Die europäische Kultur ist historisch betrachtet eine christliche Kultur. Die Grundlage für die europäische Wissenschaft wurde in Klöstern gelegt, die Ausbildung der Menschen begann viele Jahrhunderte lang mit dem Lesen der Bibel, zu den wichtigsten Fakultäten an den ersten europäischen Universitäten zählte die Theologie. Die Malerei, Literatur, Musik und Philosophie waren stark beeinflusst vom Christentum. Michelangelo, Bach, Dante, Thomas von Aquin – diese berühmten Namen sind untrennbar mit dem christlichen Glauben verbunden. Doch nach vielen Jahrhunderten hat die Bedeutung des Christentums in der Aufklärung abgenommen, insbesondere nach der Französischen Revolution. Die sozialen Theorien traten an die Stelle des Christentums. Die Wissenschaft verdrängte die Religion. Die religiöse Abstraktion machte dem Konkreten und Fassbaren Platz.
Kierkegaard und Dostojewskij lebten in eben dieser Zeit, in der die Wichtigkeit der Religion schwand. Ihr Leben fiel in eine Umbruchzeit, in der die religiösen Grundsätze von Sozialen Theorien erschüttert wurden. Beide wendeten sich gegen diesen Prozess der Säkularisierung, führten einen Kampf gegen die Entchristlichung, weshalb sie auch als „Ritter des Christentums“ bezeichnet wurden. Sie waren Irrationalisten und stellten die Subjektivität und Transzendenz der Religion der objektiven Wissenschaft als überlegen gegenüber.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Biografie
2. Religion und Glaube
2.1 Das christliche Paradox
2.2 Das Absolut
2.3 Das ursprüngliche Selbst
2.4 Der christliche Einzelne
2.5 Der Augenblick
2.6 Der Einzelne und die Gesellschaft
2.7 Wissenschaft und Religiosität
2.8 Beziehung zur Kirche
3. Dostojewskij, Kierkegaard und der Journalismus
4. Schlussbetrachtung
5. Bibliographie
Einleitung
Die europäische Kultur ist historisch betrachtet eine christliche Kultur. Die Grundlage für die europäische Wissenschaft wurde in Klöstern gelegt, die Ausbildung der Menschen begann viele Jahrhunderte lang mit dem Lesen der Bibel, zu den wichtigsten Fakultäten an den ersten europäischen Universitäten zählte die Theologie. Die Malerei, Literatur, Musik und Philosophie waren stark beeinflusst vom Christentum. Michelangelo, Bach, Dante, Thomas von Aquin – diese berühmten Namen sind untrennbar mit dem christlichen Glauben verbunden. Doch nach vielen Jahrhunderten hat die Bedeutung des Christentums in der Aufklärung abgenommen, insbesondere nach der Französischen Revolution. Die sozialen Theorien traten an die Stelle des Christentums. Die Wissenschaft verdrängte die Religion. Die religiöse Abstraktion machte dem Konkreten und Fassbaren Platz.
Kierkegaard und Dostojewskij lebten in eben dieser Zeit, in der die Wichtigkeit der Religion schwand. Ihr Leben fiel in eine Umbruchzeit, in der die religiösen Grundsätze von Sozialen Theorien erschüttert wurden. Beide wendeten sich gegen diesen Prozess der Säkularisierung, führten einen Kampf gegen die Entchristlichung, weshalb sie auch als „Ritter des Christentums“ bezeichnet wurden. Sie waren Irrationalisten und stellten die Subjektivität und Transzendenz der Religion der objektiven Wissenschaft als überlegen gegenüber. Auch prophezeiten sie ein Wiederkommen der Bedeutung der Religion. Diese ist tatsächlich heute bemerkbar. Besonders in den USA und in Russland spielt die christliche Religion eine immer größere Rolle. Dabei wird die Religion immer mehr instrumentalisiert. Deswegen ist es wichtig, die christliche Religion zu verstehen. Kierkegaard und Dostojewskij bieten meiner Meinung nach einen guten Zugang zum Christentum in seinem Kern. Sie sind beide religiöse Existenzialisten. Im Zentrum ihrer Philosophie steht das Individuum, seine Beziehung zu sich selbst und zu Gott. Sie stellen die Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz und sehen die Antwort im Christentum. Und gerade weil sie den Menschen und seine Beziehung zu Gott in den Fokus ihrer philosophischen Betrachtung rücken, lässt sich das Christentum im Kern verstehen. Dabei ist ihre Philosophie sehr modern, aus dem einfachen Grund, dass die existentiellen Fragen unbeantwortet und genauso aktuell sind wie zur Lebenszeit von Kierkegaard und Dostojewskij.
