Die Bachelorarbeit behandelt die folgende Frage: Wie kann die Soziale Arbeit bei der Bewältigung der Bedarfe von Autist:innen unterstützen? Eine umfassende Literaturarbeit geht dieser leitenden Frage nach und schafft dafür zunächst Grundlagen über Autismus allgemein sowie deren unterschiedlichen Perspektiven von klinischer und Betroffenensicht, geht über in die rechtliche Einordnung, die dann den Rahmen der Sozialen Arbeit absteckt und nähert sich schließlich ihrer Handlungsmöglichkeiten im Kontext von Autismus.
Autismus wird heute von einer breiteren Öffentlichkeit verhandelt als noch vor einigen Jahren und ist für viele Menschen durch die Auseinandersetzung in Film und Serien ein Begriff. Mindestens genauso groß ist die Fülle an Verallgemeinerungen und Falschannahmen, die Autismus und Autist:innen gleichermaßen betreffen. Von automatischen Zuschreibungen der geistigen Behinderung, fehlender Intelligenz, Problemverhalten oder sozialer Unfähigkeit bis hin zur Vorstellung von Superkräften in Form unglaublicher kognitiver Leistungen wirkt das Bild über Autismus diffus und unübersichtlich.
Neben diesen wenig wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Autismus herrschten selbst in der Fachwelt viele Annahmen, die zunehmend obsolet erscheinen. Gemein ist den angerissenen Bildern, dass diese den Facetten und der Vielfältigkeit von Autismus und erst recht nicht den Menschen, die es betrifft, gerecht werden können. Die Relevanz der Auseinandersetzung mit der Thematik ergibt sich aber nicht allein aus einem weit verbreitetem Laienverständnis, sondern ebenfalls aus den Prävalenzzahlen.
In Anbetracht der vielfältigen Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit und ihrer vermeintlichen Allzuständigkeit treffen Sozialarbeitende zwangsläufig auf Menschen im Autismus-Spektrum. Aus diesem Grund erscheint es verwunderlich, dass zum einen gerade die Soziale Arbeit kaum in Bezug zu Autismus verhandelt wird und zum anderen die Perspektive der Betroffenen selbst selten im Fokus der Aufmerksamkeit steht.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Grundlegende Terminologie und Historie des Gegenstands Autismus
3 Perspektiven auf Autismus
3.1 Autismus aus klinischer Perspektive
3.1.1 Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD)
3.1.2 Neurologisch-psychiatrische Erklärungsansätze
3.2 Autismus aus Betroffenenperspektive
3.2.1 Autismus im Zuge von Selbstvertretungsorganisation
3.2.2 Das Autismus-Konzept nach ASAN
3.3 Kritische Beurteilung der verschiedenen Perspektiven auf Autismus
4 Rechtliche Grundlagen
4.1 Das Verständnis von Autismus als Behinderung im rechtlichen Kontext
4.2 Rechtliche Entwicklungen beim Teilhaberecht für behinderte Menschen
4.3 Das Verhältnis von Bedürfnis, Bedarf und Teilhabe
4.4 Bedarfsermittlung in der Eingliederungshilfe
5 Die Soziale Arbeit und Autismus
5.1 Definition Sozialer Arbeit und Annäherung an Autismus
5.2 Soziale Probleme als Bindeglied zwischen Autismus und Sozialer Arbeit
5.3 Die Mandate der Sozialen Arbeit
5.4 Grundhaltungen und Prinzipien der Sozialen Arbeit im Umgang mit Autismus
6 Bewältigung im Kontext von Autismus und Sozialer Arbeit
6.1 Theoretischer Zugang zum Begriff Bewältigung
6.2 Vulnerabilität, Stress, Ängste und die Bewältigung von Menschen im Autismus-Spektrum
7 Möglichkeiten der Unterstützung von Autist*innen durch die Soziale Arbeit
7.1 Autismus-Therapiezentren
7.2 Stress und Ängste
7.3 Beratung und Psychoedukation
8 Fazit
Literaturverzeichnis
Rechtsquellenverzeichnis
Abstrakt (Deutsch)
Autismus und Soziale Arbeit werden bislang kaum gemeinsam verhandelt, obwohl die Prävalenzzahlen für mehr Beachtung sprechen und die Perspektive der Betroffenen eine deutliche Kritik an der unzulänglichen Unterstützung der bisher zumeist betrauten Disziplinen Psychiatrie und Medizin äußern. Aus diesem Grund zielt die vorliegende Arbeit darauf ab Autismus verstanden als Behinderung und Soziale Arbeit als Profession sowie Disziplin in Verbindung zu setzen und zu klären, ob und wie die Soziale Arbeit bei der Be-wältigung der Bedarfe von Autist*innen unterstützen kann. Eine umfassende Literatur-arbeit soll dieser leitenden Frage nachgehen und schafft dafür zunächst Grundlagen über Autismus allgemein sowie deren unterschiedlichen Perspektiven von klinischer und Betroffenensicht, geht über in die rechtliche Einordnung, die dann den Rahmen der Sozialen Arbeit absteckt und nähert sich schließlich ihrer Handlungsmöglichkeiten im Kontext von Autismus. Es konnte dabei in der Betrachtung von Autismus zwischen Bedarf und Bewältigung in der Sozialen Arbeit aufgezeigt werden, dass vielfältigste Querverbindungen zwischen den Bereichen bestehen und die Soziale Arbeit mit Ihren Grundhaltungen des Empowerments und der Ressourcenorientierung im Einklang mit der Betroffenenperspektive gewinn-bringende Ansätze zur Unterstützung bei der Bewältigung der Bedarfe von Autist*innen liefern kann. Beispielhaft zu nennen sind hierbei Beratung, Psychoedukation, die Unter-stützung beim Umgang mit Stress und Ängsten und verschiedene Interventionen und Interventionsmethoden, die im Rahmen der Autismus Therapiezentren Anwendung finden.
