Betrachtet man die aktuelle Pagnol-Rezeption näher, so fällt zunächst einmal die Spaltung der Kritiker in zwei Lager auf. Die Arbeit verfolgt zunächst das Ziel, die Hintergründe der aktuellen Pagnol-Rezeption transparent zu machen.
Dienlich hierfür ist die Feldtheorie des Soziologen Pierre Bourdieu, das heißt speziell die Theorie des literarischen Feldes, welche er in seinem Werk „Les règles de l'art“ darlegt. Anhand ihrer können die maßgeblichen Faktoren, die daran beteiligt waren, Pagnol den aktuellen Platz in der Literaturgeschichte zuzuweisen, aufgedeckt werden. Hierzu wird im Einzelnen die Kritik an Pagnol, die sich letztendlich auch in bestimmten Klassifizierungen niedergeschlagen hat, aus dem Blickwinkel der bourdieuschen Theorie des literarischen Feldes betrachtet. Hier ist vor allem Marcel Pagnols Implikation in die Konkurrenzkämpfe zwischen Theater und Kino und zwischen Tonfilm und Stummfilm von Bedeutung. Darüber hinaus wird auch die Kritik an werkimmanenten Aspekten — die zu Klassifizierungen wie auteur léger und auteur facile geführt haben — analysiert mit der Intention, die häufig übersehene tiefere Bedeutung dieser Aspekte aufzuzeigen. Abschließend sollen dann exemplarisch anhand der Analyse der Werke „Topaze“ (1928), „La femme du boulanger“ (1938) und des zweibändigen Werkes „L‘Eau des collines“ (1963), das „Jean de Florette“ und „Manon des sources“ umfasst, die tieferen Sinnschichten sowie die Aussageintention des Autors aufgezeigt werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die aktuelle Pagnol-Rezeption
3. Die Feldtheorie von Pierre Bourdieu
3.1. Einführung
3.1.1. Zentrale Begriffe der bourdieuschen Theorie: Klasse, Habitus, Feld und Kapital
3.1.2. Die Struktur des Feldes
3.2. Les règles de l‘art: Das literarische Feld und seine Struktur
4. Die Kritik an Marcel Pagnol im Lichte der bourdieuschen Theorie des literarischen Feldes
4.1. Funktion und Wirkung der Kritik
4.2. Marcel Pagnol und das Theater: Die Klassifizierung Pagnols als Boulevardautor
4.3. Marcel Pagnol und das Kino
4.3.1. Marcel Pagnol und der Konkurrenzkampf zwischen Kino und Theater
4.3.2. Der Film innerhalb der Gattungshierarchie
4.3.3. Pagnols kommerzieller Erfolg
4.3.4. Verortung am Pol der 'kommerziellen' Kunst: der kurze Produktionszyklus
4.3.5. Marcel Pagnol und der Kampf zwischen Tonfilm und Stummfilm
4.3.6. Marcel Pagnols Verstoß gegen die etablierten Regeln
4.3.7. Théâtre en boîte : Der Vorwurf des 'abgefilmten Theaters'
5. Die Klassifizierung Marcel Pagnols als auteur léger
5.1. Zur Bedeutung der Komik und des Lachens in Pagnols Werk
5.2. Die Provence: Regionalität und Universalität
5.2.1. Vergils Bukolika
5.2.2. Der Vorwurf der unrealistischen Darstellung der Provence
5.3. Der Vorwurf des plein pastis sentimental: Klischees und Melodramatik
6. Die Klassifizierung Marcel Pagnols als auteur facile
7. Werkanalyse: Topaze
7.1. Topaze – eine Gesellschaftssatire
7.2. Der Lehrer Topaze: Die personifizierte Moral
7.3. Der Verfall der Moral und die 'Moral von der Geschicht''
7.4. Topaze' Erkenntnis und Metamorphose oder die Allmacht des Geldes
7.5. Pagnols didaktischen Absichten: "Quand on a été professeur, on le reste toute sa vie"
7.6. A bas les masques!
8. Werkanalyse: La femme du boulanger
8.1. Montage- und Dramaturgiekonzept
8.2. Die literarische Tradition der Antike
8.2.1. Aristoteles und die Katharsis
8.2.2. Das horazische aut prodesse aut delectare
8.3. Die biblische Thematik
8.3.1. Das zentrale Thema der Vergebung
8.3.2. Für mehr Verständnis und Toleranz: Von der Oberfläche zum Kern
8.4. Mit Herzensgüte und Seelengröße für eine bessere Welt
8.5. Schlussbetrachtung zu La femme du boulanger
9. Werkanalyse: L'Eau des collines
9.1. Jean de Florette
9.2. Manon des sources
9.3. L'Eau des collines: Universalität trotz Regionalität
9.3.1. Die zentrale Bedeutung des Wassers
9.3.2. Les faiblesses humaines : Von Geldgier, Kollektivschuld und fehlender Nächstenliebe
10. Schlussbetrachtung
11. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Betrachtet man die aktuelle Pagnol-Rezeption näher, so fällt zunächst einmal die Spaltung der Kritiker in zwei Lager auf. Hierbei ist vor allem anzumerken, dass Marcel Pagnol, vornehmlich von der Intelligentsia, immer noch als Boulevardautor und damit als einfacher, anspruchsloser Autor klassifiziert wird. Sein Werk wird primär auf die komischen und folkloristischen Aspekte reduziert wahrgenommen. Noch härtere Abstrafungen und Verurteilungen erhielt Pagnol in seinem jahrzehntelangen Schaffen als Cineast. Auffällig ist hierbei vor allem sowohl die Vehemenz der damaligen Angriffe als auch die abschätzige Verachtung mit der sie geäußert wurden sowie die zu kategorischen Klassifizierungen Pagnols, die letztendlich die aktuelle Pagnol-Rezeption geprägt haben. Eine genauere Analyse der tiefer liegenden Ursachen dieser teilweise recht vernichtenden Kritik und des ihm somit zugewiesenen Platzes in der Literaturgeschichte lässt erhebliche Zweifel an ihrer Gerechtfertigung aufkommen, zumal sich Pagnols Werke überdies auch heutzutage noch immer sehr großer Beliebtheit erfreuen. Darüber hinaus spricht eine eingehendere Analyse seiner Werke gegen die Rezeption Pagnols als anspruchsloser Autor der 'leichten Muse'. Berücksichtigt man dies, so muss man feststellen, dass Marcel Pagnol immer noch nicht, obwohl ein sehr später Versuch unternommen wurde, ihn als Cineasten zu rehabilitieren, den Platz in der französischen Literaturgeschichte innehat, der ihm gebühren würde. Dies ist vor allem auf die einmal getroffenen Klassifizierungen Marcel Pagnols als Boulevardautor, auteur facile und auteur léger zurückzuführen, die nicht mehr in Frage gestellt wurden.
Aus den zuvor genannten Gründen verfolgt die vorliegende Arbeit zunächst das Ziel, die Hintergründe der aktuellen Pagnol-Rezeption transparent zu machen. Dienlich hierfür ist die Feldtheorie des Soziologen Pierre Bourdieu, d. h. speziell die Theorie des literarischen Feldes, welche er in seinem Werk Les règles de l'art 1 darlegt. Anhand ihrer können die maßgeblichen Faktoren, die daran beteiligt waren, Pagnol den aktuellen Platz in der Literaturgeschichte zuzuweisen, aufgedeckt werden. Hierzu wird im Einzelnen die Kritik an Pagnol, die sich letztendlich auch in bestimmten Klassifizierungen niedergeschlagen hat, aus dem Blickwinkel der bourdieuschen Theorie des literarischen Feldes betrachtet. Hier ist vor allem Marcel Pagnols Implikation in die Konkurrenzkämpfe zwischen Theater und Kino und zwischen Tonfilm und Stummfilm von Bedeutung. Darüber hinaus wird auch die Kritik an werkimmanenten Aspekten — die zu Klassifizierungen wie auteur léger und auteur facile geführt haben — analysiert mit der Intention, die häufig übersehene tiefere Bedeutung dieser Aspekte aufzuzeigen. Abschließend sollen dann exemplarisch anhand der Analyse der Werke Topaze (1928), La femme du boulanger (1938) und des zweibändigen Werkes L‘Eau des collines (1963), das Jean de Florette und Manon des sources umfasst, die tieferen Sinnschichten sowie die Aussageintention des Autors aufgezeigt werden.
2. Die aktuelle Pagnol-Rezeption
Wirft man einen genaueren Blick auf den "Fall"2 Pagnol, so wird eine scheinbar paradoxe Situation offenbar: Auf der einen Seite feierte Pagnol außergewöhnliche Publikumserfolge und auf der anderen Seite wurde er zeitlebens, trotz oder gerade wegen seines Erfolges, von der großen Mehrheit der Kritiker heftig angegriffen und verfemt. Die Liste der gegen ihn erhobenen Vorwürfe ist lang und soll später, in den Kapiteln 4 bis 6, eingehender untersucht werden. Hervorzuheben ist jedoch an dieser Stelle, dass auch heutzutage noch die Rezeption Pagnols als einfacher, leichter,3 und somit anspruchsloser Autor vorherrscht. Dem Boulevardtheater zugeordnet,4 wird sein Werk häufig fast ausschließlich in Bezug auf die folkloristische couleur locale der Provence und den humoristischen Unterhaltungswert rezipiert und weitgehend auf diese Aspekte reduziert. Darstellungen in Literaturlexika spiegeln diese immer noch vorherrschende Pagnol-Rezeption und damit den ihm zugewiesen Platz in der Literaturgeschichte deutlich wider. Nachfolgend sollen diesbezüglich einige exemplarische Beispiele angeführt werden.
