Kann ein Subjekt eine unbeeinflusste Beziehung zur Wahrheit herausbilden? Betrachtet man den Großteil der Studien Michael Foucaults, in denen er sich bis zu Beginn der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit der Beziehung von Wissen und Macht auseinandersetzt und dabei Begriffe wie Disziplinarmacht und diskursiven Praktiken prägt, so würde man die Eingangsfrage verneinen und das bis dahin kaum näher betrachtete Subjekt als ein fremd-geformtes Produkt bzw. einen unselbstständigen, sich selbst unterwerfenden Untertanen ansehen. Foucaults Beschäftigung mit der hellenistisch-römischen Philosophie hingegen läutet sein Spätwerk ein und lenkt das Forschungsinteresse vom politisch-objektiven Feld auf die ethisch-subjektive Beziehung des Subjekts zur Wahrheit. Wäre der Begriff einer „Genealogie der Moral“ nicht bereits durch Nietzsche geprägt worden, so gestand Foucault, könnte sein Werk auch diesen Titel tragen. Er betreibt eine genealogische und archäologische Analyse im Hinblick auf die wechselseitige Beziehung und variierende Gewichtung von Verhaltenskodizes und Subjektivierungsformen. Vom Subjekt ausgehend untersucht er dessen, auf die Entwicklungsgeschichte des Abendlandes bezogenen, Bedingungen, Praktiken und Formungsmöglichkeiten. Wenn man so will, eine Genealogie des Selbst, des Heils und der Wahrheit – Begriffe, die fortlaufend in seinen Texten thematisiert werden. Im 1. und 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung entdeckt er eine hellenistisch-römische Selbstkultur, die ein, sich selbst konstituierendes, souveränes Subjekt hervorbrachte, ja sogar eine Kunst des Selbst begründete, das zum gesamtgesellschaftlich praktizierten Prinzip erhoben wurde. Von Januar bis März 1982 hält Foucault am Collège de France die Vorlesung „Hermeneutik des Subjekts“ , in der er das hellenistische Modell und die dazugehörigen Selbsttechniken der Sorge um sich, in Abgrenzung zum platonischen und christlichen Entwurf, erläutert. Das Konzept ist geprägt von einem außergewöhnlich intensiven Existenzbewusstsein und einer Subjektivierungsvorstellung, das dem christlichen Ideal des Selbstverzichts diametral entgegensteht. Im Folgenden soll, unter Beachtung anderer Arbeiten aus Foucaults Spätwerk, die Beziehung des Subjekts zur Wahrheit in dieser Zeit untersucht werden. Dabei wird die Funktionsweise der Umkehr zu sich, besonders die des stoischen Modells von Seneca, zusammenfassend vorgestellt und anschließend genauer geprüft. Ein besonderes Augenmerk soll weiterhin auf der Funktion der Selbsterkenntnis bei der Herausbildung von Autonomie liegen, die in der Vorlesung Foucaults einen hohen Stellenwert genießt.
Gliederung
1. Einleitung
2. Sokrates und die hellenistisch-römische Selbstsorge
3. Wahrheit, Geistigkeit und Selbsterkenntnis von Sokrates bis in der Spätantike
4. Die Umkehr zu sich, der doppelte Blick und die geistige Modalisierung bei Seneca
5. Vollendete Selbsterkenntnis durch Naturerkenntnis im stoischen Denken
6. Schlussbetrachtungen
1. Einleitung
Kann ein Subjekt eine unbeeinflusste Beziehung zur Wahrheit herausbilden? Betrachtet man den Großteil der Studien Michael Foucaults, in denen er sich bis zu Beginn der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit der Beziehung von Wissen und Macht auseinandersetzt und dabei Begriffe wie Disziplinarmacht und diskursiven Praktiken prägt, so würde man die Eingangsfrage verneinen und das bis dahin kaum näher betrachtete Subjekt als ein fremd-geformtes Produkt bzw. einen unselbstständigen, sich selbst unterwerfenden Untertanen ansehen. Foucaults Beschäftigung mit der hellenistisch-römischen Philosophie hingegen läutet sein Spätwerk ein und lenkt das Forschungsinteresse vom politisch-objektiven Feld auf die ethisch-subjektive Beziehung des Subjekts zur Wahrheit. Wäre der Begriff einer „Genealogie der Moral“[1] nicht bereits durch Nietzsche geprägt worden, so gestand Foucault, könnte sein Werk auch diesen Titel tragen. Er betreibt eine genealogische und archäologische Analyse im Hinblick auf die wechselseitige Beziehung und variierende Gewichtung von Verhaltenskodizes und Subjektivierungsformen. Vom Subjekt ausgehend untersucht er dessen, auf die Entwicklungsgeschichte des Abendlandes bezogenen, Bedingungen, Praktiken und Formungsmöglichkeiten. Wenn man so will, eine Genealogie des Selbst, des Heils und der Wahrheit – Begriffe, die fortlaufend in seinen Texten thematisiert werden. Im 1. und 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung entdeckt er eine hellenistisch-römische Selbstkultur, die ein, sich selbst konstituierendes, souveränes Subjekt hervorbrachte, ja sogar eine Kunst des Selbst begründete, das zum gesamtgesellschaftlich praktizierten Prinzip erhoben wurde. Von Januar bis März 1982 hält Foucault am Collège de France die Vorlesung „Hermeneutik des Subjekts“[2], in