In der autobiographischen Erzählung „Abschied von den Eltern“ berichtet der Autor
Peter Weiss in Form eines Ich-Erzählers von seiner Kindheit und Jugend bis zum
frühen Erwachsenenalter von fünfundzwanzig Jahren, als er das Elternhaus
endgültig verlässt. Die Erzählung ist in einem Erzählfluss ohne Absätze oder
sonstige Gliederungsformen niedergeschrieben. In diesem Rückblick auf die
Jugendjahre seines Lebens erzählt er von seinen Eltern und dem Wunsch, gegen
deren Willen einen künstlerischen Beruf zu erlernen. Entscheidend sind dabei auch
die politischen Umstände dieser Zeit, die ihm die Jugendzeit zusätzlich erschwert
haben und bei ihm seit der Emigration nie mehr ein Gefühl von Heimat aufkommen
ließen.
„Wie die besten seiner Werke mutet auch die Biographie des Peter Weiss
gleichnishaft an: es ist die Geschichte eines Mannes, der ein Leben lang auf
der Suche nach einer Heimat war- und der sie schließlich gefunden hat. Aber
seine Heimat war nicht ein Land und nicht etwa eine Ideologie. Vielmehr war
es die Kultur, die ihm schließlich Schutz bot.“
Inhalt
1. Einleitung
2. Die Biographie des Peter Weiss
3. Jugend im Exil
3.1. Die Beziehung zum Vater und die Tabuisierung des Judentums
3.2. Die Beziehung zur Mutter
3.3. Heimatlosigkeit und Leben im doppelten Exil
3.4. Versuche zu der Loslösung vom Elternhaus
3.5. Die stetige Außenseiterrolle
4. Schlussbemerkung
Bibliographie
1. Einleitung
In der autobiographischen Erzählung „Abschied von den Eltern“ berichtet der Autor Peter Weiss in Form eines Ich-Erzählers von seiner Kindheit und Jugend bis zum frühen Erwachsenenalter von fünfundzwanzig Jahren, als er das Elternhaus endgültig verlässt. Die Erzählung ist in einem Erzählfluss ohne Absätze oder sonstige Gliederungsformen niedergeschrieben. In diesem Rückblick auf die Jugendjahre seines Lebens erzählt er von seinen Eltern und dem Wunsch, gegen deren Willen einen künstlerischen Beruf zu erlernen. Entscheidend sind dabei auch die politischen Umstände dieser Zeit, die ihm die Jugendzeit zusätzlich erschwert haben und bei ihm seit der Emigration nie mehr ein Gefühl von Heimat aufkommen ließen.
„Wie die besten seiner Werke mutet auch die Biographie des Peter Weiss gleichnishaft an: es ist die Geschichte eines Mannes, der ein Leben lang auf der Suche nach einer Heimat war- und der sie schließlich gefunden hat. Aber seine Heimat war nicht ein Land und nicht etwa eine Ideologie. Vielmehr war es die Kultur, die ihm schließlich Schutz bot.“[1]
2. Die Biographie des Peter Weiss
Peter Weiss wird am 08.11.1916 als Sohn des ungarisch-jüdischen Textilfabrikanten Eugen Weiss und der Schauspielerin Frieda Weiss in Nowawes bei Berlin geboren. Seine Mutter bringt zwei Söhne, Arwed und Hans, mit in die Ehe. Aufgrund des Berufes des Vaters muss die Familie mehrmals umziehen. Schon 1918 verlassen sie Berlin und ziehen nach Bremen. Im Jahre 1920 wird dort zunächst seine Schwester Irene Franziska geboren, 1922 folgt Margit Beatrice und 1924 schließlich Alexander. Die beiden Söhne von Frieda Weiss verlassen bereits 1924, bzw. 1925 die Familie.
Im Jahr 1929 zieht die Familie zurück nach Berlin. Hier besucht Weiss eine Zeichenschule und beginnt mit der Malerei. Nach einem Verkehrsunfall stirbt seine Schwester Margit 1934.
