Ein Individuum ist immer in irgendeiner Weise in die Gesellschaft eingebunden und steht zu ihr in einem wechselseitigen Verhältnis. Durch Individualisierungsprozesse verändern sich die Beziehungen zur Gemeinschaft und die Einbindung in das soziale Gefüge. Obwohl gesellschaftliche Differenzierungsprozesse bereits mit der Zivilisationsgeschichte der Menschheit eingesetzt haben, ist die Individualisierung ein Thema, welches in Zusammenhang mit den strukturellen und demographischen Veränderungen der Gesellschaft Deutschlands seit den 1960er Jahren höchste Brisanz und Aktualität erreicht hat.
Mit dem Ziel, den Zusammenhang zwischen Individualisierung und der Ausprägung moderner Lebensformen aufzuzeigen, soll die vorliegende Arbeit dazu dienen, die Veränderungen der sozialen Bindungen im Gefüge der Gesellschaft zu beschreiben, den erzeugten Wertewandel und die Veränderung der Beschaffenheit von familiären sowie partnerschaftlichen Institutionen, als Konsequenz individualistischer Tendenzen darzulegen. Letztendlich lassen sich daraus die Folgen für die Haushalts- und Wohnstruktur ableiten.
Es geht darum, zu verdeutlichen, dass Individualisierungsprozesse zur Umgestaltung gesellschaftlicher Werte und Strukturen beitragen, von denen auch das Bild und die Konstruktion von Ehe und Familie nicht ausgeschlossen sind. Die Lebensführung einzelner Personen, von Familien und ganzen Gesellschaftsgruppen steht somit unter dem Einfluss von Entwicklungstendenzen, die aktuell und langfristig, die Größe bzw. Form von Haushalten, sowie die Wohnverhältnisse, Ausprägung und Verteilung von Lebensstilen beeinflussen.
INHALT
1. EINLEITUNG
2.INDIVIDUALISIERUNG ALS HISTORISCHES UND SOZIOLOGISCHES KONSTRUKT
2.1. ALLGEMEINE BESCHREIBUNG VON INDIVIDUALISIERUNG
2.2. AMBIVALENZEN UND GEFAHREN VON INDIVIDUALISIERUNG
2.3. KRITIKPUNKTE
3. DER WISSENSCHAFTLICHE ENTWICKLUNGSPROZESS: DIE AUSWAHL VON LITERATUR UND DAS ERMITTELN VON HYPOTHESEN
3.1. DIE LITERATURSUCHE
3.1.1. AUTOREN IN BEZUG AUF DIE VERÄNDERUNGEN VON GESELLSCHAFT UND FAMILIE
3.1.2. AUTOREN IN BEZUG AUF DIE AUSBILDUNG NEUER LEBENSFORMEN UND LEBENSSTILE
3.1.3. AUTOREN IN BEZUG AUF DIE VERÄNDERUNG VON WOHN- UND HAUSHALTSSTRUKTUREN
3.2. HYPOTHESEN
4. DIE VERÄNDERUNGEN VON GESELLSCHAFT UND FAMILIE DURCH PROZESSE DER INDIVIDUALISIERUNG
4.1. INDIVIDUALISIERUNG UND WERTEWANDEL
4.2. WERTEWANDEL UND SOZIALSTRUKTUR
4.3. DER WANDEL VON FAMILIENSTRUKTUREN
4.3.1. DIE PLURALISIERUNG DER LEBENSFORMEN
4.3.2. VERÄNDERTER FAMILIENALLTAG
4.3.3. VERÄNDERTER BEZUG ZU KINDERN
4.3.4. NEUE LEBENSPERSPEKTIVEN FÜR FRAUEN
4.3.5. ALTE UND NEUE PROBLEME FÜR FRAUEN
4.4. DIE FAMILIE ALS ORT INDIVIDUELLER BEDEUTUNG
4.4.1. BEDEUTUNG VON PARTNERSCHAFT UND LIEBE FÜR DIE PERSÖNLICHE ENTWICKLUNG
4.4.2. SCHWIERIGKEITEN PARTNERSCHAFTLICHER BEZIEHUNGEN UNTER DEM EINFLUSS VON INDIVIDUALISIERUNG
4.4.3. INDIVIDUALISIERTE PARTNERSCHAFTEN
5. DIE AUSBILDUNG NEUER LEBENSFORMEN UND LEBENSSTILE
5.1. NEUE LEBENSFORMEN
5.1.1. ALLEINLEBENDE
5.1.2. NICHTEHELICHE LEBENSGEMEINSCHAFTEN
5.1.3. KINDERLOSE PAARE
5.1.4. PARTNERSCHAFTEN MIT GETRENNTEN HAUSHALTEN
5.1.5. ALLEINERZIEHENDE
5.1.6. WOHNGEMEINSCHAFTEN
5.1.7. ANDERE GEWÄHLTE FAMILIEN: MEHRPERSONENPARTNERSCHAFTEN UND SEKTEN
5.1.8. GLEICHGESCHLECHTLICHE PARTNERSCHAFTEN
5.1.9. STIEF-, ADOPTIONS-, PFLEGE- UND INSEMINATIONSFAMILIEN
5.2. DIE VERBREITUNG VON LEBENSFORMEN
5.3. D IE L EBENSSTILKONZEPTION
5.4. D ER E INFLUSS DER INDIVIDUALISIERUNG AUF DIE AUSBILDUNG VON LEBENSSTILEN
5.4.1. NEUE URBANE LEBENSSTILE
5.4.2. DER EINFLUSS VON GLOBALISIERUNG AUF DIE AUSBILDUNG URBANER LEBENSSTILE
5.4.3. OPERATIONALISIERTE LEBENSSTILTYPOLOGIEN
5.4.4. DER SINGLE ALS LEBENSSTIL
5.5. DIE VERTEILUNG VON LEBENSSTILEN
6. DIE VERÄNDERUNG VON WOHN- UND HAUSHALTSSTRUKTUREN
6.1. ENTWICKLUNG DER H AUSHALTSGRÖßEN
6.2. GENTRIFICATION
6.2.1. DIE RE-URBANISIERUNG DER INNENSTÄDTE
6.2.2. URBANES LEBEN UND NEUE URBANITÄT
6.2.3. RURALES LEBEN UNTER DEM EINFLUSS VON INDIVIDUALISIERUNG
6.3. WOHNEN UND LEBENSSTIL
6.4. VERÄNDERTE ANFORDERUNGEN AN DEN WOHNUNGSMARKT
6.4.1. NACHFRAGE NACH GEEIGNETEM WOHNRAUM DURCH DIE NEUEN HAUSHALTSTYPEN
6.4.2. VERÄNDERTE ANFORDERUNGEN AN DIE STADTPLANUNG
6.5. ZUR GESTALTUNG NEUER UND ALTERNATIVER WOHNFORMEN
6.5.1. DIE ENTWICKLUNG FLEXIBLER WOHNKONZEPTE
6.5.2. HAUSGEMEINSCHAFTEN, WOHNGRUPPEN UND ALTERNATIVE WOHNPROJEKTE
6.5.3. NEUE NACHBARSCHAFTLICHE BEZIEHUNGEN
7. RESÜMEE
8. TABELLARISCHER ANHANG
9. LITERATUR
9.1. INTERNETQUELLEN
10. ABBILDUNGSVERZEICHNIS
1. Einleitung
Ein Individuum ist immer in irgendeiner Weise in die Gesellschaft eingebunden und steht zu ihr in einem wechselseitigen Verhältnis. Durch Individualisierungsprozesse verändern sich die Beziehungen zur Gemeinschaft und die Einbindung in das soziale Gefüge. Obwohl gesellschaftliche Differenzierungsprozesse bereits mit der Zivilisationsgeschichte der Menschheit eingesetzt haben, ist die Individualisierung ein Thema, welches in Zusammenhang mit den strukturellen und demographischen Veränderungen der Gesellschaft Deutschlands seit den 1960er Jahren höchste Brisanz und Aktualität erreicht hat.
