Fast alle westlichen Industrienationen stehen der gleichen Problematik gegenüber: während die Lebenserwartung steigt, sinkt das durchschnittliche Renteneintrittsalter. Diese gegenläufige Entwicklung von Arbeitszeit und Lebensdauer begann bereits vor über 30 Jahren und setzt sich bis heute fort. Vor dem Hintergrund, dass sich die Wege aus dem Erwerbsleben während der letzten Jahrzehnte massiv verändert haben, sollen in dieser Hausarbeit drei Theorieansätze verglichen werden, die erklären, wie es zu einem immer früheren Ausstieg aus der Erwerbsarbeit kommt. Anne-Marie Guillemard (1990) geht in ihrem Ansatz von einer Auflösung des Standardlebenslaufes aus. Dabei beschreibt sie nicht nur, wie sich die nachberufliche Phase verändert hat, sondern dass vielmehr der gesamte Lebenslauf neu organisiert werden muss. Der zweite Deutungsansatz, der sich in dieser Arbeit vor allem auf Jonathan Gruber und David Wise stützt, argumentiert ökonomisch rationeller. Er besagt, dass die sozialen Sicherungssysteme die Entscheidung über den Austritt aus dem Arbeitsmarkt beeinflussen, indem sie selber verstärkt Anreize setzen. Der dritte Theorieansatz sieht demgegenüber die Globalisierung und den daraus resultierenden strukturellen Wandel als Ursache der Frühverrentung an. Vor allem ältere Arbeiter sind den höheren Anforderungen nicht gewachsen und unterliegen dadurch einem steigenden Druck zum Erwerbsausstieg. Die Beschreibung dieses Deutungsansatzes bezieht sich auf eine Arbeit von Sandra Buchholz und Dirk Hofäcker (Buchholz/Hofäcker 2004) die im Rahmen des GLOBALIFE- Projektes an der Universität Bamberg entstand.
Inhalt
1 DARSTELLUNG DER AKTUELLEN SITUATION
2 EINFÜHRUNG IN DIE THEORIEN
2.1 Klassischer Lebenslaufansatz
2.2 Ökonomischer Erklärungsansatz
2.3 Neuerer soziologischer Ansatz
3 VERGLEICH DER THEORIEN
3.1 Ursache des Wandels
3.2 Einflussfaktoren
3.3 Erklärungskraft
4 FAZIT
LITERATURVERZEICHNIS
1 Darstellung der aktuellen Situation
Fast alle westlichen Industrienationen stehen der gleichen Problematik gegenüber: während die Lebenserwartung steigt, sinkt das durchschnittliche Renteneintrittsalter. Diese gegenläufige Entwicklung von Arbeitszeit und Lebensdauer begann bereits vor über 30 Jahren und setzt sich bis heute fort. Der Zeitraum der Erwerbstätigkeit verringert sich einerseits durch einen frühen Ausstieg aus dem Arbeitsleben, andererseits durch eine längere Schulbildung. Im Gegensatz dazu verlängert sich die Zeit des Rentenempfangs durch den frühen Austritt aus dem Arbeitsmarkt auf der einen und der höheren Lebenserwartung auf der anderen Seite (vgl. Kohli und Rein, 1991: S. 1). Der Rückgang der Arbeitsmarktbeteiligung der 60-64jährigen ist in allen Ländern beträchtlich, in einigen jedoch mehr als in anderen. 1960 betrug die Arbeitsbeteiligung z.B. in Deutschland, Frankreich und Belgien über 70%, in Spanien, Niederlande, Schweden und USA sogar über 80%. Bis Mitte der 90er fiel die Beteiligung in Belgien, Frankreich und den Niederlagen bis unter die 20%-Marke, in Deutschland auf ca. 35% und in Spanien auf 40%. Japan, Schweden und die USA haben demgegenüber mit über 50% eine noch vergleichsweise höhere Erwerbstätigkeit älterer Arbeiter (vgl. Gruber and Wise, 1997: S. 3). Durch die dramatische Alterung der Bevölkerung und den gleichzeitigen Trend zur Frühverrentung1 türmen sich in den sozialen Sicherungssystemen beträchtliche Finanzierungsprobleme. Auf immer weniger Beitragszahler kommen immer mehr Rentenempfänger. Für die kommenden Jahrzehnte bedeuten der medizintechnische Fortschritt und die demografische Entwicklung weitere finanzielle Risiken, denen nur mit Hilfe durchgreifender und rechtzeitiger Reformen, vor allem der gesetzlichen Krankenund Rentenversicherungen, wirksam begegnet werden kann.