Die Familie emigriert aufgrund der politischen Situation in Deutschland Ende 1934 zunächst nach England. Später, im Herbst 1936, in die Tschechoslowakei. Zu dieser Zeit ist er von Hesse fasziniert. Er schreibt dem Schriftsteller und bittet ihn um Hilfe auf der Suche nach einem Weg, Maler und Schriftsteller zu werden. Hesse erkennt die Begabung des jungen Peter Weiss und ermutigt ihn in seiner Antwort. Es entsteht ein Briefwechsel; 1937 besucht Weiss Hesse im Tessin zum ersten Mal, und 1938 das zweite Mal. Nach dem ersten Besuch beginnt Weiss ein Studium an der Kunstakademie in Prag.
Die Eltern müssen 1938 nach der Besetzung des Sudetenlandes nach Schweden emigrieren. Weiss bleibt zunächst in der Schweiz und folgt 1939 den Eltern nach Schweden. Er arbeitet erst in der Textilfabrik seines Vaters, bevor er sich 1940 in Stockholm niederlässt. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Musterzeichner für die Textilfabrik. Im Jahr 1943 heiratet er Helga Henschen, lässt sich aber nach der Geburt der Tochter Randi Maria 1944 wieder scheiden. Er erhält 1946 die schwedische Staatsbürgerschaft.
Zwei Jahre nach Kriegsende reist er als Korrespondent nach Berlin und schreibt Reportagen sowie den Prosatext „Die Besiegten“, welcher 1948 in schwedischer Sprache erscheint, allerdings ohne große Resonanz. Seine zweite Ehe 1949 mit Carlotta Dethorey hält wie seine erste Ehe nicht lange und scheitert nach der Geburt des Sohnes Paul.
In den Jahren 1952 bis 1961 arbeitet er als Filmkritiker, konzentriert sich schließlich aber doch komplett auf die Schriftstellerei und Malerei.
Seine Eltern sterben 1958 und 1959; kurz nach dem Tod des Vaters 1959 beginnt er mit dem Schreiben des autobiographischen Romans „Abschied von den Eltern“, welcher 1961 erscheint. Doch zunächst erscheint 1960 sein 1952 geschriebener Roman „Der Schatten des Körpers des Kutschers“. „Fluchtpunkt“, was man als zweiten Teil von „Abschied von den Eltern“ betrachten kann, erscheint 1962. Für dieses Buch erhält er den Schweizer Literaturpreis. Damit gelang ihm der Durchbruch als Schriftsteller und die folgenden Jahre schenkten ihm weltweiten Erfolg.
Seine dritte und letzte Ehe geht er 1963 mit Gunilla Palmstierna ein.
Die Jahre 1964 bis 1971 sind von den Theaterstücken Weiss geprägt: 1964 „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats“, 1965 „Die Ermittlung“, 1967 „Der Gesang vom Lusitanischen Popanz“, 1968 „Viet Nam Diskurs“, 1970 „Trotzki im Exil“ und 1971 „Hölderlin“. Diese Theaterstücke werden weltweit aufgeführt, auch in beiden Teilen des geteilten Deutschlands; er erhält einige Preise und Auszeichnungen für seine Arbeit.
Seine Tochter Nadja wird 1972 geboren. Drei Jahre danach veröffentlicht er wieder. In den Jahren 1975 bis 1981 schreibt er drei Bände über die „Ästhetik des Widerstandes“ in denen er versucht, die historischen und gesellschaftlichen Erfahrungen zwischen 1917 und 1945 zu erfassen und ihre ästhetischen und politischen Erkenntnisse darzustellen. Ebenfalls 1975 wird Kafkas „Der Prozess“ uraufgeführt, 1980 veröffentlicht „Fremde“ unter dem Synonym Sinclair, wohl in Anlehnung an Hesse. In Stockholm führt er 1982 „Der neue Prozess“ auf und führt dabei auch selbst Regie. Im Mai stirbt er in Stockholm im Alter von 65 Jahren. Posthum wird er mit dem Georg-Büchner Preis ausgezeichnet.
3. Jugend im Exil
Im Folgenden sollen Gründe beziehungsweise Ursachen dafür gezeigt werden, weshalb Peter Weiss sich stets als Außenseiter und Flüchtling fühlte.
