In den letzten Jahren ist in unserer modernen Gesellschaft ein regelrechter ‚Erlebnisboom’ zu verzeichnen. Dies spiegelt sich in überfüllten Erlebnis-Kaufhäusern, Erlebnis-Reisen und zahlreichen Angeboten zur Erlebnispädagogik wieder. Outdoor Aktivitäten wie Segeln, Wandern, Kanufahren, Klettern etc. werden als Medium zur Förderung der Persönlichkeitsentwicklung angeboten und richten sich zunächst auf verhaltensauffällige Jugendliche. In den letzten Jahren jedoch erhält das Erlebnis Einzug in nahezu alle Bereiche der sozialen und pädagogischen Arbeit.
Ich habe in den letzten Jahren, durch mein Studium und verschiedene Betreuertätigkeiten, die Erlebnispädagogik vor allem im praktischen Bereich kennen gelernt. Über erlebnispädagogische Maßnahmen in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung findet man einige literarische Praxisberichte, allerdings kaum pädagogisch fundierte Begründungen für den Einsatz eben dieser Maßnahmen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Aus diesem Grund stellt die Theorie der Erlebnispädagogik für mich in dem Kontext des Förderschwerpunkts geistige Entwicklung eine besondere Herausforderung dar. Bei meinen bisherigen praktischen Erfahrungen habe ich eher instinktiv als theoretisch fundiert gehandelt. Darüber hinaus stellen Fallbeispiele aus der Literatur keine ausreichende wissenschaftliche Fundierung dar. Ich werde die Fragestellung aus diesem Grund hermeneutisch bearbeiten. Bei einer empirischen Vorgehensweise besteht die Gefahr, den Fokus auf die Auswertungen der Erfahrungen zu setzen. Ich möchte mich jedoch ausschließlich auf die theoretisch pädagogischen Zusammenhänge der beiden Fachgebiete und den daraus resultierenden pädagogischen Begründungen für das gemeinsame Wirken beschränken.
Der Erlebnisbegriff wird in allen Bereichen der Gesellschaft nahezu inflationär gebraucht, so dass die Frage aufkommt: „Ist unsere ‚erlebnissüchtige’ Gesellschaft tatsächlich so arm an realen Erfahrungen und Erleben, dass die Gefahr besteht die eigentliche Bedeutung des Erlebnisbegriffes aufzulösen?“. Aus diesem Grund wird zunächst der Begriff ‚Erleben’ und seine Bedeutung erläutert, um anschließend seine Stellung in der Pädagogik herauszuarbeiten.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Zum Begriff der Erlebnispädagogik – eine Mode oder mehr?
2.1 Erleben im allgemeinen Sinn des Wortes
2.2 Das ‚Erlebnis’ und die ‚Pädagogik’
2.3 Die Wurzeln der Erlebnispädagogik
2.3.1 J.-J. ROUSSEAU und D. H. THOREAU als Vordenker der Erlebnispädagogik
2.3.2 Wurzeln in der Reformpädagogik
2.3.3 K. HAHN und die ‚Erlebnistherapie’
2.3.3.1 Drei Grundpfeiler der HAHNschen Pädagogik
2.3.3.2 Die ‚Erlebnistherapie’
2.3.3.3 Die Kurzschulbewegung
2.4 Erlebnispädagogik von 1945 bis heute
2.5 Der aktuelle Standort der Erlebnispädagogik
3 Die Erlebnispädagogik und die Frage nach ihrer Wirksamkeit
3.1 Eine Auswahl konzeptioneller Prinzipien
3.1.1 Ganzheitlichkeit
3.1.2 Gruppenorientierung
3.1.3 Die Natur in der Erlebnispädagogik
3.1.4 Angstüberwindung und Abbau von Ängsten
3.1.5 Transfer
3.2 Reflexion in der Erlebnispädagogik
3.2.1 The Mountain speaks for Themselves-Modell
3.2.2 Das Modell ‚Outward Bound Plus’
3.2.3 Das ‚metaphorische Modell’
3.3 Methodisches Vorgehen in der Erlebnispädagogik
3.3.1 Handlungs- und Aktionsformen
3.3.2 Interaktionsformen
3.4 Ausgewählte Kritikpunkte an der Erlebnispädagogik
3.5 Ziele
3.6 Die Wirksamkeit der Erlebnispädagogik
4 Menschen mit geistiger Behinderung und die Pädagogik
4.1 Begriffsklärung
4.2 Die Entwicklungsfähigkeit bei Menschen mit geistiger Behinderung
4.3 Lebenswirklichkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung
4.3.1 Das gesellschaftliche Umfeld
4.3.2 Soziale Einstellungen gegenüber Menschen mit geistiger Behinderung
4.3.3 Die soziale Abhängigkeit
4.3.4 Erlernte Hilflosigkeit
4.4 Der pädagogische Aspekt in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung
4.4.1 Leitgedanken der pädagogischen Arbeit
4.4.1.1 Integration
4.4.1.2 Normalisierungsprinzip
4.4.1.3 Selbstbestimmung
4.4.2 Grundlegungen sonderpädagogischer Förderung
4.4.3 Ziele für Erziehung und Bildung
4.5 Herausforderungen in der pädagogischen Arbeit mit Menschen mit Behinderung
5 Chancen und Grenzen der Erlebnispädagogik im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
5.1 Das Erlebnis für den Menschen mit geistiger Behinderung
5.2 Zu den pädagogischen Begründungen für die Erlebnispädagogik im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
5.3 Gemeinsame Ziele der Erlebnispädagogik und der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung
5.4 Chancen erlebnispädagogischer Konzepte im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
5.4.1 Die Umwelterziehung
5.4.2 Die soziale Erziehung
5.4.3 Die Erziehung zur Selbstständigkeit
5.5 Grenzen und Hindernisse bei der Umsetzung erlebnispädagogischer Konzepte bei der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung
6 Fazit
7 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
In den letzten Jahren ist in unserer modernen Gesellschaft ein regelrechter ‚Erlebnisboom’ zu verzeichnen. Dies spiegelt sich in überfüllten Erlebnis-Kaufhäusern, Erlebnis-Reisen und zahlreichen Angeboten zur Erlebnispädagogik wieder. Outdoor Aktivitäten wie Segeln, Wandern, Kanufahren, Klettern etc. werden als Medium zur Förderung der Persönlichkeitsentwicklung angeboten und richten sich zunächst auf verhaltensauffällige Jugendliche. In den letzten Jahren jedoch erhält das Erlebnis Einzug in nahezu alle Bereiche der sozialen und pädagogischen Arbeit.