Mit dem Ziel, den Zusammenhang zwischen Individualisierung und der Ausprägung moderner Lebensformen aufzuzeigen, soll die vorliegende Arbeit dazu dienen, die Veränderungen der sozialen Bindungen im Gefüge der Gesellschaft zu beschreiben, den erzeugten Wertewandel und die Veränderung der Beschaffenheit von familiären sowie partnerschaftlichen Institutionen, als Konsequenz individualistischer Tendenzen darzulegen. Letztendlich lassen sich daraus die Folgen für die Haushaltsund Wohnstruktur ableiten.
Es geht darum, zu verdeutlichen, dass Individualisierungsprozesse zur Umgestaltung gesellschaftlicher Werte und Strukturen beitragen, von denen auch das Bild und die Konstruktion von Ehe und Familie nicht ausgeschlossen sind. Die Lebensführung einzelner Personen, von Familien und ganzen Gesellschaftsgruppen steht somit unter dem Einfluss von Entwicklungstendenzen, die aktuell und langfristig, die Größe bzw. Form von Haushalten, sowie die Wohnverhältnisse, Ausprägung und Verteilung von Lebensstilen beeinflussen.
Dahingehend muss ebenfalls geklärt werden, inwiefern Gentrification und die Infrastruktur urbaner Zentren mit den derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen korrelieren. Außerdem muss in die Diskussion um neue Lebensund Wohnformen eine Analyse über veränderte Ansprüche an die Wohnsituation und das Wohnumfeld miteinfließen. Dabei stellt sich die Frage, ob veränderte Wohnund Haushaltsstrukturen auf dem Wohnungsmarkt Berücksichtigung finden und ob sich daraus Konsequenzen für die Bauund Stadtplanung ergeben.
Im ersten Teil der Arbeit erfolgt eine Annäherung an die theoretischen Grundlagen von Individualisierung, indem die Aspekte zum Thema zusammengefasst werden, die historisch und aktuell bedeutsam sind.
Danach folgt ein Abschnitt, der die Auswahl der wissenschaftlichen Materialien beschreibt, die für die Sekundäranalyse notwendig sind. Weiterhin werden die Hypothesen erläutert, auf deren Grundlage die Bearbeitung der Aufgabenstellung erfolgt.
Im vierten Kapitel werden die gesellschaftlichen und ideologischen Veränderungen erarbeitet, die zum Wandel von Ehe und Familie führen. Der Fokus liegt darauf, den Zusammenhang zwischen Individualisierung und der Auflösung traditioneller familiärer Strukturen zu erschließen. Weiterführend soll es darauf ankommen, die Ausbildung neuer Lebensformenund Lebensstile als einen Entwicklungsprozess zu erläutern, der im direkten Zusammenhang zu den Prozessen gesellschaftlicher Veränderungen steht. Anschließend werden mögliche neue Lebensformen kurz skizziert und die Konzeption von Lebensstilen in Verbindung mit Individualisierung gebracht werden.
Daran schließen sich in Kapitel 6 Ausführungen zur Umgestaltung von Haushaltsund Wohnstrukturen an, wobei zusätzlich die praktische Gestaltung neuer Wohnformen eine Rolle spielen wird.
2. Individualisierung als historisches und soziologisches Konstrukt
Seit den 1980er Jahren ist das Thema „Individualisierung“ verstärkt ins Zentrum nicht nur soziologischer, sondern auch psychologischer, politischer und gesellschaftlicher Diskussionen gerückt (vgl. Kippele S.11). Individualität, Selbstwert und Autonomie haben niemals zuvor einen hochgradigeren Gesellschaftsbezug beanspruchen können. Das „selbstbewusste und autonome Individuum“ (Ebers, S.34) prägt das Menschenbild der modernen Gesellschaft grundlegend. Dennoch stellt Individualisierung kein vollkommen neuartiges Phänomen dar (vgl. ebd., S.16 und S.34). Vielmehr muss Individualisierung als das Produkt langer historischer Prozesse betrachtet werden. Konzepte, welche eine Veränderung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft beschreiben, existierten bereits lange vor der Manifestation der Soziologie als Wissenschaft, (die als solche noch relativ jung ist) und haben eine „jahrtausendelange philosophische Tradition“ (Kippele, S.11).
Erste Ansätze zur Befreiung des Menschen aus Abhängigkeit und Fremdbestimmung sind seit der Antike nachweisbar. Zum Beispiel lassen sich in der klassischen griechischen Philosophie Abhandlungen über das Verhältnis des Individuums als Teil des Ganzen finden, wobei Ich-Bewusstsein und Selbstachtung wesentlicher Bestandteil jener Diskussion sind (vgl. Ebers, S.34).
Weiterführend unterstreichen das Christentum und humanistische geistige Strömungen
„die Einmaligkeit des Menschen“ und „den freien Willen des Individuums“ (ebd., S.35). Die Epochen der Renaissance und Aufklärung deklarieren die Selbstbestimmung des Menschen, wobei allerdings die individuelle Identität immer nur als ein Teil der kollektiven Identität verstanden wird (vgl. ebd.).
Im 19. Jahrhundert erlauben die ideologischen Grundlagen von Liberalismus, Demokratie und Sozialismus die Entfaltung der Persönlichkeit. Die Romantik bestätigt jene Einmaligkeit des Individuums, denn sie begreift den Menschen als einzigartige und selbstbestimmte Person (vgl. ebd., S.35f.).
Davon abgesehen blieben aber Selbstachtung und Selbstbestimmung, verbunden mit der Emanzipation von „mythischen, religiösen, naturhaften und politischen Mächten“ (ebd., S.37), lange Zeit kleinen Kreisen von intellektuellen und machtpolitischen Eliten vorbehalten. Eine Verallgemeinerung der Prämissen auf breitere Teile der Bevölkerung ist generell erst ab dem 18. Jahrhundert zu verzeichnen, weil sich zu dieser Zeit „formal ein staatlicher Anspruch auf Menschenwürde“ (ebd.) einstellt und Forderungen nach persönlicher Autonomie sowie persönlicher Freiheit unter den Bürgern laut werden. Hand in Hand mit gesellschaftlichem Fortschritt führten neue Gedankenbilder zu dem Menschen-, Familienund Gesellschaftsbild wie wir es gegenwärtig in unserer Gesellschaft vorfinden. (vgl. ebd., S.37f.).
In der Soziologie wird Individualisierung auf gesellschaftliche und soziale Differenzierung zurückgeführt und mit der Veränderung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft in Verbindung gebracht. Dieser Prozess ist geradezu kennzeichnend für die europäische Modernisierung (vgl. Ebers, S.16).
Soziologen wie Norbert Elias, Georg Simmel, Emile Durkheim oder Ulrich Beck haben in ihren Arbeiten manifestiert, dass die ursprünglichen engen Bindungen zwischen den Individuen durch bestimmte Umstände gelöst werden und Individualisierungsprozesse einsetzen, welche das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft wandelt. Als Gründe hierfür können Bevölkerungsvermehrung, Arbeitsteilung und eine veränderte Weltanschauung gelten. Unter diesen Bedingungen bilden sich dann soziale Eigendynamiken, die neue Formen der sozialen Beziehungen und neue Einbettungsformen des Individuums in die Gesellschaft hervorbringen (vgl. Kippele S.200ff.).