Vor dem Hintergrund, dass sich die Wege aus dem Erwerbsleben während der letzten Jahrzehnte massiv verändert haben, sollen in dieser Hausarbeit drei Theorieansätze verglichen werden, die erklären, wie es zu einem immer früheren Ausstieg aus der Erwerbs arbeit kommt. Anne-Marie Guillemard (1990) geht in ihrem Ansatz von einer Auflösung des Standardlebenslaufes aus. Dabei beschreibt sie nicht nur, wie sich die nachberufliche Phase verändert hat, sondern dass vielmehr der gesamte Lebenslauf neu organisiert werden muss. Der zweite Deutungsansatz, der sich in dieser Arbeit vor allem auf Jonathan Gruber und David Wise stützt, argumentiert ökonomisch rationeller. Er besagt, dass die sozialen Sicherungssysteme die Entscheidung über den Austritt aus dem Arbeitsmarkt beeinflussen, indem sie selber verstärkt Anreize setzen. Der dritte Theorieansatz sieht demgegenüber die Globalisierung und den daraus resultierenden strukturellen Wandel als Ursache der Frühverrentung an- Vor allem ältere Arbeiter sind den höheren Anforderungen nicht gewachsen und unterliegen dadurch einem steigenden Druck zum Erwerbsausstieg. Die Beschreibung dieses Deutungsansatzes bezieht sich auf eine Arbeit von Sandra Buchholz und Dirk Hofäcker (Buchholz/Hofäcker 2004) die im Rahmen des GLOBALI- FE-Projektes an der Universität Bamberg entstand. Im Folgenden werden die drei Theorien einführend dargestellt und anschließend anhand ausgesuchter Kriterien miteinander verglichen. Dadurch sollen die Vorund Nachteile der jeweiligen Argumentationen herausgearbeitet werden. Obwohl die Theorien auf alle Länder anwendbar sind, kann im Rahmen dieser Hausarbeit nur auf Deutschland als praktisches Beispiel eingegangen werden. Auch die Ausführungen im Fazit werden sich dementsprechend auf die Situation in Deutschland beschränken.
2 Einführung in die Theorien
Zwischen den drei Deutungsansätzen bestehen mehr Unterschiede denn Gemeinsamkeiten. Eine Gemeinsamkeit aber ist, dass sie u.a. den Wohlfahrtsstaat als einen Einflussfaktor auf das Rentenverhalten sehen. Über die Ursache des Wandels zur Frühverrentung besteht allerdings keine übereinstimmende Meinung, wobei im Destandardisierungsund im ökonomischen Ansatz nicht einmal explizit eine Ursache des Wandels genannt wird. Doch darauf wird im drittel Kapitel näher eingegangen, in dem ein Vergleich der Theorien stattfindet. Zunächst werden die Kernthesen der drei Deutungsansätze näher erläutert.
2.1 Klassischer Lebenslaufansatz
Der Ausgangspunkt für Guillemards Theorie ist der standardisierte, dreigeteilte Lebenslauf, wie er von Martin Kohli beschrieben wird und der auf einen Großteil der männlichen Arbeiter zutrifft. Demnach gibt es im Lebenslauf zunächst die Phase der Ausbildung, die durch Schulzeiten, Ausbildungsund Studiendauer bestimmt wird. An diese schließt sich die Phase der Erwerbstätigkeit an, die wiederum durch die Ruhestandsphase abgelöst wird. Der Übergang zwischen den letzten beiden Phasen wird durch das gesetzliche Rentenalter festgelegt (vgl. Kohli und Rein, 1991: S. 21). Diese Gliederung des Lebenslaufes, die typisch ist für industrielle Gesellschaften, steht in enger Verbindung mit den Regelungen öffentlicher und privater Alterssicherungssysteme. Das Rentensystem ist sogar das Hauptinstrument zur Konstruktion und Durchsetzung der Dreiteilung. (vgl. Guillemard, 1991: S. 621 f.). Die dreigeteilte Organisation des Lebenslaufes wurde schließlich zur Institution als das Wohlfahrtssystern expandierte und das Rentenalter per Gesetz festgehalten wurde (vgl. Guillemard, 2001: S.2).
Das Alterssicherungssystern hat weiterhin dazu beigetragen, dass jedem Lebensabschnitt ein spezifischer Sinn zugeschrieben wird. So wird die Bildungsphase im Jugendalter als Vorbereitung auf die Erwerbsarbeit verstanden und der Ruhestand primär als Entlastung von der Arbeit. Die berufliche Ausbildung steht für die Qualifizierung auf einen ganz bestimmten Beruf und somit kommen der Fortund Weiterbildung, der Umschulung und Berufswechsel wenig Bedeutung zu (vgl. Karl Ullrich Mayer, 1995: S. 28 f.).
