusprechen würde. Kleist indessen sah im unablässigen Bemühen des Menschen, mittels seines Verstandes und Bewusstseins ein zweites Mal vom Baum der Erkenntnis zu essen (vgl. Kleist, Marionettentheater: 16), ein ins Endlose reichendes Unterfangen. Da der Weg zurück ins Paradies aber versperrt ist, muss sich seiner Aussage nach der Mensch zwangsläufig auf diese ungewisse Odyssee begeben. In der Anekdote vom Fechtkampf mit dem Bären (vgl. Kleist, Marionettentheater: 15) stellt er der verstandesgeleiteten Fechtkunst des Menschen den animalischen Instinktapparat in Form des Bären direkt gegenüber. Der Bär bleibt unbesiegbar, da er nicht ständig bewusst reflektieren muss, sondern einfach reagiert.
[5] Norbert Elias hat in seiner zweibändigen Untersuchung Über den Prozeß der Zivilisation eine Tendenz in der Entwicklung der Gesellschaft des Abendlandes hin zu einer zunehmenden Trieb- und Affektkontrolle ausgemacht. Am Beispiel der Gewaltbereitschaft, der Hygiene, der Manieren und der Sexualität zeigt er auf, wie der homo socius in einem historischen Prozess mehrere Stadien der Psychogenese, hin zu einer Zivilisierung des Verhaltens, durchläuft. Zu Beginn des analysierten Zeitraums, im frühen Mittelalter, ist das Verhalten relativ unreguliert, von spontanen Trieben und Affekten bestimmt. Erst gegen Ende des Mittelalters verfeinern sich die Sitten, ihre Lehre gewinnt in der Renaissance eine neue Qualität, etwa bei Erasmus von Rotterdam: Dieser stellt nicht nur das bisher übliche Verhalten als „unzivilisiert“ hin, es wird sogar verboten. Neu ist auch, dass man gehalten ist, das eigene Verhalten zu beobachten und entsprechend den neuen Vorschriften zu regulieren. Im Verhalten wie im äußeren Erscheinen spiegele sich die Seele des Menschen. Verhaltensbeobachtungen und –regulationen beschleunigen sich in den folgenden Jahrhunderten, bis sie in der „étiquette“ der höfischen Gesellschaft einen vorläufigen Höhepunkt erreichen. Das Verhalten ist nun verfeinert und durchreguliert. Nicht spontane Triebe und Affekte bestimmen es, sondern gesellschaftliche Regeln von Sitte und Anstand. „Man sieht differenzierter, d.h. mit stärkerer Zurückhaltung der eigenen Affekte.“ (vgl. Elias, Zivilisation 1: S. 91) Man ißt, zumindest im höfisch-aristokratischen Kreis, nicht mehr aus einer gemeinsamen Schüssel, sondern vom eigenen Teller; man benutzt kostbares Essbesteck, beginnt Servietten zu verwenden und man parliert während des Essens in gewählter, streng kontrollierter Sprache. Das Benehmen scheidet neu von alt, zivilisiert von unzivilisiert, Oberschichten von Unterschichten. Ähnliche Zivilisierungskurven zeichnet Elias für die körperlichen Verrichtungen auf, die erst ab der Renaissance mit Scham- und Peinlichkeitsemfpindungen belegt und, ebenso wie die Sexualität, „hinter den Kulissen“ des gesellschaftlichen Verkehrs und in die Privatssphäre der Kleinfamilie verlegt werden. (vgl. Zivilisation 1: 222). Dieser säkulare Verhaltenswandel wird als Resultat einer tiefgreifenden Persönlichkeitsmodellierung angesehen. Merkmale sind die permanente Zurückdrängung von Trieben und Affekten als Regelungsmechanismen des menschlichen Verhaltens. Das Verhalten des Einzelnen muss kalkulierbarer werden, was eine permanente Kontrolle von Trieben und Affekten erforderlich macht. Schübe von Affektkontrolle erfolgen schrittweise durch gesellschaftliche Verbote und Sanktionen, d.h. durch Fremdzwänge. Um auf Dauer wirksam zu sein, müssen sich diese jedoch in Selbstzwänge verwandeln, die in blindem Gehorsam als Automatismen, unabhängig von situationsabhängigen Sanktionen wirksam sind. Elias nennt diesen Prozess, in dem diese Affektregulation ansozialisiert wird, „Konditionierung auf den bestehenden gesellschaftlichen Standard“ (vgl. Zivilisation 1: 329). Diese Konditionierung erfolgt durch die Ausbildung einer psychischen Struktur, die umgangssprachlich als „Gewissen“, „Vernunft“ oder (in Anlehnung an Freud) als gesellschaftliches „Über-Ich“ bezeichnet wird. Cas Wouters sieht diese Entwicklung in der „Informalisierung“ der Gesellschaft fortgesetzt: Gewisse Regeln, etwa die Anwesenheit am Arbeitsplatz, werden auf ein für die allgemeine Ordnung notwendiges Ausmaß begrenzt. Im genannten Beispiel ersetzt die Gleitzeit feste Arbeitszeiten. (vgl. Baumgart, Einführung: 96)
[6] Bis zum heutigen Tage wurde keine ernsthafte Kritik an der Theorie der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit geäußert, wohl auch deshalb, weil sie einem aufgeklärten Bedürfnis nach politischer Mitbestimmung entspricht, indem sie die Hoffnung weckt, dass der Einzelne jederzeit etwas an der bestehenden Ordnung ändern könne.
[7] Den Begriff übernehmen Berger und Luckmann von Alfred Schütz.
[8] Es muss ergänzt werden, dass mit dem Augenkontakt eine Minimalform der Interaktion gegeben ist. Telefongespräche oder Briefkontakt ohne Blickwechsel gehören natürlich auch zur Wir-Beziehung. Die Frage der Nähe und Ferne, nach dem Grad der Anonymität, kann nur insofern beantwortet werden, als dass die Fremdidentifikation umso dichter ausfällt, je näher und häufiger der Kontakt mit einem bestimmten Interaktionspartner stattfindet.
- Quote paper
- Frank Muscheid (Author), 2003, Identitätssuche und Identitätsverlust in Paul Austers "Stadt aus Glas", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122963
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