Studie über die Vorstellungen von Leistungsrollenträgern unterschiedlicher Teilsysteme der Gesellschaft über die Beschaffenheit der heutigen Gesellschaft sowie die Bearbeitung der Forschungsfrage:
Gibt es Gemeinsamtkeiten der Gesellschaftvorstellungen und wenn dies zutrifft, wird das Gesellschaftsbild einer Person durch seine Rollenzugehörigkeit zu einem bestimmten Teilsystem der Gesellschaft über seine Berufsrolle, durch seine Zugehörigkeit zu einer speziellen Nation oder durch subjektive Lebenserfahrungen geprägt?
Um dieser Frage nachzugehen, wurden Probanten aus der Bundesrepublik Russland und aus der Bundesrepublik Deutschland interviewt. Dabei wurden Leistungsträger aus folgenden Teilsystemen der Gesellschaft berücksichtigt:
Leistungssportler aus dem Teilsystem Sport,
Lehrer aus dem Teilsystem Bildung,
Kinderärzte und Internisten aus dem Teilsystem Gesundheit,
Ingenieure aus dem Teilsystem Wirtschaft.
Für die Studie sind die Daten des vorangegangenen Forschungspraktikums der FachUniversität Hagen im Fachbereich Soziologie einbezogen worden.
Inhaltsverzeichnis
1.0 Einleitung
1.1 Gesellschaftsbild und Individualisierung
1.2 Vorstellungen über die Veränderungen von Rolle, Status und Beziehungen
1.3 Individualität versus Kollektivismus
1.4 Forschungsfragen und Thesen
2.0 Forschungsprojekt „ Analyse sozialer Netzwerke“ der FernUniversität Hagen
3.0 Differenzierungstheoretische Perspektiven – Rollendifferenzierung, teilsystemische Ausdifferenzierung und Interdependenzen
4.0 Historie und Gegenwart
4.1 Historische Hintergründe für die aktuelle Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland
4.2 Rückblicke in die Geschichte Russland als Basis für die aktuelle Situation
4.3 Aktuelle Situation der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesrepublik Russland
5.0 Kulturvergleichende Studie in der Organisationsforschung als theoretischer Ansatz für die Datenanalyse
6.0 Verknüpfungen soziologischer Gesellschaftsmodelle mit differenzierungstheoretischen Überlegungen in Reflektion zur Netzwerkanalyse teilsystemischer Interdependenzen
6.1 Die Mediengesellschaft
6.2 Die Wissensgesellschaft
6.3 Die Risikogesellschaft
6.4 Die Moderne Welt Giddens
7.0 Die Untersuchung
7.1 Der Fragebogen
7.2 Die Rücklaufquote
7.3 Die Datenerhebung
8.0 Die Netzwerkanalyse
9.0 Analyse der Netzwerkdaten – Gemeinsamkeiten und Unterschiede
9.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Gruppen im nationalen und internationalen Vergleich beim Netzwerk T
9.1.1... Die Dichte – Werte des Netzwerkes T
9.1.2... In – und Outdegree im Netzwerk T
9.1.3... Vergleich der Beziehungen im Zusammenhang mit Symmetrien und Unterschieden des Netzwerkes T
9.2 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Gruppen im nationalen und internationalen Vergleich beim Netzwerk Teilnetz T
9.2.1... Die Dichte – Werte des Netzwerkes T
9.2.2... In – und Outdegree im Netzwerk T
9.2.3... Vergleich der Beziehungen im Zusammenhang mit Symmetrien und Unterschieden des Netzwerkes T
9.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Gruppen im nationalen und internationalen Vergleich beim Netzwerk T
9.3.1... Die Dichte - Werte im Netzwerk T
9.3.2... In – und Outdegree im Netzwerk T
9.3.3... Vergleich der Beziehungen im Zusammenhang mit Symmetrien und Unterschieden des Netzwerkes T
10.0 Zusammenfassung
11.0 Resümee
12.0 Literaturverzeichnis
12. 1 Internetadressen
1.0 Einleitung
1.1 Gesellschaftsbild und Individualisierung
Die Vorstellung, sich als Individuum zu begreifen und doch als zugehörig zu einer Gesellschaft, scheint völlig selbstverständlich zu sein. In Tradition mit Durkheim (Durkheim 1995) und Simmel (Simmel 1995) kann diese Individualisierung als Resultat der gesellschaftlichen Differenzierung angesehen werden. Der Mensch als Individuum, der als selbständig, vernunftbegabt und willensfähig, als einzigartig anzusehen ist und der auch als Mitglied einer Gesellschaft diese Attribute nicht verliert. Im Gegenteil, diese Merkmale kann ein Individuum aus soziologischer Sicht gerade nicht außerhalb einer Gesellschaft entwickeln, sondern nur im Netzwerk der Interdependenzen (Luhmann 1997). Das Geflecht dynamischer und stabiler gesellschaftlicher Beziehungen sowie die Interdependenz zwischen Individuum und Gesellschaft schlagen sich nieder im Gesellschaftsbild, den Vorstellungen, die sich deren Mitglieder von den die Gesellschaft strukturierenden Prinzipien machen (Luhmann 1997).
Spencer (Abel 2001), der sich die Gesellschaft als Organismus und den Einzelnen als Teil der Gesamtheit vorstellte, ging davon aus, dass eine Gesellschaft, die sich im stetigen Wachstum befindet, einer zunehmenden Differenzierung unterworfen wird. Wechselseitige Unterstützung und Abhängigkeit führen im Sinne einer Funktionsdifferenzierung zu einem progressiven Prozess der Arbeitsteilung.
Für Durkheim (Durkheim 1995) war dieser Prozess der Arbeitsteilung gleichzusetzen mit einer Zunahme der Individualisierung. Das Bild einer heterogenen, differenzierten Gesellschaft, das bereits Spencer, Simmel und Durkheim malten, führt bei Parsons (Parsons 1986) zu einer Rollentheorie, die davon ausgeht, dass die individuellen Schnittpunkte von Persönlichkeitssystem, sozialem System und kulturellen System die jeweilige Rolle darstellen. Im Sinne Parsons wird Rolle auch als soziale Erwartung an das Handeln des Rollenträgers gesehen. Seine Rolle wird von Normen reguliert und kennzeichnet sich durch die jeweiligen Wertmuster, die die Rolle charakterisiert.
