Die kulturelle Erneuerungsbewegung unter Karl dem Großen

Eine multiperspektivische Betrachtung der Korrelation von Politik, Religion und Sprache im Frühen Mittelalter


Hausarbeit, 2020

74 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Geschichtsphilosophischer Zugang zum Untersuchungsgegenstand

1.2 Der kulturelle Aufschwung bedingt vom korrekten Sprachgebrauch

2 Hauptteil
2.1 Historischer Entstehungskontext der Bildungsreformen
2.1.1 Außenpolitische Situierung
2.1.2 Innenpolitische Situierung
2.1.3 Rundschreiben als politische Instrumente
2.1.4 Die politische Landschaft des Frankenreichs
2.1.5 Die Idee eines Herrschaftssitzes
2.1.6 Die Entstehung der Hofschule in der ‚Hauptstadt‘ Aachen
2.1.7 Alkuins Einladung an den Hof
2.2 Das soziale Gebilde als Urheber der kulturellen Erneuerungsbewegung
2.2.1 Das Hofleben
2.2.2 Alkuins Berufung - Spiritus Rector der Admonitio generalis
2.2.3 Die kulturellen Reformen weiterführend kontextualisiert
2.2.4 Die Autorschaft der Admonitio generalis
2.2.5 Die Korrelation von Bildung und Glaubensführung
2.3 Die bildungspolitische Erneuerungsbewegung
2.3.1 Der Bildungsstand im Frankenreich
2.3.2 Mangelhafter lateinischer Sprachgebrauch
2.3.3 Die Admonitio generalis
2.3.4 Die sprachlichen Beweggründe
2.3.5 Die bildungspolitischen Aspekte zur Grundsteinlegung des Schulwesens
2.3.6 Der Stellenwert von Bildung für die Akteure der Reformbewegung
2.3.7 Die zentralen Hauptmotive der kulturellen Reformen
2.3.8 Zwischenfazit – Die gens Francorum transformiert ‚die Antike‘
2.3.9 Der Bildungsaufschwung im Frankenreich geschichtsphilosophisch interpretiert
2.4 Die kulturellen Reformen politisch-religiös kontextualisiert
2.4.1 Die gesellschaftspolitischen Interessen der Reformbewegung
2.4.2 Die hintergründig machtpolitischen Motive der Reformbewegung
2.4.3 Die sprachlich-religiöse Korrelation resümiert

3 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Geschichtsphilosophischer Zugang zum Untersuchungsgegenstand

Das Frühmittelalter wird innerhalb der modernen Forschung zunehmend differenziert betrachtet. Als Zeitabschnitt europäischer Geschichte, der bis in das 19. Jahrhundert gemeinhin als Übergangsraum von Antike zum Mittelalter interpretiert wurde, erhält dieser nun zunehmend als eigenständige Epoche Bedeutung. Von interdisziplinär zusammenarbeitenden Fachwissenschaften werden immer mehr historische Kontinuitäten, Neuerungen, Umbrüche und einige andere Deutungsmuster im Zeitraum 500 bis 1050 markiert. Innerhalb von geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen sind die Darstellungen zum einen von dem zeitgenössischen Weltbild geprägt, das stark von religiösen Tendenzen durchzogen war, zum anderen, von einer hart umkämpften, archaischen Umwelt, deren Herrschaftsordnung im angesprochenen Zeitraum entsprechender Weise hierarchisch ausgehandelt war, wobei eine große Bevölkerungsschicht von ‚Dienern‘, von einer zahlenmäßig kleinen Schicht von ‚Machthabern‘ beherrscht wurde, infolge die Rekonstruktionsbemühungen oftmals ereignisgeschichtlicher Art sind.

Das Schlagwort dafür wäre Politikgeschichte, die in der modernen Geschichtswissenschaft mit neuen Fragen und Methoden auch die frühmittelalterlichen Geschichtsverläufe in neuer Kontur nachzeichnet. Historische Wirklichkeit, nicht als an sich gegebenes, sondern als sozial konstruierte, über kommunikative Verständigungsprozesse ausgehandelte Wirklichkeit, abhängig von Deutung und Sinnstiftung ihrer Subjekte, legt neues Forschungspotential frei und regt neues Forschungsinteresse an. Politisches Handeln interpretiert als soziales Handeln stattet Politikgeschichte mit einem neuen kulturellen Objektiv aus. Dabei bleiben im Fokus der historischen Perspektivierung nach wie vor die zentralen Ereignisse sowie die dominierenden und größeren gentilen Gruppenverbände eingestellt. Im Frühmittelalter stehen an deren Spitze Akteure, die zumeist mit weltlicher und/oder religiöser Macht ausgestattet waren. Als Indikator auch leicht daran erkennbar, dass bestimmte Personen im Zusammenhang mit bestimmten Ereignissen, im öffentlichen Geschichtsbewusstsein vieler Europäer vorhanden sind. Unbestritten zählt Karl der Große zu eben jenen bekannten Persönlichkeiten, seine Kaiserkrönung zum europäischen Allgemeinwissen und die Dynastie der Karolinger zu den geläufigen Herrscherhäusern, die sich im 8. Jahrhundert zu einer Hegemonialmacht im Westen entwickelten. Die unter dem Merowinger Chlodwig l. Ende des 5. / Anfang des 6. Jahrhunderts vereinigten Teilverbände der Salfranken und Rheinfranken stellen einer der eben angesprochenen, hervorgetretenen gentilen Gruppenverbände, die seit Mitte des 3. Jahrhunderts in den Römischen Quellen als Franken, die ‚Mutigen, Kühnen, Ungestümen‘, Benennung finden.1

Während Karls über 40 Jahre andauernder Herrschaftszeit erfuhr das fränkische Reich seine größte Ausdehnung und demgemäß lassen sich eine Reihe der oben angesprochenen historischen Sinnschemata2 entlang dieses geschichtlichen Zeitstrahls markieren. Neben dem Ereignis der Kaiserkrönung und den Geschichtsverläufen der Sachsenmission ist auf einer großen Bandbreite auch der kulturelle Aufschwung innerhalb Karls Ära rezipiert worden. Im geschichtswissenschaftlichen Forschungsdiskurs ist der lange Zeit dafür verwendete Begriff der ‚karolingischen Renaissance‘, hauptsächlich aus Gründen der wörtlichen Abgrenzung von der späteren hochmittelalterlichen Renaissance, zunehmend strittig geworden, wohingegen diese Bezeichnung nach wie vor in populärwissenschaftlichen Darstellungen en vouge ist.

