Man wird keine Kultur finden, die dem Ekstatischen gänzlich abgeschworen hat; gerade äußerst rational orientierte Gesellschaften, zu denen ich auch die unsere rechnen möchte, bringen Abarten hervor, die durch die verzweifelte Suche ihrer Mitglieder nach Ausbrechen aus dem vernunftbestimmten System entstehen: Drogenmissbrauch, krampfhafte Suche nach Grenzerfahrungen (z.B.Extremsportarten), selbstverletzendes Verhalten etc.
Wir verstehen also die Ekstase als „'Urbedürfnis' des Menschen: die Grenzen seiner Welt zu überspringen – wenigstens 'innerlich' –, die Grenzen seines Selbst erweitern oder vergessen – wenn auch nur einen Augenblick.“
Zugleich finden wie aber auch immer Formen der Instrumentalisierung der Ekstase, die über den Selbstzweck des Berauscht- und Enthemmtseins hinausgehen. Vor allem im Bereich des Orakelwesens spielt der ekstatische Zustand – ob künstlich herbeigeführt oder durch Autostimulation – eine konstituierende Rolle, denn er gilt als naher Zugang zu den Göttern.
Heute verstehen wir ihn eher als direkten Kontakt zum Unterbewusstsein, was durchaus gewisse Energien freisetzen kann, wie es z.B. in der Hypnose erreicht werden soll. Wie wir sehen werden dient auch Phaedras Ekstase bei Seneca einem gewissen Zweck: Durch das Heraustreten aus sich selbst überwindet Phaedra konventionelle Zwänge – sowohl innerlich als auch äußerlich –, die sie am Versuch der Verwirklichung ihrer Liebe hindern könnten.
I. Kulturgeschichtliche Bedeutung der Ekstase
„Der Mensch ist existentiell auf konventionelle Ordnung angewiesen. Wer seine Wahrnehmungen nicht ordnen kann, gewinnt kein Bewusstsein.“[1]
Wesentlicher Grundbestandteil der conditio humana ist also zunächst die Ordnung, sei sie nun eine gesellschaftliche, wie in Form eines Staates oder Stammes, oder eine persönliche, angefangen mit dem neurobiologischen Problem des Bewusstseins (das nach manchen Erkenntnissen durch die Synchronisation von Gammabandstrahlen, auf jeden Fall aber durch eine Über-Ordnung im Gehirn entsteht), bis hin zu persönlichen Prägungen, wie entschiedene Vorlieben, Erinnerungen, „Gewissen“ etc., die gemeinsam ein Individuum Mensch entstehen lassen, das gleichsam ein Ganzes ist und dessen Zerfallen in jeder Gesellschaft als Ausnahmeerscheinung gewertet wird – als multiple Persönlichkeitsstörung oder auch als übersinnliche Befähigung.