Neben der gesellschaftlichen Differenzierung auf der Ebene der Rolle sehen Weber (Weber 1972), Parsons (Parsons 2000) und Luhmann (Luhmann 1997) die Gesellschaft in Teilsysteme unterteilt: „Ein Ensemble selbstreferentiell geschlossener und strukturell gekoppelter Teilsysteme“ (Schimank und Volkmann (1999): Gesellschaftliche Differenzierung, S. 15).
In seiner Rollenzugehörigkeit gehört das Individuum zum einen zu einer bestimmten Berufsgruppe und über diese Berufsgruppe zu einem Teilsystem der Gesellschaft. Gleichzeitig ist es als Mitglied der Gesellschaft per se geprägt von kulturellen Wertmustern im Sinne des sozialen Erbes (Schimank 2000). Die Institutionalisierung von Werten, Normen, Sitten, Gebräuchen, Glaubensvorstellungen, Wissen und Fertigkeiten, die als immaterielle und implizite Kulturelemente anzusehen sind und zudem die Übernahme und Verinnerlichung der politischen Kulturelemente wieder spiegeln, sollte hypothetisch im Vergleich von deutschen und russischen Individuen zu signifikanten Unterschieden im jeweiligen Gesellschaftsbild geführt haben.
Es stellt sich die Frage, wie eklatant die Differenzen der Vorstellungen von Mitgliedern zweier Gesellschaften sind, aber auch, ob es Ähnlichkeiten der jeweiligen Gesellschaftsbilder gibt.
Gleichzeitig steht im Blickpunkt des Interesses die Frage nach der Einflussnahme der Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Teilsystem über die jeweilige Berufsrolle.
Mit Hilfe einer netzwerkanalytischen empirischen Studie, bei der Berufsrollenträger vergleichbarer Berufsrollen in der Bundesrepublik Deutschland und in der Bundesrepublik Russland zu ihren Vorstellungen über die Interdependenzen der gesellschaftlichen Teilsysteme befragt wurden, sollen anhand einer Analyse der Daten bezogen auf den Out- und Indegree die Unterschiede und Ähnlichkeiten der Vorstellungen der jeweiligen Rollenträger der gesellschaftlichen Teilsysteme (einzeln für jedes Teilsystem und für jede Nation ausgewertet) sowie der Mitglieder der jeweiligen Gesellschaften (das Konglomerat aller Daten von Rollenträgern aller zur Studie befragten Teilsysteme einer Nation, jeweils getrennt für jede Nation) herausgearbeitet werden (Kaiser-Schimank, Lökenhoff und Schimank 2002).
1.2 Vorstellungen über die Veränderungen von Rolle, Status und Beziehungen
Vorstellungen von der Gesellschaft und ihrem Beziehungsnetzwerk gehören nicht zu den subjektiven Wahrnehmungen jedes Einzelnen oder wie Durkheim es betrachtete, zum privaten Teil der Persönlichkeit. Durkheim (Durkheim 1995) sah den Menschen als „homo duplex“ an und ging davon aus, dass sich im Prozess der Sozialisation der soziale Teil des Individuums, die Verinnerlichung der sozialen Normen, Werte und Vorstellungen, entwickeln muss. Die Gesellschaft zeigt im Prozess der Sozialisation ihre Wirkkraft auf die Entwicklung des Individuums, so dass soziale Tatsachen akzeptiert und internalisiert werden. Setzen wir also nach Durkheim ein kollektives Bewusstsein bei allen Individuen voraus, müssten wir davon ausgehen, dass sich die Vorstellungen der jeweiligen Nationen sehr homogen darstellen, aber im internationalen Vergleich deutlich voneinander abweichen sollten.
Diese Unterschiede müssten noch signifikanter sein, wenn man Freuds (Treibel 2000) Sozialisationstheorie hinzuzieht und davon ausgeht, dass bei der Entwicklung des Über-Ichs durch die Verinnerlichung der väterlichen gesellschaftlichen Werte und Normen bei den russischen Probanden klassische marxistisch-sozialistische Weltanschauungen internalisiert wurden, dagegen bei den Probanden aus der Bundesrepublik Deutschland mehr oder weniger ausgeprägte kapitalistische Grundannahmen.
Parsons (Parsons 2000) integriert die Theorien von Durkheim und Freud, verknüpft sie mit Annahmen aus der Lernpsychologie bzw. dem Sozialbehaviorismus sowie der kulturanthropologischen Forschung (Jäger 2000). Demnach sieht Parsons Sozialisation als lebenslangen interaktiven Prozess des Lernens, Entwickelns, Stabilisierens, Modifizierens und Adaptierens an. Hiernach müssten sich in den Gesellschaftsbildern die aktuellen Veränderungen der gesellschaftlichen Werte und Normen bereits niederschlagen. Zum einen könnte dies durch die globale Annäherung beider Nationen in ihren gesellschaftlichen Systemen durchaus zu einem vermehrten Aufzeigen von Ähnlichkeiten in den Vorstellungsbildern der Probanden führen. Zum anderen könnte dies bedeuten, dass durch den langsamen aber progressiven Werteabbau in der Bundesrepublik Deutschland sowie durch die extreme Umbruchsituation mit dem Resultat eines rapiden Werteverfalls bzw. der progressiven Wertewandlung in Russland aktuell auf beiden Seiten kein stabiles Ordnungsmuster internalisiert sein kann. Gleichzeitig könnte es bedeuten, dass das bisherige seine Reliabilität verloren hat, noch nicht modifiziert oder ersetzt wurde und sich die Vorstellungen von Beziehungsnetzwerken insofern auf beiden Seiten national gesehen sehr inhomogen darstellen müssten.
Insofern könnten die Gesellschaftsbilder beider Nationen mehr von den noch stabil internalisierten Berufsrollen geprägt sein, falls die verinnerlichten gesellschaftlichen Werte und Normen aufgrund einer längeren Berufszugehörigkeit stabil wirksam sein können.
Gorbatschow (Gorbatschow 1987) hat ausgeführt, dass zu den spezifischen Merkmalen des Sozialismus ein hohes Maß an sozialer Sicherheit, praktisch keine Erwerbslosigkeit, eine übergreifende Lohnangleichung sowie kostenlose Ausbildung und medizinische Versorgung gehörten. Er sprach davon, dass die Menschen in der UDSSR vor allem vor den „Wechselfällen des Lebens“ (Gorbatschow (1987): Die Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution, S. 78) geschützt seien. In der kapitalistischen Bundesrepublik Deutschland stehen die Menschen zwar dank einer umfangreichen sozialen Gesetzgebung nicht ungeschützt da, aber die Erwerbslosigkeit nimmt auch unter der sozialdemokratischen Regierung unter Schröder stetig zu. Das Lohngefälle ist sowohl sichtbar als Süd-Nord-, als auch als West-Ost-Gefälle, ebenso wie im Lohnniveau der verschiedenen Berufsgruppen eine deutliche Diskrepanz ausgemacht werden kann. Weder im Gesundheits- noch im Bildungssystem gibt es eine kostenlose Versorgung, stattdessen nehmen die Kosten prozentual zu (Harenberg 2003).