In der Histoire de la littérature française findet man unter dem Oberbegriff des Boulevardtheaters den nachfolgenden Eintrag über Pagnol:
[...] le théâtre à succès garde paisiblement son public et ses traditions. On chercherait en vain quelque nouveauté dans le Topaze (1928) ou le Marius (1929) de Marcel Pagnol. Mais la verve de l’écrivain et surtout le talent des acteurs, Lefaur, Pauley, Raimu, Fresnay ont pu aveugler le public , comme l’éblouiront longtemps (près d’un demi-siècle) les comédies de Sacha Guitry.5
Im Manuel d’Histoire littéraire de la France kann man lesen: "En schématisant beaucoup on peut qualifier d’auteurs «légers» des écrivains au tempérament aussi divers que
S. Guitry, J. Deval, M. Achard; voir en Pagnol un comique plus dru et plus populaire [...]."6 Und in Metzlers Französische Literaturgeschichte steht über Pagnol als Theaterautor folgendes:
Pagnol gelingt der Durchbruch mit der zeitkritischen Sittenkomödie Topaze (1928), einem Spiel um Geld, Erotik und Politik. Es folgen die › comédies marseillaises ‹ Marius (1928), Fanny (1931) und César (1931 [sic!])7, eine Art südfranzösischer Familiensaga, zentriert um simple Konflikte, bei deren Gestaltung Pagnol weder den ›plein pastis sentimental‹ noch das Klischee vermeidet. Ästhetisch anspruchsvoller sind die Stücke Vitracs jener Jahre.8
Sein umfangreiches filmisches Schaffen wird bezeichnenderweise an keiner Stelle eines Wortes gewürdigt. Dies spiegelt die lange vorherrschende Ansicht seitens der Filmkritiker wider, die seine Filme verächtlich als théâtre en conserve oder théâtre filmé 9 bezeichneten, dass Pagnol kein ernst zu nehmender, ja sogar ein gänzlich unfähiger Filmemacher sei.10
In Kindlers neues Literaturlexikon erscheint folgendes Fazit am Ende des Eintrags, der Pagnols ersten großen Bühnenerfolg Topaze betrifft:
Allerdings bleibt diese Art Pagnolscher Gesellschaftskritik recht unverbindlich, nicht zuletzt weil ihr die Methoden zur Analyse fehlen. Sie überwindet nicht — wenn auch beachtliches — Boulevardniveau , weil sie aufgrund der traditionellen Mittel gleich wieder mit dem versöhnt, was sie attackiert.11
Bezüglich der Trilogie Marius, Fanny, César können wir dort u. a. lesen:
In seiner temperamentvollen volkstümlichen Trilogie spekuliert Pagnol auf die unfehlbare Wirkung, die von südländischer Unkompliziertheit auszugehen pflegt. Doch seine Stücke sind so sehr auf harmlosen Spaß hin angelegt, daß sie kaum ein realistisches Bild vom Alltag des Midi vermitteln können .12
Selbst Darstellungen, die Pagnol offensichtlich in einem positiveren Licht erscheinen lassen möchten, wie dies der Fall eines weiteren Eintrages im Manuel d’Histoire littéraire de la France ist, überwinden dennoch eine Reduzierung seines Werks auf den folkloristischen Aspekt und den reinen Unterhaltungswert nicht, womit sie ebenfalls nur eine Bestätigung der weiter oben aufgezeigten Pagnol-Rezeption darstellen:
Doit-on en vouloir à Pagnol d’avoir préféré à la satire acerbe des gens d’argent, un folklore méridional très haut en couleurs, truculent et mélodramatique à souhait? Peu d’écrivains ont mieux réussi dans un « régionalisme » aussi savoureux, aussi direct, aussi pittoresque. De grands moments d’émotion, de grands rires libérateurs, du soleil et de l’air marin plein le texte, le « plaisir à Pagnol » est de bonne qualité, pourquoi le refuser?13
Geht man nun der Frage nach, wie sich diese aktuelle Pagnol-Rezeption herausgebildet hat, so muss man berücksichtigen, dass sie auf der damaligen heftigen Kritik gegen ihn fußt, die im literarhistorischen Kontext gesehen werden muss. Hierbei fällt auf, dass eine Großzahl der Vorwürfe gegen Pagnol, vor allem als Filmproduzenten und –regisseur, durch zwei bedeutende Umbruchsphasen geprägt zu sein scheint, die eine heftige Polemik entfachten. Hierbei handelt es sich zum einen um den in Frankreich nach 1930 einsetzenden Verdrängungswettbewerb zwischen Theater und Kino – in dem das Theater zunehmend seine traditionelle Vormachtstellung verlor und das Kino immer größeren Einfluss gewann — und zum anderen um die Wende vom Stummfilm zum Tonfilm, die sich ungefähr im selben Zeitraum vollzog und dem Kino erst die Möglichkeit eröffnete, ein breiteres Publikum für sich zu gewinnen.
So waren es einerseits die Theaterautoren, die ihn empört als Abtrünnigen bezeichneten, als er sich nach seinen großen Erfolgen am Theater dem Kino zuwandte. Der Anstoß hierzu ging schon von seinem am 17. Mai 1930 in Le Journal erschienenen Artikel aus, in dem Pagnol die "wunderbaren" Möglichkeiten des damals neuen Tonfilms begeistert feierte und in ihn als das neue Ausdrucksmittel der dramatischen Kunst pries.14 Andererseits waren es die Verfechter des Stummfilms, die dem Tonfilm, und damit auch Pagnol — als einen seiner ersten Vertreter in Frankreich — jeglichen künstlerischen Anspruch absprachen und seinen Produzenten ausschließlich finanzielle Interessen unterstellten.15
Diese vehementen Attacken gegen Pagnol, die sich in der Regel durch eine verachtende Geringschätzung seines Werkes auszeichneten, werfen die Frage nach ihren wahren Ursachen und ihrer tatsächlichen Gerechtfertigung auf, zumal sie unvereinbar mit dem immensen Publikumserfolg Pagnols zu sein scheinen. Diese Frage ist heutzutage um so relevanter, als in den letzten Jahren zunehmend Zweifel an der Berechtigung der abschätzigen und teilweise sogar diffamierenden Urteile und an dem Platz, der Pagnol in der Literaturgeschichte zugewiesen wurde, lauter werden. So nimmt sich Claude Beylie in Marcel Pagnol ou le cinéma en liberté die Rehabilitierung Marcel Pagnols als Filmemacher zum Ziel:
Cette réédition, très augmentée, d'un ouvrage que nous avions consacré à Marcel Pagnol au lendemain de sa mort coïncide avec la célébration du centenaire de sa naissance, propice à une réévalutation de l'ensemble de son œuvre. Souhaitons que ne se répètent pas à cette occasion les contresens commis de son vivant par une certaine critique, toujours prompte à se livrer au détournement folklorique d'un créateur qui fuyait le folklore, l'anecdote pour l'anecdote, les prestiges frelatés du régionalisme. Pagnol s'est toujours tenu aux sentiments et aux idées simples, qui vont bien au-delà des potins du terroir; il ne connaissait que le plaisir de conter, qui est un don sans partage; il avait pour seul souci l'exploration authentique, sans fard, sans localisation réductrice, du cœur humain.16
In seinem 2001 erschienen Werk Marcel Pagnol à l’école de Jean Giono? bezieht sich Thierry Dehayes, der über Marcel Pagnol promovierte,17 schwerpunktmäßig auf die Beziehung der Werke Pagnols und Gionos zueinander. Da er aber auch die Kritik gegen Pagnol sehr genau analysiert und fundiert widerlegen kann, leistet er einen wertvollen Beitrag zu einem besseren Verständnis Pagnols. Am Ende seiner Studie kommt er zu folgendem Schluss: "[...] il nous paraît que l’essentiel des critiques que l’on a adressées à Marcel Pagnol n’était pas justifié"18 und vertritt aus diesem Grunde folgenden Standpunkt:
[...] il nous semble que Marcel Pagnol a encore un combat à livrer et, n'en doutons pas, à gagner. En effet, Pagnol, écrivain populaire , souffre toujours actuellement d'un certain discrédit auprès de l'"intelligentsia", qui tente de réduire son œuvre à une image restrictive (et quasi folklorique) de la Provence.