der er das hellenistische Modell und die dazugehörigen Selbsttechniken der Sorge um sich, in Abgrenzung zum platonischen und christlichen Entwurf, erläutert. Das Konzept ist geprägt von einem außergewöhnlich intensiven Existenzbewusstsein und einer Subjektivierungsvorstellung, das dem christlichen Ideal des Selbstverzichts diametral entgegensteht. Im Folgenden soll, unter Beachtung anderer Arbeiten aus Foucaults Spätwerk, die Beziehung des Subjekts zur Wahrheit in dieser Zeit untersucht werden. Dabei wird die Funktionsweise der Umkehr zu sich, besonders die des stoischen Modells von Seneca, zusammenfassend vorgestellt und anschließend genauer geprüft. Ein besonderes Augenmerk soll weiterhin auf der Funktion der Selbsterkenntnis bei der Herausbildung von Autonomie liegen, die in der Vorlesung Foucaults einen hohen Stellenwert genießt.
2. Sokrates und die hellenistisch-römische Selbstsorge
Wie bereits angedeutet, stößt Foucault während der Studien zu seinem letzten großen Projekt „Sexualität und Wahrheit“ auf einen hellenistischen Subjektentwurf, der vom platonischen und christlichen Denken überlagert wurde und sich gänzlich von diesen unterscheidet. Nach umfangreichen Quellenstudien legt er ein Modell der Sorge um sich frei, das im 1. und 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung nahezu eine gesamtgesellschaftliche Bewegung umfasste. Mit Sokrates, der im Dialog Alkibiades die zuvor bestehenden antiken Selbsttechniken aufnahm, veränderte und zu einer neuen Blüte brachte, wird der Begriff der Sorge um sich (epimeleia heautou) in der hellenistischen Philosophie erneut und mit großen Auswirkungen eingeführt. Sokrates, der sich als Beauftragter Gottes begriff, um den Menschen zu verdeutlichen, dass sie sich mehr um sich selbst kümmern sollten als um weltliche Güter, lenkte den Blick der Menschen zurück auf das eigene Selbst, auf deren Seelen, die es zu kultivieren galt. Natürlich weist dieses Modell im Vergleich zu den späteren Entwicklungen bei den Stoikern, Epikureern und Kynikern deutliche Unterschiede auf. Schematisierend, ohne auf alle Einzelheiten näher einzugehen, die Foucault in seinen Vorlesungen zur „Hermeneutik des Subjekts“ sehr gut herausstellt, kann gesagt werden, dass im platonischen Modell die Selbstsorge und Selbsterkenntnis (gnothi seauton), ausgehend von der delphischen Aufforderung, beide Begriffe als fast identisch aufgefasst werden und von Foucault miteinander verschmolzen werden. Die vollendete Selbsterkenntnis, die sich in der Widerspiegelung mit dem Göttlichen vollzieht, wird der Selbstsorge gleichgesetzt. Die Selbstsorge bei Sokrates umfasst lediglich die Seele, während in der römischen Selbstsorge auch die Beziehungen des Selbst zum eigenen Körper, der Wirtschaft und Sexualität einfließen. Mit dem Bewusstsein des eigenen Nichtwissens und der unzureichenden pädagogischen Ausbildung beginnt der sokratische Prozess der Selbstsorge. Vorläufiges Ziel ist es, sich selbst so zu bilden, dass man Wissen über die Führung des Selbst erwirbt, um später der Polis von Nutzen zu sein. Die Sorge um sich ist noch stark vom Geist der Sorge um die anderen besetzt und fasst, ganz im Gegensatz zum stoischen Modell, in dem das Selbst zum letzten Zweck wird, das Selbst als den Gegenstand der Sorge um sich. Über das Heil der anderen wird auch das eigene Heil erreicht. Der Wissensaspekt, d.h. die Herausbildung von technischem und berufsspezifischem Wissen, steht bei Sokrates noch im Mittelpunkt. Ein weiteres Unterscheidungskriterium findet sich auch bei den Adressaten der Selbstsorge. Bei Sokrates handelt es sich um einen elitären Kreis junger Aristokraten, deren unzureichende pädagogische Ausbildung zum Nutzen der Allgemeinheit verbessert werden soll. Im späteren hellenistisch-römischen Modell des 1. und 2. Jahrhunderts, das auf Grund seiner ausgeprägten Selbstsorge von Foucault auch als das „Goldene Zeitalter der Sorge um sich“ bezeichnet wird, gab es keine Zugangsvoraussetzungen. Sie richtete sich an alle Menschen, wurde zu einem allgemeinen Ethos, jedoch nicht zum normativen Gesetz der Gesellschaft, dem nicht ausschließlich zwischen einem Lehrer und seinem Schüler, sondern nahezu in allen sozialen Beziehungen nachgegangen wurde. Eingeschränkt wird dies jedoch durch die persönliche Eignung und Einstellung des Einzelnen zur Selbstsorge, eine Analogie, die später auch im Christentum aufgenommen wurde. Obwohl die gesamte Kultur damit durchdrungen war, gab es nur wenige Personen mit ausreichender Willensstärke, die diesem Grundsatz auch wirklich folgen konnten. Das Modell des selektiven Heils findet sich später auch im Christentum wieder. Weiterhin verschiebt sich das Interesse der Selbstsorge von der Jugend auf das Alter, das nun als das anzustrebende Ziel des Lebens angesehen wird, auf das es sich angemessen vorzubereiten gilt.
