Wann immer sich jemand von Adorno distanzieren möchte, ohne richtige Argumente zu haben, kommt früher oder später der Hinweis auf Adornos Missverhältnis zur Jazzmusik. Tatsächlich gilt Adornos Ablehnung des Jazz als Prototyp der Kritik an der Kulturindustrie in der "Dialektik der Aufklärung".
Wer sich die betreffenden Texte genauer ansieht, stellt fest, dass Adornos Ablehnung des Jazz keineswegs total war. Er bezieht sich in seiner Kritik vor allem auf den nachgespielten, von Noten abgelesenen Jazz der deutschen Tanzorchester (eine Differenzierung, die später verwischt). Er kritisiert die stilistischen Besonderheiten des aufgeschriebenen Jazz aus der Perspektive des Zwölftonkomponisten und berücksichtigt nur am Rand, dass die Übertragung auf das europäische Notensystem bereits eine Verfremdung der afrikanischen Harmonik des Jazz beinhaltet. Zudem entlarvt er den kreativen Impuls des Jazz als eher sportlich denn künstlerisch. So betrachtet, ist der Jazz für Adorno wenig mehr als ein triviales Ausdrucksmittel der Kulturindustrie, und auf keinen Fall die Kunstmusik, als die er heute gilt. (Zu unrecht, denn auch das war er anfangs nicht. Der frühe Jazz lässt sich eher mit dem heutigen Hip Hop vergleichen als mit dem heutigen Avantgarde-Jazz.)
Aus all dem lässt sich ableiten, dass Adorno schlicht keine Ahnung vom Jazz hatte, aber diese Kritik greift zu kurz. Denn die Formen, die er (fälschlich) als Grundelemente des Jazz analysiert hatte, (die Synkope und die Blue Notes) wurden in der weiteren Entwicklung, spätestens im Jazzrock der Siebziger, tatsächlich zu ebendiesen Grundelementen. Der Jazz entwickelte sich, vereinfacht gesagt, entlang der von Adorno und Horkheimer beschriebenen Mechanismen der Kulturindustrie zu genau dem Produkt, das Adorno beschrieben hatte. Als Kritik der massenmedialen Verwertung des Jazz ist Adornos Jazzkritik weit besser als ihr Ruf. Oder anders formuliert: Selbst wenn Adorno keine richtige Ahnung hatte, war seine Theorie gut.
Programm:
1. Intro: Mißtöne
2. Tonart: Geistiger Hintergrund
3. Grundmelodie: Adornos Musiksoziologie
4. Jam: „Wirklichkeit“ des Jazz
5. Solo: „Wahrheit“ des Jazz
6. Schlußakkord: Adorno kritisieren
7. Notenblatt: verwendete Literatur
1. Intro: Mißtöne
Es gibt einen Diskurs über Theodor W. Adorno, der bislang bis auf wenige Ausnahmen eher außerwissenschaftlich geführt wurde - feuilletonistisch, polemisch, affektiv oder alles auf einmal. Im Vorbeihören entsteht ein wenig der Eindruck, daß, wer Adorno nicht mag, in Diskussionen gerne diesen Diskurs zur Sprache bringt, um sogleich einen breiten Konsens vorzufinden.1 Es geht dabei um Adornos Verhältnis zur Jazz-Musik, das in krassem Gegensatz zum landläufigen Verständnis des Jazz als fortschrittlicher, rebellischer Musik steht. Besonders deutlich wird dieser Mißton in dem Aufsatz „Abschied vom Jazz“ (G.S. 18, S. 795ff), in dem Adorno dem Verbot des Jazz durch die Nationalsozialisten weit weniger scharf entgegentritt, als man dies von einem linken Intellektuellen erwartet hätte.
An kritischen Arbeiten zu diesem Thema sind dem Referenten zwei bekannt. Neitzert (1992) befaßt sich allgemein mit der bürgerlichen Rezeption des Jazz und deren Problem, sich auf diese improvisierte Musik einzulassen. Er führt dies Unvermögen auf den „Hoheitsanspruch der Partitur“ (ebd., S. 37) zurück, der sich seit dem 19. Jahrhundert in der bürgerlichen Kultur durchgesetzt hat - eine Argumentation, der sich Adorno durchaus anschließen würde, die sich auch in seiner Musiksoziologie findet. Doch auch Adorno ist, Neitzert zufolge, der Dialektik einer solchen standortgebundenen (partiturbezogenen) Kritik zum Opfer gefallen. Ob er diese Dialektik wirklich übersieht oder nur vernachlässigt, sei zunächst dahingestellt.