Abstract (English)
Autism and social work have rarely been considered and approached together so far. This although the prevalence figures speak for more attention and the perspective of those affected expresses a clear criticism of the inadequate support of the previously mostly entrusted disciplines of psychiatry and medicine. For this reason, this work aims to relate autism as a disability and social work as a profession, as well as discipline, and to clarify whether and how social work can support autistic people in coping with needs. This com-prehensive literature work aims to pursue this leading question. This is done by establishing basic principles of autism generally as well as developing an understanding of differences from a clinical perspective and that of the impacted parties. This is followed by the legal classification, which then determines the framework of social work and finally approaches its possibilities for handling in the context of autism. In the consideration of autism between needs and coping in social work, it could be shown there are many cross-connections between the areas and social work with its basic attitudes of empowerment and resource orientation in harmony with the affected person's perspective can provide profitable approaches to support in coping with the needs of autistic people. Examples include coun-selling, psychoeducation, support in dealing with stress and anxiety, and various interventions and intervention methods used in the autism therapy centres.
Abkürzungsverzeichnis
ABA Aplied Behaviour Analysis
Abs Absatz
ARM Autism Rights Movement
ASAN Autistic Self Advocacy Network
BMG Bundesministeriums für Gesundheit
BTHG Bundesteilhabegesetz
bzw beziehungsweise
DBSH Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V.
d.h das heißt
DIMDI Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information
DSM Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
ebd ebenda
e.G eingetragene Genossenschaft
et al et alii (und andere)
etc et cetera (und so weiter)
e.V eingetragener Verein
f folgende
gGmbH gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung
ICD International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems
ICF International Classification of Functioning, Disability and Health
IFSW International Federation of Social Workers
ITP Integrierter Teilhabeplan
KKG Kuratoriums für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen
PECS Picture Exchange Communication System
PVU Positive Verhaltensunterstützung
S Seite
SABE Self-Advocates Becoming Empowered
SGB Sozialgesetzbuch
TEACCH Treatment and Education for Autistic and related Communication handicapped Children
ToM Theory of Mind
UN-BRK United Nations Behindertenrechtskonvention/Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung
US(A) United States (of America)
u.a.m und andere mehr
vgl vergleiche
WHO World Health Organization
z.B zum Beispiel
1 Einleitung
Autismus wird heute von einer breiteren Öffentlichkeit verhandelt als noch vor einigen Jahren und ist für viele Menschen durch die Auseinandersetzung in Film und Serien ein Begriff. Mindestens genauso groß ist die Fülle an Verallgemeinerungen und Falsch-annahmen die Autismus und Autist*innen gleichermaßen betreffen. Von automatischen Zuschreibungen der geistigen Behinderung, fehlender Intelligenz, Problemverhalten oder sozialer Unfähigkeit bis hin zur Vorstellung von Superkräften in Form unglaublicher kognitiver Leistungen wirkt das Bild über Autismus Diffus und unübersichtlich. Neben diesen wenig wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Autismus herrschten selbst in der Fachwelt und den lange ausschließlich mit Autismus betrauten Disziplinen wie der Medizin, Psychiatrie und Psychologie viele Annahmen, die zunehmend obsolet erscheinen. Gemein ist den angerissenen Bildern, dass diese den Facetten und der Vielfältigkeit von Autismus und erst recht nicht den Menschen, die es betrifft, gerecht werden können.