Dies beginnt bei der Beziehung zu den Eltern, die ein Kind von Geburt an prägt und beeinflusst, erstreckt sich weiter über die Emigration, welche Peter Weiss als Jugendlicher erfährt und endet schließlich bei den Versuchen, sich vom Elternhaus dauerhaft zu lösen. Die ersten drei Unterpunkte beinhalten das Unzugehörigkeitsgefühl des Autors, das die Identitätsfindung von Anfang an immens erschweren. In Punkt 3.4. soll gezeigt werden, dass ihm die politischen Zeitumstände eine Loslösung vom Elternhaus doppelt erschwerten und sie ihm erst mit 25 Jahren gelang, als er das Elternhaus für immer verlässt. Im 3.5. wird das stetige Gefühl ein Außenseiter zu sein, Bezug nehmend auf die vorangegangenen Punkte, dargestellt.
3.1. Die Beziehung zum Vater und die Tabuisierung des Judentums
Die Beziehung zu seinen Eltern beschreibt Weiss von Anfang an als schwierig. Schon zu Beginn des Romans schreibt er: „Nie habe ich das Wesen dieser beiden Portalfiguren meines Lebens fassen und deuten können.“[2]
Das Leben des Vaters war von „unermüdlicher Arbeit“[3] geprägt und bot der Familie ein zumindest finanziell sorgenfreies Leben. Ihm gelang es schließlich, ein Heim „durch die Jahre der Emigration hindurch, durch ständige Übersiedlungen, Anpassungsschwierigkeiten und den Krieg hindurch“[4] zu retten. Diese Einstellung zum Leben verlangte Eugen Weiss auch von seinem Sohn, denn „Leben war Ernst, Mühe, Verantwortung“[5]. Peter Weiss honoriert das Verdienst des Vaters, der Familie ein neues Heim durch viel Arbeiten, viele Reisen und Fabriken zu geben: „ich sehe mich heute so, wie sie mich damals sahen, ich verstand nicht, wie schwer sie um ihr Dasein kämpften, ich verstand nicht, welch unsägliche Bemühungen es kostete, dieses Heim mit all seinen Insassen am Leben zu erhalten.“[6] Dennoch sagt Weiss, dass der Vater nie „Glück unter diesem Besitz“[7] erfahren hat. Eugen Weiss konnte keine Beziehung zu seinen Kindern aufbauen. Für Peter Weiss war der „stärkste Eindruck seines Wesens seine Abwesenheit“[8] und er bemängelte überdies, dass er nie mit seinen Kindern kommunizieren konnte. Dies scheitert dann vor allem an der „Unmöglichkeit gegenseitigen Verstehens“[9]. Besonders von der beruflichen Zukunft Peter Weiss´ haben beide unterschiedliche Vorstellungen. Sein Vater sieht ihn eher im „praktischen Berufsleben“[10], da er ihn für die Schule und das Studium nicht geeignet hält. Peter Weiss fügt sich dem Vorschlag des Vaters, in dessen Kontor zu arbeiten und schreibt jedoch auch, dass er seinen Eltern nicht verständlich machen konnte, „dass Malen und Schreiben eine Arbeit“[11] für ihn waren. Gerade darin zeigt sich das von Peter Weiss geschilderte gegenseitige Unverständnis.
Überdies weiß er nicht viel von seinem Vater zu berichten. Ein räumt ein, nur wenig über die Vergangenheit des Vaters gehört zu haben. Dies liegt wahrscheinlich auch darin begründet, dass die Eltern versuchten, die jüdische Abstammung des Vaters zu vertuschen. Sein Vater trat fünf Jahre nach der Heirat mit Frieda Weiss zum Christentum über, ließ auch seine Kinder taufen und sympathisierte sogar mit dem Nationalsozialismus. Die vielen Umzüge erklärte er den Kindern immer aus beruflichen Gründen heraus, aber mit dem Beginn der Emigration nach London 1934 beginnt auch eine Flucht vor der jüdischen Herkunft. Alexander Weiss, Peter Weiss´ jüngerer Bruder, beschreibt dies folgendermaßen:
„Als wir im Spätsommer 1934 Deutschland verließen, geschah dies vor allem, weil mein Vater nicht gezwungen werden wollte, seine jüdische Herkunft aufzudecken. Erst in zweiter Linie war es der Auszug aus einem Land, das bald die Nürnberger Gesetze einführen sollte, die uns alle getroffen hätten. Unsere Emigration war im Grunde nicht eine Flucht vor den Nationalsozialisten, sondern die Fortsetzung der Flucht meines Vaters fort vom Judentum. Er wollte geltend machen, dass wir nicht Juden seien, sondern protestantische Tschechoslowaken, dass unsere Flucht aus Deutschland nicht aus politischen Gründen geschah, sondern will mein Vater eine Anstellung in England in Aussicht hatte. So wurde mir meine eigene Herkunft verschleiert, die einfache, aber offenbar dennoch sehr komplizierte Wahrheit vorenthalten.“[12]
Und auch Peter Weiss bleibt die jüdische Abstammung seines Vaters lange verborgen. Erst sein Stiefbruder, in der Erzählung Gottfried genannt, macht ihn kurz vor der Emigration darauf aufmerksam, dass sein Vater Jude ist. Er schildert die Erfahrung der Tabuisierung der jüdischen Abstammung in einem Brief an seine Bekannte Itta Blumenthal:
„Ich habe bis zu meinem 19. Lebensjahr (in London) nicht gewusst, dass ich jüdisches Blut habe. Man hatte dies uns Kindern verschwiegen. Ich war zwar in der Schule immer in Opposition zum Antisemitismus (das war ja schon während der Naziregierung) war jedoch dann, als mein Vater bekannte, Halbjude zu sein, (was ja nicht stimmte: er ist Volljude), doch sehr erschüttert. Es war uns ja jahrelang soviel Rassenunterschieden eingetrichtert worden. Erst ein Jahr später in Prag bekam ich zu wissen, dass ich Halbjude sei und diese ganze Hinters-Licht-Führerei hat mich sehr erbittert. Auch hier ist man in einem Betrug aufgewachsen und es ist klar, dass meine Stellung zum Judentum noch etwas ungeklärt ist. Mein Vater selbst hatte sich oft herablassend über die Jude geäußert und seine Rasse immer verleugnet, ich selbst habe daher trotz der Sympathie (alle Menschen, die mir ein bisschen soweit dies bei mir möglich ist, nahe standen, waren Juden!) oft das Gefühl gehabt, sie seien irgendwo zu bemitleiden und nicht zu Großem fähig.“[13]
Doch für Peter Weiss sollte diese Erkenntnis über die jüdische Abstammung nicht der einzige Grund für die Außenseiterposition bleiben, die er ständig lebte. Er sagt, dass sie ihm vielmehr eine Bestätigung für sein stetiges Unzugehörigkeitsgefühl gewesen sei.
3.2. Die Beziehung zur Mutter
Frieda Weiss war, vor der Heirat im Jahre 1915 mit Eugen Weiss, Schauspielerin gewesen. Doch sie musste ihren Beruf aufgrund der Geburt ihrer weiteren vier Kinder und bedingt durch die vielen Umzüge aufgeben. Doch Peter Weiss sieht den „Grund ihrer späteren Unausgeglichenheit darin, dass sie sich ihrem eigentlichen Wirkungsgebiet entzogen hatte.“[14] Er vermutete sogar, dass der soziale Standard der Familie „ Ersatz für die verlorenen Rollen auf der Bühne“[15] war. Die vom Erzähler dargestellte Strenge der Mutter und ihre Abneigung gegen das Kind kann wahrscheinlich darauf zurückgeführt werden, dass die schicksalhafte Begegnung mit der Familie und den Kindern der Verwirklichung ihrer narzisstischen, individuellen Bestrebung Schauspielerin zu werden, behinderte. Das löste bei ihr wohl lang andauernde und negative Emotionen gegen das Kind aus und führte zu Unwillen und Unfähigkeit, „Zuwendung Zärtlichkeit und Behutsamkeit auszudrücken.“[16]
In ihrem Charakter schreibt Peter Weiss seiner Mutter zwei Rollen zu. Zum einen sieht er sie als seine `Retterin´, gleichzeitig aber auch als „Bedroherin“[17]. Da der Vater als Bezugs- und Identifikationsfigur ausfällt, richten sich seine ganzen Wünsche nach Zuneigung und Nähe auf seine Mutter. Er versucht permanent, ihr Interesse und Verständnis für ihn zu wecken. Immer wieder gewährt er ihr Einblicke in seine Malerei, obwohl er von Anfang an davon ausgeht, dass ihr der Sinn und die Wertigkeit seiner Werke unverständlich sind.