Nachdem ich in dem Kurs „Ethik“ im zweiten Semester ein Referat über Kierkegaard gehalten habe, von dem ich vorher nicht viel gewusst habe, habe ich begonnen, mich für ihn nicht nur als einen Philosophen, sondern vor allem als einen religiösen Denker und Schriftsteller zu interessieren. Als ich nach diesem Kurs bei meinen Verwandten in Russland Urlaub gemacht habe, habe ich eine Fernsehsendung über Dostojewskij gesehen. In dieser Sendung wurden vor allem die religiösen Ansichten dieses Schriftstellers, der zurzeit in Russland sehr beliebt ist, thematisiert. Mir fiel auf, dass große Parallelen zwischen den religiösen Vorstellungen von Dostojewskij zu denen von Kierkegaard bestehen. Ihre Ansichten, besonders die religiösen, sind sehr ähnlich, dennoch habe ich in der Literatur keine Vergleiche zwischen den beiden gefunden, das mag daran liegen, dass Kierkegaard als Philosoph und Dostojewskij als Schriftsteller gelten. Und deswegen habe ich das Thema „Vergleich von Kierkegaard und Dostojewskij unter besonderer Berücksichtigung ihrer Religionsvorstellung“ für die große Hausarbeit ausgewählt. Ziel dieser Hausarbeit ist nicht die Philosophie von Kierkegaard und Dostojewskij in all ihren Nuancen zu beschreiben, sondern unter den Gesichtspunkten zu vergleichen, die mir relevant erscheinen. Für mich persönlich sind Kierkegaard und Dostojewskij nicht als abstrakte Philosophen, deren Leben und Wirken in keiner Beziehung zueinander stehen, interessant, sondern als Menschen, deren Leben und Philosophie untrennbar miteinander verwoben waren, die also ihr Werk selbst lebten.
Dabei hat dieses Thema auch eine journalistische Nähe, denn beide Denker waren nicht nur Schriftsteller oder Philosophen, sondern auch Journalisten. Sie publizierten in Zeitungen, gaben sogar eigene Zeitungen heraus, in denen sie Stellung zu aktuellen Diskussionen ihrer Zeit Stellung nahmen.
Doch das entscheidende Motiv ihrer Werke war die christliche Religion und die damit verbundenen Probleme der menschlichen Existenz. Deswegen werde ich Kierkegaard und Dostojewskij ausgehend von ihrer Religionsvorstellung vergleichen. Daraus ergibt sich auch die Reihenfolge der Kapitel: Nach einer kurzen Biografie werde ich die grundsätzlichen Ansichten von Kierkegaard und Dostojewskij zur Religion und zum Glauben skizzieren. Danach werde ich diese Ansichten anhand von wesentlichen Begriffen ihrer Philosophie weiter ausführen und ihre Beziehung zur Kirche verdeutlichen. In einem Kapitel werde ich die Bedeutung des Journalismus in ihrem Leben umreißen und in einer Schlussbetrachtung ihre Bedeutung für die Nachwelt und vor allem für die heutige Zeit beschreiben.