Die bis heute uneinheitlich gebliebene Begriffsdefinition und vorhandene Kontroversität darum, sowie dementsprechend unabgeschlossene Begriffsfindung zur Periodisierung des Zeitabschnitts, um die kulturellen Neuerungen am Ende des 9. Jahrhunderts hervorzuheben, ist nicht nur förderlich für die Auseinandersetzung damit, sondern impliziert, welcher Bedeutungsgehalt den darunter gefallenen Veränderungen beigemessen wird und deutet zudem an, welchen historischen Niederschlag selbige hatten. Neben Baukunst und Dichtung gab es insbesondere im ‚Bildungswesen‘3 genau geplante Revisionen und ambitionierte Reformen sowie kontemporär vorgenommene Eingriffe. Für diese gingen in hervorzuhebender Weise vom ‚Hofe‘ Karls des Großen zuvörderst in den 80er Jahren des 8. Jahrhunderts einige herrschaftliche Erlasse aus, die sich bis in das späte 9. Jahrhundert fortsetzten. Die darin enthaltenen Neuregelungen und umfänglich gegebenen Anweisungen stellen den übergeordneten Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Ausarbeitung, dessen Erörterung mit der Spezifikation einer konkreten Fragestellung im folgenden Unterkapitel weiterführend akzentuiert werden soll.

1.2 Der kulturelle Aufschwung bedingt vom korrekten Sprachgebrauch

Wie durch den geschichtsphilosophischen und strukturgeschichtlichen Gedankengang hergeleitet, sollen im Allgemeinen die in kultureller Hinsicht diversen und konkreten Umwandlungsprozesse untersucht werden. Die dabei aufgeworfenen entscheidenden Fragen sind: von wem genau, ab wann, wie und aus welchen Gründen die karolingischen Reformen und die daraus hervorgehenden kulturellen Neuerungen angeregt und angetrieben wurden. Inspiriert vom neuen Zeitgeist der Politikgeschichte liegen im spezifischen Fokus der Fragestellung auch die von den Akteuren persönlich präferierten Ziele der Erneuerung von Sprache, sowie im Zusammenhang damit die Sammlung von Wissen, der Stellenwert, die Erhaltung und Ausbreitung von Bildung überhaupt. Als spezifische Erweiterung der Fragestellung soll hierfür insbesondere die signifikante Korrelation von orthodoxer Rechtgläubigkeit und richtigem Sprachgebrauch, als fundamentale Voraussetzung zur effektiven Glaubensführung, näher analysiert werden. Damit einhergehend ist die von Karl und seiner Hofschule initiierte und beförderte Auseinandersetzung mit antikem Bildungsgut und deren Transformation in den eigenen christlichen Kontext ebenfalls zu untersuchen.

Zur Verwirklichung der Reformen bedienten sich Karl und die um ihn am Hof versammelten Gelehrten einem mannigfaltigen politischen Repertoire. Eines dieser Herrschaftsinstrumente zur Umsetzung von Reformzielen waren die Sende- und Mahnschreiben. Innerhalb dieser im Zeichen des Karolus-Monograms verfassten Schriften nimmt insbesondere das am 23. März 789 durch Karl den Großen erlassene Rundschreiben, das sich selbst als Edictum bezeichnet, einen zentralen Stellenwert ein und wird seit dem 19. Jahrhundert von Historikern unter dem Kunsttitel Admonitio generalis zitiert.4 Wegen ihres besonders hohen programmatischen Gehalts und ihrer ebenso hoch eingeschätzten historischen Resonanz bietet die ‚Allgemeine Ermahnung‘ eine gute Deutungsgrundlage für die gewählte Fragestellung und soll dessentwegen als Primärquelle herangezogen und interpretiert werden. Zur Unterstützung der diesbezüglich getroffenen Aussagen sollen als sekundäre Quellen auch Bezüge aus den zuvor erlassenen programmatischen Edikten der Epistola generalis und der Epistola de litteris colendis hergestellt werden.5 Alle drei Schreiben stehen in der bildungspolitischen Kontinuität Karls des Großen und können als hinreichender Beleg angeführt werden, um darzulegen, wie dezidiert Karl und sein Beraterkreis die geplanten Reformziele stipulierten.6 Bei der praktischen Quellenanalyse sollen hierfür konkrete Bezüge zwischen den ausgewählten Quellen und den von der Forschung bestimmten bildungspolitischen Hauptanliegen der karolingischen Erneuerungsbewegung im historischen Kontext des Frühmittelalters hergestellt werden, unter besonderer Berücksichtigung der spezifischen Frage nach korrektem Sprachgebrauch. Die Diskussion diverser geschichtswissenschaftlicher Standpunkte, insbesondere die Reflektion neuerer Forschungsannahmen in Abgrenzung älterer, werden diesen Erkenntnisprozess im Sinne der Fragestellung potenzieren. Dabei sollen auch einige aus den Quellen hoch frequentierte und von der Forschung übernommene lateinische Zitierwörter, die als etablierte wissenschaftliche Konstrukte zur Beschreibung der angesprochenen geschichtlichen Vorgänge verwendet werden, in Verbindung mit der Fragestellung gebracht werden. Bei diesem Erkenntnisprozess soll im Weiteren der instrumentelle Charakter der Admonitio generalis exemplifiziert werden, wodurch Einblicke über wichtige Aspekte von Karls Herrschaftsform geboten werden, die ihrerseits wesentlich für das Verständnis der im Untertitel angesprochenen Korrelate sind.

Neben der Rekonstruktion des allgemeinen Entstehungskontextes sind hierbei auch die Fragen nach der Autorschaft und die aus einer gewissen Gruppendynamik heraus besonders einflussnehmenden Akteure weitere konstitutive Untersuchungsbereiche, die im Augenschein des Erkenntnisinteresses beleuchtet werden. Für diesen Belang wird das karolingische Hofleben in Umrissen zu skizzieren sein, wobei sich vor allem die Gründung und Etablierung der Hofschule als aufschlussreich erweisen wird. Besondere Aufmerksamkeit sei dabei auf die Verantwortlichkeit Karls des Großen als König der Franken und einer seiner lange Zeit maßgebenden Berater, Alkuin von York, gerichtet. Entlang dieser Ausführungen werden intrinsische Motive der Akteure nebst kollektiven Tendenzen der kulturellen Strömung offengelegt und beschrieben.

Gleichwohl Karl, Alkuin und als Kollektiv der übrige Hofstaat in der vorliegenden Ausarbeitung damit als ‚handelndes Geschichtssubjekt‘ interpretiert werden und durch den quellennahen Zugang, sowie die Reflektion diverser Forschungsstandpunkte, zunächst eine im Sinne des Historismus differenzierende, die bestimmbare Individualität in den Blick nehmende Betrachtung angestrengt wird, soll andererseits auch ein Erklärungsmodell angeboten werden, welches den Geschichtsverlauf der kulturellen Erneuerungsbewegung gleich einer schematischen Großtheorie – im Sinne des Historizismus – interpretiert. Die dabei gestellte Hypothese einer dialektischen Gegensätzlichkeit soll sich in Anlehnung der naturwissenschaftlichen Methodik einer gesetzartigen Terminologie bedienen, die sich wesentlich aus dem physikalischen Begriffsfundus speist. Eine daran angeschlossene sprachliche Analyse soll die dabei getroffenen Behauptungen verifizieren, indem einerseits in einem synchronen Ansatz das lateinische Sprachstadium im Frankenreich um 800 untersucht werden soll und andererseits in einem diachronen Vergleich die lateinischen Sprachstadien zwischen der Merowingerzeit und der Karolinger.

