Diese Arbeit beschäftigt sich mit den folgenden Fragen: Kommt es bald zu einem neuen Integrationsschritt innerhalb der Europäischen Union? Wie nah steht die EU vor einer gesamteuropäischen Armee?
Die Idee zur Errichtung einer europäischen Armee begleitet uns bereits seit der Gründung der Europäischen Union. In der Geschichte des Staatenverbundes gab es wiederholt Versuche, die Heere der Mitgliedsstaaten zu vereinen oder gemeinsame Projekte voranzubringen. Doch die heute bestehenden Kooperationen, etwa wie die EU-Battlegroups, erscheinen den aktuellen Bedrohungen kaum gewachsen. Mit einem sich aggressiv verhaltenden Russland im Osten und der Neuausrichtung der USA, angesichts einer gefürchteten Bedrohung vonseiten der Volksrepublik China, sieht man sich auch innerhalb der EU zu neuer militärischer Kooperation gezwungen. Mithilfe von Andrew Moravcsiks liberalen Intergouvernementalismus soll dargestellt werden, was die Präferenzen der entscheidenden europäischen Mitgliedstaaten (Deutschland, Frankreich und Italien) sind und wie sich die Präferenzen später institutionalisieren könnten.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Entwicklung der Europäischen Sicherheitspolitik im geschichtlichen Kontext
3. Die Theorie des liberalen Intergouvernementalismus nach Andrew Moravcsik
3.1. Präferenzbildung und die Liberale Theorie
3.2. Zwischenstaatliche Verhandlung und die intergouvernementale Analyse
3.3. Design der Institution und die funktionale Theorie des Institutional Choice
4. Aktueller Stand der nationalstaatlichen Präferen zen in ausgewählten Ländern
4.1. Deutschlands nationale Präferenz
4.2. Frankreichs nationale Präferenzen
4.3. Italiens nationale Präferenzen
5. Ausblick für zwischenstaatliche Verhandlung und eine mögliche Institutionalisierung
5.1. Konklusion
6. Literaturverzeichnis:
Eine Europäische Armee als neuer Integrationsschritt – eine liberal intergouvernementale Analyse
1. Einleitung
„Wir [müssen] von einem Europa, das innerhalb seiner Grenzen zusammenarbeitet, zu einem Europa übergehen […], das in der Welt Stärke beweist, sich souverän zeigt, seine eigenen Entscheidungen trifft und sein eigenes Schicksal bestimmt.“1
Mit diesen Worten trat der französische Präsident Emmanuel Macron seine EU- Ratspräsidentschaft für die erste Jahreshälfte 2022 an. Die bei seiner Rede angesprochene Souveränität soll mit einer Stärkung der europäischen Verteidigungspolitik erreicht werde.
Schon seit seinem Amtsantritt spricht sich Macron auch für eine europäische Armee aus und wurde dabei teilweise von der deutschen Regierung unter Angela Merkel unterstützt.
Es soll nun ein „strategischer Kompass“2 ausgearbeitet werden, der die aktuelle Bedrohungslage und Möglichkeiten des gemeinsamen Handelns innerhalb der EU- Mitgliedsländer aufzeigt, wie er bereits unter deutschem Vorsitz angeregt wurde.3 Heute ausschlaggebend für diese militärische Souveränitätsbestrebungen sind vor allem das imperialistische Verhalten Russlands nach Westen hin und die Neuausrichtung der USA, angesichts einer gefürchteten Bedrohung von Seiten der Volksrepublik China. Doch der Gedanke eines militärisch autonomeren Europas bestand schon vor der Gründung der europäischen Union, wie wir sie heute kennen.
Es ist am wahrscheinlich, dass es einen großen Vertrag (einen sogenannten ‚grand bargain‘) braucht, um eine gesamteuropäische Armee zu etablieren. Solche wichtigen Integrationsschritte lassen sich in der Politikwissenschaft mit Hilfe der Theorie des liberalen Intergouvernementalismus nach Andrew Moravcsik analysieren, der besonders aussagekräftig bei eben diesen ‚grand bargains‘ erscheint. In dieser Arbeit soll nun die Frage gestellt und untersucht werden, ob der liberale Intergouvernementalismus einen weiteren Integrationsschritt, in Bezug auf eine europäische Armee, erwarten lässt.
Im Zuge dessen wird im Folgenden die Idee der militärischen Souveränität der europäischen Union geschichtlich umrissen und die Meinungsbilder und Präferenzen in Deutschland, Frankreich und Italien dargestellt. Daraus soll ein Ausblick auf mögliche Integrationsschritte abgeleitet werden, ob und wie eine europäische Armee Gestalt annehmen könnte.