2.1. Allgemeine Beschreibung von Individualisierung
Das theoretische Spektrum von Individualisierung gestaltet sich relativ umfangreich und zugleich werden sehr unterschiedliche Dimensionen und Sichtweisen artikuliert. Dennoch können einige Merkmale in Bezug auf die Veränderung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft allgemeingültig formuliert werden. Es erscheint mir sinnvoll, wesentliche Grundaussagen zusammenzufassen, um eine fundierte Ausgangsposition zum Verständnis von Modernisierung und sozialer Differenzierung sowie zur Erarbeitung der Fragestellung zu schaffen.
Prinzipiell offenbart sich Individualisierung als die Abtrennung der Individuen von den ursprünglichen Gruppen und als eine Herauslösung aus traditionalen Verhältnissen in eine „individuelle verselbständigte Existenzführung“ (Beck 1986, S.211).
Georg Simmel zeigt auf, dass die Mitglieder kleiner Gruppen durch solidarisches Verhalten eng miteinander verbunden sind und jedes Mitglied dem Bestehen der Gruppe verpflichtet ist. Je weniger Personen einer Gemeinschaft angehören, desto größer ist die Abhängigkeit untereinander (vgl. Simmel [1892] 1989, S.140-143). Mit dem Anwachsen von Gemeinschaften vermindern sich sowohl das solidarische Zusammengehörigkeitgefühl, als auch das Bewusstsein und die Verantwortung für die Gruppe. Im Gegenzug stellt eine weite Gruppe wiederum geringere Ansprüche an den Einzelnen, erlaubt ihm mehr Selbständigkeit und gibt ihm die Möglichkeit zur Entfaltung und Ausbildung von Individualität (vgl. Simmel [1892] 1989, S.176; auch Kippele, S.69). Das Individuum ist der Gruppe gegenüber viel weniger verpflichtet, befreit sich von gegenseitiger Beeinflussung, muss andererseits aber Einbußen in punkto Schutz und Halt durch die Gemeinschaft hinnehmen (vgl. Beck 1986, S.207).
Ähnlich beschreibt Emile Durkheim diese Entwicklung. Beim Übergang zur arbeitsteiligen Gesellschaft gehen die Bindungen des Individuums an sein soziales Milieu, Familie, Heimat und Traditionen verloren. Die Einheit gründet sich nicht mehr auf die mechanische Gleichheit der Mitglieder, sondern auf die Ergänzung der organischen und arbeitsteiligen Vielfalt. Bei der organischen Solidarität moderner Gesellschaften hat jeder sein eigenes Betätigungsfeld und eine individuelle Persönlichkeit (vgl. Durkheim, S.171f.; auch Kippele, S.103f.). Gleichfalls ergeben sich neue Optionen, eigenes Denken und Handeln auszuleben, Eigeninitiative zu entwickeln sowie aus einem breiten Spektrum an Lebensvariationen wählen zu können (vgl. Durkheim, S.444). Das Individuum ist autonomer aber auch sozial abhängiger, weil es vermehrt auf andere Personen bzw. die Gesellschaft angewiesen ist (Kippele, S.103f.).
Ulrich Beck geht von drei Dimensionen aus, die bei diesem Prozess wirksam werden. Sie bewirken die „Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und - bindungen im Sinne traditionaler Herrschaftsund Versorgungszusammenhänge“ (Beck 1986, S.206), den „Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen“ (ebd.) und drittens „eine neue Art der sozialen Einbindung“ (ebd.). So entsteht eine gesellschaftliche Dynamik, die einhergeht mit der
„Auflösung vorgegebener sozialer Lebensformen“ (Beck 1994, S.11) und sich im „Brüchigwerden von lebensweltlichen Kategorien wie Klasse und Stand, Geschlechterrollen, Familie, Nachbarschaft u.s.w.“ (ebd.) äußert. Hierbei eröffnen sich sowohl Wahlmöglichkeiten als auch Wahlzwänge in Bezug auf die persönliche Lebensführung (vgl. Beck 1986, S.190 und S.206).
Der vergrößerte Entscheidungsund Handlungsspielraum hat neben der größeren Selbständigkeit zur Folge, dass das Treffen eigener Entscheidungen genau abgewogen werden muss. Eigenverantwortliches Handeln und die Auswahl eines persönlichen Netzwerkes sind ebenso unverzichtbar, wie die Übernahme von Selbstverantwortung. Bei allen Handlungen müssen die Folgen für andere Personen berücksichtigt und die Konsequenzen für falsches Handeln selbst getragen werden (vgl. Kippele, S.211).
Max Weber zufolge verlaufen analog zur Individualisierung Rationalisierungsprozesse, die sich darin äußern, dass soziale Gebilde, die den Menschen zunächst Halt und Ordnung geben, dem Individuum nun als unflexible, formal geregelte und funktionale Strukturen gegenüber stehen (vgl. Kippele, S.130). Mit dem Voranschreiten gesellschaftlicher Differenzierung intensiviert sich die sachliche Organisation und prägt den Alltag jedes Menschen durch rationale Erwägungen, Entscheidungen und Handlungen (vgl. Kippele, S.127f.).
Fast unumgänglich bei den Prozessen der Individualisierung ist die Verdichtung sozialer Beziehungen. Um den Verlust der traditionalen Verbindungen zu kompensieren, werden neue Kontakte geknüpft, die zwar einerseits zahlreicher und komplexer sind, sich aber unter hoher Zweckrationalität entfalten und einen sehr sachlichen Charakter besitzen. Es handelt sich nicht mehr um echte menschliche Beziehungen, sondern um künstliche, instrumentelle Verbindungen, die sich als dichtes Netz anonymer Interaktionen offenbaren (vgl. Kippele, S.220; auch Simmel [1892] 1989, S.186).
Hinzu kommt ein Punkt, welcher eine kosmopolitische Ausrichtung beinhaltet. Die schwächer werdenden zwischenmenschlichen Beziehungen werden durch ferne, kosmopolitische Kontakte ersetzt. Es findet eine Überwindung geographischer, aber auch sozialer Grenzen statt (vgl. Kippele, S.72). Jene ’Weltverbundenheit’ vollzieht sich im Zuge der Globalisierung und marktwirtschaftlicher Expansion und wird als Befreiung von verschiedenen nationalen und lokalen Schranken verstanden. Internationale Kontakte im ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Bereich werden gepflegt und optimiert, so dass letztendlich die individualisierte, unbegrenzte Welt als neues Umfeld begriffen wird. Geht es nach Simmel, kann sich die kosmopolitische Person sogar nur dann entfalten, wenn geographische Mobilität gegeben ist. Ein international vernetzter, weltoffener Mensch wird als Prototyp des individualisierten Menschen deklariert (vgl. ebd., S.223ff.). Ganzheitlich betrachtet entspringt der Kosmopolitismus einer „Kombination von sachlichen Beziehungen und einer abstrakten Menschheitskonzeption“ und ermöglicht „internationale Kontakte auf individuellen Niveau“ (ebd., S.224).
Ebenfalls kennzeichnend für Individualisierungsprozesse ist die Tatsache, dass sich die Differenz zwischen öffentlichen und privaten Bereich vergrößert. Das Ausleben von Emotionen und die Realisierung eigener Bedürfnisse finden fast ausschließlich in der
Privatsphäre statt. Dagegen basiert die öffentliche Sphäre auf sachlichen indifferenten, reservierten Verhältnissen. Im Bereich des Privaten kann sich der Mensch umso freier bewegen, da die persönlichen emotionalen Beziehungen vor möglichen fremden Eindringen bewahrt werden können und dort emotionale Bedürfnisse noch am ehesten gestattet sind (vgl. ebd., S.233). Zur strikten Trennung der beiden Bereiche, kommt die höhere Bewertung des Privaten, weil sich das „stark Ich-Zentrierte Individuum“ (ebd., S.234) heimisch fühlen und vor der Unerträglichkeit von Sachlichkeit und emotionaler Unterdrückung flüchten kann (vgl. ebd.).