Doch in jedem Menschen ist auch ein Grundbedürfnis angelegt, diese verschiedenen Arten konventioneller Ordnung zu durchbrechen, aus sich herauszutreten:
„Gleichzeitig aber ist es die Eigenart des menschlichen Geistes, immer wieder aus der (selbstgeschaffenen) Ordnung auszubrechen. Zwischen diese beiden Pole – die vollkommene Ordnung und die vollkommene Freiheit – ist das Leben des Menschen eingespannt. Immer wieder findet der Mensch Halt in einem Kosmos, wo jedes Ding seinen Platz hat. Nichts scheint ihm, etwas zu sachlich betrachtet, in diesen Zeiten zum großen Glück zu fehlen. Und doch: Das Leben bricht sich immer wieder Bahn. Die Ordnung wird zerstört und muss danach in einem anderen Lebensbereich wieder aufgebaut werden.“[2]
Das Prinzip des ständigen Wandels von Ordnung und Zerstörung, Kosmos und Chaos findet sich schon früh im Denken des Menschen; als ausgereifte Theorie begegnet es uns erstmals bei Heraklit, aber auch weitaus ältere Kulturen[3] erkennen z.B. im Wechsel der Jahreszeiten (im Wechsel des blühenden Lebens und der unfruchtbaren Dürre) eine Bewegung, die maßgeblich für jede Kultur ist – für den Ackerbau wie für eine High-Tech-Zivilisation. „Dieser Prozess macht die Kultur aus. Wo der Mensch nicht auf kulturelle Lösungsmodelle zurückgreifen kann, wird er im Widerspruch zwischen Ordnungsbedürfnis und Freiheitsdrang aufgerieben.“[4] Kultur entsteht also aus der Ordnung des Chaotischen, aus der Regelung des Willkürlichen, der Zähmung des Wilden. Der Kulturschaffende bemüht sich, dieses „Wilde“ in ein geordnetes System zu bringen, es zu instrumentalisieren oder umzuformen. Dass man diesem ursprünglichsten Element die Gelegenheit geben muss, sich ein Ventil zu suchen, wurde ebenfalls früh erkannt und man fand diese Ventile im Fest (z.B. den Dionysien, den Saturnalien), in der Musik, im Theater, im Rausch,... Fehlen solche Ventile allerdings oder reichen sie einem Einzelnen nicht aus, kann seine Persönlichkeit zerbrechen – eine These, die auch Freud in seiner bekannten Über-Ich – Ich – Es – Theorie darlegte[5].
Denn ohne die Ekstase, ohne den Rausch fehlt dem menschlichen Leben ein wesentlicher Bestandteil – auch wer sich dem apollinischen Prinzip ganz und gar verschrieben hat, wird zumindest an drei Stationen des Lebens dem Ekstatischen, Enthemmten begegnen: Im Traum, im Orgasmus und im Tode.
Man wird keine Kultur finden, die dem Ekstatischen gänzlich abgeschworen hat; gerade äußerst rational orientierte Gesellschaften, zu denen ich auch die unsere rechnen möchte, bringen Abarten hervor, die durch die verzweifelte Suche ihrer Mitglieder nach Ausbrechen aus dem vernunftbestimmten System entstehen: Drogenmissbrauch, krampfhafte Suche nach Grenzerfahrungen (z.B.Extremsportarten), selbstverletzendes Verhalten etc.
Wir verstehen also die Ekstase als „'Urbedürfnis' des Menschen: die Grenzen seiner Welt zu überspringen – wenigstens 'innerlich' –, die Grenzen seines Selbst erweitern oder vergessen – wenn auch nur einen Augenblick.“[6]
Zugleich finden wie aber auch immer Formen der Instrumentalisierung der Ekstase, die über den Selbstzweck des Berauscht- und Enthemmtseins hinausgehen. Vor allem im Bereich des Orakelwesens spielt der ekstatische Zustand – ob künstlich herbeigeführt oder durch Autostimulation – eine konstituierende Rolle, denn er gilt als naher Zugang zu den Göttern.[7]
Heute verstehen wir ihn eher als direkten Kontakt zum Unterbewusstsein, was durchaus gewisse Energien freisetzen kann, wie es z.B. in der Hypnose erreicht werden soll. Wie wir sehen werden dient auch Phaedras Ekstase bei Seneca einem gewissen Zweck: Durch das Heraustreten aus sich selbst überwindet Phaedra konventionelle Zwänge – sowohl innerlich als auch äußerlich –, die sie am Versuch der Verwirklichung ihrer Liebe hindern könnten.
II. Interpretation der Zeilen 177-187 von Senecas Phaedra
„...Quae memoras scio
vera esse, nutrix; sed furor cogit sequi
peiora. Vadit animus in praeceps sciens
remeatque frustra sana consilia appetens.
Sic, cum gravatam navita adversa ratem
propellit unda, cedit in vanum labor
et victa prono puppis aufertur vado.
Quid ratio possit? Vicit ac regnat furor,
potensque tota mente dominatur deus.