Unter einer europäischen Armee (auch Europaarmee genannt) versteht man bisweilen eine Streitkraft die direkt der europäischen Union unterstellt ist und nicht den Nationalstaaten per se.
2. Entwicklung der Europäischen Sicherheitspolitik im geschichtlichen Kontext
Der französische Ministerpräsident René Pleven unterbreitete bereits im Jahr 1950 den Vorschlag eine Europaarmee unter einem europäischen Verteidigungsminister zu schaffen. Doch dieser Vorschlag scheiterte 1954 gemeinsam mit der Europäischen
Verteidigungsgemeinschaft (EVG), vor dem, nach langen Verhandlungen mittlerweile gaullistisch geprägten, französischen Parlament.4
Mit dem Vertrag von Maastricht 1992 wurde die europäische Union gegründet und die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) integriert. Die EU bestand damit in einer Drei- Säulen- Struktur, welche die europäische Gemeinschaft (EG), die GSVP sowie die Zusammenarbeit im Justizbereich umfasste. Doch da sich die europäische Union nicht als Militärbündnis verstand umfasste der Maastricht- Vertrag, im Unterschied zur WEU (Westeuropäischen Union) oder der NATO, keinen Beistandspakt.
2003 erfolgte ein neuer Versuch zur Schaffung einer Europa- Armee, diesmal innerhalb der GSVP-Säule. Hierbei wurde vorgeschlagen den sogenannten Eurokorps zu errichten, der als mögliche europäische Interventionstruppe dienen sollte. Dieser umfasst heute ein etwa 60.000 Personen starkes Heer, an dem sich jedoch nicht alle EU- Mitgliedstaaten beteiligen.
Erst mit dem Vertrag von Lissabon 2009 trat eine wechselseitige Beistandsklausel in Kraft. Diese wirkt, sobald ein Mitgliedsstaat der EU angegriffen wird. In Art. 42 Abs. 7 des EU- Vertrags steht dazu:
„Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung […]“
Heute umfasst die EU eine Reihe von Verteidigungspolitischen Institutionen, darunter den EU- Militärausschuss, die europäische Verteidigungsagentur oder das Institut der europäischen Union für Sicherheitsstudien, sowie eine Vielzahl von multinationalen Streitkräften. Als Streitkräfte der EU- weiten Abmachung zur gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik stehen heute etwa 1500 Personen in den sogenannten EU Battlegroups bereit. Dies sind halbjährig aufgestellte Kriseneinsatzkräfte, die dem Politischen und Sicherheitspolitischem Komitee der EU (PSK) unterstellt sind.5
3. Die Theorie des liberalen Intergouvernementalismus nach Andrew Moravcsik
Um eine Analyse der möglichen Integrationsschritte hin zu einer europäischen Armee vorzunehmen, gilt es zunächst die Basis der Analyse, Andrew Moravcsiks Theorie des liberalen Intergouvernementalismus (im Folgenden auch als ‚LI‘ bezeichnet), aufzuzeigen. Diese Großtheorie der europäischen Integration umfasst eine dreistufige Erklärung der Integrationsprozesse, die letztendlich aus verschiedenen Theorien zusammengesetzt wird.
Grundlegend begreift Moravcsik zunächst den Staat als einen rational handelnden Akteur im internationalen Geflecht6, die EU- Mitgliedsstaaten als zentrale Akteure und die großen europäischen Verträge als zentrale Integrationsschritte, um davon ausgehend seine Theorie zu entwickeln.
3.1. Präferenzbildung und die Liberale Theorie
Damit die großen EU- Verträge entstehen bedarf es gemäß dem LI zuerst eine Herausbildung von nationalen Präferenzen. Diese entstehen nach der Theorie des Liberalismus. Es wird angenommen, dass die zentralen Akteure der internationalen Politik Individuen und private Gruppen sind. Diese Gesellschaftlichen Akteure konkurrieren innerstaatlich um die Durchsetzung ihrer Eigeninteressen. Die durchsetzungsfähigsten Interessen werden dann auf den Staat übertragen und dieser Vertritt diese fortlaufend in der Weltpolitik, als seine nationalstaatliche Präferenz.7
3.2. Zwischenstaatliche Verhandlung und die intergouvernementale Analyse
Haben sich nun staatliche Präferenzen herausgebildet, werden diese Interessen bei multilateralen Verhandlungen vom Staat vertreten. Der liberale Intergouvernementalismus erklärt die Ergebnisse dieser Verhandlungen durch die Analyse der Interessenkonstellation. Besonderes im Fokus liegt die sogenannte ‚bargain power‘ (Verhandlungsmacht), die beispielsweise von der Größe oder wirtschaftlichen Stärke des jeweiligen Staates abhängt. Umso größer bzw. wirtschaftlich stärker ein Staat ist, desto größer ist auch seine ‚bargain power‘. Dennoch zeichnen sich die Verhandlungsprozesse zusätzlich durch eine asymmetrische Interdependenz aus. Das bedeutet, dass Staaten die stärker auf Kooperation angewiesen sind auch abhängiger vom Verhandlungsausgang sind und deswegen stärker nachgeben müssen.