Die Relevanz der Auseinandersetzung mit der Thematik ergibt sich aber nicht allein aus einem weit verbreitetem Laienverständnis, sondern ebenfalls aus den Prävalenzzahlen, die im Bereich Autismus weltweit zwar stark variieren, wobei jedoch konstatiert werden muss, dass bei circa einem Prozent der Menschheit Autismus auftritt.1
In Anbetracht der vielfältigen Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit und ihrer vermeintlichen Allzuständigkeit treffen Sozialarbeitende somit zwangsläufig auf Menschen im Autismus-Spektrum. Aus diesem Grund erscheint es verwunderlich, dass zum einen gerade die Soziale Arbeit kaum in Bezug zu Autismus verhandelt wird und zum anderen die Perspektive der Betroffenen selbst selten im Fokus der Aufmerksamkeit steht. Dem Alltag von Autist*innen, der Bewältigung ihrer alltäglichen Anforderungen und den daraus resultierenden Bedarfen sowie den Aspekten der Unterstützung im Einklang mit ihrer Perspektive wird kaum Rech-nung getragen. Um der nun deutlich gewordenen Bedeutung nachzukommen, behandelt die vorliegende Arbeit die Forschungsfrage: Wie kann die Soziale Arbeit bei der Bewältigung der Bedarfe von Autist*innen unterstützen?
Das Ziel der Ausarbeitung ist es herauszustellen, dass die Soziale Arbeit und Autismus vielfache Bezüge aufweisen, die im Einklang mit der Perspektive von Autist*innen, ihren Zielen und Vorstellungen gewinnbringende Ansätze bei der Unterstützung der Bewältigung ihrer spezifischen Bedarfe beinhaltet. Für diese Auseinandersetzung erfolgt die Betrachtung von Autismus zwischen Bedarf und Bewältigung in der Sozialen Arbeit. Besondere Auf-merksamkeit erhält in dieser wissenschaftlichen Ausarbeitung die Sichtweise von Betrof-fenen bei der Definition und Bewältigung von Autismus. Dabei legt die vorliegende Arbeit den Fokus auf sprechende erwachsene Autist*innen, im Bereich der „Normalintelligenz“ deren Symptomatik primär durch ihren Autismus und den Folgen in der Interaktion mit der Umwelt geprägt werden.
Für die Beantwortung der Forschungsfrage wird anhand einer Literaturrecherche aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen wie der Medizin, der Psychiatrie, der Sozialen Arbeit, der Sozialpädagogik, der Pädagogik und der Rechtswissenschaft eine umfassende Theoriearbeit erstellt.
Konkret bedeutet dies, zunächst in den Gegenstand Autismus einzuführen. Hierfür werden verschiedene, für die Arbeit relevante, Begrifflichkeiten erläutert (Kapitel 2) und Autismus aus klinischer Perspektive sowie aus Betroffenenperspektive dargestellt (Kapitel 3). Davon ausgehend werden die aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen erläutert, die Bedarfe definieren und dadurch die Vergabe von Sozialleistungen an Autist*innen regeln (Kapitel 4). In Kapitel fünf wird die Soziale Arbeit betrachtet und eine Verbindung zu Autismus hergestellt. Schließlich wird aufgeführt, wie Autist*innen selbst ihren Alltag und die damit verbundenen Herausforderungen bewältigen können (Kapitel 6) und wie die Soziale Arbeit sie konkret dabei unterstützen kann (Kapitel 7).