Die genuine Gegensätzlichkeit der diversen Ansätze, die oben zusammengebrachten geschichtswissenschaftlichen, die natur- und geisteswissenschaftlichen7 sowie die der beiden eben genannten sprachwissenschaftlichen8 lösen sich in Anbetracht der Paradoxien und Ambivalenzen als Zeichen jeglicher Wirklichkeit auf und sollen in diesem Sinne komplementär auch jenen Auszug historisch komplexer Wirklichkeit ausdeuten, der von der Fragestellung in den Blick genommen wird. Damit soll versucht werden, den unbestritten hohen Bildungsaufschwung während der karolingischen Dynastie multiperspektivisch und doch kohärent in den zu Blick nehmen, um die wichtigsten Faktoren für diesen, thematisch ausdifferenziert aus der Vergangenheit abzuleiten. Dessentwegen sollen Politik, Religion und Sprache, die bei der kulturellen Erneuerung von großer Bedeutung waren, als historische Korrelate in wiederholender Kausalität zueinander diskutiert werden. Abschließend ist zur Veranschaulichung des Gesamtbildes der kulturellen Erneuerungsbewegung und adäquaten Einordnung in die Epoche des Frühmittelalters, auch auf die macht- und gesellschaftspolitischen Aspekte, vornehmlich in Bezugnahme zur Admonitio generalis, explizit einzugehen. Um diese sowohl literatur- als auch quellenbasierte Forschungsvorhaben auf ein standhaftes Fundament zu stellen, soll im Folgenden der historische Kontext, vor allem in ereignisgeschichtlicher Hinsicht dargelegt werden.

2 Hauptteil

2.1 Historischer Entstehungskontext der Bildungsreformen

2.1.1 Außenpolitische Situierung

Kurz nachdem Karl das Erbe seines Vaters angetreten hatte und wie sein Bruder am 09. Oktober 768 zum König seines Herrschaftsteils gesalbt wurde, setzte er alsbald seine im Kalkül der Machtpolitik stehende Regentschaft an. Wie der Karlsbiograf Einhard berichtet, hatte er dementsprechend mit entschlossenem Handeln und raschem Erfolg den aquitanischen Krieg unternommen, wodurch 769 die Existenz des aquitanischen Herzogtums beendet wurde und ein bislang stetig aufkeimender Unruheherd zumindest vorerst stillgelegt war. Als sein Bruder Karlmann 771 im Alter von nur 20 Jahren verstarb, verhielt sich die Ehe zu seiner dritten Ehefrau Hildegard, die von einer einflussreichen Familie aus Karlmanns Reichsteil stammte, nicht ungünstig, um die Herrschaftsgebiete des Bruders zu übernehmen. Nach Zusammenschluss zum fränkischen Großreich und der Regelung der Verhältnisse im Reichsinnern unterwarf Karl 774 die Langobarden. Die Okkupation des letzten großen germanischen Reiches der Völkerwanderungszeit machte das Frankenreich zur beherrschenden Macht in Westeuropa und schuf zugleich auch die Voraussetzung für die spätere Kaiserkrönung. Wie die Reichsannalen berichten endete das Kriegsjahr 785 friedlich mit der Kapitulation und Taufe Widukins,9 womit vorerst ganz Sachsen unterworfen war und damit aller Anlass gegeben, diesen Erfolg zu feiern. Obwohl sich Karl daraufhin im Winter 786/787 Italien zuwendete um Benevent zu unterwerfen, kam es zu keinem Konflikt, da sich der letzte autonome Rest des Langobardenreichs unter Herzog Arichis ll. zur Bündnistreue ans Frankenreich versicherte, in dem der Herzog seinen Sohn als Geschenk an Karl sandte.10

Auch der Konflikt mit Tassilo 787/788 verblieb ohne eine größere kriegerische Auseinandersetzung, zumal einerseits Karls Übermacht und andererseits Tassilos zu schwacher Rückhalt in den eigenen Reihen, Letzteren dazubrachte, verlässliche Garantien der Treue zu erbringen. In Darstellungen neuerer Forschungsarbeiten wird dem Sturz des Vetters auch zunehmend ein machtpolitisches Kalkül zugeschrieben, wonach Karl sich ein gesichertes Aufmarschgebiet für den Feldzug gegen die Awaren habe vorbereiten wollen. Denn bei einer möglichen Niederlage im Osten wäre die Gefahr groß gewesen, in die Hände des mächtigen Vetters zu fallen. Über die konkreten Gründe wird viel spekuliert und dementsprechend konträr ist der wissenschaftliche Austausch darüber, jedenfalls fällte Karl kurz vor Veröffentlichung der Admonitio generalis bei der Ingelheimer Versammlung das Urteil über Tassilo und seine Familie. Der Herzog wurde am 6. Juli 788 zum Mönch geschoren und die darauffolgende Landnahme ist Karls letzte bekannte außenpolitische Aktion vor der Admonitio generalis.11

Hinsichtlich der reichsäußeren Machtausübung lässt sich zusammenfassen, dass Karl als König der Franken bis Ende der 780er Jahre sein Herrschaftsgebiet nicht nur erheblich ausdehnen, sondern seinen Machtanspruch mehrmals sichern und erfolgreich verteidigen konnte. Seine Eroberungspolitik versetzte die Grenzen des Frankenreichs über die Pyrenäen bis nach Mittelitalien und von der mittleren Donau bis an die Elbe. Die daraus resultierende Verstrickung in größere Machtsysteme erzeugte neue intergentile und interpersonale Spannungen zwischen den machthabenden Parteien auf dem mitteleuropäischen Kontinent. Die neu hinzugekommenen Gebiete erforderten kulturelle Anpassung und Adaption, eine umfassende Vereinheitlichung vor allem in zusammenhängenden Bereichen der Religion und Bildung wird sich diesbezüglich als notwendige Grundlage erweisen.