Ich habe in den letzten Jahren, durch mein Studium und verschiedene Betreuertätigkeiten, die Erlebnispädagogik vor allem im praktischen Bereich kennen gelernt. Über erlebnispädagogische Maßnahmen in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung findet man einige literarische Praxisberichte, allerdings kaum pädagogisch fundierte Begründungen für den Einsatz eben dieser Maßnahmen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Aus diesem Grund stellt die Theorie der Erlebnispädagogik für mich in dem Kontext des Förderschwerpunkts geistige Entwicklung eine besondere Herausforderung dar. Bei meinen bisherigen praktischen Erfahrungen habe ich eher instinktiv als theoretisch fundiert gehandelt. Darüber hinaus stellen Fallbeispiele aus der Literatur keine ausreichende wissenschaftliche Fundierung dar. Ich werde die Fragestellung aus diesem Grund hermeneutisch bearbeiten. Bei einer empirischen Vorgehensweise besteht die Gefahr, den Fokus auf die Auswertungen der Erfahrungen zu setzen. Ich möchte mich jedoch ausschließlich auf die theoretisch pädagogischen Zusammenhänge der beiden Fachgebiete und den daraus resultierenden pädagogischen Begründungen für das gemeinsame Wirken beschränken.
Der Erlebnisbegriff wird in allen Bereichen der Gesellschaft nahezu inflationär gebraucht, so dass die Frage aufkommt: „Ist unsere ‚erlebnissüchtige’ Gesellschaft tatsächlich so arm an realen Erfahrungen und Erleben, dass die Gefahr besteht die eigentliche Bedeutung des Erlebnisbegriffes aufzulösen?“. Aus diesem Grund wird zunächst der Begriff ‚Erleben’ und seine Bedeutung erläutert, um anschließend seine Stellung in der Pädagogik herauszuarbeiten. Darüber hinaus setze ich mich mit den Wurzeln und der Entstehungsgeschichte der Erlebnispädagogik auseinander, um den heutigen Standort dieses Ansatzes in der Gesellschaft herauszuarbeiten. Ziel dieser ersten Ausführungen ist es, zu untersuchen, ob die Erlebnispädagogik nur ein weiteres Genre in der Palette der Möglichkeiten ist, die für die ‚erlebnishungrige’ Gesellschaft produziert werden. Anschließend werde ich mich inhaltlich mit der Erlebnispädagogik auseinander setzen. Dabei werde ich auf die konzeptionellen Prinzipien und die methodische Vorgehensweise eingehen, um die Problematik der Wirksamkeit darzustellen. Unter Kritikern kursiert die Frage nach der Wirksamkeit erlebnispädagogischer Konzepte als Gretchenfrage. Es gilt folglich in dem Kapitel ‚Erlebnispädagogik und die Frage nach ihrer Wirksamkeit’ theoretisch herauszustellen, unter welchen Bedingungen sie im Alltag tatsächlich wirken kann.
In dem Kapitel ‚Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Pädagogik’ werde ich einen Überblick zum Begriff der ‚geistigen Behinderung’ geben. Eine differenzierte Darstellung der definitorischen Vielfalt des Begriffes ist im Kontext der Fragestellung nicht notwendig. Vorrangig werde ich mich in diesem Kapitel mit den Lebenswelten der Menschen mit geistiger Behinderung, den pädagogischen Leitgedanken und den Zielen der pädagogischen Arbeit beschäftigen, um die Herausforderungen an eben diese erarbeiten zu können.