Et pourtant le talent de Marcel Pagnol a souvent rejoint celui des écrivains classiques, dans une peinture vraisemblable et humaine des caractères, et le succès ininterrompu qu'ont connu ses films et ses livres est une preuve décisive de leur qualité.19
Schon 1991 gelangte Andrée Tudesque, die in Pagnol et la tradition bucolique anhand detaillierter Analysen von Marcel Pagnols Werken seine Zugehörigkeit zur bukolischen Tradition aufzeigt, zu der Feststellung: "[...] Pagnol est bien digne d’entrer dans la littérature classique."20
Jacques Bens geht in seinem Werk Pagnol den gegen Marcel Pagnol erhobenen Vorwürfen nach, die in der Tat so auffällig zahlreich sind, dass er anmerkt: "Cela fait beaucoup. Cela fait même trop pour qu’il n’y ait pas ici matière à quelque chicane."21 Er setzte sich darum auch zum Ziel, die oft sehr einseitigen Vorwürfe aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten und sie zu widerlegen. Hierbei führte er zwar einleuchtende, aber dennoch subjektive, Erklärungen an, ohne objektive Gründe zu nennen. Die Frage danach bleibt offen und er stellt sie wie folgt in den Raum:
Parmi les instituteurs de ma famille, on dit volontiers que, quand deux enfants se disputent une gomme, ce n’est pas pour la gomme qu’ils se disputent. Entre Marcel Pagnol et ses accusateurs, il serait peut-être instructif de chercher la gomme.22
Abgesehen davon, dass dieser Vergleich bedauerlicherweise in sich nicht stimmig ist (Warum sollte man denn den Radiergummi suchen, wenn dieser nicht den wahren Grund des Streits darstellt?), zeigt er dennoch deutlich, dass die tatsächlichen Ursachen der zahllosen, heftigen Vorwürfe gegen Marcel Pagnol bis heute noch im Dunkeln liegen und ihr Aufdecken neues Licht auf die Pagnol-Rezeption werfen könnte.
Will man nun, um Jacques Bens Vergleich aufzugreifen, den "Radiergummi" finden, d. h. zu einem tieferen Verständnis der Ursachen und Hintergründe der Polemik gegen Marcel Pagnol einerseits und der daraus hervorgegangenen Pagnol-Rezeption andererseits vordringen, so ist die von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu entwickelte Feldtheorie unerlässlich. Sie hilft, die Struktur des literarischen Feldes und seine Regeln aufzudecken — die in den bereits erwähnten Umbruchsphasen des Verdrängungswettbewerbes zwischen Theater und Kino sowie Stumm- und Tonfilm besonders ausgeprägt in Erscheinung treten —, und die Position Marcel Pagnols im literarischen Feld zu beleuchten. Aus diesem Grunde sollen einführend die hierfür relevanten Aspekte seiner Theorie dargelegt werden.
3. Die Feldtheorie von Pierre Bourdieu
3.1. Einführung
Der zeitgenössische Soziologe und Kulturtheoretiker Pierre Bourdieu versucht die tradierte Trennung zwischen Individuum und Gesellschaft, d. h. zwischen der subjektiven Perspektive der Handelnden und den objektiven Strukturen, aufzuheben und deren Zusammenhang zu verdeutlichen. Er geht von einer grundsätzlichen Strukturhomologie, nicht nur zwischen Individuum und gesellschaftlichem Kontext, sondern auch zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsbereichen wie Kunst, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Religion usw. aus. Für diese unterschiedlichen Gesellschaftsbereiche, die sich durch jeweils spezifische Bedingungen, Anforderungen und Funktionen auszeichnen, führte Bourdieu schon 1966 den Begriff Feld ein, um deren besondere Struktur, ähnlich einem physikalischen Kraftfeld, zu betonen.23 Der Feldbegriff dient Bourdieu somit zur Differenzierung des Gesellschaftsbegriffs und dazu, der Autonomisierung der einzelnen Bereiche Rechnung zu tragen.
In seinem 1992 erschienen Werk Les règles de l’art überträgt er seine Feldtheorie auf den Bereich der Literatur — und der Kunst im Allgemeinen — und prägt den Begriff des literarischen Feldes. Bevor nun die für die vorliegende Arbeit relevanten Aspekte seiner Theorie des literarischen Feldes dargestellt werden, soll kurz in seine zentralen Begriffe: Feld, Kapital, Habitus und Klasse eingeführt werden, wobei das Hauptaugenmerk auf dem Feldbegriff liegen wird, da dieser von übergeordneter Bedeutung ist. Der Begriff Klasse ist in diesem Zusammenhang weniger relevant und soll, nur der Vollständigkeit halber, sehr knapp umrissen werden.
3.1.1. Zentrale Begriffe der bourdieuschen Theorie: Klasse, Habitus, Feld und Kapital
In dem Bestreben, den traditionellen Klassenbegriff stärker zu differenzieren, setzt Bourdieu zwei Ebenen an: erstens die Klassen lage, die sich aus den objektiven ökonomischen Bedingungen eines Individuums oder einer Gruppe ergibt und zweitens die Klassen stellung, welche die Gesamtheit aller kultureller und relationaler Merkmale bezeichnet, die durch die unterschiedlichen sozialen Vernetzungen des Individuums in der Gesellschaft entstehen. Hier geht es vor allem um Aspekte wie verschiedene Rollen, Statuspositionen, Geschlecht, ethnische und geographische Zugehörigkeit, Bildung, kulturelle Sozialisation und soziale Beziehungen.24
Unter Habitus versteht Bourdieu die klassenspezifische Sozialisation, die sich in relativ dauerhaft wirksamer Form in Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata ausdrückt und das Handeln der Akteure steuert, ohne dass sich diese dessen bewusst sind. Der Habitus stellt mit anderen Worten eine Inkorporierung gesellschaftlicher Strukturen dar.25 Die vom Habitus hervorgerufenen Handlungen finden in dem strukturierten Raum statt, den Bourdieu Feld nennt. Das Feld stellt ein Macht- und Kraftfeld dar, das auf alle einwirkt, die in es eintreten.26 Die gesellschaftliche Praxis ist somit immer als ein Produkt aus Habitus und Feld zu verstehen, denn die Akteure unterliegen nicht nur den internen Zwängen der oben genannten Habitusstrukturen, sondern auch den externen Zwängen, welche die Struktur des Feldes ihnen in Form von feldspezifischen, impliziten Spielregeln auferlegt.27
In Zusammenhang mit den spezifischen Spielregeln der einzelnen Felder stehen weitere Zwänge, die sich aus der Knappheit der spezifischen Ressourcen — die Bourdieu Kapital nennt — ergeben, welche den Akteuren in den Feldern zur Verfügung stehen. Die wichtigsten Formen von Kapital, die Einsätze ( enjeux ) darstellen, um welche die Akteure kämpfen, sind ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital, deren Rangfolge von Feld zu Feld variiert.28 Die bedeutendste Form des Kapitals stellt das ökonomische Kapital dar, zu dem Bourdieu nicht nur den Besitz von Produktionsmitteln, sondern alle Formen des materiellen Reichtums zählt. Bezüglich des kulturellen Kapitals unterscheidet Bourdieu drei Zustände: In objektiviertem Zustand liegt es zum Beispiel in Form von Büchern und Kunstwerken und im inkorporierten Zustand in Form von allen kulturellen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensformen, die man durch Bildung erwerben kann, vor. Im institutionalisierten Zustand liegt es in Form von Bildungstiteln vor. Mit einem Bildungstitel ausgezeichnet, verfügt die entsprechende Person nicht nur über inkorporiertes, sondern auch über legitimes kulturelles Kapital.29 Beim sozialen Kapital handelt es sich um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, z. B. der Familie, einer politischen Partei usw., beruhen. Das symbolische Kapital, das gemeinhin als Prestige oder Renommee bezeichnet wird, zieht seine Wirksamkeit aus seiner gesellschaftlichen Anerkennung.30
Da die Praxis der Akteure in ganz wesentlichem Maße durch die strukturspezifischen Eigenschaften des Feldes geprägt ist, sollen diese nachfolgend kurz dargelegt werden.
3.1.2. Die Struktur des Feldes
Statisch betrachtet, stellt das Feld ein Netz von im historischen Prozess entstandenen objektiven Beziehungen zwischen einzelnen Positionen dar, wobei die Positionen durch die Verteilung von Macht und Kapital definiert sind. Die Verteilungsstruktur des jeweils gültigen Kapitals bestimmt die Struktur des Feldes und die Akteure stellen in ihrer Eigenschaft als Kapitalbesitzer Strukturelemente dar, zwischen denen Beziehungen bestehen, welche Einfluss auf die Praxis nehmen.31 Innerhalb des Feldes entstehen aus diesem Grunde um die kapitalstärkeren Akteure und Gruppen Kraft- und Machtzentren.