Bei einem solchen Vergleich besteht die Gefahr zu viele Parallelen zu sehen, auch dort, wo keine bestehen. Tatsächlich muss ich gestehen, dass ich zu Beginn meiner Untersuchungen von einer extremen Übereinstimmung von Kierkegaard und Dostojewskij, vor allem in ihrem Religionsverständnis, ausgegangen bin. Während meiner Recherche habe ich jedoch festgestellt, dass sie sich in vielen Aspekten, so z. B. in ihrer Beziehung zur Kirche, sehr stark unterscheiden. Mein Denken über die beiden hat sich den Studien zu dieser Hausarbeit gewandelt. Deswegen hoffe ich, dass es mir gelungen ist, nicht nur die Parallelen, sondern auch die Unterschiede herauszuarbeiten.
1. Biografie
Die äußeren Lebensumstände von Kierkegaard und Dostojewskij könnten unterschiedlicher nicht sein. Der eine, Kierkegaard, war niemals verheiratet und hatte keine Kinder, der andere, Dostojewskij, war zwei Mal verheiratet und hatte mehrere Kinder. Kierkegaard hatte wegen eines großen Erbes lebenslang keine Geldsorgen, Dostojewskij dagegen kämpfte immer wieder gegen finanzielle Nöte. Das Leben von Kierkegaard war arm an Ereignissen, Dostojewskijs Leben war abenteuerlich. Die Reihe der äußeren Unterschiede ließe sich beliebig fortsetzen. Die beiden haben sich niemals getroffen, haben niemals die Werke des jeweils anderen gelesen, ja ahnten nicht einmal etwas über die Existenz des anderen. Doch lässt sich eine geistige Nähe von Kierkegaard und Dostojewskij nicht abstreiten.
Die Weltsicht von beiden ist sehr autobiografisch geprägt, ist beeinflusst von ihrem Charakter und ihrem inneren Befinden. Besonders die Betrachtung der Kindheit ist entscheidend, wenn man Kierkegaard und Dostojewskij vergleicht. Kierkegaard schrieb: „Jeder Mensch [ist] wesentlich das, wozu er als Zehnjähriger geworden ist“[1]. Auch Dostojewskij unterstrich die Bedeutung der Kindheit im Leben eines Menschen. Und gerade in der Kindheit gibt es viele Parallelen in ihrem Leben. Deswegen widme ich diesem Lebensabschnitt die größte Aufmerksamkeit bei der Beschreibung ihrer Biografie.
Sören Abbye Kierkegaard wurde am 5. Mai 1813 in Kopenhagen als siebtes und letztes Kind von Michael Pedersen Kierkegaard und Anne Sörensdatter Lund geboren. Zu diesem Zeitpunkt war sein Vater bereits 56 Jahre alt. Anne Sörensdatter Lund war die zweite Ehefrau von Michael Pedersen. Zuvor war sie ein Dienstmädchen in Kierkegaards Haus gewesen, doch nach dem Tod seiner ersten Frau, mit der er keine Kinder hatte, heiratete Michael Pedersen Anne Sörensdatter Lund. Seine Mutter erwähnte Kierkegaard niemals in seinen Werken, aber „ihr Tod im Jahr 1834 [hat] ihn sehr tief getroffen“[2]. Sie starb, als Kierkegaard 21 Jahre alt war. Peter Christian, ein Bruder von Kierkegaard wies bei der Grabrede von Kierkegaard darauf hin, dass er in seinen Schriften viele Redewendungen seiner Mutter übernommen hat[3].
Die meisten Brüder und Schwestern von Kierkegaard starben früh, einzig Peter Christian überlebte ihn. Er studierte in Kopenhagen Theologie und promovierte[4]. Danach war er Pfarrer, später Bischof. Für kurze Zeit war er sogar Kultusminister von Dänemark.