2 Grundlegende Terminologie und Historie des Gegenstands Autismus
Das Wort Autismus stammt aus dem Griechischen und setzt sich aus „autos“, im Sinne von „selbst“ und „ismos“, im Verständnis von Zustand zusammen.2 Der Begriff Autismus wurde erstmals von Eugen Bleuler (1857-1939) im Rahmen der Schizophrenie-Forschung im Jahre 1911 benannt.3 Bleuler verstand den Begriff als „[…] soziale[r] Rückzug und ein Zurück-weichen in die eigene Gedankenwelt bei immer spärlicherer Kommunikation bei Menschen mit schizophrenieformen Störungen.“4
Hans Asperger und Leo Kanner prägten durch ihre zeitgleichen, weitestgehend unabhängi-gen Beobachtungen eine polare Unterscheidung vom Asperger-Syndrom und frühkindlichen Autismus.5 Doch die Frage, ob sich die verschiedenen Konzepte von Autismus klar von-einander trennen lassen, beziehungsweise ob sie sich qualitativ oder quantitativ tatsächlich unterscheiden, steht seit Jahren zur Diskussion.6 Eine valide und zuverlässige Trennung nach konsistenten wissenschaftlichen Kriterien konnte nicht belegt werden.7
Aktuell erfährt das Phänomen Autismus eine Entwicklung von ursprünglich eng einge-grenzten, abgegrenzten und seltenen Störungsbildern hin zu einem breiten übergreifenden Spektrum. Damit verbunden ist ein sprachlicher Wandel der Begrifflichkeiten.
Im deutschsprachigen Raum werden die Diagnosen Asperger-Syndrom, frühkindlicher Autismus und Atypischer Autismus auf Grundlage der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) nach wie vor getrennt voneinander vergeben.8 Wobei mittlerweile auch in Deutschland die Bezeichnung der Autismus-Spektrum-Störungen als inoffizieller Oberbegriff für die drei benannten autistischen Charakteristika fungiert.9 Der Wandel, der hierzulande zumindest in einen neuen Begriff für die vermeintlich verschiedenen Formen von Autismus mündete, hatte in den USA noch größeren Einfluss. Dort hat das Konzept des Autismus-Spektrums bereits Einzug in das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM-Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) erhalten und das kategoriale System zugunsten eines dimensionalen Ansatzes abgelöst, in welchem anhand der Feststellung eines Schweregrads differenziert wird.10 Die einzelnen Kategorien der vormals autistischen Bilder (Asperger-Syndrom, frühkindlicher Autismus und Atypischer Autismus) werden dabei vom Autismus-Spektrum abgelöst, das ursprünglich auf die Autismus Forscherin Lorna Wing zurück geht.11 Im ICD-11, welches am 1. Januar 2022 in Kraft treten soll12, wird dieser Trend übernommen werden.13
In der Fachliteratur erscheinen verschiedene Bezeichnungen für das Autismus-Spektrum, was auf eine uneinheitliche Verwendung des Begriffs hindeutet. In Deutschland unter-scheidet sich beispielsweise die praktische Diagnostik nach dem ICD-10 von den in der Theorie verwendeten Begrifflichkeiten. Auch wenn in der vorliegenden Arbeit Menschen mit Diagnosen im Kontext von Autismus in den Fokus gerückt, diese in ihrer jeweiligen Individualität wertgeschätzt und ihre Besonderheit respektiert werden sollen, sind defizitäre Begriffe wie Störung oder Störungsbild bei der Betrachtung dieser Thematik zwangsläufig vertreten. Dabei beinhaltet das Autismus-Spektrum nicht ausschließlich nur Probleme und Schwächen für die Betroffenen, sondern auch spezielle Stärken und Fähigkeiten.14 Durch die moderne Betrachtung dieser ebenfalls vorhandenen positiven Aspekte kann Autismus mittlerweile nicht mehr einfach als eine Krankheit oder Störung abgetan werden.15 Selbstvertretungsorganisationen sprechen sich dafür aus, Autismus nicht zwangsläufig als Störung oder psychische Erkrankung zu verstehen.16 Von Bedeutung ist jedoch, dass Autismus ebenso wenig ausschließlich durch defizitäre Zuschreibungen dargestellt sowie positiv beschönigt werden sollte. Autismus kann einher gehen mit Beeinträchtigungen und Störungen, die sich auf die Interaktion zwischen Umwelt und Individuum beziehen und für Betroffene zu Leid und Unterstützungsbedarfen führen können.17