3.3. Design der Institution und die funktionale Theorie des Institutional Choice
Haben sich die Staaten für Integration in einem bestimmten Bereich entschieden, gilt es nun darüber zu urteilen, wie Entscheidungen in diesem Sachbereich getroffen werden und wie die mögliche Institution beschaffen sein sollten. Als mögliche Optionen stehen den Staaten ‚pooling‘ und ‚delegation‘ zur Verfügung. Als ‚pooling‘ bezeichnet man, wenn Staaten ihre Kompetenzen gemeinsam ausüben und ‚delegation‘ bedeutet, dass die Mitgliedsstaaten ihre Kompetenzen an eingerichtete supranationale Institutionen übertragen.
Da bisher kein europäischer Vertrag besteht, der eine europäische Armee entstehen lassen würde, wird diese Arbeit nur den ersten Teilschritt des liberalen Intergouvernementalismus darstellen und es bei einem Ausblick für die zwischenstaatliche Verhandlung sowie die Beschaffenheit einer möglichen supranationalen Institution belassen.
4. Aktueller Stand der nationalstaatlichen Präferenzen in ausgewählten Ländern
Im Folgenden sollen die nationalstaatlichen Präferenzen einiger Mitgliedstaaten der europäischen Union dargestellt werden. Zur Veranschaulichung dienen die drei territorial und wirtschaftlich stärksten Länder der EU Deutschland, Frankreich und Italien, die außerdem über die europaweit höchsten Militärausgaben verfügen (Stand 2020)8.
4.1. Deutschlands nationale Präferenz
Deutschlands ist mit 83,16 Millionen Einwohnern (Stand 2021) das bevölkerungsstärkste Land der europäischen Union9 und verfügt außerdem, mit 3.332, 23 Milliarden Euro (Stand 2020), über das größte Bruttoinlandsprodukt der Mitgliedsstaaten10.
Die am aktuell zahlreichsten im 20. deutschen Bundestag vertretende und kanzler-stellende Partei SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) setzt sich bereits seit vielen Jahren für eine stärkere Europäisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein. Schon 2007 formulierten die Sozialdemokraten, in ihrem Parteiprogramm, das Ziel zur Schaffung einer europäischen Armee.11 Die zweitstärkste Partei, die CDU (Christliche Demokratische Union Deutschlands), schreibt in ihrem Wahlprogramm 2021, dass sie „langfristig gemeinsame europäische Streitkräfte aufstellen [wolle]“12.
Auch eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung spricht sich für eine europäische Armee aus. Ein im Jahr 2016 veröffentlichte repräsentative Studie der Friedrich- Ebert- Stiftung ergab, dass sich 54% der Befragten für die Einrichtung einer europäischen Armee aussprachen.13
Allerdings steht Deutschland vermehrt in der Kritik den Vorstoß zu einer gemeinsame Verteidigungspolitik zu hemmen, denn zum einen verfolgt das politische Berlin seit mehreren Jahren eine restriktive Rüstungsexportpolitik14 und zum anderen besteht im Unterschied zu Deutschland in anderen EU- Mitgliedsstaaten keine Parlamentsbeteiligung für militärische Einsätze des jeweiligen Heeres oder es gibt Ausnahmeregelungen für schnelle Einsatztruppen15. Auch Angela Merkel musste 2019, nachdem sie zuvor eine „echte europäische Armee“ geforderte, eingestehen, dass ihre Forderung lediglich „sinnbildlich“ und perspektivisch zu verstehen sei.16
4.2. Frankreichs nationale Präferenzen
Frankreich ist mit 67,44 Millionen Einwohnern17 und einem Bruttoinlandsprodukt 2.278,95 Milliarden Euro18, nach Deutschland, in beiden Messgrößen das zweitstärkste Land der EU.