Den entscheidenden Einfluss übte der Vater auf Sören Kierkegaard aus. Deswegen muss näher auf seine Person eingegangen werden. In seiner Kindheit war der Vater ein Hirte in der dänischen Provinz Jütland gewesen. Erst mit 12 Jahren kam er nach Kopenhagen, wo er ein kleiner Kaufmann wurde, zuerst bei seinem reichen Onkel (Kleidungshändler) und später selbstständig. Als Kaufmann häufte Michael Pedersen ein großes Vermögen an und kaufte sich sechs Häuser. Bereits mit 40 Jahren ging Michael Pedersen in Ruhestand, denn er hatte genug Geld angehäuft und musste nicht mehr arbeiten.
Michael Pedersen war ein tief religiöser Protestant und diese religiöse Haltung hatte einen wesentlichen Einfluss auf den Werdegang von Sören, denn der Vater übernahm in der Kindheit seine Erziehung. „Als Kind wurd ich strenge und mit Ernst im Christentum erzogen“[5], sagte Kierkegaard. Noch in seinen Tagebüchern erinnerte er sich an die Belehrungen seines Vaters: „Sieh zu, dass du Jesus Christus recht lieben kannst“[6].
Auch die Schwermütigkeit des Vaters färbte stark auf den jungen Kierkegaard ab. Deswegen war Sören Kierkegaard in seiner Kindheit ein verschlossener Einzelgänger. Die Schwermütigkeit des Vaters lag daran, dass Michael Petersen in seinem Leben zwei Sünden begangen hatte, mit denen er sich nicht arrangieren konnte. Die erste Sünde war, dass er als kleiner Junge ob der harten Arbeit als Hirte Gott verflucht hatte. Und die zweite Sünde war, dass er Kierkegaards Mutter geheiratet hatte, als sie bereits schwanger war, was gegen seine religiöse Überzeugung verstieß.
Über den beruflichen Werdegang entschied ebenfalls der Vater. Nach der Schule musste Kierkegaard auf seinen Wunsch hin Theologie studieren. Während dieser Studienzeit in Kopenhagen (22 Semester) war Sören kein vorbildlicher Student, feierte häufig und ging oft ins Theater. Dieser Lebenswandel missfiel Sören und führte bei ihm zu Depressionen. Später sollte er eine solche auf Genuss ausgerichtete Lebensführung in seinen philosophischen Werken als ästhetisch bezeichnen. Daraus kann man erkennen, dass Kierkegaards Werk stark autobiographisch motiviert ist, denn das Stadium der Ästhetik bezeichnete Kierkegaard in seinen Werken als das niedrigste, was vor allem auf diesen Lebensabschnitt von ihm zurückzuführen ist.
Aus den Depressionen wurde der 24-Jährige Kierkegaard durch die Bekanntschaft mit der 14-jährigen Regina Olsen befreit. Drei Jahre nach ihrem ersten Treffen verlobten sie sich. Auch hier ist eine Verbindung von Biografie und Philosophie erkennbar. Nach dem ästhetischen Stadium folgt bei Kierkegaard das ethische Stadium, ein Stadium, das sich durch die Pflichterfüllung anderen Menschen gegenüber auszeichnet; vor diesem Hindergrund kann man die Verlobung mit Regina Olsen als Pflichterfüllung ihr gegenüber sehen. Doch ein Jahr später löste Kierkegaard die Verlobung auf. Zieht man wieder eine Parallele zu seiner Philosophie, stellt man fest, dass nach dem ethischen Stadium das religiöse Stadium folgt. Kierkegaard wollte wohl nicht im ethischen Stadium bleiben und löste deswegen die Verlobung auf. Das mag zumindest ein Grund für die Trennung gewesen sein.