Bourdieu definiert die Struktur des Feldes in Soziologische Fragen wie folgt:
Die Struktur des Feldes gibt den Stand der Machtverhältnisse zwischen den am Kampf beteiligten Akteuren oder Institutionen wieder bzw., wenn man so will, den Stand der Verteilung des spezifischen Kapitals, das im Verlauf früherer Kämpfe akkumuliert wurde und den Verlauf späterer Kämpfe bestimmt. Diese Struktur, die der Ursprung der auf ihre Veränderung abzielenden Strategien ist, steht selber ständig auf dem Spiel: Das Objekt der Kämpfe, die im Feld stattfinden, ist das Monopol auf die für das betreffende Feld charakteristische legitime Gewalt (oder spezifische Autorität), d. h. letzten Endes der Erhalt bzw. die Umwälzung der Verteilungsstruktur des spezifischen Kapitals.32
Die verschiedenen sozialen Felder befinden sich somit nicht in einem statischen Zustand, sondern unterliegen dynamischen Prozessen, die sich auf die Struktur des Feldes, d. h. auf die Verteilung des jeweils gültigen Kapitals zwischen den verschiedenen Akteuren und Gruppen von Akteuren, und/oder auf die feldspezifischen 'Spielregeln' und deren Legitimität beziehen können. Da die permanente Auseinandersetzung das Feld bestimmt, sind soziale Felder auch Macht- und "Kampffelder, auf denen um Wahrung oder Veränderung der Kräfteverhältnisse gerungen wird".33
Ein wesentlicher Grundmechanismus, der die Dynamik im Feld bedingt, ist der Kampf zwischen den 'Herrschenden' und den 'Anwärtern auf die Herrschaft', die zwei unterschiedliche Strategien verfolgen: die im Feld etablierten Akteure setzen die 'Erhaltungsstrategie' ein, um ihre herrschenden Positionen aufrechtzuerhalten und die Akteure in den beherrschten Positionen wenden die 'Strategie der Häresie' an, um die etablierte Ordnung in Frage zu stellen und die momentan Herrschenden aus ihrer Dominanz zu verdrängen. Demzufolge ist in diesen grundlegenden Auseinandersetzungen die Basis für die historischen Veränderungen innerhalb der verschiedenen sozialen Felder zu sehen.34
3.2. Les règles de l‘art: Das literarische Feld und seine Struktur
Als Soziologe betrachtet Bourdieu Literatur vor allem als soziales Faktum und vertritt den Standpunkt, dass das literarische Produkt nicht allein als Ausdruck eines schöpferischen Individuums gesehen werden darf, sondern dass es in seinem globaleren, sozialen System situiert werden muss.35 Sein Hauptinteresse gilt somit "der Rekonstruktion des Raums, dem der Autor als konkreter Schnittpunkt angehört".36 Dazu dient ihm in erster Linie der Begriff des literarischen Feldes, das sich durch seine spezifischen Spielregeln und Kapitalformen definiert und in dem die Akteure wie Literaturproduzent, Verleger, Kritiker, Publikum, Literaturwissenschaftler usw. unterschiedliche Positionen einnehmen.
Bourdieu sieht für die diversen, relativ autonomen Felder, in die sich der soziale Raum gliedert, insoweit eine Hierarchie vor, als das Feld der Macht37 das dominante Feld darstellt, innerhalb dessen sich das literarische Feld befindet. Somit sind Schriftsteller und Künstler zwar einerseits dominant — da sie über ein gewisses kulturelles Kapital verfügen, das ihnen Macht und Privilegien verleiht —, andererseits werden sie in ihren Beziehungen zu den Inhabern der politischen und der ökonomischen Macht dominiert. Hieraus ergibt sich, dass die relative Autonomie des literarischen Feldes nur im emanzipatorischen Kampf gegen das Machtfeld erlangt werden konnte und die permanente Auseinandersetzung das Feld bestimmt. Des Weiteren lässt sich darauf auch die Struktur des literarischen Feldes zurückführen, die auf dem Gegensatz zwischen zwei Polen beruht: dem heteronomen Pol der an ökonomischen Profit ausgerichteten 'bürgerlichen' oder 'kommerziellen' Kunst und dem autonomen Pol der 'reinen' Kunst.38
Das literarische Feld stellt somit einen Ort der Auseinandersetzung zwischen den beiden Hierarchisierungsprinzipien 'Autonomie' und 'Heteronomie' dar. Genauer gesagt zwischen dem heteronomen Prinzip, an dem sich diejenigen orientieren, die das Feld politisch und ökonomisch dominieren, und dem autonomen Prinzip der 'reinen' Kunst, das sich durch die Unabhängigkeit gegenüber dem Ökonomischen definiert. Das Kräfteverhältnis zwischen dem autonomen und dem heteronomen Pol ist vom Grad der Autonomie des Feldes abhängig. Je höher dieser ist, desto schärfer ist der Schnitt zwischen dem Subfeld der Massenproduktion ( sous-champ de grande production ), das sich an den Erwartungen des breiten Publikums ausrichtet, und dem Subfeld der eingeschränkten Produktion ( sous-champ de production restreinte ), d. h. der Avantgarde, deren Produzenten nur andere Produzenten beliefern.39
Diesen beiden antagonistischen Polen entsprechen zwei ebenfalls entgegengesetzte ökonomische Logiken. Die spezifische Logik des nach Autonomie strebenden Pols der 'reinen' Kunst, d. h. des Subfeldes der eingeschränkten Produktion, basiert einerseits auf der Anerkennung der Werte der Uneigennützlichkeit, der Interesselosigkeit sowie der Ablehnung des 'Kommerziellen' — und somit des kurzfristigen ökonomischen Profits — und orientiert sich andererseits an der Akkumulation symbolischen Kapitals. Die Logik des anderen, des heteronomen Pols, d. h. des Subfeldes der Massenproduktion, ist eine merkantile: Sie ist vorrangig auf den Vertrieb, den sofortigen und temporären Erfolg sowie auf die Anpassung an die Nachfrage ausgerichtet.40 Sie orientiert sich somit an der Akkumulation ökonomischen Kapitals.
Diese dualistische Struktur des literarischen Feldes bildete sich Ende des 19. Jahrhunderts heraus, indem innerhalb jeder literarischen Gattung eine Avantgarde entstand, welche die Dominanz im Feld gewann. Ihre spezifische Logik der 'reinen' Kunst etablierte sich im literarischen Feld als Norm. Damals, wie auch heute, spiegelte sich die relative Autonomie
u. a. darin wider, dass neben der dem kommerziellen Gewinn entsprechenden Gattungshierarchie — Theater, Roman, Dichtung — eine fast genau entgegengesetzte Hierarchie des Prestiges existierte (Dichtung, Roman, Theater), die sich aus den spezifischen Urteilskriterien der literarischen peer group ergab. Das Gattungssystem und die Rangfolge der Autoren sind demnach innerhalb des literarischen Feldes nach dem Maßstab ihrer Nichtkommerzialität organisiert. Die literarische Ordnung hat sich damit im Verlauf des Autonomisierungsprozesses zum spiegelverkehrten Gegenbild der ökonomischen Welt herausgebildet: Auf symbolischem Terrain gewinnt der Künstler nur, wenn er auf wirtschaftlichem verliert und umgekehrt.41 Daraus folgt, dass die Ablehnung unmittelbaren materiellen Gewinns eine der speziellen Spielregeln des literarischen Feldes darstellt.
Die literarischen Konkurrenzkämpfe zwischen den Inhabern der polar einander entgegengesetzten Positionen des literarischen Feldes, d. h. der 'reinen' Kunst und der 'bürgerlichen' oder 'kommerziellen' Kunst, nehmen letztendlich die Form von Kämpfen um die Definition des Schriftstellers an, da die Ersteren den Letzteren die Bezeichnung Schriftsteller absprechen. Da es jedoch keine universelle, festumrissene Definition des Schriftstellers gibt, drehen sich die feldinternen Kämpfe eben auch um das Monopol auf die Durchsetzung der legitimen Definition des Schriftstellers und damit um das Monopol auf die Konsekration von Produzenten und Produkten.42 Die Kämpfe um das Monopol tragen zur Produktion und Reproduktion des kollektiven Glaubens an das Spiel (die illusio ), seinen Wert und an das, was dabei auf dem Spiel steht, bei. Die illusio, die dem Funktionieren aller sozialen Felder zugrunde liegt, ist somit zugleich Voraussetzung und Wirkung der Funktionsweise des literarischen Feldes.43
Die spezifische Logik des literarischen Feldes bestimmt somit die Natur der kulturellen Produkte. Sie weisen einen Doppelcharakter auf, d. h. der Wert dieser Produkte ist nicht allein auf den ökonomischen Wert reduzierbar, sondern sie besitzen darüber hinaus einen symbolischen Wert, der aber nicht an und für sich existiert, sondern von feldinternen Selektions- und Konsekrationsinstanzen, wie z. B. Verlegern, geschaffen wird. Dieser spezifische Charakter der kulturellen Produkte bestimmt auch die spezifischen ökonomischen Gesetze des künstlerischen und literarischen Feldes, in dem es nicht um den materiellen Erfolg, sondern um die Anhäufung von symbolischem Kapital, wie Prestige, Berühmtheit usw., geht, dessen entscheidendes Merkmal gerade in der Ablehnung ummittelbarer finanzieller Gewinnabsichten besteht.44 Somit ist die Dominanz des ökonomischen Kapitals innerhalb der Logik des literarischen Feldes ein 'heteronomes' Prinzip, dem z. B. Massenliteratur verpflichtet zu sein scheint, welcher darum ein geringerer symbolischer Wert zukommt.45
4. Die Kritik an Marcel Pagnol im Lichte der bourdieuschen Theorie des literarischen Feldes
Nachdem die spezifische Struktur des literarischen Feldes und seine Regeln in den für die vorliegende Arbeit wesentlichen Aspekten kurz umrissen wurden, soll nun detailliert dargestellt werden, inwiefern die tiefer liegenden Ursachen der Kritik gegen Marcel Pagnol darin begründet liegen. Hierzu soll zunächst die generelle Funktion und Wirkung der Kritik im literarischen Feld aufgezeigt werden. Anschließend sollen dann zuerst die Kritikpunkte untersucht werden, die sich auf die Dynamik und die antagonistischen Beziehungen im Feld, wie 'Boulevardtheater vs. Avantgardetheater', sowie den internen Kampf zwischen 'Kino vs. Theater' und 'Stummfilm vs. Tonfilm' zurückführen lassen, um daraufhin die Vorwürfe zu betrachten, die sich auf spezifische werkimmanente Aspekte beziehen. Obwohl sich hierbei teilweise Verflechtungen und Überschneidungen ergeben, sollen die Angriffspunkte dennoch, deutlichkeitshalber, einzeln angeführt werden.