Im Kapitel ‚Chancen und Grenzen der Erlebnispädagogik im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung’ werde ich mich explizit mit möglichen Zusammenhängen der Erlebnispädagogik und der pädagogischen Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung auseinander setzen. Zunächst werde ich Thesen zur pädagogischen Begründung aufstellen, die es dann anhand einer Gegenüberstellung von Zielen und Grundgedanken beider Fachgebiete zu belegen gilt. Anhand dieser Ausführungen werden abschließend die Chancen und Grenzen erlebnispädagogischer Konzepte, als Legitimation einer Integration in den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, beschrieben. So sollen mit dieser Arbeit die Notwendigkeit und die Perspektiven des erlebnispädagogischen Arbeitens mit Menschen mit geistiger Behinderung, mit dem Ziel der Verbesserung der Lebenswelten des Personenkreises, aufgezeigt werden.
Um den Lesefluss nicht zu beeinträchtigen, wird während der gesamten Arbeit auf die explizite Nennung der femininen Form verzichtet, und die maskuline als allgemeine Form verwendet.
2 Zum Begriff der Erlebnispädagogik – eine Mode oder mehr?
Um einen Überblick über die Inhalte der Erlebnispädagogik geben zu können, stellt sich zu Beginn die Frage, was begrifflich überhaupt darunter zu verstehen ist.
Die Begriffe ‚Erlebnis’ und ‚Pädagogik’ sind je nach Fachrichtung mehrfach definitorisch besetzt und erlauben somit keiner allgemeingültige Bestimmung. Weiterhin herrscht eine grundlegende Spannung zwischen den beiden Elementen, das heißt zwischen dem Subjektivitätsanspruch des ‚Erlebnisses’ (siehe Kapitel 2.1.) und der nach wie vor überwiegend zielgerichteten Einwirkung eines ‚Lehrenden’ in der ‚Pädagogik’.
Erlebnisse werden heute zum größten Teil aus zweiter Hand, etwa durch Medien (Werbung, Dokumentationen, Virtuelle Welten, Chatrooms etc.), erfahren. Konsequenz daraus, ist eine zunehmende Simulation der Wirklichkeit unseres modernen Lebens. Darüber hinaus entwickelt sich die Gesellschaft mehr und mehr zu einer durchnormierten, vielfältig versicherten, satt gewordenen Industrie- und Wohlstandsgesellschaft, woraus eine zunehmende ‚Erlebnisarmut’ der heutigen Gesellschaft resultiert. Folglich „boomt“ in den letzten Jahren die Verwendung des Begriffs der ‚Erlebnis’ (Erlebnispark, Erlebnisbad, Erlebnisurlaub etc.). Dient dieser vielleicht als Anreiz in unserer zum Teil als unwirklich empfundenen Wirklichkeit oder ist er vielmehr ein Ausdruck des neuen freizeitkulturellen Lebensgefühls?
Auch stellt sich die Frage, ob Erlebnispädagogik nur eine Mode der heutigen Konsumgesellschaft ist oder ob es sich vielmehr um ein eigenständiges Fachgebiet der Pädagogik handelt, in dem ernsthaft geforscht und wissenschaftlich gearbeitet wird.
Um Klarheit in das Begriffswirrwarr zu bringen, werde ich im Folgenden zunächst auf den Erlebnisbegriff an sich eingehen und dann seine Stellung in der Pädagogik hervorzuheben. Des weiteren wird der Standort der Erlebnispädagogik in der heutigen Gesellschaft verdeutlicht, indem die Wurzeln dieser untersucht und damit beantwortet, ob es sich hierbei um einen neuen kommerziellen Versuch der Freizeitgestaltung oder ein ernstzunehmendes Fachgebiet handelt.
2.1 Erleben im allgemeinen Sinn des Wortes
In der heutigen Zeit tritt der Begriff des ‚Erlebens’ in verschiedenen Bereichen auf, unter anderem auch in der Pädagogik. Dieser ist aber kein spezifischer Begriff dieser Wissenschaft. Es stellt sich also zunächst ganz allgemein die Frage: „Was ist Erleben?“
H. SCHÖNDORF (1995, S. 23) ist der Auffassung:
„Unter Erleben verstehen wir zunächst einmal die Gesamtheit all dessen, was in unserem menschlichen Bewusstsein vor sich geht.“ Erleben ist für ihn der allgemeine Begriff für das Erfassen der Wirklichkeit und für unsere Bewusstseinszustände, wobei das Erfassen der Wirklichkeit einer Erkenntnis entspricht. Der Mensch funktioniert allerdings nicht im Sinne einer präzisen Informationsaufnahme, sondern ist eher aufgrund seines reichen Innenlebens ein Wesen, das die Erkenntnis (also das, was es wahrnimmt und verarbeitet) in vielfältige Beziehungen stellt. Somit entsteht in der Wirklichkeit jedes Einzelnen eine Subjektivität, die die Erkenntnis zum Erleben werden lässt und damit umfassender ist als die Erkenntnis selbst (B. Heckmair/W. Michl/F.Walser, 1995, S. 23).