2.1.2 Innenpolitische Situierung

Hinsichtlich der reichsinneren Angelegenheiten sei im entscheidenden Zeitraum unmittelbar vor Erlass der Admonitio generalis auf ein weiteres konfliktreiches Ereignis hingewiesen. Und zwar hatten sich um den thüringischen Grafen Hardrad, Edelleute selbigen Titels und weitere Adelige zu einer Verschwörung gegen Karl versammelt. 785 kam es zu einem Aufstand, dessen Hauptmotiv vermutlich der aktive Widerstand gegen die Einführung, der mit harter Hand durchgesetzten karolingischen Reichsordnung, war, wobei neben dem Aspekt der Befehlsverweigerung, möglicherweise auch die Beabsichtigung vorlag, bei sich bietender Gelegenheit, Karl zu töten. Militär-politisch geschickt und kompromisslos beendete Karl den Aufstand, verhing auch für zeitgenössische Umstände harte Strafen und ließ versäumte Treueeide nachholen. Naheliegend wird vermutet, dass das Vorwort der Admonitio sich eben auf jene innenpolitischen Unruhen um Hardrads Aufstand beziehen.12

Eine weitere Reaktion auf die thüringischen Aufstände lässt sich an der Art und Weise der Verkündigung erkennen und im zweiten Teil des Mahnschreibens markieren. Hatten die Edelleute um Hardrad aus der Argumentation heraus, niemals den Treueid auf Karl geschworen zu haben, gegen seine Herrschaft rebelliert, so wurden demgemäß die Amtsträger, welche die ‚Allgemeine Ermahnung‘ bekannt zu machen hatten, angewiesen, alle Einwohner des Frankenreichs den Treueid auf den König abzunehmen.13

2.1.3 Rundschreiben als politische Instrumente

Entsprechend der dargelegten Konfliktpotentiale und den damit einhergehenden Mühen, den eigenen Machtanspruch nach innen und außen hin zu konsolidieren, galt es diesen mit Inblicknahme auf die geschilderten Verwicklungen, vor allem auch zur weiteren Etablierung des karolingischen Königsgeschlechts, zu legitimieren. Für beide Zwecke waren wie bereits erwähnt, die Sende- und Mahnschreiben jener Zeit ein gängiges politisches Instrument und entsprechend dem zeitgenössischen Weltbild essentiell von einem religiösen Charakter geprägt. Denn für Christen wie für Heiden des frühen Mittelalters war der Glaube keine private Angelegenheit, sondern eine öffentliche Notwendigkeit, um angesichts Bedrohungen aller Art sowohl das Heil des Königs, als auch das des Volkes und damit nicht zuletzt das eigene, zu bewahren. In dieser Rhetorik stehend sind die Ausführungen der Admonitio generalis geschrieben und gründen in dem Narrativ, den göttlichen Beistand einzufordern, um die eigene Handlungskompetenz auf eine christliche Basis zu stellen.

Demgemäß ordnet sich nicht nur die Invocatio in formaler Hinsicht Christus als König unter, sondern auch ausführlich und explizit Karl selbst in einer Huldigung und Grußformel, die den eben angesprochenen Gedanken des christlich-hierarchischen Machtgefüges impliziert. Der ambitionierte Anspruch und die im Wesen zu Grunde liegende Intention war es, dass die Menschen in seinem Vielvölkerreich ein gottgefälliges und in gegenseitiger Fürsorge bestimmtes Leben führen sollten. Daher konnte nur durch den rechten Gottesdienst die allgemeine Gerechtigkeit herrschen und die Wohlfahrt des Reiches erlangt werden. Das damit verbundene Streben nach rationaler Herrschaftsorganisation brachte auch den Gedanken mit sich, ein allgemeingültiges Sprach- und Wertesystem für das geschaffene Großreich zu etablieren, das sich an den christlichen Normen orientieren und vor allem in der fränkischen Kirche, die auf die neuen Reichsgebiete auszuweiten war, konstituiert werden sollte.14

Bevor auf diese innerhalb der Fragestellung stehenden Behauptungen mit Erkenntnissen aus Fachliteratur eingegangen und mit weiteren Quellenbezügen untermauert werden, sind zunächst allgemeine und dafür zu berücksichtigende historische Gesichtspunkte darzulegen, insbesondere mit Hinblick auf Karls Reformpolitik. Darauf aufbauend soll die Entwicklung von Karls ‚Hof’ nachgezeichnet werden, denn auf Grundlage dieses Exposés wird sich rekonstruieren lassen, wie Gestalt Rundschreiben vom Format der Admontio generalis überhaupt entstanden sind, wodurch außerdem erklärbar wird, wie sie mit der eben angesprochenen Intention im Reich Resonanz erzeugen konnten.

2.1.4 Die politische Landschaft des Frankenreichs

In diese Richtung gehend sei zunächst erwähnt, dass man sich Karls Herrschaftsgebiet in keinster Weise als ein politisch stabiles, zusammenhängendes und gleichförmig organisiertes Land auf einer kolorierten Landkarte vorstellen darf. Die Vorstellung eines feststehenden politischen Gebildes, einem stabilen Feudalstaat und ständisch gegliedertem Volk ist längst überholt. Die moderne Forschung schätzt die frühmittelalterliche Gesellschaft der Karolinger als weitaus komplizierter und veränderlicher ein, als dass sie mit derartigen kartographischen Theorie-Schablonen angemessen dargestellt wären. Die politischen Machtverhältnisse waren wie oben bereits angeklungen von einigen interpersonalen Beziehungen ausgehandelt und Herrschaft war im Wesentlichen an einzelne Personen, an die anderen ‚Großen‘ im Reich, gebunden. Der immer wieder herzustellende Konsens zwischen König und dem hohen Adel, die stetige Achtung des gegenseitigen Ranges und kontinuierliche Zusicherung politischer Unterstützung, spielte bei der effektiven Herrschaftsausübung eine wichtige Rolle. Die Idee des Reichs an sich mit dem König als zentraler Bezugspunkt war noch keine etablierte Herrschaftsform. Der Frankenkönig war damit herausgefordert, seinen Herrschaftsanspruch auf diversen ‚Wegen‘15 zu behaupten, da er sich auf keine beständigen Garantien verlassen konnte. Überschläglich gezählt waren es an die hundert Orte, an denen Karls königliche Amtshandlungen erforderlich geworden waren. Fast so viele Pfalzen ließ er dafür einrichten und das damit verbundene Reisekönigtum war angesichts der unzureichenden Infrastruktur eine große Herausforderung. Infolge des mangelhaften Netzes an Verkehrswegen und Verwaltungseinrichtungen war die Reise zu Pferd nicht nur ein (politisches) Wagnis, sondern auch ein äußerst mühsames und zeitraubendes Unterfangen.16

2.1.5 Die Idee eines Herrschaftssitzes

Wenn Karl gerade mal nicht auf seinen oftmals kriegsbedingten Unternehmungen unterwegs war, dann nutzte er als vorübergehende Aufenthaltsorte bevorzugt seine Pfalzen und Königshöfe zwischen Rhein und Seine, meist in den kriegsfreien Wintern für größere Reichstage und Synoden. Durch den Besuch seiner Pfalzanlagen und den dabei bedeutend und aufwendig inszenierten Aufenthalten, machte er nicht zuletzt an vielen Orten seines Großreichs den oben erwähnten Machtanspruch geltend.17