Wirken die alten sozialistischen Vorstellungen und Gesellschaftsbilder weiter, müssten die russischen Probanden der Studie weiterhin das Bild einer zentralen Stellung der Politik wiedergeben.
Sollte dagegen der sowjetische Philosoph Schkoda (Golovin und Shapkova 1997) Recht haben, der von einer Polarisierung der Einstellungen sprach und typologisches Denken individualistischem gegen über stellt, dem Prinzip der Einheitlichkeit den Polymorphismus, eindimensionale Einstellungen zweidimensionalen sowie Monozentrismus dem Polyzentrismus, müssten die Datenanalysen der russischen Probanden ein inhomogenes Gesellschaftsbild zeigen und diese Inhomogenität müsste sich umso mehr abzeichnen, je stärker sich der Prozess des Umbruches in Russland auswirkt.
Aus Gorbatschows (Gorbatschow 1989) Position definiert sich Perestroika durch die Entwicklung der Demokratie, die wachsende Initiative des Volkes, mehr Offenheit und Kritik, aber auch demokratischen Zentralismus bei der Führung der Volkswirtschaft in allen gesellschaftlichen Bereichen, also auch einer Stärkung der politischen Vormachtstellung, auch wenn er im Sinne von Glasnost (Offenheit) von einer echten Kontrolle des Volkes ausging. Die Folgen von Perestroika und Glasnost waren langfristig ein Sturz der UDSSR und damit der kommunistischen Weltanschauung. Sekundär resultierte durch Inflation und wirtschaftlichem Umbruch daraus die Tatsache, dass viele Bürger Russlands den erlernten Beruf aufgeben müssen, um einem einträglicheren Gewerbe nachzugehen oder sich einen zweiten, sogar dritten Nebenerwerb suchen müssen, um ihren Lebensunterhalt verdienen zu können (Höhmann und Schröder 2001).
Diese Situation könnte dazu geführt haben, dass sowohl die national geprägten Gesellschaftsbilder als auch die Vorstellungen vom Netzwerk der gesellschaftlichen Beziehungen, die vom Wertemuster, dass durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsrolle internalisiert wurde, abzuleiten sind, aktuell nicht zu homogenen Gesellschaftsbildern führen, weder national gesehen noch bei den Berufsgruppen, die bestimmten Teilsystemen der Gesellschaft zugeordnet werden können (Kempe 1997).
Die Umbruchsituation ist, wenn auch in geringerem Ausmaß, ebenfalls in der Bundesrepublik Deutschland sichtbar. Eine unübersichtliche Reformpolitik, die über einen längeren Zeitpunkt von beiden kontrahierenden politischen Parteien verfolgt wurde, hat in der Sekundärfolge zu wirtschaftlicher Instabilität und sozialer Unsicherheit geführt. Die Stabilität und Sicherheit früherer Regierungsperioden, die die ersten Jahrzehnte der deutschen Demokratie gekennzeichnet hat, scheint verloren gegangen zu sein. Gerade am Beispiel des Gesundheitssystems wird deutlich, wie kurzlebig und wenig verlässlich eine Gesundheitsreform im Alltag ist und wirkt (Stern 2006).
Dies könnte auch bei den Probanden aus der Bundesrepublik Deutschland dazu geführt haben, dass das gesellschaftliche Bild, dass sie bei der Ausfüllung der Fragebögen zeichnen, national gesehen sehr inhomogen ist und sich erst bei den analytischen Auswertungen der einzelnen Berufsgruppen homogenisiert, sofern die Auswirkungen der aktuell instabileren Gesamtsituation die langfristig stabilere Internalisierung der Berufsrollenwertvorstellungen nicht stärker beeinflussen als angenommen.
Robert W. Hodge (Gaede 2006) hat in den USA eine Umfrage durchgeführt zur sozialen Bedeutung einzelner Berufe, wonach gerade Ärzte, Lehrer, Ingenieure aufgrund ihrer akademischen Ausbildung vom Status her sehr hoch eingestuft werden. Der Status der jeweiligen Berufsrolle wird häufig auch synonym für seine Stellung innerhalb der Gesellschaft bezogen auf seine Einflussmöglichkeiten gesetzt. Berufe mit hohem Status haben demzufolge ein hohes Potential an Macht, wirtschaftlich u. a. durch ihr Einkommen, politisch aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung. Transferiert auf gesellschaftliche Teilsysteme müssten Berufsrollenträger mit gehobenem Status wie Ärzte oder Lehrer ihrem Teilsystem eine höhere Einflussnahme (Outdegree) auf andere Teilsysteme zuordnen (Staehle 1999).
Linton (Abel 2001) bezeichnete mit Status die Position eines Individuums, die es zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten System einnimmt. Im Gegensatz zum zugeschriebenen Status steht der erworbene im Vordergrund unseres Interesses und damit Statusmerkmale wie Beruf, Besitz, Einkommen und Bildung. Zieht man statistische Quellen (Statistisches Jahrbuch, Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit) früherer Jahre zugrunde, so wird erkennbar, dass gerade die Berufsrolle und das Einkommen sowie die Bildung als Statusmerkmale eng miteinander verknüpft sind und sich prozentual verhalten. Je höher die Bildung und der Status des daraus resultierenden Berufes, desto höher das Einkommen.
Die Probanden aus dieser Studie kommen größtenteils aus der Intelligentia (noch gebräuchlicher Bergriff aus dem zaristischen Russland für die Intelligenzschicht) bzw. sind Akademiker mit Hochschul- bzw. Fachhochschulstudium. Bezogen auf ihre Berufe Arzt, Lehrer, Ingenieur muss jedoch festgestellt werden, dass in Russland das Einkommen in diesen Berufsgruppen überprozentual gesunken ist. Heute ist es selten ausreichend, dem ursprünglichen Beruf nachzugehen. Häufig müssen mehrere berufsfremde Nebentätigkeiten ausgeübt oder eine berufsfremde Haupttätigkeit gewählt werden, um genug für den Lebensunterhalt zu verdienen. Gleichzeitig werden die schulische und berufliche Ausbildung immer relevanter, umfangreicher und teurer. Zwischen den Statusmerkmalen herrscht ein progressives Ungleichgewicht (Eimermacher 1997).