Zur Zeit der Trennung von Regina Olsen (1841) promovierte Kierkegaard. Seine Promotionsarbeit hatte das Thema „Der Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates“. Im Jahr 1843 erschien sein wohl bis heute bekanntestes Werk „Entweder-Oder“ unter dem Pseudonym Viktor Eremita. Überhaupt verfasste Kierkegaard alle seine Werke – bis auf die letzten kurz vor seinem Tod – unter verschiedenen Pseudonymen, weil er diese Form der indirekten Mitteilung für die bestmögliche hielt. Nur durch ein Pseudonym könne seiner Meinung nach eine Subjektivität – die einen Kern seiner Philosophie ausmacht - erreicht werden und der Leser könne eine eigene subjektive Wahrheit finden.
In den letzten Jahren seines Lebens kämpfte Kierkegaard gegen die seiner Meinung nach scheinheilige Kirche. Dieser Kampf erschöpfte ihn sowohl gesundheitlich als auch finanziell. Kierkegaard hatte nämlich nach dem Tod seines Vaters im Jahre 1838 sehr viel Geld geerbt, musste nicht mehr arbeiten und konnte auch alle seine philosophischen Werke selbst publizieren. Auch die Schriften gegen die Kirche publizierte er auf eigene Kosten, was sehr viel Geld in Anspruch nahm. Auch war der Kampf gegen die Kirche eine sehr starke nervliche Belastung für ihn, weil er sich damit ins gesellschaftliche Abseits stellte. Am 2. Oktober 1855 erlitt Kierkegaard auf offener Straße einen Schlaganfall, wurde ins Krankenhaus eingeliefert und starb dort wenig später (11. November).
Über den Erfolg von Kierkegaards Arbeit kann man sagen, dass sie aus ökonomischer Sicht nicht erfolgreich war. Einzig „Entweder-Oder“ verkaufte sich gut. Nur die kirchenfeindlichen Artikel wurden noch stark rezipiert. Auch Dostojewskijs Werke verkaufen sich nicht alle gut. Doch wenn man über den ökonomischen Erfolg der Arbeiten spricht, muss man die Zeit bedenken, in denen die beiden gewirkt haben. Es gab sowohl in Kopenhagen als auch in St. Petersburg eine sehr dünne Bevölkerungsschicht, die die Bücher hätte lesen können. Die meisten Menschen konnten nicht lesen und nur die wenigsten waren an philosophischen Themen interessiert.
Dostojewskij wurde am 30.Oktober 1821 in St. Petersburg in einem Armenhospital geboren, wo sein Vater als Arzt arbeitete. Der Vater von Dostojewskij, Michail Andrejewitsch, stammte aus einer Priesterfamilie und hätte ebenfalls Priester werden sollen, schloss sogar ein geistiges Seminar ab, wurde aber dennoch Arzt[7]. Mit dem Vater von Kierkegaard hatte Michael Andrejewitsch nicht nur den Vornamen gemein. Auch er war ein verschlossener und pedantischer Mensch und übte einen entscheidenden Einfluss auf seinen Sohn aus. „Die freudlose, deprimierende Atmosphäre, die er um sich verbreitete, hat zweifellos die düster-tragische Tonart mitbestimmt, die für die Werke seines Sohnes typisch ist“[8]. Er maß der Erziehung seines Sohnes eine hohe Bedeutung bei und brachte ihm schon in der Kindheit Latein bei.
Die Mutter von Dostojewskij Maria Fjodorowna hatte im Gegensatz zum Vater „ein gutmütiges, heiteres, sehr liebevolles Wesen“[9]. Sie war ein tief religiöser Mensch.
Dostojewskij hatte drei jüngere Schwestern und zwei jüngere Brüder, die er fast niemals erwähnte und einen älteren Bruder Michail, mit dem er in einem sehr engen Verhältnis stand.
Genauso wie Kierkegaard war Dostojewskij ein sehr verschossener Junge, las viel (bereits mit vier Jahren hatte er das Lesen gelernt) und neigte zur Melancholie.