Viel (Selbst)Vertrauen muss er in die Etablierung eines festsitzenden Zentrums gehabt haben, dass als politische Schaltzentrale funktionieren sollte und – auf Grund der Dualität von weltlicher und geistlicher Macht – selbstverständlich ein irgendwie geartetes religiöses Hofleben miteinschloss.18 An die Gründung eines derart stabilen höfischen Organisations-Apparats war vermutlich die Erwartung gesetzt, einerseits die frühmittelalterliche Institution von reisenden Königsboten zur systematischen Kontrolle der entlegenen Reichsteile zu organisieren, andererseits die Kompetenz anzureichern, um wichtige politische und religiöse Streitfragen zu erörtern und von diesem Standort aus, ebenfalls im Auftrag Karls stehende kirchliche Gelehrte zu wichtigen Synoden oder diplomatische Berater zu anderen Machthabern auszusenden. Eine weitere wichtige Voraussetzung und hinsichtlich der Fragestellung dieser Ausarbeitung zentrale Annahme ist, dass Karl sich auch von der Reiseherrschaft abwandte, da er zunehmende Überzeugung von schriftlich erteilten Anweisungen gewonnen hatte.19

Die ins Visier genommene Etablierung eines lokal fixierten Hofgeschehens war demnach auch der Versuch, einen politischen und kirchlich-religiösen Überbau einzurichten, von dem aus eine effizientere königliche Reichspolitik ausging, als angemessene Reaktion auf die Expansion des Reiches. Die vermutlich in den 790er Jahren aufgekommene imperiale Idee,20 dürfte das Vorhaben eines festinstallierten Hofes, entschieden vorangetrieben haben. Angesichts dieser Entwicklungen und dem daraus gewonnen Potential an Überlegungen, musste die bisherige karolingische Herrschaftskultur mindestens aus politisch-religiösen, wahrscheinlich auch aus gesellschaftlichen und persönlichen Gründen Karl und seinem zumeist klerikalen Beraterkreis obsolet erschienen sein. Eben dies war ein weiterer Grund, zentralisierte und gleichgeschaltete Herrschaftsinstitutionen zu etablieren, worunter zu dieser Zeit vor allem auch die Klöster zu zählen sind, die nicht nur dem feudalen Grundprinzip folgend zu einflussreichen Wirtschaftskomplexen heranwuchsen, sondern „zunehmend die Bewältigung von Organisations- und Verwaltungsarbeiten übernahmen“21. Urkunden von Schenkungen, Immunitätserklärungen und die politische Raumeinteilung in Gauen mit Klöstern an der Spitze, bestätigen diesen Bedeutungszuwachs der Klöster und die Tendenz, dass Karl Bischöfen eine quasigräfliche Stellung einräumte.22 Auch aus jenem Streben zur Vereinheitlichung dieser, motivierten sich die Rundschreiben in Größenordnung und Format der Admonitio generalis. Im Weiteren dürfte angesichts der zugenommenen Reichsgröße das Bewusstsein verstärkt worden sein, dass nur mit Hilfe einer breiten Bildungsschicht, die Verwaltungs- und Organisationsarbeiten zu bewältigen waren, auf dessen Sachverhalt an erkenntnisrelevanter späterer Stelle einzugehen ist.

2.1.6 Die Entstehung der Hofschule in der ‚Hauptstadt‘ Aachen

Ob die Überlegungen zur Festlegung des Herrschaftssitzes tatsächlich in diesen Prioritäten und derart interessengeleitet waren, ist ungewiss und die Ausführungen diesbezüglich können keineswegs Anspruch auf historische Objektivität erheben, allerdings steht das Resultat fest, dass Karl seine Dauerresidenz in Aachen begründete. Nach einem vermutlich komplex-kausalen Entscheidungsprozess machte er die längst als Kurort bekannte Pfalz zur ‚Hauptstadt‘ seines Reiches.23 Mit dem Ausbau der dort zu Teilen aus Römerzeit noch vorhandenen Bauten,24 die mittlerweile aber vorwiegend einem zeitgenössischen Gutshof ähnelten und auf der auch schon sein Vater Pippin residierte, liegt die Vermutung nahe, dass die Hofschule als feste Institution erst nach dem Ausbau Aachens vorgelegen haben dürfte. Dieter Hägermann konstatiert diesbezüglich, dass diese insofern erst nach 795 als Konstante vor Ort in Aachen existent gewesen sein dürfte.25 Diese Behauptungen führen zu einer weiteren Distanznahme gegenüber älteren Forschungsmeinungen, indem daraus gefolgert wird, dass der Hof und mit ihm die gelehrte Geistlichkeit der Hofkapelle sowie alle anderen Amtsinhaber und Abteilungen zunächst an keinem festen Ort gebunden gewesen wären.

Demnach gab es höchst wahrscheinlich zur Entstehungszeit der Admonitio generalis eben noch keine zentrale und kontinuierliche zusammentreffende Hofschule, an der die von Karl eingeladenen und in seinen Diensten stehenden Gelehrten zugleich wirkten. Der Gelehrtenkreis und die übrigen Hofangehörigen begleiteten den König entweder auf seinen Reisen oder wurden wie oben bereits angesprochen von ihm aus diversen Gründen an andere Orte beauftragt. Wenn der Gelehrtenkreis um Karl nicht an einem Ort zusammengekommen war, kann im Hinblick auf die Überlieferungssituation auch davon ausgegangen werden, dass die beteiligten Akteure, die in unterschiedlichen Beziehungsverhältnissen zueinanderstanden, diverse Positionen besetzten, Ämter und Stellungen innerhalb von Karls Wirkungskreis einnahmen und als ein in brieflicher Korrespondenz zueinanderstehender Gelehrtenkreis verstanden werden darf. Nach Johannes Fried bleibt dabei jedoch das Entscheidende, dass das um Karl versammelte ‚Hofgeschehen‘ Ausgangspunkt und Zentrum der geistigen Erneuerung war – auch vor der lokalen Fixierung. Schließlich seien von dort aus die entsprechenden Impulse in die Weite des Reiches hinausgegangen und wieder zurückgeflossen, wenn auch vielleicht sporadischer, vorerst noch strukturloser und in einer offeneren Organisation, als im Gegensatz zu der bis in die 80er Jahre hinein geltenden Beschreibungen der Forschungsmajorität, die den Hof zumeist wesentlich früher als stabile Einheit beschreibt.26