Frau Dr. Dnefrowa (2005), zu ihren Vorstellungen über die Beziehungsnetzwerke der Teilssysteme der Gesellschaft detaillierter interviewt, äußerte sich folgendermaßen: „ Heutzutage reicht es in Russland bei weitem nicht aus, die Schule und das Studium erfolgreich absolviert zu haben. Bildung hatte in Russland auch zu Zeiten der UDSSR einen extremen Stellenwert. Jeder Schüler verehrte seinen Lehrer oft mehr als seinen Vater, er sieht in ihm seinen geistigen Vater. Dagegen muss heute zum Studium in Russland auch ein Studium im Ausland hinzukommen, um Anerkennung zu erlangen. Deshalb arbeite ich nach meiner Promotion ein Jahr in Deutschland an einer international renommierten Klinik. Aber auch die Zusatzqualifikationen bedeuten für mich als Ärztin nicht, dass ich mit meinem zukünftigen Einkommen genug für den Lebensunterhalt verdienen werde.“
Frau Dr. Kleinschmidt (2005), Kinderärztin, vertrat in ihrem Interview folgende Einstellung: „Unsere diversen Gesundheitsreformen stehen doch synonym für die aktuelle Krisensituation in unserer Gesellschaft. Stabilität, Sicherheit, Zukunftsperspektiven verschwinden, dafür erleben wir immer mehr Chaos, Unsicherheit und Reformstau.“
Bezogen auf diese Interviews könnte man den Eindruck bekommen, dass Status und Einflussnahme vieler Berufsbereiche in beiden Ländern eine enorme Wandlung erleben, im Russland nur rapider (Eimermacher 1997).
Doch auch bei Leistungsrollenträgern anderer gesellschaftlicher Teilsysteme zeichnen sich Veränderungen im Status der Rolle ab. Der Leistungssportler, Herr Feldmann (2005), führte aus: „Als Fünfkämpfer genoss ich in der UDSSR ganz besondere Privilegien, angefangen damit, dass mir viele Luxusgüter zustanden über die Möglichkeiten, neben meinem Leistungssport eine besondere berufliche Ausbildung absolvieren zu können, bis hin zu der Tatsache, dass ich ins Ausland reisen durfte (Teilnehmer der Olympiade in Atlanta). Diese Privilegien von früher sind nicht mehr mit den Privilegien zu vergleichen, die Leistungssportler heute erfahren. Die staatlichen Subventionen wurden deutlich herabgesetzt. Nach dem Umbruch hat der Staat auch nicht mehr die Gelder dafür übrig und setzt seine Wertigkeiten anders.“
Herr Dr. Bayer (2005), Tierarzt der olympischen Reiterstaffel der Bundesrepublik Deutschland, betont: „Wer heute im Reitsport etwas werden will, muss zu allererst einmal viel Geld investieren, in seine Ausbildung, die Pferde, die Ausstattung. Ansehen erfährt ein Sportler erst dann, wenn er hohe sportliche Erfolge errungen hat, die auch der Allgemeinheit bekannt werden. Der Status eines Sportlers steht in einem extremen Abhängigkeitsverhältnis zur Art seines Sportes. Reiten erfreut sich durchaus einem gewissen Beliebtheitsgrad, aber steht in keinem Verhältnis mit dem Einkommen und dem Status anderen Sportarten, z.B. dem Fußball oder dem Motorsport. Einfluss nehmen können nur sehr wenige und auch nur in einem begrenzten Umfang. Aber im Gegensatz zu früher, wo der Reitsport doch eine Angelegenheit einer kleinen Minderheit - meist Adelige- war und nicht kommerziell betrieben wurde, hat sich auch hier, wie in vielen Sportarten, sehr viel verändert. Sport ist heute durchaus von politischem und wirtschaftlichem Interesse, aber besonders deutlich werden die Unterschiede in den Medien. Wer hat früher schon Reiten angeschaut? Heute werden so viele Turniere übertragen und bringen den Betreibern viel Geld ein.“
Sollten diese Vorstellungen auch übertragbar sein auf die Probanden der Studie, müsste sich bei den Analysen wieder spiegeln, dass das Teilsystem Sport in der Bundesrepublik Russland aktuell bezogen auf den Outdegree geringer eingestuft wird, in der Bundesrepublik Deutschland vor allem von Seiten der Politik, Wirtschaft, den Medien eine hohe Einflussnahme auf den Sport gesehen wird.
Aber insgesamt gesehen könnte ein Transfer auf das Beziehungsgeflecht der Teilsysteme der Gesellschaft zeigen, dass sich sowohl bei den Berufsrollenträgern bestimmter Teilgebiete der Gesellschaft als auch bei den Leistungsträgern aus dem Teilsystem Sport eine Annäherung der Vorstellungen abzeichnet, sich also auch im Vergleich der beiden Nationen eine Annäherung der gesellschaftlichen Bilder wieder spiegelt.
1.3 Individualität versus Kollektivismus
Folgen wir den Gedanken Webers (Weber 1972) nachhaltiger, so kristallisiert sich ein Grundmerkmal der russischen Mentalität besonders nachhaltig heraus: „die strikte Unterordnung des Einzelnen unter die Interessen der Gemeinschaft“ (Heinz (1997): Max Weber, S. 152).
Der Gegensatz vom deutschen Ursprung des Individualismus zum russischen Kollektivismus ist nach Weber (Weber 1972) nicht allein in der gegensätzlichen religiösen Beeinflussung der protestantischen und der russisch-orthodoxen Kirche zu sehen, sondern erklärt sich auch aus geschichtlichen Erfahrungen und geographischen Unterschieden. Für Weber lassen sich die historisch begründbaren unterschiedlichen Wirtschaftsformen Russlands und Deutschlands, die ihren Gipfel im Kommunismus und Kapitalismus fand, bereits frühzeitig als Grundtendenzen analysieren. Einerseits die Hinwendung zur Hauswirtschaft und damit zur Deckung des eigenen Bedarfes mit einem geschlossenen und zentralisierten Charakter, die unweigerlich zur Planwirtschaft führen musste und ihre Grundlagen in der auf Gemeinschaft („Obschtschina“) sowie Tradition ausgelegten Entwicklung hatten, aber die Ausbildung von Eigeninitiative und Privatbesitz hemmte.