Im Grunde verfolgt er dabei nur das Ziel, dass seine Mutter ihn „in diesem Bild erkennen solle“[18]. Aber das gleiche Unverständnis, das er schon von seinem Vater erfährt, setzt sich bei der Mutter fort. Sie sagt sogar einmal direkt zu ihm, dass er ihr immer fremd gewesen sei und ihr jegliches Verständnis für ihn fehlte. „Die Mutter vertritt die Welt der Unterdrückung, die Phantasie und später die Kunst sind die kompensatorischen Gegenwelten. Die Mutter bekämpft diese Welten massiv, und so steht die künstlerische Entwicklung des Erzählers während der gesamten Zeit in einem Gegensatzverhältnis zur Mutter.“[19] Als sie nach England emigrieren, zerstört sie sogar seine Bilder. Doch Peter Weiss zweifelt daran, ob dies wirklich aus Furcht davor war, dass seine „düsteren, unheimlichen Bilder das Misstrauen der Grenzbehörden wecken würden“[20]. „Das Trauma dieser Zerstörung hat Peter Weiss lange nicht überwunden. Von seiner frühesten Kindheit anhatte diese kalte und dominierende Mutter seine Entfaltung behindert, sie war für sein phasenweise beinahe autistisches Leben verantwortliche gewesen, hatte sein Entwicklung zum Maler immer wieder sabotiert.“[21]
Es fällt schwer, nachzuvollziehen, weshalb Peter Weiss so um die Aufmerksamkeit und Nähe seiner Mutter kämpft, denn in „Abschied von den Eltern“ ist ihre Rolle durchweg negativ besetzt; im Vergleich zu Auguste, der Haushälterin, hat die Mutter die negativeren Verhaltenseigenschaften.
Auguste hält mit Charaktereigenschaften wie mild, duldend und demütig eher die Mutterrolle inne als seine wirkliche Mutter, die als unbeständig, wild und kochend beschrieben wird. Mit Auguste entdeckt er die Welt, nicht mit seiner Mutter, die, wie er sagt, alles wusste, konnte und bestimmte. „Seinen Wunsch nach mütterlicher Zuwendung beantwortete die Mutter mit kalter Abwendung. Statt dem Kind mütterliche Liebe zu geben, versucht sie, ihm ihr Über-Ich zu vermitteln. In diesem Fall ist das erzählte Ich gezwungen, die Mutter als dominierende Übermacht zu erfahren.“[22]
Die einzige Zuneigung erfährt er von seiner Schwester Margit, von deren Leben er im Allgemeinen nicht viel berichtet. Eine der einzigen Informationen ist, dass er mit ihr eine inzestuöse Beziehung hatte. Es lässt vermuten, dass er bei ihr die Wärme und Geborgenheit erfährt, die ihm seine Eltern nur bedingt zukommen lassen.
„Diese `gestörte´, das heißt nicht der psychoanalytischen Norm entsprechende Elternbeziehung hat entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des >Ich< und macht sich unter anderem bemerkbar in der inzestuösen Beziehung zu seiner Schwester Margit oder den sadistischen Sexualpraktiken.“[23]
Doch die „einschneidende Veränderung“[24] in der Familie geschieht kurz vor der Emigration nach England: Margit gerät in einen schweren Autounfall. Während sie im Krankenhaus ihren Verletzungen erliegt, malt Peter Weiss sein „erstes großes Bild“[25], bei dessen Beendigung auch ihr Todeskampf zu Ende geht. Für ihn hat der Tod der Schwester aber noch eine weitaus tiefere Bedeutung, denn mit dem Tod Margits beginnt für ihn „der Anfang von der Auflösung“[26] seiner Familie, „es gab kein nachhause mehr“[27]. Denn danach folgen die Jahre der Emigration, als die Eltern immer in jedem Land ein Heim aufbauen konnten. Aber für Peter Weiss wurde dabei nur „die äußere Struktur der Familie in mühsamen bewahrten Heim zusammengehalten“[28]. Nach seiner Meinung habe mit dem Tod der Schwester auch das Sterben seiner Eltern begonnen; im letzten Exilland Schweden habe sich schließlich auch der Untergang vollzogen, der mit dem Tod der Schwester begonnen habe. Und die „endgültige Auflösung der Familie“[29] vollzog sich dann nach dem Tod beider Elternteile, deren Testamentseröffnung und der Auflösung des Haushalts.