Hic volucer omni pollet in terra impotens
laesumque flammis torret indomitis Iovem.“[8]
(177-187)
Diese Stelle findet sich ziemlich zu Beginn der Tragödie, nämlich in der zweiten Szene, in welcher Phaedra ihrer Amme ihre Liebe zu Theseus offenbart (sowohl Phaedra als auch die Amme erscheinen zum ersten Mal in dieser Szene). Hier wird also das Fundament für die weitere Entwicklung der Handlung gelegt, da ein tragisches Ende schon jetzt unausweichlich erscheint, so unbeugsam ist Phaedra in ihrer Liebestollheit, so fruchtlos jeder Appell an die Vernunft.
Diese Zeilen erklären Phaedras Liebesraserei und deren Unüberwindbarkeit. Bezeichnend ist vor allem die doppelte Verwendung des Begriffs „furor“, der Phaedras ganzen Gemütszustand charakterisiert. Dem furor wird ein eigenes agens zugeschrieben, „furor cogit“; „vicit ac regnat furor“. Es scheint also als habe eine fremde Macht Besitz von Phaedra ergriffen, der sie wehrlos ausgeliefert ist. Natürlich ist sie es, die vom furor bezwungen, besiegt und beherrscht wird – und damit liefert er ihr bereits ein Erklärungsmodell für ihr atypisches Handeln. Die ratio verbleibt als hoffnungslos unterlegene Gegnerin des furor, deren Hinzuziehen völlig fruchtlos wäre. Damit impliziert Phaedra aber auch, dass sie sich gar nicht wirklich um vernunftbestimmtes Handeln bemüht, da es ihr vergeblich erscheint.
Dazu passt auch ihr Gleichnis vom Schiffer, dessen Barke gegen die Strömung ankämpft. Sein Handeln, seine Bemühungen sind eitel, da man gegen die reißende Flut nichts ausrichten kann. Dieser Vergleich dient Phaedra also wiederum als Rechtfertigung: Wozu kämpfen,wozu diese Sisyphus-Arbeit auf sich nehmen, wenn doch alle Mühe umsonst wäre?
Sie erklärt gleich zu Beginn, dass sie um das richtige Handeln weiß; ihre rationale Seite erinnert sich auch schon vor der Ermahnung durch die Amme an das Übel, das die blinde Liebe ihrer Mutter – nämlich zu einem Stier – brachte[9]. Ihr Verstand ist also vergleichbar mit dem Schiffer, der am Floß zerrt; der furor, von dem sie besessen ist, ist wie die Flut, deren reißende Strömung den Schiffer überwältigt; und das Floß selbst steht dann wohl für die Richtung, die Phaedra in ihrem Handeln einschlagen muss: Sie muss der Strömung folgen.
[...]
[1] Jürg von Ins: Ekstase, Kult und Zeremonialisierung, S.64
[2] Ebd.
[3] Man betrachte nur beispielsweise den Ischtar-Kult im antiken Babylon
[4] Jürg von Ins: Ekstase, Kult und Zeremonialisierung, S.64
[5] Freud war allerdings auch der Auffassung, alles Schaffen von Kultur sei nur „Sublimation“ irgendeines unbefriedigten Triebes. Ich wende mich hier gegen diese These und betrachte Kultur nicht als ein dem triebhaften Menschen immanentes Phänomen, sondern als Gegenbewegung zum reinen Bedürfnis nach Triebbefriedigung in der menschlichen Psyche.
[6] Cancik: Rausch – Ekstase – Mystik, S.8
[7] s. dazu: Rosenberger: Griechische Orakel
[8] aus: L. Annaei Senecae Tragoedias: Phaedra
[9] „Fatale miserae matris agnosco malum.
Peccare noster novit in silvis amor.“
(Z.113f.)
- Quote paper
- Theresa Marx (Author), 2007, Phaedras Ekstase - Interpretation der Tragödie Senecas im Hinblick auf amor-furor, ekstasis, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121479
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