Obwohl die Familie von Dostojewskij in der Literatur als arm dargestellt wird, so gehörte sie doch zum niederen Dienstadel (nach Zar Peter I konnte man sich den Rang des Adels erarbeiten), der nicht mehr als 5% der Bevölkerung ausmachte. Sein Vater kaufte sogar ein kleines Landgut, das zwei Dörfer mit 70 Leibeigenen einschloss. Diese Leibeigenen wurden von seinem Vater sehr schlecht behandelt, besonders nach dem Tod der Mutter (1837) wurde der Vater sehr aufbrausend und brutal. Es scheint erwiesen zu sein, dass diese Leibeigenen Michail Andrejewitsch töteten (1839). Der aufbrausende und hysterische Charakter des Vaters, ebenso wie dessen Ermordung, beeinflussten Dostojewskij stark und die Charakterzüge des Vaters verarbeitete er in seinen Werken. Z. B. trägt der Vater Karamasow die Charakterzüge seines eigenen Vaters, überhaupt ist in „Die Brüder Karamasow“ der Vatermord ein zentrales Motiv. Sigmund Freud schrieb über die Beziehung von Dostojewskij zu seinem Vater in einem Essey, die Ermordung des Vaters habe bei Dostojewskij tiefe Schuldgefühle hervorgerufen, weil er im Unterbewusstsein den Tod des Vaters wegen seiner Brutalität gewünscht habe und dieser Wunsch Realität geworden ist[10].
Mit 16 schrieb sich Dostojewskij in St. Petersburg an einer Ingenieursschule ein (1837) und beendete sie sechs Jahre später. Danach arbeitete er kurze Zeit als technischer Zeichner im Kriegsministerium. 1844 trat er aus dem militärischen Ingenieursdienst aus und konzentrierte sich gänzlich auf sein literarisches Schaffen. In der Zeit seiner Arbeit als Ingenieurszeichner jedoch hatte er die Welt des niederen Adels und Bürgertums kennen gelernt, von der viele seiner Werke handeln. Dazu muss man wissen, dass die Gesellschaft in Russland zu dieser Zeit stark hierarchisiert war, es gab 14 Beamtenklassen. Und hauptsächlich die niederen Beamtenklassen sind die Helden seiner Werke.
Sein erster Roman „Arme Leute“ wurde 1846 veröffentlicht und wurde ein ökonomischer Erfolg. Dostojewskij wurde praktisch der erste Profiliterat in Russland, der nicht von seinem Erbe lebte, sondern von seinem Wirken als Schriftsteller.
1846 trat Dostojewskij dem Kreis der Petraschewczew bei, in dem diskutiert wurde, wie man Russland in einem sozialistischen Sinne umbauen könne. 1848 wurde er in einen radikaleren Kreis dieser Vereinigung hineingeführt und wurde deswegen am 23. April 1849 zusammen mit anderen Teilnehmern dieser Vereinigung verhaftet und zum Tode durch Erschießung verurteilt. Dieses Urteil wurde aber im letzten Augenblick in vier Jahre Katorga (Gefängnis mit harter körperlicher Arbeit, ähnlich einem Arbeitslager) und vier Jahre Verbannung umgeändert. Während der Katorga erkrankte Dostojewskij an Epilepsie, eine Krankheit, die ihn ein Leben lang quälte.
In der Verbannung heiratete Dostojewskij Maria Isajewa (1857), mit der er im Jahr 1859 nach St. Petersburg zurückkehrte. Im April 1864 starb seine erste Frau und im Juni desselben Jahres sein Bruder Michail. 1867 heiratete er Anna Snitkina und fuhr mit ihr für vier Jahre ins Ausland, unter anderem lebte er lange Zeit in Dresden. 1871 kehrte er nach St. Petersburg zurück. 1873 begann Dostojewskij, jeden Monat „Das Tagebuch eines Schriftstellers“ herauszugeben. Sein letzter und bis heute berühmtester Roman erschien von 1878-1880 und wurde ein großer Erfolg. Am 28. Januar 1881 starb Dostojewskij in St. Petersburg. Am 1. Februar fand ihm zu Ehren eine Trauerfeier mit 60.000 Trauergästen statt.
