In den vergangenen Jahrzehnten hat die Ästhetik in der Praktischen Theologie deutlich an Bedeutung gewonnen. Diese Arbeit bietet einen kirchengeschichtlichen Überblick über die verschiedenen Ansichten zur Ästhetik des Kirchenbaus von der Antike bis zur Gegenwart und zieht daraus Folgerungen für die heutige Praxis. Martin Luther hat bei seiner Predigt zur Einweihung der Torgauer Schlosskapelle im Jahr 1544 die Aussage gemacht, dass ein Gottesdienst auch in einem „Saustall“ oder unter einem Strohdach stattfinden könnte. Diese radikale Formulierung vom „Saustall“ ist in dieser Arbeit nicht immer wörtlich zu verstehen; sie dient mir stellvertretend für die Ansicht, dass ein Kirchengebäude nicht ästhetisch zu sein braucht.
Über mehrere Jahrhunderte hatte Luthers Aussage die Auswirkung, dass evangelische Kirchen zumeist ganz schlicht gebaut wurden. Im 20. Jahrhundert ging man dann unter praktischen Gesichtspunkten mehr dazu über, Mehrzweckgebäude statt Kirchen zu errichten, weil sich die Erfordernisse gewandelt hatten: man brauchte nicht mehr nur einen Versammlungsraum für Gottesdienste, sondern auch für vielerlei andere Veranstaltungen, wie z. B. Gemeindefeste, Bibelgesprächsgruppen, Vorträge usw. All diesen Bedürfnissen sollte das Gemeindehaus gerecht werden. Weitere Vorgaben waren, dass das Gebäude kostengünstig und schnell errichtet werden sollte, was nicht selten zur Folge hatte, dass eine einfache Fertigbauweise gewählt wurde, wobei das Ergebnis dann aber auch eine dementsprechende Wärme ausstrahlt.
Soviel zunächst zur bisher üblichen Praxis. Nun ist aber in den letzten Jahren vermehrt Literatur auf den Markt gekommen, welche die große Bedeutung der Ästhetik hervorhebt. Kann man aufgrund dieser neuen Erkenntnisse noch an der bisherigen Theorie und Praxis festhalten, bei der Errichtung evangelischer Gemeindehäuser ästhetische Aspekte weitgehend unberücksichtigt zu lassen? Dieser Frage werde ich in dieser Ausarbeitung nachgehen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ästhetik und Architektur
3. Ästhetik und Kirchenbau
3.1 Der Wandel der Ästhetik des Kirchenbaus im Lauf der Jahrhunderte
3.2 Folgerungen
3.2.1 Folgerungen aus der Zeit der Alten Kirche
3.2.2 Folgerungen aus der Reformation
3.2.3 Folgerungen aus der Moderne
4. Persönliche Stellungnahme
4.1 Gegen die Notwendigkeit eines ästhetischen Kirchengebäudes
4.2 Für die Notwendigkeit eines ästhetischen Kirchengebäudes
5. Ausblick
Literatur
1. Einleitung
Martin Luther hat bei seiner Predigt zur Einweihung der Torgauer Schlosskapelle im Jahr 1544 die Aussage gemacht, dass ein Gottesdienst auch in einem „Saustall“ oder unter einem Strohdach stattfinden könnte (Schwebel 1975:371). Diese radikale Formulierung vom „Saustall“ ist in dieser Arbeit nicht immer wörtlich zu verstehen; sie dient mir stellvertretend für die Ansicht, dass ein Kirchengebäude nicht ästhetisch zu sein braucht.
Über mehrere Jahrhunderte hatte Luthers Aussage die Auswirkung, dass evangelische Kirchen zumeist ganz schlicht gebaut wurden.[1] Im 20. Jahrhundert ging man dann unter praktischen Gesichtspunkten mehr dazu über, Mehrzweckgebäude statt Kirchen zu errichten, weil sich die Erfordernisse gewandelt hatten: man brauchte nicht mehr nur einen Versammlungsraum für Gottesdienste, sondern auch für vielerlei andere Veranstaltungen, wie z. B. Gemeindefeste, Bibelgesprächsgruppen, Vorträge usw. All diesen Bedürfnissen sollte das Gemeindehaus gerecht werden. Weitere Vorgaben waren, dass das Gebäude kostengünstig und schnell errichtet werden sollte, was nicht selten zur Folge hatte, dass eine einfache Fertigbauweise gewählt wurde, wobei das Ergebnis dann aber auch eine dementsprechende Wärme ausstrahlt.