Die Ausbildung von Individualität und mehr Eigenständigkeit, die Betonung und Besonderheit der eigenen Person, die Bewusstwerdung des eigenen Ichs und des Anders- Seins, spielen bei den meisten soziologischen Klassikern eine wesentliche Rolle (vgl. Kippele, S.73f.). Die Autoren Georg Simmel, Norbert Elias aber auch Emile Durkheim weisen darauf hin, dass erst im Zuge gesellschaftlicher Differenzierung die eigene Persönlichkeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerät (vgl. ebd., S.218). In kleinen Gruppen sind die Mitglieder so eng miteinander verbunden, dass eine Ausbildung von Individualität kaum möglich ist (vgl. Simmel [1892] 1989, S.140-143). Doch mit dem Anwachsen der Gruppe und in der Freiheit von einengenden kontrollierenden Bindungen, wird das Individuum selbstständiger und nimmt psychisch das eigene Ich intensiver wahr (vgl. Kippele, S.82f.). Auch entwickelt der Mensch umso mehr Gespür für die eigene Persönlichkeit, je stärker seine Gefühle, Gedanken und Handlungen von der Norm abweichen. Die Fülle von Verschiedenartigkeit stärkt das Gefühl der eigenen Person (vgl. Simmel, [1892] 1989, S.191).
Bei Elias besteht die Verschiebung der Ich-Wir-Balance als eine entscheidende Komponente in der Darstellung von Individualität. Da laut seiner Theorie die individuelle Existenz an die soziale Existenz gekoppelt ist, wäre eine Unterscheidung von den Anderen nicht notwendig, wenn es diese nicht gäbe. Die Existenz einer Ich-Identität ist folglich ohne Wir-Identität nicht vorstellbar. Es kann sich lediglich das Gleichgewicht zwischen beiden Identitäten verschieben bzw. können sich deren Strukturen wandeln. In entwickelten Gesellschaften wird der Ich-Identität, also dem, wodurch sich der Einzelne von den Anderen unterscheidet, ein höherer Stellenwert zugeschrieben als der gemeinschaftlichen Wir-Identität. Dagegen erfolgte in früheren Entwicklungsstufen die Verschiebung der Ich-Wir-Balance zugunsten der Wir-Identität (vgl. Elias, S.210f. und S.246f.).
Doch muss darauf hingewiesen werden, dass es nicht die individualisierte Gesellschaft gibt, da Gruppen, Milieus und Regionen das Ausmaß an Individualisierung maßgeblich beeinflussen. Unterschiedlich schnelles Voranschreiten und verschieden starke Ausprä- gungen ändern jedoch nichts daran, dass Ulrich Beck Individualisierung als eindeutige Entwicklungstendenz in modernen Gesellschaften ableitet (vgl. Beck 1994, S.16).
2.2. Ambivalenzen und Gefahren von Individualisierung
Die Prozesse der Individualisierung sind in ihrer Erscheinung und Ausprägung mit verschiedenen Ambivalenzen versehen, was bedeutet, dass sich einige Aspekte sowohl positiv als auch negativ auswirken können oder aber diskrepant erscheinen.
Als Beispiel kann die Gleichzeitigkeit von Freiheit und Zwang zu Widersprüchlichkeiten führen. Die Ablösung von traditionellen Bindungen lässt Wahlfreiheit und Optionsspielräume entstehen, erlegt dafür neue Zwänge auf, etwa zur Planung und Gestaltung des eigenen Lebens. Unter Umständen fühlen sich Individuen mit den vielfältigen Handlungsoptionen sogar überfordert, da sie die volle Verantwortung und die Konsequenzen ihres Handelns nunmehr selbst tragen müssen (vgl. Ebers, S.358).
Unter anderem weist Ulrich Beck darauf hin, dass die Individuen mit der Auflösung traditionalen Beziehungen in ihrer Lebenssicherung auf Institutionen angewiesen sind, welche eine regelrechte Außensteuerung ausüben. Infolgedessen werden Individuen
„immer abhängiger von gesellschaftlichen Bedingungen, die sie selbst nicht mehr beeinflussen können“ (ebd., S.356) und unterliegen einer Standardisierung bzw. Homogenisierung, die eine Divergenz zu den sich aus der Individualisierung ergebenden Möglichkeitsspektrum erzeugen (vgl. ebd.). Auch eine starke Rationalisierung bedroht den persönlichen Freiraum, denn sie engt das Individuum in seinen Verwirklichungsmöglichkeiten erheblich ein (vgl. ebd., S.365).
Zu beachten wäre weiterhin, dass Individuen in einer ausdifferenzierten Gesellschaft ohne die Unterstützung der geschlossenen Gruppe, auf sich allein gestellt sind. In ungünstigen Fällen kann dies nicht nur freie Entfaltung, sondern ebenso Haltlosigkeit zur Folge haben (vgl. ebd., S.356). Die Gefahr den Halt zu verlieren und in anomische1 Verhaltensweisen zu fallen besteht generell, wenn sich der Einzelne nicht mehr an traditionellen Wertvorstellungen und verbindlichen Normen orientieren kann oder Weltan[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] schauungen und Religionen ihre moralische Kraft einbüßen (vgl. Richter, S.94). Sehr häufig erfährt das Gefühlsleben Eintrübungen, die sich in Einsamkeit, Aggression, Zynismus oder ähnlichem äußern (vgl. Schulze, S.75). Im ungünstigen Fällen verlieren die Verbindungen zwischen Individuum und Gesellschaft so stark an Stabilität, dass das soziale Milieu zerbricht und das Leben der einzelnen Personen ziellos und inhaltsleer bzw. regellos wird (vgl. Kippele, S.104).
Zu den Anomien, die Durkheim in diesem Zusammenhang herausarbeitet, gehört der Selbstmord, welcher als Phänomen bei ihm erst mit der Zivilisation auftaucht. Suizidenten sehen im Leben keinen Reiz mehr, verzeichnen starkes Leiden und begehen einen
„Akt der Selbstverleugnung“ (Durkheim, S.286). Bedenkt man, dass der Selbstmord als eine der privatesten und individuellsten Entscheidungen überhaupt gilt, überrascht kaum, dass die höchsten Suizidraten in urbanen Ballungszentren verzeichnet werden, wo die individuellen Verschiedenheiten am größten sind (vgl. ebd., S.286f.).
Auch andere Autoren stehen der Selbstbewusstwerdung und dem hohen Bewusstsein für die eigene Persönlichkeit nicht unkritisch gegenüber, da sie in Vereinzelung und Orientierungslosigkeit münden können, wenn die normativen Bindungen an gesellschaftliche Großgruppen verloren gehen (vgl. Ebers, S.356). Das Problem besteht vor allem darin, dass die Personen dazu neigen, nur noch ihre eigenen Ziele zu verfolgen und höchstens zum Zweck der gegenseitigen Ausnutzung miteinander interagieren. Der menschliche Verkehr führt zur Bildung künstlicher Verbände; ein gemeinsamer Sinn, basierend auf Traditionen und Bräuchen, wird nicht mehr gesehen. Andere Personen werden zu Werkzeugen, um die egoistischen Ziele besser erreichen zu können (vgl. Kippele, S.237).
Die Folgen sind Isolierung und Vereinsamung, da das Individuum aus dem Verband der Gruppe und den echten Bindungen entlassen wird, sich entfremdet und vom Gemeinwesen abgetrennt wird. Auch der Verlust der Wir-Identität und der Fähigkeit kollektive Ziele zu koordinieren, trägt zur völligen Entfremdung bei (vgl. ebd.). Der isolierte Großstadtmensch, der ausschließlich seinen eigenen Interessen folgt, verkörpert prototypisch eine Gesellschaft, die bestenfalls noch eine „künstliche Gruppierung isolierter Individuen“ (ebd., S.235) darstellt.