"Das Alter ist schrittweise zum Ruhestand umdefiniert worden' (Guillemard, 199 1: S. 622), denn vorher begann die Phase nach der Erwerbstätigkeit aufgrund arbeitsbedingter Invalidität, oder wenn die Fähigkeiten nicht mehr ausreichten, um einer Arbeit nach zu gehen. Im industriellen Lebenslaufmodell wird der Übergang vom Erwachsenenleben zum Alter nun nicht mehr durch funktionale Fähigkeiten, sondern durch formale Anforderungen (gesetzliches Rentenalter) bestimmt. Durch die "Chronologisierung" ist der individuelle Lebenslauf "standardisiert" worden, so dass er für alle Individuen und sozialen Gruppen gleichermaßen verbindlich ist (vgl. Guillemard, 2001: S. 3). Für die Menschen bedeutete die Standardisierung des Lebenslaufes Sicherheit und Planbarkeit aufgrund eines stabilen, absehbaren Zeitplans.
Da seit etwa der 70er Jahre ein Auflösen des einheitlichen Rentenverhaltens und der Trend zu immer früheren Austritten aus dem Erwerbsleben beobachtet werden kann, versucht Guillemard herauszuarbeiten, ob und inwieweit die von Kohli geschilderte Verklammerung von Alterssicherungssystemen und sozialer Organisation des Lebenslauf davon betroffen ist.
Sie ist nicht der Ansicht, dass es sich dabei nur um die Beschleunigung des bereits seit längerem bestehenden Trends zur früheren Verrentung handelt, der durch die größere Reichweite des Alterssicherungssystems entstanden ist. Dies würde nämlich bedeuten, dass die Dreiteilung des Lebenslaufes nicht beeinflusst wird, sondern dass nur der Zeitplan der Verrentung sich geändert hat, nicht aber die Bedeutung der einzelnen Phasen (vgl. Guillemard, 1991: S. 622). Guillemard ist vielmehr der Meinung, dass eine Deinstitutionalisierung des dreigeteilten Lebenslaufmodells stattgefunden hat. Das besagt, dass ihrer Meinung nach sich nicht einfach nur die Grenze zwischen Erwerbsphase und Ruhestandsphase auf jüngere Altersgruppen verschoben hat, sondern dass diese Verschiebung aus der Auflösung der Verklammerung von Wohlfahrtssystem und Lebenslauf resultiert. Zur Untermaue rung ihrer These führt sie einige Indikatoren an, die für eine Deinstitutionalisierung und somit auch Destandardisierung des Lebenslauf sprechen (vg. Guillemard, 200 1: S. 4 ff) :
Erstens ist ein Verfall des Konzeptes einer stetigen Erwerbslaufbahn zu beobachten: lebenslange Anstellungen werden immer seltener, hinzu kommen Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit durch Weiterbildung oder Umschulung. Dass es zu einer Individualisierung und Fragmentierung der Zeit auf dem Arbeitsmarkt kommt, kann man an dem Anstieg der flexiblen Beschäftigungsarten erkennen. So ist z.B. in Deutschland die Rate zwischen 1985 und 1995 von 87% auf 98% angestiegen2 (vgl. Guillemard, 2001: S. 9). Des weiteren ist die wachsende "economic inactivity rate" von Arbeitern mittleren und höheren Alters ein Indiz für einen diskontinuierlichen Erwerbsverlauf. Diese Rate beinhaltet Personen, die sich in der Erwerbsphase weiterbilden, Personen, die aufgehört haben, nach Arbeit zu suchen, oder Personen, die ganz aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sind.
Zweitens ist die Struktur der sozialen Sicherungssysteme, die ursprünglich auf der Dreiteilung der Aktivitäten im Lebenslauf basiert, ins Schwanken gekommen. Neue kurzfristige Sicherungen sind notwendig geworden, als Reaktion auf die oben beschriebenen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Sie sollen die Jobprobleme in den Griff bekommen und den neuen Formen der Unsicherheit gewachsen sein. Vor diesem Hintergrund entstanden u.a. die beiden inzwischen wohl wichtigsten Wohlfahrtssubsysteme: die Arbeitslosen- und die Invalidenversicherung. Diese Programme verschaffen Gewinne, die nicht von der beruflichen Aktivität der betreffenden Person abhängen. Dadurch verändern sie die Zugangsberechtigungen und somit auch das Wohlfahrtssystem selber. Sie kappen demzufolge sogar die Verbindung zwischen dem Einkommensstatus und den Rentenbezügen (vgl. Guillemard, 2001: S. 4).