Dabei lehnen Autist*innen ebenso wie verschiedene Wissenschaftler*innen18 die aktuelle Bezeichnung Autismus-Spektrum-Störungen in Anbetracht der defizitären Konnotation des Begriffs Störung ab. Dieser birgt die Gefahr von Missverständnissen und Vorurteilen gegenüber den Betroffenen. Entgegen der sprachlichen Praxis im deutschsprachigen Raum wird statt Autismus-Spektrum-Störungen die neutralere Bezeichnung des Autismus-Spektrum bevorzugt.19 In Anlehnung an diese Kritik wird in dieser Arbeit – soweit dies möglich – der Begriff Autismus-Spektrum Anwendung finden. Besonders hinsichtlich der Betroffenenperspektive wird hierbei gezielt auf den Terminus Störung verzichtet. Eine Ausnahme bildet der Kontext der Klassifikation nach ICD-10 (siehe dazu 2.3). Hierbei wird aufgrund der besseren Einordnung in dieses System und in Anlehnung an die begriffliche Praxis im Bereich der Psychiatrie und Medizin Autismus-Spektrum-Störungen als Begrifflichkeit verwendet werden. In der folgenden Darstellung des Autismus-Spektrums werden genauso Begrifflichkeiten wie der Autismus, die Menschen im Autismus-Spektrum oder die Autist*innen Anwendung finden. Diese Zuordnungen im Sinne der medizinischen Klassifikation betreffen zwar die Betroffenen im Autismus-Spektrum weitestgehend, jedoch können sie nicht mit der Gesamtheit und Komplexität des jeweiligen Einzelfalls und dem dahinterstehenden Subjekt gleichgesetzt werden.20
Begriffe wie Mensch mit Autismus, werden von Betroffenen aus dem Autismus-Spektrum ebenfalls abgelehnt, denn diese so genannte Mensch-Zuerst-Formulieren suggerieren eine fälschliche Trennung zwischen Person und Autismus. Autist*innen begreifen jedoch ihre Besonderheiten als unumgänglichen Teil ihres Selbst und persönlichen Seins. Dieser Ein-schätzung soll im Rahmen dieser Arbeit Anerkennung beigemessen werden, sodass Bezeichnungen wie Autist*in, Mensch im Autismus-Spektrum vorrangig Verwendung finden.
3 Perspektiven auf Autismus
Um zu untersuchen, ob und wie die Soziale Arbeit bei der Bewältigung der Bedarfe von Autist*innen unterstützen kann, ist zu Beginn Autismus als zentraler Gegenstand zu betrachten. Hierfür werden nachfolgend die medizinisch-klinische Perspektive auf Autismus anhand der ICD sowie spezifische neurologische und psychiatrische Annahmen und Theorien zur Erklärung herangezogen. Zum anderen wird die Betroffenensicht, anhand von Selbstvertretungspositionen, Stimmen von Menschen aus dem Autismus-Spektrum und einem Merkmalskonzept von Autismus aus der Perspektive von Betroffenen dargestellt. Am Ende des Kapitels erfolgt eine kritische Beurteilung sowie Einordnung der verschiedenen Sichtweisen auf Autismus.
3.1 Autismus aus klinischer Perspektive
Um im nachfolgenden Kapitel Autismus im Verständnis der klinischen Perspektive darzustellen, werden vordergründig medizinische und psychiatrische Auseinandersetzungen herangezogen. Für den europäischen Raum dient im medizinischen Kontext hierbei die Einordnung in die ICD als erste Grundlage für das Verständnis von Autismus. Für die weitere Betrachtung der Sozialen Arbeit und im Hinblick auf die Frage nach der Unterstützung bei der Bewältigung der Bedarfe von Autist*innen wird die klinische Perspektive im Anschluss an die ICD um die Darstellung spezifischer neurologisch-psychiatrischen Ansätze erweitert.
3.1.1 Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD)
Auf Grundlage des in Deutschland gültigen ICD wird nachfolgend Autismus aus der klinischen Perspektive dargestellt. Die ICD findet aktuell in der zehnten Revision Anwendung und bildet die Grundlage für die amtliche Klassifikation von Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung in Deutschland.21 Neben diesem weltweit anerkannten System besteht das bereits benannte DSM, das im deutschsprachigen Raum jedoch keine Anwendung findet und deshalb im Folgenden nicht weiter betrachtet wird.22
Die Klassifikation von Autismus erfolgt im europäischen Raum in erster Linie durch das ICD-10. Die Diagnosen des Autismus-Spektrums werden dabei getrennt voneinander, unter den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen aufgeführt. Dazu zählen der frühkindliche Autismus, das Asperger-Syndrom und der Atypische Autismus.