2.3. Kritikpunkte
An und für sich ist die Individualisierung als Trend wissenschaftlich anerkannt. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, gesellschaftliche Veränderungstendenzen auf eine
einzige Entwicklungsdynamik zurückzuführen, auch wenn Individualisierung als eine dominante Kraft in der Entwicklung von modernen Gesellschaften auftritt. Die Kritik an dieser Theorie rührt daher, dass größtenteils oberflächliche Verallgemeinerungen vorgenommen werden und einige Betrachtungsweisen sehr subjektiv und einseitig ausgerichtet sind (vgl. Baumgardt, S.26). Mitunter finden die kritischen Argumente durchaus Berechtigung, die Problematik muss allerdings ganzheitlich betrachtet werden und von daher sollte eine Differenzierung stattfinden.
So gibt es Befürchtungen, mit der Individualisierung wäre das Ende der Soziologie abzusehen. Wenn Individuen nicht mehr auf die Gesellschaft bezogen handeln, könnte für diese Wissenschaft der Gegenstand ihrer Untersuchung verloren gehen (vgl. Schulze, S.75). Selbst Ulrich Beck fragt sich, ob bereits von einer Ego-Gesellschaft die Rede sein kann, in der persönliche Beziehungen so sehr verkümmern, dass jedes Individuum nur noch für sich selbst existiert (vgl. Beck 1994, S.27). Doch muss klar zwischen Egoismus und Individualismus unterschieden werden. Obgleich die Gesellschaft zunehmend härter, kälter und egoistischer erscheint, steht Individualisierung nicht für das völlige Fehlen von gemeinsamen Werten, sondern allein für den Verlust allgemein verbindlicher Wertemuster. Um es mit den Worten von Rudolf Richter auszudrücken „Egoismus ist eine Persönlichkeitseigenschaft, nicht ein Element der Gesellschaftsstruktur“ (Richter, S.91). Berücksichtigt werden muss auch, dass Individualisierung nur im sozialen Kontext stattfinden kann, denn dieses Theorem beinhaltet laut Georg Simmel keine absolute Beziehungslosigkeit, sondern eine ganz bestimmte Art und Weise der Beziehungen zu Anderen (vgl. Simmel [1892] 1989, S.74).
Darüber hinaus bemängeln Kritiker, dass Individualisierung die Individuen vollends freisetzt und sie in eine absolute Beziehungsund Netzwerklosigkeit wirft. Sie setzten Individualisierung mit Autonomie gleich, obwohl die Individuen statt in einem „freien Raum der Entscheidungsmöglichkeiten“ (Beck-Gernsheim/Beck 1993, S.180) zu schweben, dazu veranlasst sind, eigene Entscheidungen zur Lebensplanung im Rahmen neuer Institutionen und Regelwerke zu treffen (vgl. ebd., S.180f.). Individualisierung ist also weit davon entfernt, den Einzelnen in einen gesellschaftsfreien Raum zu treiben. Allein der Umstand, dass uns eine demokratische Gesellschaft freistellt, wie wir unser Leben gestalten, macht sie uns nicht frei von äußeren Zwängen. Selbst die hohe Regelungsdichte moderner Gesellschaften, die viele Eckpunkte des Alltagslebens festlegt (z.B. TÜV, Müllsortierung, Steuererklärung), verringert nicht die Notwendigkeit zur Herstellung einer eigenen Biographie. Eine absolute Freiheit ist nahezu unmöglich, denn im Endeffekt muss jede Person stets im Einvernehmen mit anderen, in Abstimmung mit Gesetzen und Regelwerken handeln (vgl. Richter, S.91f.; auch Beck 1994, S.14).
Auf der anderen Seite fallen Argumente, die behaupten unsere Gesellschaft sei überhaupt nicht individuell, sondern eine gleichgeschaltete Menge, die dem Massenkonsum erlegen ist. Solche Einwände muss man gelten lassen, aber auch darauf hinweisen, dass sich diese Gemeinschaft aus einzelnen Individuen zusammensetzt, die alle für sich selbst bestehen und sich ihrer Identität bewusst sind (vgl. Richter, S.91). Die Theorie Simmels beinhaltet sogar das Prinzip der Gleichheit. Gerade in dem Bewusstsein dafür, dass jeder Mensch ein individuelles Wesen mit charakteristischen Eigenschaften ist, stimmen die Individuen überein. Die formale Gleichheit basiert also auf dem Grundsatz, dass jeder etwas Besonderes und damit mit jedem anderem gleich ist (vgl. Simmel, [1892] 1989, S.183). Damit müssen sich Kollektivität und Individualität nicht einander ausschließen. Mehr noch, unter den Bedingungen der Individualisierung entstehen neue Gemeinsamkeiten und der „Versuch völliger Eigenständigkeit“ (Schulze, S.77) schlägt
„in eine neue Gemeinsamkeit“ (ebd.) um. Werden auch die Bindungen zwischen den Individuen schwächer und sinkt das Bewusstsein für eine kollektive Identität, ist doch die gesellschaftlich konstruierte Welt eine gemeinsame (vgl. ebd.).
Insgesamt sind die kritischen Darlegungen nicht unbedingt als Widerspruch zur Individualisierungstheorie zu sehen, da weder Zwänge noch Gemeinsamkeiten von dieser Theorie exkludiert werden, die von vornherein durch eine Reihe von Ambivalenzen und Paradoxien gekennzeichnet ist.
3. Der wissenschaftliche Entwicklungsprozess: Die Auswahl von Literatur und das Ermitteln von Hypothesen
Nachdem die theoretischen Grundlagen erarbeitet worden sind, soll es im Anschluss darum gehen, die Theoreme praktisch anzuwenden. Da diese Arbeit eine Sekundäranalyse darstellt, werden bestehende Studien und Arbeiten zum Thema ausgewertet. Dieses Kapitel soll nun dazu dienen, die Herangehensweise zu erläutern und eine Auswahl der wichtigsten Werke sowie die zu überprüfenden Hypothesen wiederzugeben.
Um sich dem Thema des demographischen, gesellschaftlichen und sozialen Wandel im Zuge der Individualisierung anzunähern, muss eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten herangezogen werden. Neben Untersuchungen, die sowohl einen qualitativen (etwa Spiegel 1986) als auch quantitativen (etwa Schneider/Spellerberg 1999) Charakter besitzen, dienen weitere wissenschaftliche, nicht empirische Abhandlungen als Grundlage dieser Arbeit. Nur so ist es möglich, den gesellschaftlichen, sozialen und familiären Wandel als einen Entwicklungsprozess darzustellen, der sich mit dem Voranschreiten von Individualisierung vollzieht. Vor allem die Veröffentlichungen von Elisabeth Beck- Gernsheim und Ulrich Beck liefern umfangreiche Erkenntnisse darüber, wie die Individualisierungsprozesse mit den aktuellen Entwicklungen im Bereich Beziehung, Ehe und Familie zusammenhängen und welche Veränderungen sie bewirken.
Weiterhin ist es Teil der wissenschaftlichen Arbeit, Vorüberlegungen vorzunehmen bzw. Hypothesen aufzustellen und diese anhand des Untersuchungsmaterials zu überprüfen. Die Bearbeitung des Themas erfolgt dann durch das Sichten von Grundlagentexten und wissenschaftlichen Arbeiten sowie der Auswertung empirischer Studien und Datenbanken.