Nach G. SCHAD (1996, S. 222) gibt es zwei polare Verständnisweisen von Erleben:
- „Erleben als das herausgehobene Erlebnis-Ereignis, das durch eine besondere Intensität, Nachhaltigkeit und Eigenart ausgezeichnet ist
- Erleben als Grundweise psychischen Seins, als Innewerden von Vorgängen oder Zuständen der Innen- und Außenwelt.“
In dem ersten Verständnis geht es um das Erlebnis als Kontrasterfahrung im Alltag des Lebens, welches mit seiner nachhaltigen und prägenden Kraft diesen zu beeinflussen vermag. Im zweiten Verständnis begreift SCHAD das Erlebnis als grundlegende Qualität menschlicher Existenz. „Der Mensch erlebt immerzu, von Situation zu Situation verschieden ist lediglich die Qualität des Erlebens (ebd., S. 223). “ Es wird also deutlich, dass es einerseits um Grenzerfahrungen geht, andererseits um das Erleben als grundlegende Lebensphilosophie.
Dieser zweiten Auffassung ist auch W. DILTHEY (1833-1910), in dessen Werken die Begriffe ‚Leben’ und ‚Erleben’ eine zentrale Bedeutung haben. Er nennt das Leben als das Höchste und als zweite Gunst das Erlebte, woraus sich als drittes Handlung und Tun, Wort und Schrift entwickeln.
W. NEUBERT (1990, S. 20-24) versucht aus W. DILTHEYs Einzelstudien heraus folgende sieben Momente zur Bestimmung des Erlebnisses zu gewinnen:
1. „Die Grundeigenschaft des Erlebnisses, (…) ist die Unmittelbarkeit, mit der in ihm das Leben von dem Individuum selbst erfasst wird. (…) (W. Dilthey nach Neubert, 1990, S. 20),
2. Das Erlebnis (…) daß es eine gegliederte Einheit darstellt, (…) ‚bezeichnet einen Teil des Lebensverlaufes in seiner totalen Realität, also konkret und ohne Abzug’ (ebd., S. 20),
3. Diese Erlebniseinheit ist nicht einfach gegliedert, sondern stellt ein mehrseitiges Spannungsgefüge dar (…) mit dem Totalitätscharakter, (…) dem Subjekt-Objekt-Bezug, (…) Allgemeingültigkeit und Individualität,
4. Der historische Charakter des Erlebnisses, (…) besteht darin, an einem festen, individuellen seelischen Zusammenhang mitzubauen, (…) jedes Erlebnis wirkt insofern ‚umgestaltend’. Umgekehrt schwingt auch alles je Erlebte im Erlebnis mit, so daß jeder einzelne Bewusstseinsakt (…) von diesem ganzen erworbenen seelischen Zusammenhang bedingt ist. (…) So ist jedes Erlebnis abhängig von der individuellen Lage,
5. Dem gleichen Gegenstand gegenüber erscheint dieser geschichtliche Charakter als Entwicklungsfähigkeit, (…) bekommt es den Charakter einer dynamischen Einheit,
6. Dasjenige Wesensmerkmal des Erlebnisses, durch das es hinaustritt aus dem Subjekt und damit seine volle menschliche und wissenschaftliche Bedeutung gewinnt, ist kein Objektivitätsdrang,
7. Diese schöpferische Kraft des Erlebnisses begründet schließlich den Zusammenhang von Leben – Ausdruck – Verstehen, (…) und dadurch eine beglückende Erweiterung des eigenen erlebenden Selbst gewonnen wird.“
2.2 Das ‚Erlebnis’ und die ‚Pädagogik’
Unter welchen Bedingungen korreliert nun das Erlebnis mit der Pädagogik und wie erhält das Erlebnis einen pädagogischen Effekt?
Ein erster Zusammenhang lässt sich in einer eher pädagogischen Definition des Erlebnisbegriffes des Philosophen A. NEUHÄUSLER (1919-1997) feststellen, welcher Erlebnis definiert als ein
„Erlebnis-Ereignis oder ein Erlebnis-Ganzes, das im Fluß des Erlebens besonders hervorgehoben ist, sei es durch besondere Intensität oder Nachhaltigkeit, sei es auch nur durch besondere Eigenart (A. Neuhäusler nach W. Michl, 1996, S. 32) .“
In der Erlebnispädagogik findet man folglich erstens ein Erlebnis, welches sich vom Alltag abhebt und als etwas Besonderes empfunden wird und zweitens trägt dieses eine pädagogische Kraft in sich, die wirken und prägen kann und somit den Prozess der Bildung und Erziehung unterstützen soll (W. Michl, 1996, S. 32). Allerdings darf hier das ‚Erlebnis’ nicht mit dem ‚Abenteuer’ gleichgesetzt werden, da dieses nicht planbar somit und unvorhersehbar ist. In der Erlebnispädagogik hingegen setzt man auf Erlebnisse und Erfahrungen, bei denen ein Lernerfolg zwar natürlich, aber durchaus intendiert ist.
Der Gedanke des „Lernen durch Erleben“, hat „insbesondere in pädagogischen Zusammenhängen, einen weiteren, nämlich realitäts- bzw. lebensweltbezogenen und einen geistigen Inhalt zu geben. Dies scheint mir die Aufgabenstellung für eine ‚Erlebnispädagogik im breiteren Sinne’ (H. G. Bauer, 1995, S. 42) .“
Um eben diese Bedeutung des ‚Erlebnisses’ für die Pädagogik besser zu verdeutlichen, wird an dieser Stelle wichtig, wie folgt, einen Einblick in die Wurzeln der Erlebnispädagogik und ihre Entwicklung zu bekommen.