4.1.
Funktion und Wirkung der Kritik
Betrachtet man die eingangs dargestellte Rezeption Marcel Pagnols als Boulevardautor, auteur facile und fast schon 'unfähigen' Filmemacher im Lichte der bourdieuschen Feldtheorie, so muss zuerst einmal angemerkt werden, dass, von dem Zeitpunkt der Herausbildung der relativen Autonomie des literarischen Feldes an, die feldinternen Positionskämpfe zwischen Autoren, Kritikern und Verlegern für Anerkennung und Bestätigung ausschlaggebend sind und nicht mehr, wie zuvor, eine herrschaftliche Instanz. Daraus folgt ebenfalls, dass auch der Wert eines Werkes oder Künstlers niemals an und für sich existiert, sondern ein Produkt dieses Konkurrenzkampfes ist. An der Produktion des Kunstwerks, seines Wertes, und zudem seines Sinnes sind daher alle diejenigen beteiligt, die sich im Konkurrenzkampf gegenüberstehen:
[...] tous ceux qui ont partie liée avec l’art et qui, vivant pour l’art et vivant de l’art, s’opposent dans des luttes de concurrence ayant pour enjeu la définition du sens et de la valeur de l’œuvre d’art, donc la délimitation du monde de l’art et des (vrais) artistes, et collaborent, par ces luttes mêmes, à la production de la valeur de l’art et de l’artiste.46
Hieraus wird ersichtlich, dass der Wert eines Kunstwerkes, sei es ein Gemälde, ein Film oder ein literarisches Werk, sich nicht auf den vom Künstler vollzogenen materiellen Herstellungsakt reduzieren lässt. Die Gesamtheit der Akteure und Institutionen, vor allem auch die Kritiker und Kommentatoren, sind an der Produktion des Wertes, d. h. damit ebenfalls an der Produktion des Glaubens an den Wert des Kunstwerks und des Künstlers47 — sei dieser nun eine positiver oder ein negativer Wert, d. h. eine gewisse 'Wertlosigkeit', wie im Falle Pagnols — stark beteiligt. Das Kunstwerk erhält somit seinen Wert auch durch die "kollektiv produzierte und reproduzierte kollektive Verkennung", wodurch sich u. a. auch erklärt, warum die Etikettierung und Klassifizierung Marcel Pagnols kaum jemals wirklich in Frage gestellt wurde: "[...] l’œuvre d’art [...] ne reçoit valeur que d’une croyance collective comme méconnaissance collective, collectivement produite et reproduite."48
Darüber hinaus muss gesehen werden, dass, selbst wenn der letztendliche Wert eines Werkes das Produkt des feldinternen Kampfes ist, sich der Maßstab für den Wert oder die Wertlosigkeit eines Kunstwerkes und eines Künstlers implizit doch an den Regeln der im literarischen Feld dominanten Logik der 'reinen' Kunst ausrichtet. Nun ist es jedoch so, dass Marcel Pagnol nur allzu offensichtlich gegen diese im literarischen Feld etablierten Normen und Regeln, wie z. B. der Ablehnung unmittelbaren materiellen Gewinns, verstoßen hat. Hieraus ergibt sich auch, dass er sich gegen die gesamte Logik des literarischen Feldes verteidigen muss. Dies erklärt u. a. außerdem die enorm hohe Zahl seiner 'Gegner' und der gegen ihn gerichteten Angriffe.
Berücksichtigt man nun die elementare Bedeutung, die der Kritik bei der Schaffung des Wertes eines Kunstwerkes zukommt, so darf nicht vergessen werden, dass Kritiken in der Regel zwar den Anspruch der Objektivität erheben, aber so gut wie nie tatsächlich sachlich und desinteressiert sind. Sie sind sogar ganz im Gegenteil durch den persönlichen Standpunkt und die Interessen, die sich aus der speziellen Position im Feld ergeben, geprägt, so dass es im feldinternen Kampf zudem um die Wahrheit selbst geht:
S’il y a une vérité, c’est que la vérité est un enjeu de luttes; et, bien que les classements ou les jugements divergents ou antagonistes des agents engagés dans le champ artistique soient indiscutablement déterminés ou orientés par les dispositions et les intérêts spécifiques associés à des positions dans le champ, à des points de vue, il reste qu’ils sont formulés au nom d’une prétention à l’universalité, au jugement absolu, qui est la négation même de la relativité des points de vue.49
Hieraus wird ersichtlich, dass sich Kritik hervorragend als, wie Bourdieu es nennt, "Instrument der Analyse getarntes Kampfinstrument"50 einsetzen lässt. Ein solcher Einsatz als Waffe im Konkurrenzkampf offenbart sich dann besonders deutlich, wenn es der Kritik nicht nur an jeglicher Objektivität mangelt, sondern außerdem kein wirklicher Kritikpunkt auszumachen ist. Als Beispiel soll hier die von Athos verfasste Kritik ad hominem dienen, die in der viel gelesenen Wochenzeitschrift D’Artagnan abgedruckt wurde und ausschließlich destruktive Absichten verfolgt. Dort wird Marcel Pagnol der Leserschaft u. a. wie folgt vorgestellt:
Ce petit bonhomme au teint terreux et même ictéreux — il doit avoir une maladie de foie — n’a jamais inspiré personne, sauf les courtiers de publicité. De viande miteuse et de basse mine, ce combinard chafouin fait songer, avec un nez sans cartilage, sous ses yeux globuleux, avec sa bouche torve, à un tamanoir anémique que des fourmis rouges auraient sucé jusqu’à l’os.51
Als Kampfinstrument wird jedoch nicht nur Kritik eingesetzt, sondern auch Begriffe, mit denen Künstler definiert werden, stellen Waffen und Einsätze in den zwischen ihnen ausgetragenen Kämpfen dar. Hierunter fallen z. B. der Begriff théâtre en conserve mit dem Marcel Pagnols Filme abfällig bezeichnet wurden, aber auch Klassifizierungen wie Boulevardautor und auteur léger sowie dergleichen mehr. Da Topaze, mit dem Pagnol der Durchbruch gelang, am Boulevardtheater aufgeführt wurde, haftete Pagnol zeitlebens das Stigma des Boulevardautors an. Dieser erste, nach oberflächlichen Gesichtspunkten gefasste, Klassifizierung wurde offensichtlich nicht wieder in Frage gestellt. Hierfür lässt sich bei Bourdieu die folgende Erklärung finden:
La plupart des notions que les artistes et les critiques emploient pour se définir ou pour définir leurs adversaires sont des armes et des enjeux de luttes, et nombre des catégories que les historiens de l’art mettent en œuvre pour penser leur objet ne sont que des schèmes classificatoires issus de ces luttes et plus ou moins savamment masqués ou transfigurés. Initialement conçus, la plupart du temps, comme des insultes ou des condamnations (mais nos catégories ne viennent-elles pas du grec katègorein, accuser publiquement?), ces concepts de combat deviennent peu à peu des catégorèmes techniques à qui, à la faveur de l’amnésie de la genèse, les dissections de la critique et les dissertations ou les thèses académiques confèrent un air d’éternité.52
So muss man in der Tat auch im Falle Pagnols konstatieren, dass die aus dem damaligen Kampf hervorgegangenen Klassifizierungen auch heute noch die Pagnol-Rezeption prägen. Es hat den Anschein, als seien sie niemals wirklich hinterfragt worden und auf ihre tatsächlichen Ursachen zurückgeführt worden. Eine Ausnahme stellt hier lediglich die Klassifizierung Marcel Pagnols als 'völlig unfähiger' Filmemacher dar, die eine, wenn auch sehr späte, partielle Revision erfuhr.