3.1. Die Literatursuche
Dank heute zugänglicher Medien wie PC, Internetdatenbanken, systematischer Suchsysteme etc. gestaltet sich die Suche nach geeigneten Materialien relativ unkompliziert und kann auf sämtliche Ressourcen ausgedehnt werden.
Den Ausgangspunkt für mein wissenschaftliches Arbeiten bildet die Studie Lebensstile, Wohnbedürfnisse und räumliche Mobilität (1999) von Nicole Schneider und Anette Spellerberg. Sie war mir durch Seminare im Bereich Sozialstruktur bereits bekannt und führte durch vielseitige Informationen an das Thema heran. So machte die Studie darauf aufmerksam, dass die Ausrichtung der Wohnungspolitik auf familienorientiertes Wohnen nicht mehr den Bedürfnissen der breiten Bevölkerung entspricht, sondern dass sich deren Ansprüche seit den 1960er Jahren ausdifferenziert haben. Weiterhin lieferten die Autorinnen Stichworte wie Gentrification, Lebensstile, Haushaltstypen oder Wohnformen auf deren Basis ich in universitätsinternen Suchmaschinen (OPAC) oder Datenbanken im Internet (www.bds-soz.de) weiter recherchieren konnte. Damit war es möglich, unterschiedliche Literaturangaben ausfindig zu machen. Beim Lesen der verschiedenen Arbeiten, wurde ich dann durch Zitate und Quellenangaben auf weitere Texte geleitet. Dadurch eröffnete sich nach und nach ein relativ weites Spektrum an Literatur, welche ich für die Sekundäranalyse nutzen konnte.
Da die meisten Untersuchungen aus den 1990er Jahren stammen, habe ich der Vollständigkeit halber und der Aktualität wegen, einige Angaben durch neuere Daten des Deutschen Statistischen Bundesamtes (StBA) ergänzt. Die Internetseite (www.destatis.de) liefert genaue Angaben zur Bevölkerung und Bevölkerungsentwicklung der BRD in den vergangenen Jahrzehnten. Weitere allgemeine Angaben zur Sozialstruktur sind aus Rainer Geißlers Die Sozialstruktur Deutschlands (2002) entnommen worden.
Manche Autoren unterscheiden in ihren Untersuchungen zwischen Ostund Westdeutschland. Ich selbst habe nach Möglichkeit alle Angaben in Bezug auf das gesamte Bundesgebiet gemacht und nur in wenigen Fällen eine Distinktion vorgenommen, etwa wenn signifikante Unterschiede zwischen den beiden Landesteilen hervorzuheben waren.
Zur Überprüfung der Hypothesen und zur Bearbeitung der Aufgabenstellung als Sekundäranalyse, möchte ich nachfolgend die Auswahl der wichtigsten empirischen Untersuchungen und wissenschaftlichen Arbeiten begründen, indem ich die daraus gewonnenen Informationen kurz zusammenfasse. Literatur, die weniger Relevanz besitzt, soll an dieser Stelle vernachlässigt werden.
Obwohl ich versucht habe, die Autoren jeweils einem ganz bestimmten Kapitel zuzuordnen, war es nur schwer möglich, dies konsequent zu verfolgen. Oft lieferten die Werke Informationen, die sich zur Erstellung mehrerer Kapitel oder der gesamten Arbeit als hilfreich erwiesen, weil sie mehrere Themengebiete tangierten. Ich habe mich trotzdem bemüht eine Einordnung vorzunehmen, die auf einer sehr groben Klassifizierung der Untersuchungen basiert und deshalb unter Vorbehalt gesehen werden muss.
3.1.1. Autoren in Bezug auf Die Veränderungen von Gesellschaft und Familie
Das Buch Die Lebensstilgesellschaft (2005) von Rudolf Richter analysiert die Umgestaltung der Gesellschaft durch das Zusammenbrechen alter Ordnungsstrukturen (vgl. Richter, S.7). Thematisiert werden der Wertewandel, die Veränderungen der Arbeitswelt, die Verschiebung der Grenzen von Raum und Zeit, sowie die Auflösung bisheriger sozialer Gruppen unter Berücksichtigung der anwachsenden Relevanz von Lebensstilkonzeptionen.
Mit Liebe, Ehe, Elternschaft: Eine qualitative Untersuchung über den Bedeutungswandel von Paarbeziehungen und seine demographischen Konsequenzen (1989) legen Martin Kohli und Kollegen einen Forschungsbericht im Auftrag des Bundesinstitutes für Bevölkerungsforschung vor, dem Interviews zum Bedeutungswandel von Ehe und Familie zugrunde liegen. Aus der Analyse von Familienbildungsprozessen konnten wichtige Punkte abgeleitet werden, die beispielsweise den Rückgang der Heiratsneigung, Angaben zu Scheidung und Wiederverheiratung, zum Alleinleben oder der Beruforientierung von Frauen betreffen. Auch für die Individualisierungstendenzen in Familie und Partnerschaft liefert das Buch entscheidende Anhaltspunkte.
Mit der Frage Warum noch Familie? (1995) geht Johannes Huinink der „Rekonstruktion, Interpretation und Erklärung des Bedeutungswandels von Familie, Ehe, Partnerschaft und Elternschaft“ (Huinink, S.7) nach. Aus dem Band konnte ich Informationen zur Attraktivität von Partnerschaft und Ehe entnehmen und die Konsequenzen der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen für die Familie ableiten. Daneben geht es in dem Werk um die Widersprüche zwischen individueller Autonomie und den gesellschaftlichen Anforderungen und die generelle demographische Entwicklung in Deutschland (vgl. Huinink, S.7).
Gerhard Schulze liefert mit seiner Erlebnisgesellschaft (1992) Informationen zum Wertewandel in Deutschland, welcher seiner Ansicht nach bewirkt hat, dass eine Erlebnisorientierung zum neuen Handlungsmuster geworden ist und von einer (scheinbaren)
„Ästhetisierung des Alltagslebens“ (Schulze, S.33) begleitet wird. Es ergeben sich aber auch Hinweise darauf, dass die Entstandardisierung von Lebensverläufen und die Auflösung traditioneller Großgruppen mit den Prozessen der Individualisierung verbunden sind (vgl. Schulze, S.15).
Modernisierung der Privatheit: Differenzierungsund Individualisierungsprozesse des familiären Zusammenlebens (1992) von Thomas Meyer verschafft ebenfalls einen Ü- berblick über das familiäre Zusammenleben unter dem Einfluss von Individualisierung.
Die Darstellung der historischen Entwicklung ist ebenso thematisiert wie die Untersuchung der Strukturveränderungen der Familie als Teilprozess der Modernisierung. Die Pluralisierung und Differenzierung familialer und privater Lebensformen wird in Beziehung zu Individualisierung gesetzt und als Ursprung für die Veränderung traditioneller Biographiemuster, Lebensläufe und Lebenszusammenhänge betrachtet (vgl. Meyer, S.14). Dadurch ist es möglich, Aspekte zum sozialen und kulturellen Wandel sowie zum Strukturwandel der Familie abzuleiten.
3.1.2. Autoren in Bezug auf Die Ausbildung neuer Lebensformen und Lebensstile
Auf Grundlage der Arbeit Nichtkonventionelle Lebensformen: Entstehung, Entwicklung, Konsequenzen (1998) von Norbert F. Schneider, Doris Rosenkranz und Ruth Limmer ist es möglich, eine Charakterisierung neuer Lebensformen vorzunehmen. Die Autoren beschreiben deren Entstehung bzw. Entwicklung und helfen, die private Lebensführung im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen zu erfassen. Der Rückgang von Zahl und Beständigkeit der Kernfamilie mit allen Ursachen und Folgen wird in diesem Zusammenhang besprochen. Auch wird herausgestellt, dass nicht mehr nur eine einzige Lebensform als die Langzeitperspektive gelten kann, weil der Lebenslauf aus verschiedenen Phasen besteht, in denen sich Lebensweiseund Form jeweils ändern können.