2.3 Die Wurzeln der Erlebnispädagogik
Wenn man die historische Entwicklung der Erlebnispädagogik näher betrachtet muss man feststellen, dass der Ursprung nicht eindeutig festzulegen ist. Die ersten Ansätze reichen weit zurück. Schon in der Antike fasziniert PLATO (427-374 v. Chr.) mit seiner Idee einer Erziehung im Interesse des Staates, die auf eine „schöne Seele“ ausgerichtet ist. Er entwickelt eine Philosophie über die „sittliche Erziehung“ des Menschen und fordert eine Ganzheitssicht von Körper, Geist und Seele, sowie Individuum und Gesellschaft (H. G. Bauer, 2001, S. 9-10).
J. H. PESTALOZZI stellt das Modell der „pädagogischen Provinz“ (siehe Kapitel 2.3.3.1) auf und macht damit einen großen Schritt in der Reform der damaligen Erziehung.
Als Vertreter der Existenzphilosophie, welche sich ebenfalls mit dem Begriff des Erlebnisses befasst, sind K. JASPERS (1883-1969) und J. P. SARTRE (1905-1980) zu nennen. K. JASPERS beschäftigt sich mit Erfahrungen an der Grenze des menschlichen Daseins und stellt fest, dass erst die Kommunikation „zum Existenzursprung der ‚Vernunft’ vordringt (H. G. Bauer, 2001, S. 10) .“ Bei J. P. SARTRE ist die Freiheit der zentrale Begriff seines Schaffens und diese erreicht der Mensch seiner Meinung nach nur durch „Engagement und die von ihm akzeptierte Verantwortung für sein Handeln (H. G. Bauer, 2001, S. 10) .“
2.3.1 J.-J. ROUSSEAU und D. H. THOREAU als Vordenker der Erlebnispädagogik
J.-J. ROUSSEAU (1712-1778) und D. H. THOREAU (1817-1862) prägen und verändern das pädagogische und philosophische Denken bis zur heutigen Zeit. Beide entdecken die Einsamkeit und Einfachheit. Beide wollen einen neuen Menschen gegen den Zeitgeist schaffen und brauchen dafür die Erziehung. Sie entwickeln die Utopie einer modernen Gesellschaft (B. Heckmair/W. Michl, 1993, S. 3).
J.-J. ROUSSEAU wird 1712 im französischsprachigen Genf geboren. Als Ergebnis seines politischen und pädagogischen Denkens erscheinen 1762 seine beiden Hauptwerke „Contrat social“ (dt.: Der Gesellschaftsvertrag) und „Emile“. „Emile“, sein Roman über die Erziehung, lässt bereits erlebnispädagogische Ansätze erkennen. In diesem Werk wird die fiktive Erziehung eines Jungen beschrieben, die von allen kulturellen Einflüssen abgeschottet stattfindet und lediglich unter dem Einfluss der Natur zu der Herausbildung sozialer Instinkte führen soll. Sein Ziel ist eine Minimalerziehung, die lediglich durch die natürliche Strafe (negative Folgen unpassender Handlungen) zu einem freien Menschen führt. Emile soll sein Wissen durch eigene Erfahrungen aus der Sache selbst und nicht durch die Belehrungen eines Erziehers lernen. Er lernt zunächst durch die Erforschung seiner Umwelt und der Natur und später durch Arbeit und Handwerk. Es geht J.-J. ROUSSEAU darum, die Freude am Leben zu lehren, denn die Welt wird seiner Ansicht nach nicht durch Sprache und Vernunft, sondern vielmehr durch die Sinne erlebt und erfahren (B. Heckmair/W. Michl, 1993, S. 3-8).
Während J.-J. ROUSSEAU die theoretischen Grundgedanken entwickelt, setzt D. H. THOREAU diese 100 Jahre später in die Praxis um. Er sieht die Natur, wie J.-J. ROUSSEAU, als Erzieherin und Lebensmeisterin. Allerdings bietet er ein praktisches Beispiel der Lebenskunst mit dem „Walden“-Experiment, ein psychologisches Experiment in einer selbstgebauten Hütte am Waldensee, nahe seiner Heimatstadt Concord. Unter anderem beabsichtigt er, seinen Landsleuten, die gerade zu Beginn des 19. Jahrhunderts buchstäblich im „american way of life“ schwelgen, welcher von Luxus, Technik, Mode, Bequemlichkeit und Naturbeherrschung geprägt ist, seine Devise der Einfachheit in der Lebensweise entgegensetzen. Sein Ziel besteht darin, zu beweisen, dass ein Leben mit einfachen Mitteln, wenig Geld und dem Zurückschrauben von überzogenen Bedürfnissen durchaus möglich ist. Unmittelbarkeit des eigenen Erlebens, Lernen durch Versuch und Irrtum in möglichst realen Situationen und die Natur als Lehrmeisterin sind seine Prinzipien (B. Heckmair/W. Michl, 1993, S. 8-15).