Soviel zunächst zur bisher üblichen Praxis. Nun ist aber in den letzten Jahren vermehrt Literatur auf den Markt gekommen, welche die große Bedeutung der Ästhetik hervorhebt.[2] Kann man aufgrund dieser neuen Erkenntnisse noch an der bisherigen Theorie und Praxis festhalten, bei der Errichtung evangelischer Gemeindehäuser ästhetische Aspekte weitgehend unberücksichtigt zu lassen? Dieser Frage werde ich in dieser Ausarbeitung nachgehen.
2. Ästhetik und Architektur
Architektur wirkt unterschiedlich auf Menschen. Dies ist schon einer Aussage des Baumeisters Eupalinos aus Megara zu entnehmen, welches uns von Vitruv (1. Jh. v. Chr.) überliefert ist:
„Ich möchte, daß mein Tempel die Menschen bewege [...] Und willst Du mir gleichtun, Lucianos, dann studiere die Räume Deiner schönen Stadt; erkenne ihren Wert für die Menschen und suche das Geheimnis ihrer Wirkung zu ergründen. Viele Häuser bleiben stumm; einige werden Dich ansprechen und wenige werden singen...“ (zit. in Busse 1995:93).
Dieses Zitat zeigt deutlich die Wirkmöglichkeiten von Gebäuden auf die Empfindung der Menschen: Viele Häuser „bleiben stumm“, sie haben den Menschen nichts zu sagen, sind reine Zweckbauten, in denen man wohnt oder arbeitet, sich aber nicht unbedingt wohlfühlt. Von anderen Häusern wird man angesprochen, sie besitzen etwas, das mit unseren Vorstellungen von Ästhetik übereinstimmt. „Wenige werden singen“, sagt Eupalinos schließlich; diese Häuser sind ästhetische Glanzleistungen; ihnen gelingt es, die Tiefenschichten unseres Empfindens anzusprechen und in Schwingung zu versetzen. Die Menschen werden also von verschiedenen Gebäuden unterschiedlich angesprochen.
Ist nun die Ästhetik etwas dem Gebäude objektiv Innewohnendes oder liegt Ästhetik im subjektiven Empfinden des einzelnen Menschen (oder des gesellschaftlichen Kollektivs) begründet? Im ersten Fall wäre zu fragen, was denn dann das Gebäude ästhetisch macht. Ist ein Gebäude ästhetisch, weil es in Symmetrie und Proportionen der menschlichen Gestalt entspricht, wie der antike römische Architekt Vitruv es lehrte (Eckert 1977:551)? Oder ist ein Gebäude ästhetisch, weil es erstens vollendet, zweitens vernünftige Maßverhältnisse (hierin erkennt man Vitruvs Lehre wieder) und drittens strahlend glänzt, wie Thomas von Aquin meinte (Eckert 1977:548)? Oder ist ein Gebäude ästhetisch, weil sich z. B. in der Kathedrale die unsichtbare Schönheit Gottes sichtbar widerspiegelt, wie Abt Suger von Saint-Denis schrieb (Eckert 1977:552)?
Nichts von alledem ist der Fall. An einem Beispiel soll dies verdeutlicht werden: Gotische Kirchen wurden erbaut, weil sie dem ästhetischen Geschmack der damaligen Zeit entsprachen. Von der Renaissance bis zur Zeit des Klassizismus wandte man sich aber entsetzt von gotischen Kirchen ab, weil sie dem ästhetischen Empfinden der damaligen Zeit widersprachen. Heute halten aber viele Menschen gotische Kirchen wieder für ästhetisch. Daraus folgt, dass das ästhetische Empfinden im Laufe der Zeit wandelbar ist. Es ist also nicht objektiv im Gebäude enthalten, sondern das Urteil liegt im subjektiven Empfinden des Betrachters begründet. Schulze schreibt dazu:
[...]
[1] Zur Einführung in die Entwicklung des evangelischen Kirchenbaus empfiehlt sich Hammer-Schenk 460-468.474-483 mit den Literaturempfehlungen 497f.
[2] Aus dem Bereich der Praktischen Theologie sei hier exemplarisch die Habilitationsschrift von Albrecht Grötzinger (1987) genannt, welche zu einem Paradigmenwechsel hin zu einer Praktischen Theologie der Ästhetik aufruft, aus dem Bereich der Kunstphilosophie das Buch „Die Verklärung des Gewöhnlichen“ von Arthur C. Danto (1991) und aus dem Bereich der Soziologie das Standardwerk „Die Erlebnisgesellschaft“ von Gerhard Schulze (2000).
- Quote paper
- Dirk Fuisting (Author), 2007, Kirche zwischen "Saustall" und Kunstwerk, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121231
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