Das Klassifizieren Marcel Pagnols wurde sehr wahrscheinlich durch die Tatsache begünstigt, dass er in fast allen Punkten gegen die dominante Logik des literarischen Feldes verstieß und somit den Kritikern mehr als genug Angriffspunkte bot. Folglich verwundert es nicht, dass Marcel Pagnol stets äußerst heftigen und obendrein häufig ungerechtfertigten Angriffen ausgesetzt war. Sicherlich haben vor allem die fehlende Objektivität und der destruktive Einsatz der Kritik als Kampfinstrument Marcel Pagnol dazu veranlasst, sich in seinem 1949 erschienenen Essay Critique des critiques 53 intensiv mit den Kritikern und der Kritik im Allgemeinen auseinander zu setzen. Eine Thematik, die auch schon Théophile Gautier zu dem Ausruf "Ne serait-ce pas quelque chose à faire que la critique des critiques?"54 bewegt hatte. Pagnol setzt dies in die Tat um und geht in seinem Essay den Ursachen und Hintergründen der in der Regel vorherrschenden destruktiven Kritik nach. Marcel Pagnol sieht dafür einen Hauptgrund in der Tatsache begründet, dass die Tätigkeit des Kritikers von jedem ausgeübt werden kann, der sich dazu befähigt fühlt und es sozusagen kein 'Qualitätssiegel' der Professionalität gibt. Um zu vermeiden, dass die meisten Kritiker mit ihrer Boshaftigkeit, Inkompetenz oder Parteilichkeit den Autoren großen Schaden zufügen, sieht er in einer licence des critiques, die sozusagen die Kompetenz, die Eignung und zudem die Uneigennützlichkeit der Kritiker sicherstellen soll,55 eine Möglichkeit, die Basis für eine kompetente, unparteiische sowie konstruktive Kritik zu schaffen. Es liegt dem Essay somit eine bestimmte Sichtweise der Kritik zugrunde, wie sie idealerweise sein sollte, nämlich positiv und konstruktiv, damit sie von Nutzen für die Autoren sein kann. Dies setzt verständlicherweise kompetente, unparteiische Kritiker voraus. Da die Objektivität jedoch nicht real gegeben ist und die Kritik vorrangig als Waffe im Kampf gebraucht wird, herrscht folglich die destruktive Komponente der Kritik vor und Marcel Pagnol muss am Ende des Essays desillusioniert feststellen:
Mais de la plupart des censeurs de notre temps, que restera-t-il? Rien, parce qu'ils semblent croire que nos succès sont leurs échecs, et que la valeur d'un critique, comme celle d'un boxeur, se mesure par le nombre et la puissance de ses coups.
Eh bien, non. Celui qui ne veut pas me servir de guide, et qui ne porte pas fraternellement sa lanterne devant moi, celui-là n'est pas un critique, et il ne mérite pas de vivre de nous.56
Sein Essay Critique des critiques stellt somit nicht ein Plädoyer pro domo dar, sondern den Versuch zu einem "brüderlicheren", d. h. solidarischeren Miteinander aufzurufen. Ein Aufruf zu mehr Menschlichkeit und Solidarität, der aufgrund der Rolle, welche die Kritik im literarischen Konkurrenzkampf spielt, ungehört verhallen musste. Dies vermag allerdings erst unter Rückgriff auf die bourdieusche Theorie des literarischen Feldes so deutlich zu Tage zu treten.
Nachdem die generelle Funktion und Wirkung der Kritik im literarischen Feld offenbar wurde, sollen die einzelnen Punkte der Kritik an Marcel Pagnol mit Hilfe der bourdieuschen Theorie des literarischen Feldes beleuchtet werden. Auch wenn nachfolgend nicht ständig erneut darauf hingewiesen wird, so muss die generelle Funktion der Kritik als Kampfinstrument immer im Auge behalten werden. Die fortschreitende Untersuchung der Angriffe auf Marcel Pagnol wird u. a. offen legen, worauf die Kritik als Waffe im feldinternen Kampf genau abzuzielen sucht.
4.2. Marcel Pagnol und das Theater:
Die Klassifizierung Pagnols als Boulevardautor
Marcel Pagnol wird, wie bereits erwähnt, überwiegend als Boulevardautor rezipiert.57 Dies ging schon aus dem Eintrag in Kindlers neues Literaturlexikon hervor, in der Pagnols sozialkritische Komödie Topaze zwar "beachtliches", aber dennoch nur "Boulevardniveau" zugestanden wird. Bevor untersucht werden soll, was das Etikettieren Marcel Pagnols als Boulevardautor im Einzelnen impliziert, soll zunächst kurz auf das Boulevardtheater an sich und auf die Opposition zwischen ihm und dem Avantgardetheater eingegangen werden.
Das Boulevardtheater, dessen Aufschwung im späten 19. Jahrhundert auf den Aufstieg des Bürgertums zurückzuführen ist, dessen Bedürfnis nach Vergnügen und Entspannung es befriedigte, ist im literarischen Subfeld des Theaters am heteronomen Pol der 'bürgerlichen' oder 'kommerziellen' Kunst anzusiedeln. Daher muss es ebenfalls im Gegensatz zum Avantgardetheater gesehen werden, das den autonomen Pol der 'reinen' Kunst darstellt, denn derartige antagonistischen Beziehungen prägen die Struktur des literarischen Feldes, da die eine Position sich durch den Gegensatz zur anderen auszeichnet. Bourdieu beschreibt diese beiden im literarischen Subfeld des Theaters diametral entgegengesetzten Positionen wie folgt:
[...] le «théâtre de recherche» s’oppose au «théâtre de boulevard»: d’un côté, les grands théâtres subventionnés [...] et les quelques petits théâtres de la rive gauche [...], entreprises économiquement et culturellement risquées, qui proposent, à des prix relativement réduits, des spectacles en rupture avec les conventions (dans le contenu ou dans la mise en scène) et destinés à un public jeune et «intellectuel» (étudiants, professeurs, etc.); de l’autre côté, les théâtres «bourgeois», entreprises commerciales ordinaires que le souci de la rentabilité économique contraint à des statégies culturelles d’une extrême prudence, qui ne prennent pas de risques et n’en font pas prendre à leurs clients: ils proposent des spectacles éprouvés ou conçus selon des recettes sûres et confirmées, à un public âgé, «bourgeois» (cadres, membres des professions libérales et chefs d’entreprise), disposé à payer des prix élevés pour assister à des spectacles de simple divertissement qui obéissent, tant dans leurs ressorts que dans leur mise en scène, aux canons d’une esthétique inchangée depuis un siècle [...]58
Hieraus resultiert u. a. aber auch, dass die Boulevardtheater dank der wiederholten Aufführungen desselben Stücks vor einem bürgerlichen Publikum erhebliche ökonomische Gewinne abwerfen und damit ihren Fortbestand sichern konnten, wohingegen die meisten Avantgardetheater aufgrund zu hoher Verschuldung schließen mussten.59
Geht man nun der Frage nach, welche Faktoren dazu beigetragen haben könnten, Marcel Pagnol als Boulevardautor zu klassifizieren, so könnte die Tatsache angeführt werden, dass Pagnols erster großer Bühnenerfolg Topaze 1928 tatsächlich an einem Boulevardtheater
— dem Théâtre des Variétés in Paris — uraufgeführt wurde. Dies lässt sich aus der bourdieuschen Theorie des literarischen Feldes damit erklären, dass der das literarische Feld bestimmende Gegensatz der antagonistischen Pole von 'bürgerlicher/kommerzieller' Kunst
(hier das Boulevardtheater) und 'reiner' Kunst (hier das Theater der Avantgarde) mental wie ein Klassifikationsschema wirkt, das die Wahrnehmung und die Bewertung der kulturellen Produkte steuert:
Bien qu’ils soient totalement opposés dans leur principe, les deux modes de production culturelle, l’art «pur» et l’art «commercial», sont liés par leur opposition même qui agit à la fois dans l’objectivité, sous la forme d’un espace de positions antagonistes, et dans les esprits, sous la forme de schèmes de perception et d’appréciation qui organisent toute la perception de l’espace des producteurs et des produits.60
Bezogen auf die Opposition zwischen Boulevard- und Avantgardetheater bedeutet dies:
[...] au théâtre, [...] l’opposition entre la rive droite et la rive gauche, inscrite dans l’objectivité d’une division spatiale, travaille aussi dans les cerveaux comme un principe de division. Ainsi, la différence entre «théâtre bourgeois» et «théâtre d’avant-garde» [...] fonctionne comme un principe de division permettant de classer pratiquement les auteurs, les œuvres, les styles, les sujets [...]61
Des Weiteren wird das kulturelle Produkt (in diesem Fall das Theaterstück Topaze von Pagnol) außerdem durch die Position des Ortes (d. h. hier das Boulevardtheater) im literarischen Feld bestimmt (die hier dem heteronomen Pol der 'kommerziellen' Kunst entspricht):
[...][les] couples antithétiques de personnes ou d’institutions – journaux ( Figaro/Nouvel Observateur [...]), théâtres (rives droite/rive gauche), galeries, maisons d’édition, revues, couturiers – peuvent fonctionner comme des schèmes classificatoires, qui permettent de repérer et de se repérer.