2.3.2 Wurzeln in der Reformpädagogik
Die Kritik an der bestehenden Gesellschaft beschäftigt nicht nur J.-J. ROUSSEAU und D. H. THOREAU. Vor allem die Reformpädagogik (1890- 1933) fokussiert in ihrem pädagogischen Verständnis den Begriff des ‚Erlebens’ und stellt die bestehenden Methoden und Konzepte in Frage. Der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit (siehe Kapitel 3.1.1) und die Erziehung dahin, sind die Kerngedanken der Reformpädagogik. Den kleinsten gemeinsamen Nenner der verschiedenen Methoden der Reformpädagogik bilden „die Charakterbildung, die Anleitung zu einer befriedigenden Lebens- und Weltanschauung“ (H. Lietz nach H. G. Bauer, 2001, S. 14) sowie die Ausbildung der geistigen, der sittlichen und der körperlichen Kräfte der Kinder. Diese sollen sie zu selbstständigen und eigenverantwortlichen Menschen heranwachsen lassen. Es existieren dabei unterschiedliche inhaltliche und didaktische Formen und Methoden mit verschiedenen Betonungen in den jeweiligen Einzelströmungen (z. B.: die Jugendbewegung, die Arbeiter- und Frauenbewegung, die Landerziehungsheimbewegung und die Kunsterziehungsbewegung). Allerdings sind es die gemeinsamen idealistischen und pädagogischen Grundgedanken der Epoche, die diese einzelnen Phänomene zueinander in Beziehung setzten.
Nahezu zeitgleich entstehen in den USA inhaltlich recht ähnliche pädagogische Modelle, wie beispielsweise das Lernen am „Projekt“. Es wird versucht, die üblichen landwirtschaftlichen und praxisorientierten Berufsschulkurse in die eher theoretischen Inhalte der Schule zu integrieren, um die intellektuelle Arbeit in der Schule in Beziehung zu den Lebenswelten der Schüler zu setzen.
J. DEWEY (1859-1952), der wohl wichtigste amerikanische Pädagoge des 20. Jahrhunderts, gilt in den USA und in Kanada als Vater des handlungs- und erfahrungsorientierten Lernens. Der Projektbegriff wird bei ihm auf das Leben in der Gesellschaft ausgedehnt. Der Kerngedanke des DEWEYschen Konzepts ist, dass Lernen das Herstellen von Handlungen ist, wobei das Handeln eine doppelte Rolle spielt:
- zum einen wird Erfahrung erworben, um handeln zu können
- zum anderen wird Erfahrung durch Handlungen erworben.
Um handeln zu können benötigt man demzufolge Erfahrungen, die man wiederum erst durch Handlungen erwerben kann. Reflexion der Erfahrungen spielt dabei eine große Rolle, um das Gelernte zu generalisieren und somit im Alltag benutzen zu können.
In der Reformpädagogik wird die Erlebnispädagogik zu einem wichtigen Bestandteil des Unterrichtsgeschehens. Das ‚Verkopfte’ an der Pädagogik, also eine Unterrichtsführung, in der Unterrichtsinhalte überwiegend sprachlich und sachlogisch strukturiert vermittelt werden, wird verurteilt. Das ‚Erlebnis’ gilt als wichtiger methodischer Unterrichtsbegriff. So hat die Erlebnispädagogik in der Schule bereits um 1930 ihren ersten Höhepunkt.
2.3.3 K. HAHN und die ‚Erlebnistherapie’
Nach dem ersten Weltkrieg profiliert sich K. HAHN (1886-1973) als politischer Berichterstatter, Redenschreiber und Berater. Er hat keine konventionelle Karriere als Pädagoge durchlaufen, sondern ist eher ein politisch engagierter Idealist mit pädagogischen Ansprüchen. Ohne jeden Zweifel gilt er als zentrale Figur in der Erlebnispädagogik.
HAHN stellt sich gegen den Wandel der Nachkriegszeit, also dem zunehmenden Industrialisierung und Technisierung, der auch in der Pädagogik kaum mehr Raum für Kreativität und Eigenhandeln lässt.
„Es ist Vergewaltigung, Kinder in Meinungen hineinzuzwängen, aber es ist Verwahrlosung, ihnen nicht zu Erlebnissen zu verhelfen, durch die sie ihrer verborgenen Kräfte gewahr werden können (K. Hahn nach H. G. Bauer, 2001, S. 26) .“
Somit gibt er den entscheidenden Anstoß für ein Konzept zur Bewahrung der Erziehung von Kindern und Jugendlichen, welches im Folgenden dargestellt wird.
2.3.3.1 Drei Grundpfeiler der HAHNschen Pädagogik
Die HAHNsche Pädagogik wird oft als Sammel- und Kristallisationspunkt einiger bereits beschriebenen, philosophischen und pädagogischen Traditionen bezeichnet. K. SCHWARZ bezeichnet das Wesen der Pädagogik HAHNs als eines, „…dass aus vielen Quellströmen zugleich ihre Nahrung saugt (K. Schwarz nach H. G. Bauer, 2001, S. 24) .“
Die drei „Grundpfeiler“ seiner Pädagogik bestehen aus:
1. Die auf PLATOs Erkenntnissen beruhende Anschauung von der sittlichen Erziehung des Menschen, wobei die Elemente der Nachahmung und Übung im Vordergrund stehen. K. HAHN geht es in seiner pädagogischen Absicht um die Erzeugung wesentlicher Gewohnheiten, wie einerseits das „Umsetzten von Gefühlen in echte Tathandlungen“ und andererseits um die „Gewohnheit der Selbstüberwindung“ (K. Schwarz nach H. G. Bauer, 2001, S. 25).