3.3. Heimatlosigkeit und Leben im doppelten Exil
Aber nicht nur die fehlende Zuneigung und Wärme der Eltern geben ihm das Gefühl der Unzugehörigkeit. Vor allem die politischen Umstände in seiner Kindheit und Jugendzeit tragen darüber hinaus dazu bei.
Peter Weiss´ Kindheit und Jugend war geprägt von zahlreichen Umzügen, die den Kindern, wie bereits erwähnt, mit beruflichen Gründen erklärt worden sind, die jedoch seit 1934 wohl eher politische waren. Für ihn ist die Emigration „nur die Bestätigung einer Unzugehörigkeit“[30], da er auch nie einen heimischen Boden besessen habe. Zwar besaß Peter Weiss die tschechische Staatsbürgerschaft, kannte aber weder dieses Land, bis auf einen Aufenthalt zwischen 1936 und 1938, noch sprach er die dortige Landessprache. Ebenso musste er sich durch die Emigration bedingt immer wieder neuen Sprachbarrieren stellen.
Er lebte zwar bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr in Deutschland, konnte aber aufgrund des tschechischen Passes kein deutscher Staatsbürger werden. So bleibt anzunehmen, dass Peter Weiss überall ein Fremder war, egal in welchem Land er lebte.
Im Jahre 1939 emigriert er zwar mit den Eltern nach Schweden, lernte schwedisch und lebte schließlich auch bis zu seinem Tod 1982 in Stockholm, aber ein Heimatgefühl in Schweden hatte er wohl dennoch nicht besessen. In einem auf den 11. August 1965 datierten Brief an seinen Jugendfreund Max Barth heißt es:
[...]
[1] Reich Ranicki, Marcel. Peter Weiss. Poet und Ermittler 1961-1982. In: Gerlach, Rainer: Peter Weiss. Frankfurt am Main, 1984. S. 11.
[2] Weiss, Peter. Abschied von den Eltern. Frankfurt am Main, 1961. S.9.
[3] Ibid. S. 9.
[4] Ibid. S. 21.
[5] Weiss, Peter. Abschied von den Eltern. Frankfurt am Main, 1961. S. 59.
[6] Ibid. S. 106.
[7] Ibid. S. 11.
[8] Ibid. S. 39.
[9] Ibid. S. 11.
[10] Ibid. S. 59.
[11] Ibid. S. 104f.
[12] Weiss, Alexander. Bericht aus der Klinik und andere Fragmente. Frankfurt am Main, 1978. S. 18.
[13] Kuhn, Juliane. „Wir setzen unser Exil fort.“ Facetten des Exils im literarischen Werk von Peter Weiss. St. Ingbert, 1995. S. 111.
[14] Weiss, Peter. Abschied von den Eltern. Frankfurt am Main, 1961. S. 41.
[15] Ibid. S. 41.
[16] Wu, Nanfang. Auf der Suche nach Identität. Eine psychoanalytische Studie zu Peter Weiss` Leben und Schreiben. Hamburg, 1999. S. 53.
[17] Weiss, Peter. Abschied von den Eltern. Frankfurt am Main, 1961. S. 49.
[18] Ibid. S. 105.
[19] Rieping, Franz. Reflexives Engagement. Studien zum literarischen Selbstbezug bei Peter Weiss. Bern u.a., 1991. S. 77.
[20] Weiss, Peter. Abschied von den Eltern. Frankfurt am Main, 1961. S. 138.
[21] Cohen, Robert. Peter Weiss in seiner Zeit. Leben und Werk. Stuttgart/Weimar, 1992. S.18.
[22] Wu, Nanfang. Auf der Suche nach Identität. Eine psychoanalytische Studie zu Peter Weiss` Leben und Schreiben. Hamburg, 1999. S. 52.
[23] Hamann, Christof . Subjektinszenierung und Ideologiekritik. Schreibprozesse in Peter Weiss´ Abschied von den Eltern. In: Hansjörg Bay/ Christof Hamann (Hrsg ). Ideologie nach ihrem `Ende´. Gesellschaftskritik zwischen Marxismus und Postmoderne. Opladen, 1995. S. 306.
[24] Weiss, Peter. Abschied von den Eltern. Frankfurt am Main, 1961. S. 74.
[25] Ibid. S. 77.
[26] Ibid. S. 81.
[27] Ibid. S. 78.
[28] Ibid. S. 81.
[29] Ibid. S. 11.
[30] Ibid. S. 143.
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