Comme on le voit particulièrement bien dans le cas de l’art d’avant-garde, ce sens de l’orientation sociale permet de se mouvoir dans un espace hiérarchisé où les lieux
– galeries, théâtres, maisons d’édition – qui marquent des positions dans cet espace marquent du même coup les produits culturels qui leur sont associés, entre autres raisons parce qu’à travers eux un public se désigne qui, sur la base de l’homologie entre champ de production et champ de consommation, qualifie le produit consommé, contribuant à en faire la rareté ou la vulgarité (rançon de la divulgation). [62]
Literarische Werke wirken infolgedessen auch als Distinktionsinstrumente. Hier gilt: je unzugänglicher, desto höher das Prestige und desto dienlicher für Distinktionszwecke und zur Lebensstilbildung.63 Es wird ersichtlich, dass sich Marcel Pagnols Werke ganz und gar nicht zu Distinktionszwecken nutzen lassen. Das geringe Prestige seiner Werke liegt u. a. schon in ihrer leichten Zugänglichkeit und ihrer Zugehörigkeit zur dramatischen Kunst begründet. Der Dramatik kommt in der Gattungshierarchie nach dem Prestige der unterste Platz zu, da sie in der Gattungshierarchie nach kommerziellen Aspekten den obersten Platz einnimmt. Die literarische Ordnung stellt infolgedessen das spiegelverkehrte Gegenbild der ökonomischen Welt dar.64 Diese Geringschätzung der Dramatik formulierte Marcel Pagnol in Critique des critiques schon wie folgt: "[...] la critique [...] n'aime pas l'art dramatique, ni sur la scène, ni sur l'écran."65
Betrachtet man die beiden antagonistischen Positionen der 'kommerziellen' Kunst und der 'reinen' Kunst, die das Boulevardtheater bzw. das Avantgardetheater im literarischen Feld einnehmen, so fällt auf, dass sie sich vor allem durch den fundamentalen Gegensatz zwischen der völligen Anpassung an die Nachfrage, d. h. dem Kommerz, und der absoluten Unabhängigkeit vom Markt und seinen Forderungen auszeichnen. Diese beiden hierarchischen Positionen bilden sozusagen die Endpunkte einer Skala, die verständlicherweise auch alle möglichen Zwischenpositionen aufweisen kann, und welche in diesen Extremen in der Realität auch nicht anzutreffen sind. Dennoch sind in der Regel die meisten Urteile über Kunst von einer kategorischen Schwarz-Weiß-Malerei geprägt. Entweder werden Werke der Kunst oder dem Kommerz zugeordnet. Ausschlaggebend für die Beurteilung ist somit der Gegensatz zwischen Geld und Kunst, der die Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst zu bilden scheint:
Cette structure qui est présente dans tous les genres artistiques, et depuis longtemps, tend aujourd’hui à fonctionner comme une structure mentale, organisant la production et la perception des produits: l’opposition entre l’art et l’argent (le «commercial») est le principe générateur de la plupart des jugements qui, en matière de théâtre, de cinéma, de peinture, de littérature, prétendent établir la frontière entre ce qui est art et ce qui ne l’est pas, entre l’art «bourgeois» et l’art «intellectuel», entre l’art «traditionnel» et l’art d‘«avant-garde». [66]
Hieraus folgt zudem, dass Marcel Pagnol, aufgrund der Tatsache, dass seine Theaterstücke ihm mit dem großen Publikumserfolg zudem einen beachtlichen finanziellen Profit einbrachten, kategorisch zur 'kommerziellen' Kunst, also zum Boulevardtheater, zugeordnet wurde.
Nachdem das Boulevardtheater unter dem Aspekt seiner Position im literarischen Feld betrachtet wurde, soll nun das Boulevardtheater als Genre untersucht werden. Um darzulegen, was die Etikette 'Boulevardautor' genau impliziert, soll zunächst die Definition des Boulevardtheaters herangezogen werden. So werden in der Encyclopædia Universalis die charakteristischen Merkmale des Théâtre de Boulevard wie folgt dargestellt:
Il y eut les théâtres des boulevards. [...] vers 1860 [...] l’appellation géographique tombe en désuétude et, par l’ablation de son pluriel, se transforme en un terme générique: le théâtre de boulevard, qui désigne désormais un genre littéraire et dramatique bien déterminé.
C’est le théâtre de la bourgeoisie. [...] C’est aussi le théâtre de la libre entreprise. Un théâtre commerçant où [...] les impératifs de rentabilité dominent, imposant des règles, un style, des esthétiques. [...] trop souvent, il lui a fallu sacrifier au succès commercial immédiat. D’où une propension à flatter le public, une tendance au conservatisme esthétique et un grand conformisme moral et politique. [...] Le théâtre de boulevard est donc, avant tout, un théâtre de divertissement. [...] les préoccupations littéraires passent au second plan. [...] le Boulevard restera toujours comme exilé de la littérature. La marque distinctive de son style, c’est une écriture souvent plate et pauvre [...] [67]
Demzufolge ist ein Boulevardautor ein Autor, der sich den Erwartungen des bürgerlichen Publikums unterwirft, da er primär kommerzielle Absichten verfolgt. Seine Bühnenstücke sind lediglich auf 'seichte Unterhaltung' hin angelegt und daher von literarischer Anspruchslosigkeit. Mit anderen Worten ist ein Boulevardautor kein 'wirklicher', ernst zu nehmender Schriftsteller, da seine Werke mehr dem Kommerz als der Kunst verpflichtet sind.
Darüber hinaus zieht das Etikettieren Pagnols als Boulevardautor, d. h. die Zuordnung Pagnols zur 'kommerziellen' Kunst, weitere Vorwürfe nach sich, denen an späterer Stelle im Einzelnen detailliert nachgegangen werden soll. Zu nennen wäre hier vor allem der Vorwurf des Kommerzes. Sein Erfolg, d. h. vornehmlich der finanzielle Gewinn, der ihm daraus erwuchs, wurde scharf kritisiert. Die Vehemenz der Angriffe steigerte sich noch, als er sich dem Massenmedium Film zuwandte und seine eigene Produktionsgesellschaft gründete. Dies wurde dahingehend ausgelegt, dass er ausschließlich den finanziellen Profit im Auge hätte. Auf diesen Vorwurf wird daher im Abschnitt über das Kino ausführlicher eingegangen werden. Ebenfalls in Verbindung mit der Klassifizierung Marcel Pagnols als Boulevardautor steht, dass die seinem Werk immanente Komik als anspruchslose Unterhaltung, ohne jeglichen tieferen Sinn, interpretiert wurde.
Die Klassifizierung Marcel Pagnols als Boulevardautor und folglich als Vertreter der 'kommerziellen' Kunst hat letztendlich zum Ziel, ihm die Anerkennung als 'wirklichen' Schriftsteller abzusprechen, da der interne Kampf im literarischen Feld — in dem Klassifizierungsschemata und Kritik als Kampfinstrumente eingesetzt werden — in erster Linie ein Kampf um die legitime Definition des Schriftstellers ist:
Un des enjeux centraux des rivalités littéraires (etc.) est le monopole de la légitimité littéraire, c’est-à-dire, entre autres choses, le monopole du pouvoir de dire avec autorité qui est autorisé à se dire écrivain (etc.) ou même à dire qui est écrivain et qui a autorité pour dire qui est écrivain; ou, si l’on préfère, le monopole du pouvoir de consécration des producteurs ou des produits. Plus précisément, la lutte entre les occupants des deux pôles opposés du champ de production culturelle a pour enjeu le monopole de l’imposition de la définition légitime de l’écrivain, et il est compréhensible qu’elle s’organise autour de l’opposition entre l’autonomie et l‘hétéronomie. Il s’ensuit que, s’il est vrai universellement que le champ littéraire (etc.) est le lieu d‘une lutte pour la définition de l’écrivain (etc.), il reste qu’il n’est pas de définition universelle de l’écrivain et que l’analyse ne rencontre jamais que des définitions correspondant à un état de la lutte pour l‘imposition de la défintion légitime de l’écrivain.68
Nachdem die Klassifizierung Pagnols als Boulevardautor eingehender untersucht wurde und die tiefer liegenden Gründe dafür aufgezeigt wurden, sollen im Folgenden die Kritikpunkte näher beleuchtet werden, die sich auf Marcel Pagnol als Cineasten beziehen. Hierbei spielen die Konkurrenzkämpfe zwischen Theater und Kino und zwischen Stummfilm und Tonfilm eine nicht zu unterschätzende Rolle.