Man kann über die Biografie von Kierkegaard und Dostojewskij sagen, dass es besonders in ihrer Kindheit viele Parallelen gibt. Der strenge Vater, die Religiosität und die in den Familien herrschende Schwermütigkeit haben ihren Charakter und somit ihre Werke beeinflusst.
Wichtigste Werke
Kierkegaard: alle unter Pseudonymen verfasst
- 1843: „Entweder-Oder“ unter Victor Eremita, „Furcht und Zittern“ unter Johannes de Silentio, „Die Wiederholung“ unter Constantin Constantinus, 1844: „Philosophische Brocken oder ein Bröckchen Philosophie“ unter Johannes Climaticus, „Der Begriff Angst“ unter Vigilius Haufniensis, 1845: „Stadien auf dem Lebensweg“ unter Hilarius Buchbinder, 1849: „Die Krankheit zu Tode“, 1850: „Einübung im Christentum“
Dostojewski:
- 1846: „Arme Leute“, 1860: „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, 1861: „Erniedrigte und Beleidigte“, 1864: „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“, 1866: „Schuld und Söhne“, 1869: „Der Idiot“, 1972: „Die Dämonen“, 1875: „Der Jüngling“, 1880: „Die Brüder Karamasow“kursiv: Die fünf sog. Ideenromane von Dostojewskij
2. Religion und Glaube
Die Religion ist das Element, das Kierkegaard und Dostojewskij eint. Der Glaube steht im Zentrum ihrer Werke. Es ist die essentielle Kategorie, die ihre Philosophie ausmacht. Jede ihrer philosophischen Ansichten und Lehren haben den Glauben als Ursprung. Aus diesem Grund ist es unerlässlich sich ihrer Glaubensvorstellung zuzuwenden und vergleichend zu analysieren.
Der Glaube an Jesus Christus ist der Kern von Kierkegaards philosophischem Schaffen. Für das größte weltliche Übel, das die menschliche Existenz bedroht, hielt er die zunehmende Gottlosigkeit seiner Zeitgenossen. „Das Unglück unserer Zeit ist, dass sie zur bloßen „Zeit“, zur Zeitlichkeit geworden ist, die ungeduldig nichts von der Ewigkeit hören will und sodann […] durch eine erkünstelte Nachäffung gar das Ewige ganz überflüssig machen will“[11]. Kierkegaard hingegen hielt dieser Gottlosigkeit seiner Mitmenschen den Glauben entgegen. Aber was versteht Kierkegaard unter Glauben, wie sieht seine Religionsvorstellung aus?
Der Glaube ist für Kierkegaard subjektiv. „Glaube, betont er, liegt in der Subjektivität und stellt ihre höchste Leidenschaft dar“[12]. Es ist ein Akt des freien Willens. Jeder Mensch ist frei und hat die freie Wahl zu glauben oder nicht und auch über die Art und Weise des Glaubens kann der Mensch frei bestimmen. Dabei kommt der Mensch nicht aus einer vernunftgeleiteten Überlegung zum Glauben, sondern aus einem leidenschaftlichen Entschluss heraus[13].
Alle literarischen Werke von Kierkegaard sind subjektiv, introvertiert, auf ihn selbst, auf seine eigenen Eindrücke bezogen, gespiegelt durch das Prisma seines eigenen Innenlebens. Deswegen könnte man Kierkegaard genauso gut auch als einen Schriftsteller bezeichnen. Denn die meisten seiner Werke sind nicht in der ersten Person verfasst wie man es von Philosophen gewohnt ist, sondern er lässt mehrere Figuren zu Wort kommen, die sich über unterschiedliche philosophische Ansichten streiten. Seine Werke sind sehr dialektisch angelegt. In der Literaturwissenschaft wird diese Erzählart Polyphonie genannt. Und bereits in dieser Erzählweise besteht schon die erste Parallele zu Dostojewskij. Überhaupt sind es die beiden, die diese Erzählform geprägt haben. Auch Dostojewskij spaltet sich metaphorisch gesprochen in mehrere Figuren auf und transportiert seine Ideen und Eindrücke auf bestimmte literarische Figuren, die sich dann streiten.