Steinert (1992) ist insofern interessant, als er dem Thema ein ganzes Buch gewidmet hat. Er demonstriert, wie Adornos Jazzkritik in sein gesamtes Denken tief verwoben ist und besonders seine berühmte Diagnose der Kulturindustrie (Horkheimer/Adorno 1994, S. 128ff) im wesentlichen vorbereitet hat. Adornos Festhalten am Ideal des autonomen Kunstwerks hält Steinert ein
Verständnis vom Jazz als ereignishafter und ironischer, damit zeitgemäßerer kritischer Kunst entgegen. Der ironische Stil der Überschriften legt aber bereits eine distanzierte Haltung zum verbildeten bürgerlichen Intellektuellen nahe. Diese Argumentationen sollen im Folgenden nicht weiter verfolgt werden. Vielmehr soll das, was Adorno über den Jazz geschrieben hat, daraufhin geprüft werden, inwieweit es das Wesentliche des Jazz nicht doch wiedergibt, wenn auch vielleicht auf Umwegen.
Vielleicht mochte Adorno den Jazz einfach nicht und hat sich viel Mühe gegeben, das zu rationalisieren. Vielleicht konnte er als Bildungsbürger wirklich nichts mit der Urwüchsigkeit des Jazz anfangen. Doch bei diesen Erklärungen zu verweilen, scheint wenig fruchtbar. Auch der gerechtfertigte Horror, den die Kombination aus Blaskapelle und 4/4-Takt angesichts des heraufziehenden Totalitarismus bei Adorno ausgelöst haben mag, macht nur einen Teil seiner Abneigung gegen den Jazz aus.
Adorno war zu intelligent, sich einfach einem ideologischen Urteil für oder gegen den Jazz anzuschließen. Deshalb verdient seine Ablehnung des Jazz zumindest eine kritische Würdigung, wenn nicht wirkliche Beachtung - auch wenn sie auf die Geschichte sowohl der Soziologie als auch des Jazz eher geringen Einfluß gehabt zu haben scheint.2
2. Tonart: Geistiger Hintergrund
Adorno zu verstehen, ist leicht.
Natürlich erschließen sich seine Texte nicht immer auf Anhieb und schon gar nicht dem mäßig aufmerksamen Blick; vielmehr scheint es, als schäle sich bei jedem erneuten Betrachten eine neue Wendung der Bedeutung heraus. Der Emigrant Adorno hat erlebt, wie verhängnisvoll vorschnelle Antworten auf gesellschaftliche Widersprüche wirken können. Er nähert sich dem Wahrheitsgehalt seiner Objekte, indem er ihre Wirklichkeit nicht als gegeben ansieht, sondern deren Augenschein hinterfragt. Dabei gerät er in einer Art Kreis- oder Spiralbewegung (dem gängigen Schulbild der dialektischen Methode) immer tiefer in den Bereich dessen, was der bloße Anschein des Objekts verhüllt.
Oft ist diese Spirale eine Bewegung ins Bodenlose. Jeder Aspekt der untersuchten Wirklichkeit kann sowohl in die Freiheit als auch in die Barbarei führen, wobei letzteres wahrscheinlicher ist, sofern die Verwobenheit des „Guten“ und „Bösen“ nicht restlos analysiert ist. Noch die Aufklärung selber, die sich als Befreiung von den geistigen Fesseln des standortgebundenen Traditionalismus versteht, bringt, weil sie ihre geschichtlichen Wurzeln selbst in der Kritik nie ganz abschütteln kann, jene Verdinglichungen hervor, die zu ihrer eigenen Negierung oder gar Vernichtung führen. Eine kritische Theorie der Gesellschaft muß sich daher stets selber in Hinsicht auf ihre Verwobenheit innerhalb des jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhangs hinterfragen. Ebenso allerdings kann gerade in der Sphäre des zu Kritisierenden sich immer ein Rest kritischen oder utopischen Potentials verbergen. Auch hierauf gilt es das Augenmerk zu richten.