Anderseits der Ausbau der Erwerbstätigkeit und Geldwirtschaft, in der individuelle Initiative, Besitz, Arbeitsmoral, Handel und Sozialer Status durch wirtschaftliche Aktivitäten und Reichtum einen immer höheren Stellenwert erhielten.
Marktwirtschaft und die Grundgedanken des „liberalen Kapitalismus“ beruhen auf der Überzeugung, dass dort, wo ein echter Leistungswettbewerb möglich ist, und der rechtliche Rahmen für ein ökonomisches Funktionieren im Kräftespiel der wirtschaftlichen Konkurrenz sorgt, die Methode der Wirtschaftsteuerung jeder anderen überlegen sei (Steffen 1997).
Auf der Grundlage der von Weber (Weber 1990) so detailliert beschriebenen Hauswirtschaft war in Russland eine Voraussetzung geschaffen, marxistische Theorien in eine verbindliche Ideologie umwandeln zu können. Grundgedanken Marx wie die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die Macht des Proletariats stießen auf fruchtbaren Boden. Nach der Oktoberrevolution bildete sich unter Führung Lenins der Sowjetmarxismus aus. Stalin unternahm ab 1924 die systematische Zusammenfassung, autoritäre Durchsetzung und Weiterentwicklung der Lehren von Marx, Engels und Lenin (Marxismus-Leninismus). Mit dem Zusammenbruch der UDSSR ab Ende der 1980er Jahre verflüchtigte sich der Marxismus-Leninismus (Bundeszentrale für Politische Bildung 1979).
Die aktuelle Hinwendung zur Marktwirtschaft und die wirtschaftliche Situation stehen zum Teil im eklatanten Gegensatz zu sozialistischen Grundgedanken (Callies 1991). Die Ziele des Sozialismus umfassen vor allem die soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Sicherheit. Die erweiterte Definition des Sozialismus bezieht sich auf die Methoden, diese Ideale erreichen zu wollen. In diesem Sinne bedeutet Sozialismus die Abschaffung des Privateigentums und der Privatunternehmen sowie die Schaffung eines Planwirtschaftssystems, in dem an die Stelle des für seinen Gewinn arbeitenden Unternehmers die zentrale Planwirtschaftsbehörde tritt (Ahrens 1993).
Aktuell erfolgt in Russland eine zunehmende Dezentralisierung und Privatisierung. Die soziale Mobilität, sowohl vertikal als auch horizontal, potenziert sich, die Kluft zwischen Armen und Reichen vergrößert sich überprozentual. Die Mittelschicht, traditionell immer gering ausgeprägt, wird aufgrund der zunehmenden sozialen Abstiege ausgedünnt. Die Arbeitslosigkeit nimmt stetig zu, auch im Zuge eines extremen Rückgangs der industriellen Produktion. Gleichzeitig steigt die Kriminalität. Der Staat verarmt zunehmend und mit ihm seine Bevölkerung. Dagegen formt sich eine zahlenmäßig geringe neue Elite, deren Privateigentum unvorstellbare Dimensionen erreicht (Timtschenke 2003 und Kempe 1997).
Die oben beschriebene historische Entwicklung hatte weder die individuellen Voraussetzungen für ein Funktionieren der marktwirtschaftlichen Prinzipien geschaffen, noch kann in absehbarer Zeit davon ausgegangen werden, dass die rechtlichen und strukturellen Voraussetzungen, z.B. Infrastruktur und Kommunikationsstrukturen, geschaffen werden können, um eine Umwandlung der Wirtschaft zu ermöglichen (Kühnhardt und Ludger 1999).
Im Zuge dieser Entwicklung kann festgestellt werden, dass das Interesse an der Politik und den gesellschaftlichen Zusammenhängen stetig abnimmt und einem Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit weicht (Institut für Weltwirtschaft 2000).
Die Gegensätzlichkeit dieser Werte, Ideologien und aktuell gefestigten Wirtschaftssysteme in den miteinander zu vergleichenden Gesellschaften lässt die Hypothese festigen, dass beide Gesellschaftsbilder sich signifikant voneinander unterscheiden müssen, bezogen auf die hinterfragten Bereiche. Vor allem liegt die Vermutung nahe, dass die Daten der russischen Probanden aufzeigen könnten, dass vor allem ein erhöhtes Aufkommen an Beeinflussungen von außen (Indegree) wahrgenommen wird, wogegen die deutschen Probanden mehr Möglichkeiten der Beeinflussung von Seiten vieler Teilsysteme auf andere (Outdegree) wahrnehmen könnten.
1.4 Forschungsfragen und Thesen
Ausgehend vom Forschungsprojekt der FernUniversiät Hagen von Schimank (Kaiser-Schimank, Lökenhoff und Schimank 2002) stehen vor allem zwei Fragen im Vordergrund des Interesses:
Die Frage nach den möglichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Vorstellungen über die Interdependenzen gesellschaftlicher Teilsysteme. Entsprechend der hier durchgeführten Studie stellte sich dabei besonders die Frage, ob sich der Dissens bezüglich des gesellschaftlichen Bildes vergrößert, wenn gesellschaftliche Gruppen von Leistungsträger verschiedener Teilsysteme zweier sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher, vor allem politisch und wirtschaftlich verstanden, Systeme miteinander verglichen werden?
Durch den direkten Vergleich mehrerer gesellschaftlicher Gruppen von Leistungsträgern sowie durch den Vergleich der beiden nationalen Gesamtgruppen wird der Frage nach der Prägungsintensität unterschiedlicher Zugehörigkeiten nachgegangen, der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen sowie der Zugehörigkeit zu vergleichbaren Rollen als Leistungsträger in gesellschaftlichen Teilsystemen. Dabei soll herausgefunden werden, ob universell und vor allem global geteilte Interdependenzvorstellungen isoliert werden können, die unabhängig von politischen und wirtschaftlichen Systemen generalisiert werden können.
Russland wird von unterschiedlichsten Positionen aus als im „Umbruch befindlich“ (Höhmann und Schröder 2001) deklariert, und deshalb stellt sich die erweiternde Frage, inwieweit sich ein Vertrauensbruch in die Funktionsfähigkeit des Netzwerkes der gesellschaftliche Teilsysteme in den empirischen Daten wieder spiegelt und damit einen Stabilitätsverlust des Gesellschaftsbildes bei russischen Rollenträgern reflektiert.