Nicole Schneider und Anette Spellerberg liefern mit ihrer schon eingangs erwähnten Untersuchung, die von der Wüstenrotstiftung in Auftrag gegeben wurde, umfassende Erkenntnisse und wichtige Grundlagen zur Erstellung der vorliegenden Arbeit. Als bevölkerungsrepräsentative Studie analysieren die Autoren Wohnlagen und Wohnformen, Ausstattung, Einrichtungsweisen von Wohnquartieren sowie die Mobilitätsbereitschaft von Lebensstilgruppen in Ostund Westdeutschland. Sie legen ein Lebensstilkonzept vor, welches erlaubt, einen Zusammenhang von Lebensweise und Wohnbedürfnis herzustellen. Es bildet darüber hinaus einen Erklärungsansatz für die aktuelle Stadtund Regionalplanung. Der Wohnungsbau und die Wohnungspolitik sind demnach noch stark auf familiengerechtes Wohnen ausgerichtet, so dass den veränderten Wohnwünschen neuer Lebensstilgruppen bisher kaum entsprochen wird.
Stefan Hradils Single-Gesellschaft (1995) wurde als wissenschaftliches Gutachten erstellt, um zu erfahren, warum immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft allein leben, welche Merkmale und Präferenzen sie aufweisen, wie sich ihr Alltag gestaltet, aber auch welche Folge die wachsende Zahl von Singles für die zukünftige Entwicklung unserer Gesellschaft haben wird. Der Band unterstützt die These, dass weite Bereiche der
Gesellschaft durch Individualisierung gekennzeichnet sind und dieser Umstand die Ausbildung der Einpersonenhaushalte fördert. Auch stellt Hradil heraus, dass Personen, die als Singles bezeichnet werden, einen ganz bestimmten Lebensstil aufweisen (vgl. Hradil, S.VI).
3.1.3. Autoren in Bezug auf Die Veränderung von Wohnund Haushaltsstrukturen
Erika Spiegels Arbeit über Neue Haushaltstypen (1986) stellt eine empirische Überprü- fung von Beobachtungen zur Veränderung der Bevölkerung in innerstädtischen Wohngebieten dar. In der Untersuchung von Entstehungsbedingungen, Lebenssituation, Wohnund Standortverhältnissen wird deutlich, dass ein Haushalt mehr ist als nur eine Wohnund Wirtschaftsgemeinschaft. Ein Haushalt muss als Lebenszusammenhang, Lebensform, Rollenmuster und Beziehung verstanden werden, die durch normative Vorstellungen und Erwartungen der Haushaltsmitglieder zustande kommt (vgl. Spiegel, S.9). Bei Erika Spiegel sind es unverheiratet Zusammenlebenden, Wohngemeinschaften und Alleinlebende, die als Neue Haushaltstypen fokussiert werden und deren Auftreten im Zusammenhang mit Gentrification und dem demographischen Wandel gesehen wird (vgl. ebd., S.15).
Jörg Blasius liefert für die Erarbeitung der Problematik von Gentrification wichtige Grundlagen und macht die Aufwertung innenstadtnaher Wohngebiete in ihrer Entwicklung verständlich. In Gentrification und Lebensstile (1990) werden die Ergebnisse einer dreiteiligen Untersuchung zum Thema „Gentrification in Köln“ dargelegt. Insgesamt ist es eine Arbeit, die über die Erfassung der Mikround Makroebene hinausgeht und zusätzlich eine Differenzierung innerhalb dieser Ebenen vornimmt (vgl. Blasius, S.9). Der Schwerpunkt liegt aber auf dem Nachweis neuer Lebensstile von den zugezogenen Bewohnern, in Unterscheidung von den Lebensstilen der Alteingesessenen in innerstädtischen Wohngebieten (vgl. ebd., S.10).
Zusammen mit seinem Kollegen Jens S. Dangschat widmet sich Blasius auch in Gentrification: Die Aufwertung innerstädtischer Wohnviertel (1993) der Umgestaltung innenstadtnaher Wohngebiete. Globale wirtschaftliche Entwicklungen, die nationale Steuerpolitik und veränderte demographische Bedingungen werden als Ursache für die Nachfrage nach attraktiven innerstädtischen Wohnquartieren herausgearbeitet. Weiterhin wird der Umfang vorhandener und notwendiger planerischer und kommunalpolitischer Instrumente zur Kontrolle von Gentrification untersucht. Diese sind notwendig um soziale Konflikte, die durch räumliche Segregation hervorgerufen werden, eindämmen zu können (vgl. ebd., S.9f.).
Neue Wohnformen (1999) stellt die Dokumentation des von der Wüstenrotstiftung unterstützten Forumsgesprächs zum Thema „Neue Wohnformen im internationalen Vergleich“ dar. Das Buch gibt Referate und Diskussionsbeiträge wieder und schließt eine empirische sowie qualitativ orientierte Untersuchung zur Standortbestimmung des neuen Wohnens an. Die Arbeit verhilft dazu, neue Wohnformen als Folge des gesellschaftlichen Wandels sowie zunehmender Differenzierungsund Individualisierungsprozesse zu sehen. Sie gibt Auskunft über bestehende Wohnverhältnisse und zur Beschaffenheit neuer Lebensstile und Haushaltstypen sowie deren Bedürfnisse bei der Gestaltung von Wohnverhältnissen. Nicht zuletzt sind hieraus Konsequenzen zu entnehmen, die sich für die Wohnungspolitik zukünftig ergeben könnten.
Horst W. Opaschowski setzt sich in Besser leben, schöner wohnen? Leben in der Stadt der Zukunft (2005) mit der Zukunft, aber auch mit der Vergangenheit des Stadtlebens auseinander. Der Autor versucht Antworten auf die Frage zu geben, wie wir in Zukunft schöner und besser leben können. Er weist auf die Problematik hin, dass das Stadtleben und die Bedürfnisse der Bewohner nur unzureichend erforscht sind und es die Aufgabe der Kommunalpolitik sei, sich mit der Neubzw. Umgestaltung der Städte auseinander zusetzen (vgl. Opaschowski, S.XIII).
3.2. Hypothesen
Davon ausgehend, dass Individualisierung einen gesellschaftlichen Wandel hervorruft, kann angenommen werden, dass der Wertewandel, welcher mit der Individualisierung einhergeht, gesellschaftliche Ansichten, Ideale und Wertvorstellungen neu ordnet. Dies bewirkt auch ein Umdenken in der Einstellung zu Ehe und Familie und ruft Abweichungen von den traditionellen Handlungsmodalitäten hervor.
Weiterhin gilt es zu überprüfen, inwieweit sich die Struktur von Familien durch individualistische Tendenzen gewandelt hat. Nicht nur in Bezug auf die Größe, auch innerstrukturell und in Bezug auf Form und Organisation dürften Veränderungen nachweisbar sein. Hier sollten Unterschiede zu den traditionellen Vorstellungen von Ehe und Familie deutlich werden und die Ursache in der Pluralisierung der Lebensformen zu finden sein.
Klassenund Schichtungsbegrifflichkeiten verlieren an Relevanz, dafür wird bei der Beschreibung von Großgruppen zunehmend auf Lebensstiltypologien zurückgegriffen.
Dennoch möchte ich behaupten, dass selbst diese Konstrukte, welche die Bevölkerung sehr viel differenzierter darstellen, weitreichenden Transformationen unterlegen sind. Die Veränderungen der sozialen bzw. kulturellen Werte und der Handlungsorientierungen werden vermutlich in der Anzahl, Verteilung, Ausprägung und Charakterisierung von Lebensstilen dokumentierbar sein. Überdies ist davon auszugehen, dass heutige Lebensstile mit modernen Identitätskonstruktionen behaftet sind.