2.1.7 Alkuins Einladung an den Hof

Mutmaßlich seit Mitte der 770er Jahre, d.h. schon während seiner unterschiedlich motivierten Reisen begann Karl die Kontaktaufnahme und Einladung an seine mit ihm wandernde und dynamische Hofgesellschaft oder an den zumindest über die Wintermonate hinweg zeitlich begrenzt versammelten Hof. Bis zur lokalen Fixierung seines Hofes in Aachen knüpfte er über die Jahre zahlreiche Kontakte zu Lehrmeistern und bildungspolitisch Gleichgesinnten aus der zeitgenössischen Literatur und Wissenschaft, die mehrheitlich nichtfränkischer Herkunft waren. Karl konzentrierte so relativ rasch um sich, die mitteleuropäische geistige Elite seiner Zeit – Gelehrte aus Gebieten, „wo [auch] immer nur die Wissenschaft in Blüte stand“27, um es mit Josef Fleckensteins Worten zusammenzufassen.28

Damit sei zum Inhalt der Ausarbeitung gegeben, dass der Frankenkönig Gelehrte und Kirchenmänner aus unterschiedlichen Regionen seines Reiches, als auch über dessen Grenzen hinaus, an sich zu ziehen wusste. Wie sich zeigen lassen wird, benötigte er diese vor allem für seine anvisierten Bildungsreformen und er vermochte es diesfällig auch bislang geschlossene gentile Schranken zu überwinden. Denn an dieser Stelle sei vorweggenommen, dass die führenden Köpfe seiner Reformbewegung überwiegend ‚Ausländer‘ waren.29 Rudolf Schieffer sieht eben in dieser, „offenbar früh gewonnenen und konsequent beibehaltenen Überzeugung Karls, dass seine Franken einschließlich ihm selbst, trotz aller äußeren Machtentfaltung, den zur Ehre Gottes und zum Wohle des Großreiches erforderlichen qualifizierten Umgang mit Geschriebenem nicht von sich aus, sondern nur von gebildeteren Fremden“30 erlernt werden konnte, seine höchstwahrscheinlich größte historische Leistung.31

Insgesamt formten die Gelehrten die entstandene Hofschule rasch zu einem Wissenszentrum und innerhalb seiner Kulturpolitik wurde das Ziel der allgemeinen correctio, „die Wiederherstellung des Wahren und Richtigen, sofern es entstellt war“32, zum vorrangingen Unternehmen. Karl gab damit entscheidende Impulse ein Wissenszentrum zu etablieren, dass den Stellenwert der scientia et litterae, der Wissenschaft und Literatur, sowie die septem artes liberales, die sieben freien Künste, bewusst und intentional erhöhen sollte.33 Die Bemühungen waren auf die kräftige Belebung antiker Maßstäbe gerichtet. Die Nachvollziehbarkeit dieser erhöht sich angesichts der frühmittelalterlichen Vorstellung von Wissenschaft, denn für Karl und seine Zeitgenossen war diese nicht allein als methodisch begründetes Ursachenwissen, sondern wurde auch als innere Erfahrung, als sinnliche Wahrnehmung verstanden, worauf Meinungen und Glauben im elitären Kreis maßgeblich aufbauten. Das Ziel der correctio war hierbei nicht allein im wissenschaftlichen Bereich angestrebt, sondern darüber hinaus von entscheidender Bedeutung bei der religiösen Glaubenspraxis und berührte damit sämtliche Lebensbereiche der Bevölkerung. Mit Einsichtnahme dieser Zusammenhänge wird sich auch der Wesenskern der Admonitio generalis verstehen lassen.

Bevor jedoch innerhalb dieser Ausarbeitung auf die eben angesprochenen wichtigen zeitgenössischen Anliegen und lateinischen Zitierwörter eingegangen wird, soll kurz als hinreichendes Substrat dafür das Hofleben Karls geschildert werden, sowie die Autorschaft des Rundschreibens besprochen und in die unmittelbare Bildungssituation im Frankenreich eingebettet werden.

2.2 Das soziale Gebilde als Urheber der kulturellen Erneuerungsbewegung

Wie bereits ersichtlich wurde ist ‚der‘ Hof des Königs im frühen Mittelalter, das wird auch in der mediävistischen Forschung immer wieder betont, ein nur schwer zu beschreibendes, komplexes, wissenschaftliches, religiöses und politisches Gebilde. Dies liegt zum einen daran, dass sowohl jede Dynastie als auch jeder Herrscher für sich, individuelle Herrschaftsstrukturen entwickelte und vor einem bestimmten und hervorgehobenen Legitimationsrahmen stellte. Zum anderen werden die Rekonstruktionsbemühungen – wie im geschichtswissenschaftlichen Jargon oftmals zum Ausdruck gebracht – auf Grund der Quellenlage erschwert, da diese sehr fragmentarisch oder von zweifelhafter Authentizität sind, wodurch ein großer Interpretationsspielraum gegeben ist. Für die Zeit Karls des Großen steht diesbezüglich allerdings exzeptionell eine zeitgenössische Beschreibung zur Verfügung. Abt Adalhard von Corbie, der Vetter Karls des Großen beschreibt in seiner Libellus de ordine palatii 34 neben dem umfangreichen Personenkreis, der Hierarchie und Struktur der Ämter am fränkischen Hof, auch ausführlich den Aufgabenbereich und die Zusammensetzung der Geistlichkeit, der sogenannten ‚Hofkapelle‘.35 Von der Forschung konnte demgemäß, und auch unter Einbezug anderer Quellen, das Hofleben Karls demonstrativ und in mancherlei Hinsicht en détail rekonstruiert werden.

Für den Zweck der angedachten Fragestellung und in Bezug zur Autorschaft der Admonitio, wird es sich als sinnvoll erweisen, das Hofleben in seinen markantesten Punkten, vorrangig in geistlicher Hinsicht kurz zu umreisen, zumal wie angesprochen alle Regelungen für die Ordnung des Reiches maßgeblich von der ‚Denkschule‘ dieser Geistlichkeit geprägt waren und dementsprechend auch die daraus hervorgegangenen politischen Maßnahmen und Instrumente, an eben jenem ‚Ort‘ beschlossen und entwickelt wurden.36 Im Anschluss daran sei aus selbigen Leitgedanken auf die Berufung und Stellung Alkuins an jenem berüchtigten Hof eingegangen. Bei dem Einblick auf das soziale Gefüge des Hoflebens sollen auch weiterführende Überlegungen über das existent gewesene Beziehungsgeflecht angestellt werden, um damit vor allem spezifisch interpersonale Einflussfaktoren der Bildungsschriften, vorrangig der Admonitio generalis zu markieren.