2. Das von PLATO, J. W. GOETHE (1710-1782), J. H. PESTALOZZI (1746-1827) und H. LIETZ (1868-1919) beeinflusste Modell einer „pädagogischen Provinz“ zur Erziehung des jungen Menschen. Der Inhalt dieses Modells ist die Idee einer Erziehung in bestimmten abgegrenzten Räumen. K. HAHN plädiert ganz im Geiste der pädagogischen Provinz für die Trennung des Kindes nicht nur von seinen Eltern, sondern von allen sozialen Zusammenhängen, um diese von den negativen gesellschaftlichen Entwicklungs- und Lernbedingungen der korrupten Gesellschaft (siehe Kapitel 2.3.3.2) fernzuhalten. Erziehung erfolgt hier im Sinne:
- der Charakterbildung,
- der Intelligenz,
- des Wissens (H. G. Bauer, 2001, S. 27).
3. Das von W. JAMES (1876-1907) geforderte „moralische Äquivalent des Krieges“ in der Erziehung. Hierbei handelt es sich um die Notwendigkeit der „Entladung“ aller „unedlen Gefühle“, damit sie sich nicht zu einer im Untergrund lauernden dunklen Macht aufstauen können. Erscheinungen wie Unentschlossenheit und Zögern durch häufige „Nichtentladung“ soll entgegengewirkt werden, was lediglich durch häufige und regelmäßige Übung guter Tathandlungen geschehen kann, bis sie letztendlich in die Gewohnheit übergehen.
2.3.3.2 Die ‚Erlebnistherapie’
K. HAHN bezeichnet sein Erziehungsmodell als ‚Erlebnistherapie’, was im ersten Moment verwundert. Wenn man allerdings seine Gesellschaftsdiagnose betrachtet, welche bestimmte „Verfallserscheinungen“ feststellen lässt, versteht man, dass eben diese erlebnistherapeutischen Konzeptes bedürfen. Er hält die Gesellschaft für krank und korrupt und die großstädtische Zivilisation führt seiner Meinung zu „sozialen Seuchen“ wie:
- dem „Mangel an menschlicher Anteilnahme und der zwischenmenschlichen Beziehungen“, verursacht durch andauernde Eile und Unruhe,
- dem „Verfall der körperlichen Tauglichkeit“, verursacht durch moderne Fortbewegungsmittel,
- dem „Verfall der Sorgsamkeit“, verursacht durch die kaum noch vorhandenen Traditionen des Handwerkertums und die Bereitschaft kreativ und exakt zu arbeiten und
- dem „Mangel an Initiative“, verursacht durch das Umgehen von Herausforderungen, die Aktivität bedeuten (J. Ziegenspeck, 1987, S. 41).
Als Antwort auf eben diesen Trend entwickelt er eine Therapie, die Jugendlichen durch natürliche Erlebnisse Erfolg und Misserfolg näher bringen und Lerneffekte bei ihnen erzeugen sollen. Nach H. G. BAUER (2001, S. 29-31) besteht diese Therapie aus drei wesentlichen Stufen:
Die erste Stufe besteht aus vier erlebnispädagogischen Grundelementen, die den oben genannten Verfallserscheinungen gegenübergestellt werden:
1. Das körperliche Training steigert Vitalität, Kondition, Mut und Überwindungskraft, wobei Erfahrungen zum einen durch Selbstüberwindung und zum anderen durch Selbstentdeckung gemacht werden.
2. Die Organisation von Expeditionen in der Natur bekämpft die schwindende Initiative und Einsatzbereitschaft und fördert gleichzeitig die Entschluss- und Überwindungskraft.
3. Das Projekt stellt eine Aufgabe geistiger, handwerklicher oder technischer Natur dar, die klar formuliert die Sorgsamkeit und Geduld fördert und somit der Entfaltung von der Selbstständigkeit, Kreativität und Musikalität dient.
4. Beim Rettungsdienst (für K. HAHN das wirksamste Mittel der Erziehung) wird dem Jugendlichen durch den Einsatz der eigenen Existenz für das Wohl des Anderen ein völlig neues Lebensverständnis vermittelt (A. Reiners, 2003, S. 11).
Die zweite Stufe beinhaltet „die eigentliche charakterbildende Wirkung in der Erlebnistherapie (H. G. Bauer, 2001, S. 31) .“ Es entstehen hier durch pädagogisch gestaltete Erlebnisse unauslöschliche Erinnerungen, die K. HAHN als Kraftquelle für entscheidende Augenblicke im späteren Leben ansieht, so genannte „heilsame Erinnerungsbilder“. Nach W. JAMES ist nicht die Dauer, sondern die Stärke eines prägenden Erlebnisses oder eines handelnden Einsatzes für das spätere Verhalten entscheidend. K. HAHN resümiert:
„When you are passiv you forget; when you are activ you remember (K. Hahn nach H. G. Bauer, 2001, S. 31) .”