Gegenüber dem platonischen Modell findet sich in der hellenistisch-römischen Selbstsorge eine sowohl qualitative als auch quantitative Erweiterung, eine „Rezentrierung bzw. Dezentrierung“[3], die sich mit den folgenden Punkten noch weiter charakterisieren lässt. Dem Selbst wird nun die volle Konzentration gewidmet, wodurch sich der Blickwinkel, die Intention und das Ziel ändern. Es geht nun darum, die eigene Existenz so bewusst wie möglich wahrzunehmen, den Blick auf sich umzukehren und das Heil in sich selbst zu finden. Dazu ist es nicht erforderlich, den Ursprung der Gedanken im „Ich“ nachzuspüren, wie es später in der christlichen Selbstsorge zum Ziel erhoben wird, sondern es soll ein allumfassendes und intensives Bewusstseins für das „Sich“ herausgebildet werden. Weiterhin wird die bewusste Wahrnehmung des eigenen Lebens in der Zeit, der Welt und gegenüber den Mitmenschen angestrebt. Ziel ist nicht die Ansammlung von Bildung, sondern viel mehr eine Verbesserung, Berichtigung, Umbildung und Befreiung des Selbst von fremder Herrschaft, Fehlentwicklung und unnützen Verpflichtungen. Das Selbst soll zum eigenen Heil gereinigt, gepflegt und beherrscht werden. Nichts ist verwerflicher, als Sklave seiner selbst zu sein. Die persönliche Freiheit, ob nun im Bezug auf den gesellschaftlichen Status oder die eigenen Leidenschaften, war das beherrschende Thema der Antike.[4] Um die Souveränität und den Selbstbesitz des eigenen Lebens und der Gedanken zu erreichen, muss zuerst eine Bestandsaufnahme und dann eine unablässige Bilanzierung des Selbst erfolgen. Die Selbstsorge wird im Wesentlichen zu einer individuellen und interindividuellen, als auch „autonomen, vielgestaltigen und zum Selbstzweck gewordenen Praxis“[5], der diverse Techniken angehören, um das Selbst auszubilden. Zur besonderen Eigenart dieser Selbstsorge zählt die kritische Funktion, die einerseits auf das Selbst, aber auch gegenüber der Gesellschaft und deren Lehren eine Anwendung findet. Das Wesensmerkmal der Selbstsorge ist der „Bruch“[6] mit dem Außen, eine Freiheit, um die es sich ständig zu bemühen gilt. Das Christentum übernimmt einige der Praktiken, setzt aber die Exegese des Selbst an erste Stelle und strebt den Verzicht der eigenen Existenz, in Vorbereitung auf ein besseres Leben nach dem Tod, an. Die hellenistisch-römische Selbstsorge hingegen ist vollkommen dem Diesseits zugewandt und sucht die irdische Vervollkommnung.
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[1] Foucault, Michael: Ästhetik der Existenz. Hrsg. Ewald, Francois und Daniel Defert. Frankfurt am Main 2007. Seite 281. Im weiteren Verlauf mit „ÄdE“ bezeichnet.
[2] Foucault, Michael: Hermeneutik des Subjekts. Frankfurt am Main 2004. In alle weiteren Anführungen mit „HdS“ bezeichnet.
[3] HdS, Seite 125.
[4] Die Ethik der Sorge um sich. Gespräch Michael Foucaults mit Helmut Becker, Raul Fornet-Betancourt, Alfred Gomez-Müller, 20.01.1984. In: ÄdE, Seite 258.
[5] HdS, Seite 117.
[6] HdS, Seite 268.
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