2.2.1 Das Hofleben

Hinsichtlich der Zahl und der anfallenden Aufgabenbereiche merkt Joseph Fleckenstein in seiner lange Zeit diskursbestimmenden und in dieser Hinsicht nach wie vor geltenden Abhandlung an, dass der Kreis von Gelehrten am Hof überschaubar war und neben Unterhaltungszwecken, vor allem auch wichtige beratende und lehrcharakterliche Tätigkeiten umfing. Wie oben bereits erwähnt, wurden sie nicht selten in offizieller Mission im Dienst ihres Königs auf große Konzile geschickt, um bei Glaubensfragen und sonstigen Streitigkeiten in unterschiedlicher Funktion mitzuwirken oder begleiteten den König, womit ihre Aufgaben und Kompetenzen vor Ort gefragt waren. An der später entstandenen Hofschule hatten sie darüber hinaus die Lehrerschaft zu stellen, übersetzten die aus Rom herangeschafften lateinischen Überlieferungen oder formulierten im Auftrag Karls wichtige politische Schriftstücke.

Ein direkt aus diesen Schilderungen ableitbarer Einflussfaktor ist die Autorschaft der Admonitio generalis, weshalb im Folgenden nun kurz auf die Berufung Alkuins von York eingegangen werden soll, da er als Spiritus rector des Rundschreibens angesehen wird. Daneben werden diese Erkenntnisse auch eine bessere Einschätzung über die Authentizität und Signifikanz der Aussagen aus der Admonitio selbst ermöglichen.

2.2.2 Alkuins Berufung - Spiritus Rector der Admonitio generalis

Wie oben ausgeführt begann Karl bereits in den 70er Jahren damit, Gelehrte an seinen Hof einzuladen. Im März des Jahres 781 begegnete er auf dem Weg seiner zweiten Romfahrt in Parma, Alkuin von York, der selbst nach einem Gesuch aus Rom in seine Heimat York zurückkehren wollte. Mit großer Wahrscheinlichkeit darf angenommen werden, dass Alkuins Ruf als bedeutender angelsächsischer Gelehrter den König bewog, den seit 766 zum Leiter der Kathedralschule von York aufgestiegenen Angelsachsen an seinen fränkischen Königshof einzuladen. Erwähnenswert ist diesbezüglich die Vermutung, dass Alkuin neben dem Langobarden Paulus Diaconus, der Einzige gewesen sein dürfte, der bereits als namhafter Mann an den Hof kommt.37

Hinsichtlich der Einschätzung über seine Gelehrsamkeit wird angenommen, dass er im Verlauf seiner langjährigen Einflussnahme im Frankenreich in etlichen Disziplinen führenden Anteil genommen hat. Einige von ihm überlieferte Werke untermauern diese Vermutung und es wird ebenso angenommen, dass er während der Verfassung selbiger und in einigen Verhältnissen mehr, in regem Austausch mit den anderen Hofgelehrten stand, belehrend, diskursiv und dogmatisch, wie das vermutlich freundschaftlich-anleitende und gönnerhafte Verhältnis zu Einhard

[...]


1 Becher, Matthias: Karl der Große. München 2007⁵, S. 22; Demandt, Alexander: Die Spätantike. Römische Geschichte von Diocletian bis Jus-tinian 284-565 n. Chr., München 2007(b), S. 622.

2 Hier die eben angesprochenen Umbrüche, Neuerungen, Kontinuitäten, etc gemeint.

3 Zur Beschreibung der Geschehnisse gibt es eine Reihe kritisch anzumerkender Begriffe, da sie für gewöhnlich im modernen Sprachgebrauch frequentiert und resonanzfähig sind, jedoch im Folgenden auch für die historischen Bezüge unter Vorbehalt verwendet werden sollen. Dieser Vorbehalt soll aufgelöst werden und sich von einem anachronistischen Gebrauch abgrenzen, indem nachgewiesen wird, in wie fern die semantische Kapazität dieser Begriffe sich innerhalb der Rekonstruktion der historischen Sachverhalte füllt, d.h. wie sie angewendet im Kontext des Frühmittelalters zu verstehen sind.

4 Vgl. Patzold, Steffen: Ich und Karl der Große. Das Leben des Höflings Einhard, Stuttgart 2013, S. 56.

5 Es werden auch tertiäre Quellenbezüge hergestellt, die aber hinsichtlich der Fragestellung nur von indirekter Relevanz sind.

6 Vgl. Herweg, , Mathias: Wider die schwarze Kunst? Johannes Trithemius‘ unzeitgemäße Eloge auf die Handschriftenkultur. In: Daphnis: Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit (1400 – 1750), Band 39 (2010), S. 391-478, hier S. 452.

7 Das an der Physik orientierte Erklärungsmodell und die geisteswissenschaftliche Sprachanalyse.

8 Synchrone vs. diachrone Sprachanalyse.

9 Immerhin war seit 781 kein Jahr vergangen, in dem es nicht zu Kämpfen mit den Sachsen kam.

10 Vgl. Glatthaar, Michael / Mordek, Hubert / Zechiel-Eckes, Klaus: Die Admonitio generalis Karls des Großen (Fontes iuris Germanici antiqui in usum scholarum separatim 16), Wiesbaden 2013, S. 1-4; Kasten, Brigitte: Laikale Mittelgewalten. Beobachtungen zur Herrschaftspraxis der Karolinger. In: Erkens, Franz-Reiner (Hrsg.): Karl der Große und das Erbe der Kulturen. Berlin 2001, S. 54-66, hier S. 58f; Schneider, Olaf: Erzbischof Hinkmar und die Folgen. Der vierhundertjährige Weg historischer Erinnerungsbilder von Reims nach Trier, Berlin 2010, S. 31; Strothmann, Jürgen: Karolingische Staatlichkeit. Das karolingische Frankenreich als Verband der Verbände, Berlin 2019, S. 94.

11 In der neueren Forschung wird zunehmend angenommen, dass die gegen Tassilo erhobenen Vorwürfe fingiert waren und in Ingelheim ein politischer Scheinprozess stattfand.Des Bayernherzogs wiederholt nicht eingehaltenen Treueide bewogen Karl einerseits aus sicherheitspolitischen Gründen, die unerwünschte Sonderstellung des mächtigen Bayernherzogs zu beenden. Des Weiteren konnte Karle eine königsähnliche Nebenherrschaft innerhalb seines Machtbereichs nicht konzedieren, was als weiterer Beleg für seine im machtpolitischen Kalkül vorangetriebene Herrschaftsausdehnung angeführt sei. Vgl. dazu: Hartmann, Wilfried: Karl der Große. Stuttgart 2010(a), S. 92; Fried, Johannes:Karl der Große. Gewalt und Glaube,München 2013(b), S. 189ff; Weinfurter, Stefan:Karl der Große. Der heilige Barbar,München 2013, S. 83-92, 97ff.