Bei der dritten Stufe wird die Erlebnistherapie lediglich als Mittel der Erziehung beschrieben, welches die Hingabe und Bereitschaft eines jungen Menschen erhalten kann. Das Ziel ist die Erziehung eben dieser zu verantwortungsvoll handelnden und denkenden Erwachsenen in einer staatlichen Gemeinschaft mit freiheitlich-demokratischer Grundlage.
2.3.3.3 Die Kurzschulbewegung
1941 gründet K. HAHN mit einem befreundeten Reeder aus England die erste „short term school“ (Kurzzeitschule) in denen Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren in Kursen von vierwöchiger Dauer „mit erlebnispädagogisch relevanten und natursportlich akzentuierten Erziehungs- und Bildungsprogrammen konfrontiert werden (J. Ziegenspeck, 1986, S. 13). Diese Schulen werden unter dem Namen ‚Outward Bound Schools’ (Begriff aus der englischen Seefahrt: ein Schiff kann aufs weite Meer auslaufen) von England ausgehend sich international, mit Hilfe des ‚Outward Bound Trust’ (Gründung 1946; Aufgabe: nationale und internationale Verbreitung des Kurzschulkonzeptes) verbreiten.
Aufgrund seiner gesammelten historischen und gesellschaftspolitischen Erkenntnisse und praktischen Erfahrungen, beginnt sich K. HAHN tiefgründig für die Erziehung zu interessieren. Die Erziehungsmethoden in Deutschland sind längst überholt. Einerseits liegt das Problem in den Familien, denen der „Zerfall der erzieherischen Kräfte“ droht, d. h. die Erziehung verliert mehr und mehr ihre schützende Funktion für das Kind. Primär richtet sich die Kritik allerdings an die tradierten Lehrmethoden: die einerseits erstickende Autorität und andererseits die blinden Hörigkeit. Dieser permanente Druck, der von dem Lehrer auf den Schüler ausgeübt wird, gilt zunehmend als wesentlicher Grund für den erkennbaren Untertanengeist im deutschen Volk. K. HAHN übt schon vor dem ersten Weltkrieg Kritik an dem bestehendem System und der praxisfernen Lehrerausbildung, glaubt allerdings nicht an die Reform der Staatsschulen. So gründen K. Hahn und Prinz M. VON BADEN (1867-1929), der letzte deutsche Reichskanzler (K. HAHN fungiert als dessen Privatsekretär und Vertrauter), 1920 das Landerziehungsheim Salem und K. HAHN übernimmt die Leitung. Dieser muss 1933 das Nazi-Deutschland verlassen und macht sich auf den Weg in seine zweite Heimat England, wo er nach dem Vorbild von Salem das Landerziehungsheim Gordonstown gründet (J. Ziegenspeck, 1987, S. 6-10).
2.4 Erlebnispädagogik von 1945 bis heute
Im Nationalsozialismus wurde die Erlebnispädagogik ihres ursprünglichen geisteswissenschaftlichen Sinnes beraubt und durch die Verwendung wichtiger erzieherischer Elemente (z.B. Feiern und Feste, Fahrten, Lager im Sinne der „Volkserziehung“) für parteipolitische Ziele, im Sinne des Nationalsozialismus manipuliert.
Nach dem zweiten Weltkrieg versucht man lückenlos an die Entwicklung der Reformpädagogik anzuknüpfen, doch werden zunächst Jugendgruppen, wie beispielsweise die Pfadfinder, von den Alliierten verboten.
Der Anfang der erlebnispädagogischen Arbeit ist in Form von handlungstheoretischen Ansätzen in den 70er Jahren zu erkennen. Erst jetzt wird wieder an dem Lebensumfeld der Jugendlichen angeknüpft, um ihre verschiedenen Problemlagen zu erkennen und darauf aufbauend die Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. In den Schulen wird allerdings die frontale Wissensvermittlung mehr und mehr fokussiert. Es kommt nach der Reformpädagogik wiederholt zum ‚Verkopften’ Denken (siehe Kapitel 2.3.2) durch die unreflektierte Übernahme des dreigliedrigen Schulsystems in der Nachkriegszeit. Folglich gerät die Erlebnispädagogik zusehends, zugunsten der zunehmenden Leistungsorientierung im schulpädagogischen Kontext, in den Hintergrund.
Seit etwa Mitte der 80er Jahre ist erst wieder ein Trend erkennbar, bei dem eine Rückbesinnung auf die Natur als Erfahrungswelt stattfindet, und somit den Weg für Ereignisse mit erlebnisorientierten Ansätzen bahnt. Die Erlebnispädagogik „boomt“ allerdings weiterhin ausschließlich auf dem Feld der sozialen Arbeit und wird für randständige, auffällige Gruppen (wie es auch schon bei K. Hahn zu beobachten ist) reserviert. Der zweite Höhepunkt der Erlebnispädagogik ist also nicht, wie der erste im schulpädagogischen, sondern eher im freizeit- oder sozialpädagogischen Wirkungsbereich zu erkennen (F. Stimmer, 2000, S. 50-51).
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- Arbeit zitieren
- Melanie Magoltz (Autor:in), 2008, Erlebnispädagogik im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121138
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