Diese Methode provoziert beim Leser oft einen Widerstand gegen ihre Sperrigkeit. Ist dieser erst einmal überwunden, erweist sich Adornos Schreibweise aber nicht nur als durchaus verständlich, sondern sogar als schön in einem Sinne, in dem Schönheit noch irgendwie mit Wahrheit verwandt ist - was eine der zentralen Anforderungen Adornos an die Ästhetik ist.
Diese Forderung ist stark geprägt nicht nur durch Adornos philosophische, sondern vor allem auch durch seine musikalische Bildung, die er in Wien u. A. bei Alban Berg absolviert hat. Berg nahm als Schüler Arnold Schönbergs dessen Kompositionstechnik, die Zwölftonmethode, scheinbar ernster als sein Lehrer und vermittelte sie entsprechend an Adorno.3
In Adornos musikalischen Schriften erscheint der Bruch mit der gängigen Harmonielehre, den die Zwölftonmethode darstellt, immer wieder als konkreter Maßstab für den emanzipatorischen Gehalt von Musik. Abstrakt entfaltet Adorno, wohl in Anlehnung an Benjamin, einen kritischen Begriff von Kunst und eben auch von Musik:
„Maß der gesellschaftlichen Wahrheit von Musik heute ist, daß sie ihrem Gehalt nach, der an ihrer immanenten Konstitution haftet, in Gegensatz tritt zu der Gesellschaft, der sie entspringt und in der sie steht, daß sie selber, in einem wie auch immer gearteten Sinn, ‘kritisch’ wird.“ (G.S. 16, S.22)
Gerade in der relativen Auflösung des tonalen Systems, wie sie die Neue Musik vollzieht, wird in diesem Sinne auf ein mögliches Anderes verwiesen, während tonale Musik Gefahr läuft, im Dienst ihrer Verständlichkeit in den gesellschaftlich induzierten Schranken ihrer eigenen Konventionen zu verharren.
Doch Musik muß nicht atonal sein, um kritisch zu wirken. Adorno ist sich wohl bewußt, daß auch der „dialektische“ Charakter der Zwölftonmusik sich abnutzt (vgl. G.S. 14, S. 143ff). Auch in den scheinbar verspielten Maskeraden Ravels (G..S. 17, S. 60ff) und den folkloristischen Zitaten Bartóks (G.S. 18, S. 275ff) erkennt Adorno den Geist des Widersprüchlichen. Dieser ist eingewoben in die innere Logik der Kompositionen und kommt zum Vorschein, wenn die vordergründige Wirkung der Musik mit ihrer gesellschaftlichen Verwobenheit und der ihrer Komponisten kontrastiert wird.
3. Grundmelodie: Adornos Musiksoziologie
In seinen „Ideen zur Musiksoziologie“ entwickelt Adorno eine äußerst feinsinnige Analyse der gesellschaftlichen Verwobenheit von Musik. Aufgabe der Musiksoziologie nach Adorno ist es, Werke und Komponisten, aber auch die Rezeption von Musik, in ihrer geschichtlichen Abhängigkeit zu betrachten. Die Fixierung auf das tonale System sowie die Trennung zwischen „ernster“ und „leichter“ Musik entlarven sich z. B. in dieser Betrachtung als gesellschaftliche Setzungen, die mit der Gesellschaft selber zusammen in Frage zu stellen sind und nicht als „reine Ästhetik“ unabhängig davon betrachtet werden dürfen.
Jede dieser Konstruktionen schafft jedoch Wirklichkeiten. So ist die Trennung zwischen U- und E- Musik längst nicht mehr so willkürlich aufzulösen, wie sie sich einst wohl im Zuge der Rationalisierung der musikalischen Produktion gebildet hatte. Längst haben sich die beiden Sphären auseinanderentwickelt und eigene Traditionen entwickelt.
Diese Trennung theoretisch fortzuschreiben, wäre eine undialektische Bestätigung der Verhältnisse, die es in der Theorie zu überwinden gilt. Für Adorno ist eine andere Unterscheidung zentraler. Unter Einbeziehung der Verwertungslogik des Kapitalismus, die sich längst auch die Musik unterworfen hat, trennt Adorno die Betrachtung musikalischen Lebens in „Produktion“,
„Reproduktion“ und „Konsumtion“.
Unter Produktion versteht Adorno den vom Musizieren abgelösten Kompositionsprozeß. Hierunter betrachtet er vor allem die gesellschaftliche Verwobenheit der Werke.