Wenn in Russland das alte politische und wirtschaftliche System in den Vorstellungen der Rollenträger noch stabil internalisiert ist, müsste sich dies darin zeigen, dass von einer hohen Zentralität des politischen Teilsystem ausgegangen wird und die Relationen mit anderen Teilsystemen vor allem über dieses System stattfindet. Die Einflussnahme anderer Teilsysteme dürfte nur indirekt sein, durch sekundäre und tertiäre Verknüpfungen mit dem politischen System. Aufgrund der totalitären Kontrollmechanismen des kommunistischen Systems sollte ein ausgedehntes Netzwerk sichtbar sein, dass zentral vom Teilsystem Politik ausgeht. Wenn also die Internalisierung der Werte und Normen, wie Parsons (Parsons 1994) sie beschreibt, des kommunistischen Systems noch wirksam ist, müsste es sich vor allem in den Unterschieden zu den deutschen Gruppen erkennen lassen, sowohl im Gruppen- als auch im Gesamtvergleich
Wenn sich dagegen die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen der letzten zehn (10) Jahre so prägend ausgewirkt haben, dass eine Veränderung des Gesellschaftsbildes stattgefunden hat, müsste dies darin erkennbar sein, dass die Zentralität des politischen System einer Verteilung der Machtverhältnisse zugunsten von mindestens zwei (Politik und Wirtschaft ) Teilsystemen gewichen ist und die Einflussnahme anderer Teilsysteme ebenfalls extrahiert werden kann.
Für die gesellschaftlichen Gruppen aus Deutschland müssten sich die Ergebnisse weitgehend bestätigen lassen. Unterschiede können sich durch rollenförmige Inklusionen, aber auch Erhebungsfehler oder unbekannte Variablen ergeben.
Wenn die Prägungen der Vorstellungen der Leistungsträger verschiedener Teilsysteme durch ihre Rolle dominant ist, müssten sich im internationalen Vergleich der gesellschaftlichen Gruppen größere Gemeinsamkeiten und geringere Unterschiede zeigen als im direkten Vergleich der Gesamtgruppen von Russen und Deutschen.
2.0 Forschungsprojekt „ Analyse sozialer Netzwerke“ der FernUniversität Hagen
Im Vordergrund des Forschungsprojektes des Institutes für Soziologie unter der Leitung von Schimank (Kaiser-Schimank, Lökenhoff und Schimank 2002) stand die Frage nach den Vorstellungen gesellschaftlicher Akteure über die Interdependenzen der verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme. Dabei sollte mit Hilfe einer Netzwerkanalyse der Frage nachgegangen werden, ob es bestimmte Interdependenzvorstellungen gibt, die bei sehr vielen Gesellschaftsmitgliedern vorhanden sind und von welchen Merkmalen der Gesellschaftsmitglieder eventuelle Unterschiede abhängen könnten.
Ausgangspunkt des Projektes war die Überlegung, dass sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Rollenträger besonders nachhaltig sichtbar machen lassen könnten, wenn man die Vorstellungen verschiedener Rollenträger über die Interdependenzen der gesellschaftlichen Teilsysteme erhebt, dabei typische Rollen (Leistungs- und Publikumsrollen) aus möglichst vielen Teilsystemen einbezieht und die Ergebnisse miteinander vergleicht.
Bei der Hagener Studie wurden Manager, Theoretiker der Soziologie, Führungskräfte, Landwirte, Studenten der Politwissenschaften, Berufssoldaten, Religionssoziologen, spanische und österreichische Wissenschaftler, Berufsmusiker und Studenten der Erziehungswissenschaftler, Designstudenten, Journalisten, Altenpfleger, Pflegekräfte aus Deutschland und der Schweiz, Krankengymnasten und Sportstudenten miteinander verglichen.
Die Fragebögen und Anschreiben für Probanten wurden von der Projektleitung ausgearbeitet und durchgehend unverändert eingesetzt. Auf dem Fragebogen wurden die Vorstellungen der verschiedenen Rollenträger bezogen auf die Interdependenzen der zwölf (12) vorgegebenen gesellschaftlichen Teilsysteme (Schimank 2000) schriftlich abgefragt, teilweise durch persönliche, teilweise durch schriftliche Befragung.
Dabei muss betont werden, dass es sich um eine explorative Studie handelt, die nicht repräsentativ anzusehen ist und sich nur auf ein bestimmtes Merkmal konzentriert, das der sozialstrukturellen Positioniertheit von Gesellschaftsmitgliedern. Durch die Auswahl verschiedenster Rollenträger aus unterschiedlichen Teilsystemen wurde dieses Merkmal möglichst oft variiert.
Jeder Fragebogen produzierte zunächst einmal ein Netzwerk, das als Darstellung von gerichteten Relationen zu verstehen ist. Diese Daten sind als Rohdaten zu sehen. Zur weiteren Untersuchung und Bearbeitung sind alle Rohdaten aufgegliedert für die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen und je Gruppe zu einem Aggregatnetz gebündelt worden. Die Aggregation der Daten war nötig, um die Anzahl der Netzwerke zur besseren Bearbeitung deutlich zu verringern. Außerdem wurde damit eine Nivellierung individueller Idiosynkrasien vorgenommen.
Dieses Aggregatnetzwerk musste danach nochmals bearbeitet werden. Zur Berechnung netzwerkanalytischer Maßnahmen mit Hilfe von Ucinet (Bogatti 1999) ist eine binäre Codierung der Daten notwendig. Bei der vorliegenden Studie wurden drei Netze ermittelt:
- T1: Ermittlung von „geteiltem und nicht – geteiltem Wissen“
- T2: Existentielle Interdependenzen
- T3: Nennenswerte Interdependenzen.
Dadurch ist es möglich, ein Höchstmaß an Informationen aus den gewonnenen Rohdaten zu ziehen, um diese analysieren zu können.
Im Vordergrund des Interesses bei der Analyse standen vor allem die Dichte der Netzwerke als Maßzahl zur Charakterisierung des Gesamtnetzwerkes und dem Grad der Vorstellungshomogenität. Des Weiteren wurde nach den In- und Outdegree gefragt als Maßzahl zur Charakterisierung der Position einzelner Knoten des Netzwerkes. Die Maßzahl der Indegree gibt dabei an, wie viele eingehende Beziehungen ein gesellschaftliches Teilsystem hat, als Maß für die Interventionen anderer Teilsysteme. Outdegree gibt an, wie viele Beziehungen ein gesellschaftliches Teilsystem mit anderen Teilsystemen eingeht, ist also ein Maß dafür, wie viel Macht, Einfluss und Kompetenzanerkennung einem Teilsystem eingestanden wird.