Dass aber der Glaube die wichtigste Kategorie für Dostojewskij ist, kann man nicht nur in seinen Werken, sondern auch an seinen eigenen Worten erkennen: „Wenn mir jemand bewiesen hätte, dass Christus außerhalb der Wahrheit steht, und wenn die Wahrheit tatsächlich außerhalb Christi stünde, so würde ich es vorziehen, bei Christus und nicht bei der Wahrheit zu bleiben“[14]. Und natürlich ist der Glaube das zentrale Element in Dostojewskijs literarischen Werken. „Auf Erden aber irren wir wahrhaftig umher, und schwebte uns nicht das teuere Bild Christi vor, würden wir verloren sein und gänzlich in die Irre gehen, gleich dem Menschengeschlecht vor der Sintflut“[15], lässt Dostojewskij Staretz Sossima sagen. Eine Figur, die wie kaum eine andere mit Dostojewskij übereinstimmt. Aus den Worten des Staretz kann man erkennen, dass es ohne den Glauben keine geordnete menschliche Existenz geben kann. Untersucht man die Glaubensvorstellung von Dostojewskij stellt man fest, dass es große Übereinstimmungen mit Kierkegaard gibt. Der Glaube – das kann man in Dostojewskijs Werken erkennen – ist sehr irrational und subjektiv. „An die Existenz Gottes kann man glauben oder nicht glauben; mit logischem Denken hat das nichts zu tun“[16].
[...]
[1] PURKARTHOFER, Richard: Kierkegaard. Grundwissen Philosophie. Leipzig, 2005, S. 18.
[2] Ebd., S. 15.
[3] Vgl. Ebd.
[4] Vgl. Ebd., S. 16.
[5] LIESSMANN, Konrad Paul: Die großen Philosophen und ihre Probleme. Vorlesungen zur Einführung in die Philosophie 2. Wien, 1998, S. 118.
[6] HEISS, Robert: Die großen Dialektiker des 19. Jahrhunderts. Hegel Kierkegaard Marx. Köln, Berlin, 1963, S. 215.
[7] Vgl. HAMEL, Christine: Fjodor M. Dostojewskij. München, 2003, S. 13.
[8] BRAUN, Maximilian: Dostojewskij. Das Gesamtwerk als Vielfalt und Einheit. Göttingen, 1976, S. 21.
[9] HAMEL, Christine: a.a.O., S. 14.
[10] Vgl. HAMEL, Christine:a.a.O., S. 22.
[11] LÖWITH, Karl: Jener Einzelne: Kierkegaard. In: THEUNISSEN, Michael/ GREVE, Wilfried (Hrgs): Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards. Frankfurt am Main, 1979, S. 539-557, S. 552.
[12] GARDINER, Patrick: Kierkegaard. Freiburg im Breisgau, 2001, S. 114.
[13] Vgl. Ebd., S. 98.
[14] HAMEL, Christine: a.a.O., S. 52.
[15] DOSTOJEWSKIJ, Fjodor: Die Brüder Karamasow. Frankfurt am Main, 2006, S. 517.
[16] BRAUN, Maximilian: Dostojewskij. Das Gesamtwerk als Vielfalt und Einheit. Göttingen, 1976, S. 248.
- Quote paper
- Evgenij Haperskij (Author), 2007, Vergleich von Kierkegaard und Dostojewskij unter besonderer Berücksichtigung ihrer Religionsvorstellungen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120831
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