Somit wird die dreigeteilte Organisation eines vorhersehbaren Lebenslaufes aufgehoben und den Individuen die Grundlage für eine verlässliche Lebensplanung genommen. Zusätzlich fallen neue normativ vorgegebene Lebenslaufmodelle weg, denn viele der Normen, die den Sozialversicherungen und dem "Versicherungsalter" unterliegen, sind mittlerweile irrelevant. Starre Wohlfahrtsprogramme sind nicht länger an die neuen Bedürfnisse eines flexiblen Lebenslaufes angepasst. Da besteht z.B. Bedürfnis nach Sicherheit, Bedürfnis nach Schutz vor schnell veralteten und überholten Wissen und Qualifikationen, das Bedürfnis nach öfteren Stellenwechsel und das Bedürfnis nach Abdeckung während Zeiten der Inaktivität. Die Kluft zwischen alten Normen und der neuen Situation führt zu Verunsicherung und der Entstehung von Ungleichheiten (vgl. Guillemard, 2001: S. 5).
Die neu entstandenen Wohlfahrtssubsysteme mit ihren intermediären Regelungen sind nach Guillemard verantwortlich für den Einbruch in der Erwerbsbeteiligung der über 55jährigen und für den damit verbundenen Bedeutungsverlust der Alterssicherungssysteme. "Das hat zur Folge, daß das Sozialmodell des Übergangs zum Ruhestand außer Kraft gesetzt wird" (Guillemard, 1991: S. 625). Oft beginnt die Ruhephase schon, bevor eine Altersrente bezogen wird, so haben z.B. im Jahre 1987 bereits 40% der Westdeutschen eine Erwerbsunsfähigkeitsrente und etwa 10% eine Arbeitslosenunterstützung bezogen, bevor sie Altersrente erhielten. Der direkte Zugang in den "normalen" Ruhestand ab 65 oder den "flexiblen" Ruhestand ab 63 wird nur noch von einer Minderheit der Deutschen genutzt (vgl. Guillemard, 1991: S. 628).
Aus diesen empirischen Befunden lässt sich schließen, dass die Grenzen zwischen Erwerbsund Ruhephase heute nicht mehr durch den Ruhestand und seine Anspruchsvoraussetzungen definiert werden. Das bedeutet, das Alterssicherungssystern verliert die Macht, den Zeitpunkt des Austritts aus der Erwerbsphase zu bestimmen. Auch der staatlich geregelte Vorruhestand, als dritter Weg zur Frühverrentung~ verliert immer mehr an Einfluss. Die meisten Vorruhestandsregelungen sind entweder abgeschafft, wie z.b. 1988 in Westdeutschland, oder beschnitten worden (vgl. Guillemard, 1991: S. 635). Diese Machtverluste bestätigen Guillemards Theorie, dass der Trend zur Frühverrentung nicht nur eine Absenkung der Altersgrenze in der öffentlichen Alterssicherung ist, sondern vielmehr den Bedeutungsverlust der öffentlichen Alterssicherung widerspiegelt.
Aufgrund der Tatsache, dass der Lebenslauf nun mit den Wohlfahrtssubsystemen neu verknüpft ist, ist eine grundlegende Reorganisation des Lebenslaufes nötig. Arbeitslosenunterstützung und Invalidenversicherung regeln den Übergang von der Erwerbsin die Ruhephase auf eine andere Weise als die Alterssicherung. Die chronologischen Marken des Lebenslaufes, wie z.B. das gesetzliche Rentenalter, werden weniger wichtig, dafür gewinnen funktionale Kriterien an Bedeutung. Diese „Dechronologisierung“ und „Destandardisierung“ des Lebenslaufes bringt nicht nur positive, sondern auch negative Folgen mit sich. So werden zwar auf der einen Seite die Lebensverläufe vielfältiger, weil man eigene Lebenspläne verfolgen kann, auf der anderen Seite verliert man aber allgemeine Ordnungsmuster und sieht somit einer unsicheren Zukunft entgegen.
[...]
1 Die Begriffe "Frühverrentung" bzw. "Verrentung" werden im Folgenden auch für solche Wege aus dem Arbeitsmarkt verwendet, die nicht direkt in das Altersicherungssystem führen. (Synonyme sind "früher Ausstieg" oder "früheres Ausscheiden")
2 Die Basis von 100% bildet der europäische Durchschnitt von 1985.
- Quote paper
- Gabriele Riedel (Author), 2004, Der Trend zum vorzeitigen Ruhestand, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121359
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