Der französische Präsident Emanuel Macron wurde bereits in der Einleitung zitiert. Tatsächlich spricht sich der Präsident, sowie seine Partei ‚La République en Marche‘, seit dem Amtseintritt für eine gesamteuropäische Armee aus.19
Auch die die französische Bevölkerung scheint der Idee aufgeschlossener zu sein, als es die Deutschen sind. 65% der Franzosen befürworten die Gründung einer Europaarmee (Stand 2017)20.
4.3. Italiens nationale Präferenzen
Mit einem Bruttoinlandsprodukt von 1.651,59 Milliarden Euro21 und 59,26 Millionen Einwohner22 ist Italien der drittgrößte europäische Mitgliedsstaat.
Äquivalent zu Deutschland und Frankreich sprach sich auch die italienische Regierung für eine europäische Armee aus. Schon vor der Sorbonne- Rede des französischen Präsidenten Macron 2016 schlug Rom die Schöpfung einer „multinationale military force“ im europäischen Kontext vor.23
Ebenso steht die italienische Bevölkerung positiv der europäischen Verteidigungspolitik gegenüber und 56% unterstützen die Gründung einer Europaarmee (Stand 2017).24
[...]
1 Macron, Emanuel (2021): Rede zur französischen EU- Ratspräsidentschaft
2 Macron spricht auch von einem „europäischen Weißbuch zu den Themen Verteidigung und Sicherheit“
3 (Vgl. Macron, Emanuel (2021): Rede zur französischen Ratspräsidentschaft)
4 (Vgl. Keukeleire, Stephan (2010): European Security and Defense Policy: From Taboo to a Spearhead of EU Foreign Policy)
5 (Vgl. Krause, Ulf von (2019): Die Bundeswehr als Teil einer Europäischen Armee, S.23 ff)
6 (Vgl. Moravcsik, Andrew (1998): The Choice for Europe, S.19 ff)
7 (Vgl. Moravcsik, Andrew (1997): Taking Preference Seriously, S. 513 ff)
8 (Vgl. Statista, Ranking der 15 Länder mit den weltweit höchsten Militärausgaben im Jahr 2020)
9 (Vgl. Statista, Europäische Union: Einwohnerzahl in den EU-Mitgliedstaaten¹ ² im Jahr 2020 und Prognosen bis zum Jahr 2100)
10 (Vgl. Statista, Europäische Union: Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den Mitgliedstaaten der EU im Jahr 2020)
11 (Vgl. Bartels, Hans Peter und Kellner, Anna Maria und Optenhögel, Uwe (2017): Strategic Autonomy and the Defence of Europe)
12 CDU.CSU (2021): Das Programm für Stabilität und Erneuerung. S. 19
13 (Vgl. Friedrich- Ebert- Stiftung (2016), Umfrage: Knappe Mehrheit für Europäische Armee)
14 (Vgl. Krause, Ulf von (2019): Die Bundeswehr als Teil einer Europäischen Armee S. 19)
15 (Vgl. Gutman, Chris (2018): Parlamentsbeteiligung in anderen NATO- und EU-Staatenangesichts verstärkter Multinationalität und Integration, S.138 ff)
16 (Vgl. Krause, Ulf von (2019): Die Bundeswehr als Teil einer Europäischen Armee S. 37 f)
17 (Vgl. Statista, Europäische Union: Einwohnerzahl in den EU-Mitgliedstaaten im Jahr 2020 und Prognosen bis zum Jahr 2100)
18 (Vgl. Statista, Europäische Union: Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den Mitgliedstaaten der EU im Jahr 2020)
19 (Vgl. Debinski, Matthias und Peters, Dirk (2018): Eine Armee für die Europäische Union?, S.1 ff)
20 (Vgl. Statista (2019), Where Support is Highest for an EU Army)
21 (Vgl. Statista, Europäische Union: Einwohnerzahl in den EU-Mitgliedstaaten im Jahr 2020 und Prognosen bis zum Jahr 2100)
22 (Vgl. Statista, Europäische Union: Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den Mitgliedstaaten der EU im Jahr 2020)
23 (Vgl. Keohane, Daniel (2017): The Defense Policy of Italy and Poland, S.3)
24 (Vgl. Statista (2019): Where Support is Highest for an EU Army
- Quote paper
- Moritz Schulze (Author), 2022, Eine Europäische Armee als neuer Integrationsschritt, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1195920
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