3.0 Differenzierungstheoretische Perspektiven – Rollendifferenzierung, teilsystemische Ausdifferenzierung und Interdependenzen
Im Mittelpunkt der theoretischen Ansätze steht die Grundannahme, dass sich die moderne Gesellschaft darstellt als „Ensemble selbstreferentiell geschlossener und strukturell gekoppelter Teilsysteme, deren Strukturebene Rollen, Organisationen, Programme und Codes bilden“ (Schimank und Volkmann (1999): Gesellschaftliche Differenzierung, S. 15).
Zwei Aspekte der differenzierungstheoretischen Perspektive werden dabei berücksichtigt:
Die Rollendifferenzierung im Sinne einer „fortschreitenden beruflichen Arbeitsteilung infolge der vor allem technisch vorangetriebenen Spezialisierung von Arbeitstätigkeiten“ (Schimank(2000): Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, S. 10). Durkheims Durkheim 1995) These von einer gesellschaftlichen Differenzierung als Arbeitsteilung knüpft direkt an Spencer (Abel 2001) an, der zwei aufeinander folgende Gesellschaftsformen unterscheidet: die militant-hierarchische und die industrielle Gesellschaft. Laut Spencers Definition wäre Russland gerade dabei, die „Dominanz des Staates, der die gesellschaftlichen Ordnung aufrecht erhält“ (Schimank (2000): Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, S. 31) abzustreifen und die Entwicklungsstufe einer „industriellen Gesellschaft“ zu erreichen, die für die Bundesrepublik Deutschland bereits seit mehr als einem Jahrhundert als Gegenwart anzusehen ist. Entsprechend konträr müsste sich die Rollendifferenzierung beider Staaten ausgebildet haben, ebenso die daraus resultierenden Gesellschaftsbilder, denn laut Durkheim müsste die fortschreitende Rollendifferenzierung eine Potenzierung von Normen, Interessen und Vorstellungen hervorbringen, die sich bei einem differenten Grad der Rollendifferenzierung zweier Staaten zeigen sollten. Durkheim und später Simmel (Dahne und Rammstedt 1995) haben ausgeführt, dass die Dynamik der Arbeitsteilung und Rollendifferenzierung zwangsläufig zu einer Individualisierung der einzelnen Gesellschaftsmitglieder geführt hat. Sich auf die These Spencers von dem geringeren Differenzierungsgrad militant-hierarchischer Gesellschaften berufend und das Postulat des Kollektivismus der früheren UdSSR fixierend, müsste dies zwangsläufig beim aktuellen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung für Russland einen geringeren Individualisierungsgrad der einzelnen Gesellschaftsmitglieder bedeuten, woraus geschlossen werden könnte, dass das angenommene Gesellschaftsbild in Russland – unabhängig von der Berufsrolle – homogener sein müsste als in der Bundesrepublik Deutschland.
Die teilsystemische Ausdifferenzierung im Sinne von Weber (Weber1972), Parsons (Parsons 2000) und Luhmann (Luhmann 1997). Weber hat sich im Gegensatz zu Durkheim und Simmel mit der Differenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche, von ihm als „Wertsphären“ bezeichnet, auf der Makro – Ebene befasst. Diese Teilbereiche sah er als separat an, sich relativ autonom gegenüber stehend, aber durchaus in Beziehung. Für ihn bestand die moderne Gesellschaft aus „Wertsphären“, die für sich, aber nebeneinander stehen und wirken. Das ursprüngliche Verbindungsglied, auch als „überwölbendes sinnhaftes Dach“(Schimank (2000): Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, S. 61) bezeichnet, war für Weber früher die Religion, die jetzt aber selbst zu einer „Wertsphäre“ geworden ist und damit von der überdachenden Position zur gleichwertigen gewandert ist.
Parsons (Parsons 1986 und 2000) setzt sich u. a. mit den Theorien von Durkheim und Weber auseinander. In seinen handlungstheoretischen Thesen befasste er sich nicht nur mit der Norm- und Wertorientierung des Handelns sowie den „pattern variables“, mittels derer sich Rollenbeziehungen spezifizieren lassen. Er definiert auch Leistungsrollen, z.B. die des Arztes, als typisch für die moderne Gesellschaft. Sein weiteres Interesse galt seinem Struktur-Funktions-Modell. Ausgehend vom AGIL-Schema in Übertragung auf die Gesellschaft differenzierte er die Gesellschaft auf der Makro-Ebene in vier gesellschaftliche Subsysteme:
„Adaptation“ setzt er mit dem Wirtschaftssystem gleich, „god attainment“ mit dem politischen System. „Integration“ sieht er umgesetzt in der Gesellschaftlichen Gemeinschaft (beinhaltet z.B. die Kontrolle der Rechtsordnung und die soziale Kontrolle), „latent pattern maintenance“ sieht er im Treuhandsystem (Schule, Familie). Für Parsons ist die gesellschaftliche Differenzierung, ähnlich wie Durkheim es bereits formuliert hat, ein Vorgang der Dekomposition, also der Zerteilung einer vormals kompakten Einheit in viele Subsysteme.
Luhmann (Luhmann 1997) versteht die gesellschaftliche Differenzierung in Teilsysteme dagegen im Sinne einer Emergenz als Ausdifferenzierung. Anders als Parsons funktionale Differenzierung geht er von einer generellen Ausdifferenzierung in gesellschaftliche Teilsysteme als selbstreferentiell geschlossen aus, die durch „kommunikativ unüberschreitbare Grenzen geschieden“ sind (Schimank und Volkmann (1999): Gesellschaftliche Differenzierung, S. 15). Jedes dieser Teilssysteme zeichnet sich dadurch aus, das es über einen eigenen binären Code kommuniziert und über Programme verfügt, die als Regeln zu sehen sind, den binären Code übersetzten, verstehen und anwenden zu können. Die selbstreferentielle Geschlossenheit der Teilsysteme wird ergänzt durch eine Öffnung gegen über anderen Teilsystemen (Umweltoffenheit), die ermöglicht, dass auf fremdreferentielle Einflüsse reagiert werden kann.
Schimank (Schimank 2000) hat sich bei der Analyse sozialer Netzwerke weitgehend an Luhmanns systemtheoretischer Herangehensweise orientiert, als er sich mit den Vorstellungen unterschiedlicher Rollenträger über die Interdependenzen gesellschaftlicher Teilsysteme auseinander gesetzt hat. „Jeder dieser Teilsysteme ist relativ autonom, aber keineswegs autark. Die Autonomie ergibt sich aus der je eigenen spezialisierten Handlungslogik… Gerade diese Spezialisierung jedes Teilsystems auf eine bestimmte Handlungslogik macht es freilich vielfältig abhängig von anderen Teilsystemen“ (Schimank, Kaiser-Schimank und Lökenhoff (2002): Analyse sozialer Netzwerke, S. 2).