Eine andere Hypothese ist durch die Annahme geprägt, dass Individualisierung eng mit Urbanisierung verbunden ist, und dass der Prozess der Individualisierung durch eine städtische Lebensweise entscheidend gefördert wird. Es ist davon auszugehen, dass Personen mit individualisierter Lebensführung eher städtische Wohngebiete bevorzugen als ländliche. Die Wohnung und das Wohnumfeld sind durch den Lebensstil geprägt und unterstreichen die individualisierte Lebensführung. In diesem Zusammenhang fällt die Herausbildung der Neuen Haushaltstypen, zu denen z.B. Alleinstehende bzw. Singles, Nichteheliche Lebensgemeinschaften oder kinderlose Paare zählen. Bei diesen Gruppen sollten die Merkmale einer individualisierten Lebensführung und eine Präferenz für städtisches Wohnen nachweisbar sein.
Außerdem soll es darum gehen, die These zu belegen, dass die Ausprägung neuer Lebensformen und Haushaltstypen den Wohnungsmarkt vor neue Herausforderungen stellt, da dieser bislang auf die traditionelle Kleinfamilie und ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist.
4. Die Veränderungen von Gesellschaft und Familie durch Prozesse der Individualisierung
Eine Gesellschaft ist eine dynamische Konstruktion. Sie befindet sich in einem stetigen Veränderungsprozess, der soziale, demographische, strukturelle oder ideologische Wandlungen beinhaltet. Obgleich Individualisierungsprozesse historisch als langfristige Entwicklung belegt sind, entfalten sie sich aktuell mit einer neuen, eigenständigen Dynamik. Basierend auf den klassischen Individualisierungsthesen, können die gegenwärtige Tendenzen wie folgt beschrieben werden: Die Bindungswirkungen traditioneller Sozialzusammenhänge wie Schicht, Klasse oder Verwandtschaft verschwinden, der Lebenslauf und die Lebenssituation werden zunehmend durch individuelle Entscheidungen bestimmt, persönliche Eigenarten werden kultiviert und zeigen sich in der Pluralisierung von Stilen und Lebensformen.
Die gegenwärtigen demographischen Tendenzen in Bezug auf die Altersstruktur in Deutschland sind alarmierend: Die Lebenserwartung der Deutschen liegt mittlerweile bei 80 Jahren und auch das Durchschnittsalter ist seit 1950 von 35 auf 40 Jahre angestiegen. In Verbindung mit den niedrigen Geburtenraten in Deutschland, ergibt sich daraus das Problem, dass die Bevölkerungsstruktur keine klassische Pyramide mehr darstellt. Sie ist vielmehr mit der Form eines Pilzes vergleichbar, der unten schmaler ist und sich nach oben hin verbreitert. Die BRD weist mit 1,3 Kindern pro Frau eine der geringsten Fertilitätsraten Europas auf (vgl. Opaschowski, S.22 und S.54).
Die Ursachen für solche Entwicklungstendenzen sind nicht einzeln auszumachen, sondern müssen als ganzes Bündel geortet werden. Oftmals aber stehen sie im unmittelbaren Zusammenhang zu Individualisierungsprozessen und führen zu einer sozialstrukturellen Umschichtung.
Im Folgenden soll nun veranschaulichten werden, wie die gesellschaftlichen Veränderungen seit den 1960er konkret aussehen, wobei der Fokus in diesem Kapitel auf dem Wandel familiärer Strukturen liegen wird.
4.1. Individualisierung und Wertewandel
Die Wechselbeziehung von Individualisierung und Wertewandel ist ein Faktum, welches die gesellschaftlichen Orientierungen und Denkweisen in sämtlichen Richtungen entscheidend geformt hat. Traditionelle Werte wie Pflichterfüllung, Gehorsam, Disziplin, Unterordnung, Treue, Fleiß, Bescheidenheit etc. verlieren an Einfluss. Dagegen erleben Belange wie Selbstentfaltung, Emanzipation, Partizipation, im privaten Bereich auch Genuss, Abenteuer, Abwechslung, Eigenständigkeit und Selbstverwirklichung seit den 1960er und 70er Jahren einen enormen Bedeutungszuwachs. Genau genommen vollzog sich der Wertewandel in Deutschland in den Jahren von 1965 bis 1975 und erfasste gleich mehrere Ebenen (Familie, Erziehung, persönliche Ziele etc.). Beispielsweise gingen in den 1950er und 60er Jahren die persönlichen Wünsche in Richtung glückliches Familienleben, Einfamilienhaus, neues Auto, gute Ausbildung für die Kinder und Erhöhung des Lebensstandards. Heute sind Selbstverwirklichung, Selbstfindung und Unabhängigkeit erstrebenswerte Ziele. Selbstentfaltungswerte sind besonders bedeutsam für die „jüngere Generation der besseren Ausbildung und des höheren Einkommens“ (Beck 1986, S.156). Dagegen halten ältere, ärmere und weniger gut ausgebildete Gruppen der Bevölkerung an dem alten Wertesystem fest (vgl. ebd., S.156f.; auch Richter, S.99).
Gerhard Schulze verfolgt eine Argumentation, nach der Lebensinhalte und persönliche Ziele zunehmend auf Erlebniswerte ausgerichtet sind. Durch die Erweiterung des Möglichkeitsspektrums haben sich moderne Lebensauffassungen derart gewandelt, dass Erlebnisansprüche ins Zentrum persönlicher Werte rücken und den Sinn des Lebens definieren (vgl. Schulze, S.58f.). Statt Begriffen wie Tugend, Standhaftigkeit, Charisma oder edle Größe, sind die Kriterien Spontaneität, Empfindungsreichtum und Gefühlsintensität in Bezug auf das eigene Erlebnisbedürfnis entscheidend (vgl. Schulze, S.59). Derartige Erlebnisorientierung ist längst nicht mehr nur auf die Freizeit beschränkt, sondern erfasst immer häufiger die Bereiche des Alltags: „Enge Sozialbeziehungen, die Wohnung, der tägliche Konsum, die Bewegung durch den Raum, Körper und Psyche werden zunehmend mit Erlebnisansprüchen besetzt“ (Schulze, S.59). Gehen auch die Werteorientierungen einer individualisierten Gesellschaft in Richtung Selbstaufklärung und Selbstbefreiung, sind sie nicht gleichzeitig als Egoismus und Narzissmus zu deuten. Vielmehr beinhalten die Prozesse der Selbstfindung eine „Suche nach neuen Sozialbindungen in Familie, Arbeit und Politik“ (Beck 1986, S.157).
„Individuelles Streben nach Glück und Selbstverwirklichung“ (Richter, S.81) haben jüngere Generationen zum zentralen Sinn ihres Lebens ernannt. Zwar gibt es verschiedene Wege diese Bestrebungen umzusetzen, die Ziele sind aber oft sehr ähnlich. Freundschaften, Geborgenheit, ein gehobener Lebensstandard, Freiheit, Zufriedenheit im Beruf oder Gesundheit sind richtungweisend in der Fülle persönlicher Bestrebungen (vgl. ebd.).
[...]
1 Als anomisch werden abweichende Verhaltensweisen bezeichnet, die dem Zustand der Regeloder Normlosigkeit entsprechen und mit dem Zusammenbruch kultureller Ordnungen einhergehen (vgl. Fuchs et al., S.37f.).
- Arbeit zitieren
- M.A. Diana Schmidt (Autor:in), 2006, Die Auswirkungen von Individualisierungsprozessen auf die Haushalts- und Wohnstruktur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121909
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