4.3. Marcel Pagnol und das Kino
Mit Topaze (1928), Marius (1929) und Fanny (1931) feierte Marcel Pagnol am Theater überwältigende Erfolge. Als sein Freund Pierre Blanchar ihm 1930 von Broadway Melody
— einer der frühesten Projektionen des Tonfilms in Europa – berichtete, begab sich Pagnol sofort nach London und sah sich den Film gleich dreimal nacheinander an. Er war von den Ausdrucksmöglichkeiten des damals völlig neuen Tonfilms so begeistert, dass er beschloss, das Filmhandwerk von "A bis Z" zu lernen69 :
J’ai l’intention de travailler pendant deux ou trois années, et de commencer par le commencement. Je veux apprendre, dans un laboratoire, les secrets du développement et du tirage; je veux étudier les appareils de prises de vues, les procédés d’enregistrement du son; je tenterai ensuite d’aborder la mise en scène; enfin , j’écrirai directement de petits films parlants, et je les réaliserai moi-même, depuis A jusqu’à Z.70
Diese Absicht konnte Marcel Pagnol in die Tat umsetzen, als ein Paramount-Studio in Paris errichtet wurde und er, dank Robert-T. Kane, freien Zugang dazu erhielt. 1932 gründete er dann mit Roger Richebé seine eigene Produktionsgesellschaft Les Films Marcel-Pagnol und produzierte bis 1954 fast ausschließlich Filme teils nach eigenen Stoffen71 und teils nach überarbeiteten literarischen Vorlagen von Jean Giono: Jofroi (1933), Angèle (1934), Regain (1937), La femme du boulanger (1938), aber auch nach Alphonse Daudet: ( Les lettres de mon moulin, Le curé de Cucugnan ), Maupassant ( Le rosier de Madame Husson ) und Zola ( Naïs ).
[...]
1 Pierre Bourdieu, Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris: Editions du Seuil 1992.
2 André Bazin bezeichnete Pagnol als "Fall" in seinem Artikel "Le cas Pagnol", wobei er diese Bezeichnung allerdings in erster Linie auf den Aspekt bezog, dass Pagnol, als Theaterautor Filme produzierte. Vgl. André Bazin, "Le cas Pagnol", in: André Bazin, Qu'est-ce que le cinéma (1958-1962), Paris: Cerf, 1994, S. 180-85.
3 Vgl. S. 684 des Manuel d’Histoire littéraire de la France, collection dirigée par Pierre Abraham et Roland Desne, Paris: Messidor, Editions sociales, 1982.
4 Vgl. Pierre de Boisdeffre, Une Histoire vivante de la littérature d’aujourd’hui, Paris: Le livre contemporain, 1960, S. 635-636.
5 Histoire de la littérature fran ç aise, Du XVIIIe siècle à nos jours, tome II, sous la direction de Jacques Roger, Paris: Librairie Armand Colin, 1970, S. 911. Die Hervorhebungen sind die Unsrigen.
6 Manuel d’Histoire littéraire de la France, S. 684.
7 Nicht 1931, sondern 1936 erscheint der Film César, vgl. Marcel Pagnol, Œuvres complètes. Cinéma, tome II, Paris: Editions de Fallois 1995, S. 395 und 1322.
8 Jürgen Grimm (Hg.), Französische Literaturgeschichte, 3. erw. Auflage, Stuttgart: Verlag J. B. Metzler 1994, S. 317. Die Hervorhebungen sind die Unsrigen.
9 Vgl. Marcel Pagnol, Cinématurgie de Paris (1934-1966) in: Marcel Pagnol, Œuvres complètes. La cinématurgie. César. Merlusse, tome III, Paris: Editions de Provence, 1967, S. 74.
10 Vgl. Pagnol, Œuvres complètes. La cinématurgie, 76-77; 79.
11 Kindlers neues Literaturlexikon, Hauptwerke der französischen Literatur, Bd. 2, München: Kindler Verlag 1996, S. 163-164. Die Hervorhebungen sind die Unsrigen.
12 Kindlers neues Literaturlexikon, Hauptwerke der französischen Literatur, 163. Die Hervorhebungen sind die Unsrigen.
13 Manuel d’Histoire littéraire de la France, 686. Die Hervorhebungen sind die Unsrigen.
14 Vgl. Pagnol, Œuvres complètes. La cinématurgie, 16-20.
15 Vgl. Christopher Faulkner, "René Clair, Marcel Pagnol and the social dimension of speech" in: Screen 35 /2 , Oxford: Oxford University Press 1994, S. 158 und Pagnol, Œuvres complètes. La cinématurgie, 78-79.
16 Claude Beylie, Marcel Pagnol ou le cinéma en liberté, Paris: Editions de Fallois, 1995 , S. 9.
17 Vgl. Thierry Dehayes, Marcel Pagnol adaptateur, Nouveau doctorat, Litt. Française, 1999, Le Mans.
18 Thierry Dehayes, Marcel Pagnol à l'école de Jean Giono?, Pont-Saint-Esprit: La Mirandole, 2001 ,
S. 171.
19 Dehayes, Marcel Pagnol à l'école de Jean Giono?, 18.
20 Andrée Tudesque, Pagnol et la tradition bucolique, Worms: Guy Reichert éditeur 1991, S. 33.
21 Jacques Bens, Pagnol, Paris: Editions du Seuil 1994, S. 124.
22 Bens, Pagnol, 131.
23 Vgl. A. Dörner; L. Vogt, "Kultursoziologie. Bourdieu – Mentalitätengeschichte – Zivilisationstheorie", in K.-M. Bogdal (Hg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990, S. 131-132.
24 Vgl. A. Dörner; L. Vogt, "Kultursoziologie", 133-134.
25 Vgl. Markus Schwingel, Pierre Bourdieu zur Einführung, Hamburg: Junius 2000, S. 59-71.
26 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art, 323.
27 Vgl. Schwingel, Pierre Bourdieu zur Einführung, 73-81.
28 Vgl. Joseph Jurt, Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 78.
29 Vgl. Schwingel, Pierre Bourdieu zur Einführung, 81-90.
30 Vgl. Schwingel, Pierre Bourdieu zur Einführung, 85-86.
31 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art, 321.
32 Pierre Bourdieu, Soziologische Fragen, Frankfurt/M. 1993, S. 108.
33 Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt/M., 1985, S. 74 zitiert in: Schwingel, Pierre Bourdieu zur Einführung, 94.
34 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art, 289-290 und Schwingel, Pierre Bourdieu zur Einführung, 93-96.
35 Vgl. Jurt, Das literarische Feld, 74-75.
36 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art, 14.
37 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art, 300. Bourdieu definiert das Feld der Macht wie folgt: "Le champ du pouvoir est l’espace des rapports de force entre des agents ou des institutions ayant en commun de posséder le capital nécessaire pour occuper des positions dominantes dans les différents champs (économique ou culturel notamment). Il est le lieu de luttes entre détenteurs de pouvoirs (ou d’espèces de capital) différents qui [...] ont pour enjeu la transformation ou la conservation de la valeur relative des différentes espèces de capital qui détermine elle-même, à chaque moment, les forces susceptibles d’être engagées dans ces luttes."
38 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art, 32; 300-301.
39 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art, 300-301; 202.
40 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art, 202; 302.
41 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art, 112; 123; 165-167; 300.
42 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art, 310-311.
43 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art , 62 ; 236; 316-317.
44 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art, 201-202; S. 238.
45 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art, 201 und Jurt, Das literarische Feld, 90.
46 Bourdieu, Les règles de l’art, 407.
47 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art, 318.
48 Bourdieu, Les règles de l’art, 244.
49 Bourdieu, Les règles de l’art, 409.
50 Bourdieu, Les règles de l’art, 271.
51 Pagnol, Œuvres complètes. La cinématurgie, 76 .
52 Bourdieu, Les règles de l’art, 409. Die Hervorhebungen sind die Unsrigen.
53 Marcel Pagnol, Critique des critiques, in: Marcel Pagnol, Notes sur le rire, Paris: Editions de Fallois 1990.
54 Théophile Gautier, Mademoiselle de Maupin, Paris: Editions Garnier frères 1966, Préface, S. 36.
55 Vgl. Pagnol, Critique des critiques, 124-126.
56 Pagnol, Critique des critiques, 161-162. Die Hervorhebung ist die Unsrige.
57 Hierauf wird u. a. verwiesen in: Tudesque, Pagnol et la tradition bucolique, 30-31 und in: C. E. J Caldicott, Marcel Pagnol, Boston: Twayne 1977, S. 8.
58 Bourdieu, Les règles de l’art, 229.
59 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art, 173
60 Bourdieu, Les règles de l'art, 236.
61 Bourdieu, Les règles de l’art, 228.
62 Bourdieu, Les règles de l’art, 234.
63 Vgl. Andreas Dörner, Ludgera Vogt, Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 154.
64 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art, 167.
65 Pagnol, Critique des critiques, 143-144.
66 Bourdieu, Les règles de l’art, 230. Die Hervorhebungen sind die Unsrigen.
67 Encyclopædia Universalis, Version 7, (CD-Rom), Paris: Encyclopædia Universalis 2001, unter dem Suchbegriff: "théâtre de boulevard".
68 Vgl. Bourdieu, Les règles de l’art, 311.
69 Vgl. Pagnol, Œuvres complètes. La cinématurgie, 11-12.
70 Pagnol, Œuvres complètes. La cinématurgie, 23.
71 Zu nennen sind hier: Marius, Fanny, Merlusse, Cigalon, Topaze, César, Le Schpountz, La fille du puisatier, La prière aux étoiles, La belle Meunière und Manon des sources. Vgl. Pagnol, Œuvres complètes. Cinéma, 1322.
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- Maritta Schiffner (Author), 2003, Marcel Pagnol. Hintergründe der aktuellen Pagnol-Rezeption, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1220539
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