Bei der Fragestellung, welche Vorstellungen auf Seiten der Akteure der unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsysteme über die Interdependenzen dieser Teilsysteme vorliegen, wurde darauf verzichtet, die Art der Interdependenzen zu differenzieren in Leistungen oder negative Externalitäten und diese zudem noch mal zu operationalisieren.
Bei der vorliegenden Studie wurde zudem darauf geachtet, nur Leistungsrollenträger von verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen zu befragen und keine Publikumsrollen zu berücksichtigen, um auf der Rollenebene eine eindeutigere Ausdifferenzierung der Teilsysteme zu ermöglichen.
4.0 Historie und Gegenwart
4.1 Historische Hintergründe für die aktuelle Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland
„Wer sich in die Geschichte der deutschen Nation vertieft, der hat leicht den Eindruck eines
unruhiges Lebens in Extremen“ (Golo Mann (2004): Deutsche Geschichte des 19. und 20.Jahrhunderts, S. 21). „Die Deutschen gelten als das philosophische, spekulative Volk, dann wieder als das am stärksten praktische, materialistische, als das geduldigste, friedlichste, und wieder als das herrschsüchtigste, brutalste“ (Golo Mann(2004): Deutsche Geschichte des 19.und 20. Jahrhunderts, S. 22).
Heute – aktuell – oft als das „langweiligste, berechenbarste Volk“ (Tagesthemen 8. Juli 2006). So vielfältig, wie das Volk an sich dargestellt wird, so vielschichtig ist seine Geschichte als Nation oder besser als föderaler Bund.
Geschichtlich gesehen ist Deutschland nicht als ein großes Reich anzusehen, sondern ein Zusammenschluss von kleinen oder größeren Königreichen, Fürstenstaaten, Herzogtümern, mehrfach zu einem Reich zusammengefügt, z.B. als Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, aber auch mehrfach durch Reichsauflösungen bedroht, z.B. 1806 durch Napoleon, und nach dem ersten Weltkrieg zu einem Nationalstaates („Tausendjähriges Reich“) ausgerufen (Winkler 2002).
Bereits dass Heilige Römische Reich Deutscher Nation war eine Einmaligkeit in der Geschichte. Auf der einen Seite ein Kaiserreich über fast 1000 Jahre (962 – 1806), auf der anderen Seite ein Zusammenschluss von hunderten Staaten oder staatenähnlichen Gebilden.
Die deutsche Kleinstaaterei, das ausgeprägte Obrigkeitsdenken und der wiederholte „Zerfall“ eines deutschen Reiches sind mit verantwortlich dafür, dass das deutsche Nationalgefühl sich in keiner Weise mit der Liebe eines Russen zu seinem Vaterland vergleichen lässt (Mann 2004). Nationalistisches Gedankengut wurde eher von den Begründern der deutschen Kultur – Nation gestützt und spiegelten gleichzeitig die Orientierung an die Werte und gesellschaftlichen Grundlagen der Antike wieder. Deutsche Werte und Normen, wie sie auch häufig noch heute dargestellt werden, orientieren sich also nicht nur am Protestantismus sondern auch an den Wertmodellen der Antike. Kulturell hervorgetan haben sich gerade in Bezug auf das Nationalgefühl u. a. Lessing, Goethe, Schiller, v. Arnim, v. Eichendorff, Hölderlin und Kleist.
Das deutsche Nationalgefühl zeigt sich aber nicht nur in der Kultur, sondern auch in Bildung (Pestalozzi) und Wissenschaft (Humboldt) und wirkte sich sogar auf den Sport aus (nationale Turnbewegung von Jahn) (Mann 2004).
Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die Basis für den heutigen Rechtsstaat, Sozialstaat und für politische Grundmodelle gelegt, z.B. durch demokratische Reformen von Freiherr v. Stein (Sozialreformen, Verwaltungsreformen, Fachministerien, Heeres- und Bildungsreformen). Gerade durch die Reformmodelle des 19., aber auch des 20. Jahrhunderts (Bismarck) haben sich nicht nur die Entwicklung der deutschen Gesellschaft entscheidend prägen lassen, auch andere Nationen wurden dadurch beeinflusst. So wurden die Grundprinzipien der deutschen Jurisprudenz auch für Russland nach der entscheidenden Wende in den 90ern, aber auch für das Moderne China oder Ägypten zum Vorbild.
Die deutsche Geschichte ist geprägt durch tief greifende Veränderungen, Wechsel der Staatsformen, radikale Gegensätze und viele kleine und große Kriege.
1871 erfolgte die Gründung des Zweiten Deutschen Kaiserreiches unter Wilhelm I. In dieser Zeit wurden unter Führung des Reichskanzlers Bismarck nicht nur außenpolitische Intrigen und viele Regierungsirrtümer aus- und durchgeführt, sondern auch viele politische, soziale, wirtschaftliche und juristische Grundfesten der heutigen Demokratie aus- bzw. aufgebaut, wenn auch z. T. mit anderen Intentionen. Auf diesen Reformen ruht heute noch der deutsche Bundesstaat, z.B. in Bezug auf die Sozialgesetze, die Trennung von Kirche und Staat, die Verfassung des Strafgesetzbuches (StGB) und des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), die Gründung der Reichsbank, die Einführung einer Reichswährung und die Gewerbefreiheit.
Eng verbunden ist diese Epoche wirtschaftlich mit der Blüte des Hochkapitalismus. Dank enormer Veränderung im Verkehrs- und Nachrichtenwesen, technischer und wissenschaftlicher Errungenschaften, Monopolkapitalismus (Großunternehmen, Aktiengesellschaften) und Finanzkapitalismus (Großbanken) kommt es zu einer immer engeren Verflechtung von Staat und Wirtschaft (Verstaatlichung von Verkehrs- und Versorgungsunternehmen, Kontrolle des Finanzwesens (Notenbank)) und entsprechenden Gegenbewegungen (Arbeiterbewegung, Gewerkschaften, sozialistischen Parteien) (Winkler 2002).
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- Quote paper
- Antje-Catrin Loose (Author), 2007, Vorstellungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen über die Interpendenzen gesellschaftlicher Teilsysteme, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121360
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