Auch wenn die Geschichte der Menschheit schon in Antike und Mittelalter das Phänomen der teilweisen oder vollständigen Vernichtung ethnischer und religiöser Gruppen kannte, besteht der Straftatbestand des Genozids erst seit dem Inkrafttreten der entsprechenden Resolution durch die Vereinten Nationen im Jahr 1951. Im 20. Jahrhundert erreichte der Völkermord aber ein neues, bis dato unbekanntes und gleichzeitig immenses Maß an Zerstörung. Die gezielte und planmäßige Vernichtung der Armenier während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich stellt einen neuen Typus des Genozids dar , der das 20. Jahrhundert prägen sollte.
Obwohl er sich bald zum einhundertsten Mal jährt, ist der Genozid an der armenischen Bevölkerung bis heute nicht vollständig aufgearbeitet. Insbesondere trifft das auf die Gruppe der Nachfahren der Täter von damals zu, die teilweise auch in ideologischer Hinsicht deren Nachfolger sind. In der Republik Türkei, die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Osmanischen Reich hervorging, wird bis heute offiziell nicht von einem Völkermord gesprochen. Wer dies doch tut, dem drohen Anklage sowie Geld- und Gefängnisstrafe , wobei die Schriftsteller Elif Shafak und Orhan Pamuk wohl die prominentesten Beispiele dafür darstellen.
Die vorliegende Arbeit untersucht, welche Ereignisse dazu führten, dass statt 1,3 bis 2,1 Millionen (vor 1915) heute nur noch einige Zehntausend Armenier in der Türkei leben. Die zentrale Fragestellung lautet: Ist der Tatbestand des Genozids zwischen 1915 und 1917 erfüllt? Daran anknüpfend ergibt sich eine Reihe weiterer Fragen: Welche Ursachen waren überhaupt ausschlaggebend für das Vorgehen gegen die Armenier und die Entwicklung von Deportationen und Massakern hin zum Völkermord? Wie gingen die Täter vor, wie wurden die Opfer behandelt? Wer waren überhaupt die Tätereliten und wodurch war ihr Denken und Handeln beeinflusst? Zwar war der Völkermord regional auf das Territorium des Osmanischen Reichs begrenzt, doch wenn man die Frage nach den Tätern stellt, kommt man nicht umher, auch die Rolle Deutschlands zu untersuchen. Bestand hier eine Mitverantwortung am Genozid an den Armeniern? Haben sich auch andere Staaten durch das Unterlassen von Hilfeleistungen mitschuldig gemacht?
Die schon angesprochene Frage nach der Aufarbeitung des Genozids mit dem Schwerpunkt Türkei schließt den Rahmen der vorliegenden Untersuchung.
Inhaltsverzeichnis
- Einführung
- Der Genozid an der armenischen Bevölkerung
- Ursachen
- Deportationen - Massaker - Genozid
- Ablauf der Deportationen und Massaker
- Tätereliten: Verantwortliche und Ausführende
- Aufarbeitung nach Ende des Ersten Weltkriegs
- Die spezielle Rolle des Deutschen Kaiserreichs im Osmanischen Reich
- Was ist Mitverantwortung?
- Politischer Opportunismus als Problem
- Das türkische Verhältnis zum Völkermord - „Die Genozidlüge“
- Der behauptete Völkermord
- Die Leugnung des Genozids als eine „andere Seite der Medaille“
- Zusammenfassung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht den Völkermord an den Armeniern zwischen 1915 und 1917 im Osmanischen Reich. Die zentrale Frage ist, ob der Tatbestand des Genozids erfüllt ist. Zusätzlich werden die Ursachen des Völkermords, das Vorgehen der Täter, die Rolle des Deutschen Kaiserreichs und die türkische Aufarbeitung bzw. Leugnung des Genozids beleuchtet.
- Ursachen des Völkermords an den Armeniern
- Ablauf der Deportationen und Massaker
- Identifizierung der Tätereliten und ihrer Motive
- Die Rolle des Deutschen Kaiserreichs
- Die türkische Perspektive und die Leugnung des Genozids
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einführung stellt die zentrale Forschungsfrage nach der Erfüllung des Genozidtatbestands und weitere relevante Fragen zur Genese und Aufarbeitung des Völkermords. Kapitel 2 beleuchtet die Ursachen des Genozids, beginnend mit langfristigen Diskriminierungen der armenischen Minderheit im Osmanischen Reich bis hin zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der Rolle des Komitees für Einheit und Fortschritt (KEF). Es beschreibt den Ablauf der Deportationen und Massaker und benennt die Tätereliten. Kapitel 3 analysiert die Mitverantwortung des Deutschen Kaiserreichs im Kontext des Völkermords. Kapitel 4 beschäftigt sich mit der türkischen Sichtweise auf den Genozid und der Strategie seiner Leugnung.
Schlüsselwörter
Armenischer Genozid, Osmanisches Reich, Erster Weltkrieg, Jungtürken, Komitee für Einheit und Fortschritt (KEF), Deportationen, Massaker, Tätereliten, Deutsche Mitverantwortung, Genozidleugnung, Türkei.
- Quote paper
- Matthias Riesch (Author), 2008, Behaupteter Völkermord? Der Genozid an den Armeniern von 1915-1917, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122296