12 Aufständische wurden geblendet und ihre Güter konfisziert. Über den Verbleib Hardrads selbst ist nichts bekannt, eventuell kam er mit dem Leben davon und wurde des Reiches verwiesen. Vgl. Eberl, Immo: Königsherrschaft und Hochadel im Raum Nordhausen / Sangerhausen. In: Harz-Zeitschrift 52, Berlin 2002, S. 11-36, Hier S. 20; Brunner, Karl: Oppositionelle Gruppen im Karolingerreich. In: Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Band 25. Böhlau Verlag, Wien, Köln, Graz 1979, S. 52.

13 Vgl. Ubl, Karl: Die Karolinger. Herrscher und Reich, München 2014, S. 50.

14 Vgl. Glatthaar et al., S. 3; Gramsch-Stehfest, Robert: Bildung, Schule und Universität im Mittelalter. Berlin 2019, S. 34f.

15 Hier zweideutig gemeint, einerseits wörtlich, zumal tatsächlich verschiedene Wegstrecken zurückgelegt werden mussten, andererseits als politische Metapher, da er unterschiedliche Legitimationsinstrumente benötigte.

16 Vgl. Malangré, Heinz: Blicke auf Europa. Seine Wurzeln, sein Stamm, seine Äste, seine Krone, Aufgsburg 2011, S. 167; Schulze, Hagen: Staat und Nation in der europäischen Geschichte. München² 2004, S. 22f.

17 Daneben war auch die Anwesenheit in äußeren und den neu hinzugewonnen Reichsteilen erforderlich, um deren Zugehörigkeit zum Reich zu dokumentieren. Denn insbesondere in seinen anfänglichen Regierungsjahren bis kurz vor die Jahrhundertwende war Karl wie seine Vorgänger vornehmlich ein Reisekönig gewesen.

18 Die schwere Autoritätskrise seines Sohnes Ludwig 822 belegt, dass es gefährlich sein konnte, den Machtanspruch nicht durch die Reiseherrschaft im Land geltend zu machen, weshalb selbiger auch zu der Herrschaftsform zurückkehrte, vgl. Hartmann, Martina / Hartmann, Wilfried: Karl der Große und seine Zeit. Die 101 wichtigsten Fragen, München 2014(b), S. 35.

19 Vgl. ebd., S. ebd.

20 Möglicherweise inspiriert am römischen Vorbild mit festem Herrschaftssitz in einer ausgewählten Hauptstadt des zukünftigen Imperiums. Immerhin hatte auch schon Papst Hadrian I. dem Frankenkönig in Aussicht gestellt, ein neuer Constantin, ein christianissimus imperator Dei (Gottes allerchristlichster Herrscher), zu werden. Alkuin verwendete ab 797 den Begriff Francorum imperium (Kaiserreich der Franken), das der glorreichste Karl regiere – Vorboten der am ersten Weihnachtstag von Papst Leo lll. im Jahr 800 im Petersdom erfolgten Kaiserkrönung? Vgl. Demandt, Alexander: Sternstunden der Geschichte. München² 2004(a), S. 123; Malangré, S. 163.

21 Bergmeier, Rolf: Karl der Große. Die Korrektur eines Mythos, Marburg 2016, S. 285.

22 Mohr, Walter: Studien zur Klosterreform des Grafen Arnulf I. von Flandern. Tradition und Wirklichkeit in der Geschichte der Amandus-Klöster, Leuven 1991, S. 55.

23 Über die genauen Vor- und Nachteile dieser Entscheidung ist viel diskutiert worden und nachzulesen bei: Demandt(a), S. 125f; Malangré, S. 167; Patzold, S. 56f.

24 Aus dieser Zeit war auch noch eine dicke Wehrmauer vorhanden geblieben.

25 Vgl. Hägermann, Dieter: Karl der Große. Herrscher des Abendlandes, Berlin 2000, S. 121.

26 Vgl. Fried, Johannes: Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, München³ 2009(a), S. 71.

27 Fleckenstein, Josef: Die Bildungsreform Karls des Großen als Verwirklichung der norma rectitudinis, Bigge/Ruhr 1953, S. 4.

28 Vgl. Malangré, S. 163.

29 So beispielsweise die Iren Jonas und Raefgot, der Italiener Petrus von Pisa, Paulinus von Aquileja oder der Langobarde Paulus Diaconus. Vgl.Fleckenstein, S. 4; Kasten, S. 55.

30 Schieffer, Rudolf: Karl der Große. Intentionen und Wirkungen. In: Erkens, Franz-Reiner (Hrsg.): Karl der Große und das Erbe der Kulturen. Berlin 2001, S. 3-16, hier S. 12.

31 Dies sei insbesondere hinsichtlich der bisherigen aversiven Haltung der geistlichen und weltlichen Führungsschicht der Franken gegenüber den früheren irischen und angelsächsischen Kichenmänner-Generationen erwähnt, vgl. ebd., S. ebd.

32 Schramm, Percy Ernst: Karl der Große. Denkart und Grundauffassungen. Die von ihm bewirkte Correctio. In: Historische Zeitschrift, Band 198 (1964), S. 306-345, hier S. 341.

33 Vgl. Springsfeld, Kerstin: Alkuins Einfluß auf die Komputistik zur Zeit Karls des Großen. Stuttgart 2002, S. 22.

34 Büchlein über die Ordnung des Hofes.

35 Vgl. Weinfurter, S. 41f.

36 Vgl. Fleckenstein, S. 4.

37 Vgl. Springsfeld, S. 19f; Steins, Georg: Das Buch, ohne das man nichts versteht. Die kulturelle Kraft der Bibel, Band 11. In Untergaßmaier, Franz Georg (Hrsg.): Veachtaer Beiträge zur Theologie, Münster 2005, S. 55; Freely, John: Aristoteles in Oxford. Wie das finstere Mittelalter die moderne Wissenschaft begründete, New York 2012, S. 57.

Ende der Leseprobe aus 74 Seiten

Details

Titel
Die kulturelle Erneuerungsbewegung unter Karl dem Großen
Untertitel
Eine multiperspektivische Betrachtung der Korrelation von Politik, Religion und Sprache im Frühen Mittelalter
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Mittelalterliche Geschichte)
Veranstaltung
Karl der Große
Autor
Jahr
2020
Seiten
74
Katalognummer
V1216452
ISBN (eBook)
9783346642981
ISBN (eBook)
9783346642981
ISBN (eBook)
9783346642981
ISBN (Buch)
9783346642998
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Karl der Große, Karolingische Renaissance, Bildungserneuerung, Alkuin von York, Frühmittelalter, Bildungsgeschichte, Sprachreformen, Admonitio generalis, Karolinger, Reformbewegung, kulturelle Reformen, Hofleben
Arbeit zitieren
Timo Warwel (Autor:in), 2020, Die kulturelle Erneuerungsbewegung unter Karl dem Großen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1216452

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