Der Rückgriff auf die Folklore ist, wie das Zitieren von klassischen Motiven, eine Fluchtbewegung der Musikprodution. Die musikalischen Freiheiten, die in der Musik der Zeit nach dem ersten Weltkrieg zum Ausdruck kommen, als Reflexion der allgemeinen Verwirrung der Zeit, sind etwa seit dem ersten Weltkrieg zu Scheinfreiheiten geronnen. Bis auf die Neue Musik wagt sich die Produktion nicht mehr aus den Schranken der Tonalität heraus und stabilisiert sich unter Rückgriff einerseits auf die großbürgerlichen Konventionen der Vorkriegszeit (Klassizismus) und andererseits auf folkloristische Formen. Letzteres beinhaltet die Gefahr, den Bruch zwischen Individuum (Komponist) und Gesellschaft (Volk, Nation) anbiedernd und scheinhaft zu kitten und dabei einen völkischen Totalitarismus heraufzubeschwören, aber manchmal, wie z. B. bei Bartók, wird er direkt als Bruch spürbar und kann dadurch eben doch ein kritisches Potential bewahren.
Jazz wird hier als Folklore in ihrer „niedrigsten und unmythologischsten Form“ (GS 18, S. 727) bezeichnet, in der allein sie „ernstlich in die Dialektik der großen europäischen Musik eindringen“ (ebd.) kann, allerdings auch er zum Preis des Sich-selbst-Entrückens.
Die Reproduktion der Musik hat gegenüber der Produktion im Zuge der Emanzipation der Komponistenpersönlichkeit zunehmend an Bedeutung verloren, ein Prozeß, den die Neue Musik vollendet zum Ausdruck gebracht hat, als sie der Improvisation nach dem gesellschaftlichen auch noch den harmonischen Boden, die Tonalität, entzogen hat. Damit wurde die Komposition aber nicht nur von der Interpretation, sondern auch vom Publikum abgenabelt, das sich in den Freiheiten des Interpreten gegenüber dem Werk vertreten sieht. Auch im Sinne des daraus entstehenden Widerstands läßt sich der Rückgriff der Musik auf folkloristische Formen verstehen; die „objektivistische“ Musik fordert den Freiraum des Interpreten zurück.
An diese Emanzipation der Reproduktion schließt sich nach Adorno nach unten hin die „leichte“ Musik, und mit ihr eben der Jazz, an. Sie beschwört, wie die folkloristische ernste Musik, eine Volkstümlichkeit, die nicht unbedingt mehr vom Volk ausgeht und deshalb ideologisch verfremdend wirken kann, und dies meist ohne die Möglichkeit der kritischen Distanzierung, die durch das (der leichten Musik entsprechende) affektive Hören verunmöglicht wird.
4. Jam: „Wirklichkeit“ des Jazz
Der Jazz spielt in der vorangegangenen Betrachtung kaum eine Rolle. Wenn, dann steht die Darstellung im Rahmen einer auf Europa bezogenen und stilistisch umfassenden Musiksoziologie und ist geprägt von einigen Annahmen, die bezogen auf die Musik des farbigen amerikanischen Südens schlicht falsch scheinen. Doch entspricht das von Adorno hier vertretende Verständnis des Jazz ziemlich genau dem vorherrschenden Jazzleben im Deutschland der Zwanziger Jahre. Der Widerspruch zwischen europäischem und amerikanischem, ferner zwischen „schwarzem“ und „weißem“ Jazz, soll uns im Folgenden beschäftigen.
[...]
1 Auf die genauen Argumente des außerwissenschaftlichen Diskurses einzugehen, ist müßig. Wo nötig, wird an späterer Stelle auf Aspekte davon eingegangen.
2 Inwieweit diese zugegebenermaßen vorwissenschaftliche These wahr ist, sollte diskursanalytisch geprüft werden. Immerhin ist vorstellbar, daß die vehemente Ablehnung des Jazz bei (deutschen) Jazzmusikern zu einem Rechtfertigungsdruck geführt haben mag, der wiederum das Selbstverständnis des Jazz... (aber nicht hier.)
3 Schönberg verstand die Zwölftonmethode nach eigenen Angaben als Methode, um bestimmte musikalische Ideen auszudrücken, und nicht als Grundlage eines musikalischen Standpunkts.
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