Die vermeintlich verschiedenen Formen sind dabei im F-Kapitel des ICD den psychischen und Verhaltensstörungen zugeordnet. Weitere Differenzierungen erfolgen in einem ersten Schritt durch die Unterordnung in F80, den Entwicklungsstörungen und im konkreten Fall der autistischen Diagnosen unter den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in F84. Daraus ergibt sich für das Autismus-Spektrum zunächst der Zuordnungsschlüssel F84.x.23
Entwicklungsstörungen als Überkategorie (F84) sind durch drei wesentliche Punkte definiert. Sie beginnen stets in der Kindheit oder im Kleinkindalter. Hierbei ist eine Entwicklungsverzögerung oder -einschränkung zu erkennen, welche eng verknüpft mit der biologischen Reifung des Zentralnervensystems auftritt. Außerdem besteht ein stetiger Verlauf der Störung ohne die für andere psychische Störungen typischen Fluktuationen, Remissionen oder Rezidive.24
Die Unterkategorie der Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (F.84.x), sind beschrieben als eine Gruppe von Störungen, welche „[…] durch qualitative Abweichungen in den wechselseitigen sozialen Interaktionen und Kommunikationsmustern und durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten [gekennzeichnet sind].“25
Des Weiteren handelt es sich laut dem ICD-10 um schwere Erkrankungen, die den gesamten Entwicklungsverlauf betreffen, vielfältige Bereiche einschließen und das gesamte Leben der Betroffenen überdauern.26 Für die autistischen Störungsbilder (F.84.0, F84.5, F.84.1) zählen im klinischen Kontext drei Symptomkonstellationen als charakteristisch: Qualitative Auffälligkeiten in der gegen-seitigen Interaktion, der Kommunikation und des Auftretens von begrenzten, repetitiven und stereotypen Aktivitäten, Interessen und Verhaltensmustern.27 Diese Konstellationen, welche als klassische Symptomtrias des Autismus-Spektrum beschriebenen wird, dient dabei als diagnostische Grundlage zur Klassifikation. Um die Symptomatik zu verdeutlichen, wird nachfolgend die konkrete Darstellung der Symptomtrias erläutert.
Qualitative Auffälligkeiten in der gegenseitigen Interaktion: Die Symptomatik im Bereich der Interaktion äußert sich durch eine nicht angemessene Einschätzung emotionaler sowie sozialer Signale. Dies kann beispielsweise eine Reaktionslosigkeit hinsichtlich ausge-drückter Gefühle eines Gegenübers oder das Ausbleiben von Verhaltensmodulationen trotz verschiedener Situationskontexte bedeuten. Neben der nicht angemessenen Einschätzung von sozialen Signalen, ist auch deren Verwendung bei den Betroffenen auffällig. Bei der Initiierung, Aufrechterhaltung oder Beendigung von sozialen Kontakten werden Mimik, Gestik oder Blickkontakt nur begrenzt oder gar nicht verwendet. Im Kontakt mit Gleichaltrigen werden zudem Gefühle, Hobbys oder Interessen nicht ausgetauscht. Eine sozialemotionale Wechselseitigkeit kann somit nicht entstehen, was die Eröffnung von Beziehungen zu Gleichaltrigen erschwert.28
Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation: Dieser Aspekt der Symptomtrias bezieht sich auf die oftmals begrenzten Fertigkeiten im Umgang mit der Sprache und auf eine nicht vorhandene pragmatische sowie soziale Verwendung. Neben dem Sprachverständnis ist dahingehend der Sprachgebrauch betroffen, was Auswirkungen auf den Sprachausdruck, die Sprachmelodie und letztlich den wechselseitigen Gesprächsaustausch hat.29 Beispielsweise zeigt sich dies zum einen in einer einseitigen Sprachmelodie, die nicht zur Variation der Kommunikation genutzt wird und zum anderen in dem Fehlen von Gestik zur Betonung des sprachlichen Austauschs. Im gesamten Autismus-Spektrum ist außerdem häufig die Imitationsfähigkeit verzögert, wodurch es kaum zu so-tun-als-ob oder Fantasie-Spielen kommt. Finden doch Imitationen statt, fehlt es diesen oft an Modulationen, Vorstellungskraft und Kreativität. Dadurch wirken sie eher übertrieben, steif oder unnatürlich.
Beim frühkindlichen Autismus ist die Entwicklung der Sprache häufig verzögert oder sogar kaum vorhanden.30 Etwa die Hälfte dieser betroffenen Menschen sprechen daher nicht oder nur unverständlich.31 Die wenigen vorhandenen sprachlichen Fähigkeiten werden zudem nicht versucht, mittels Mimik, Gestik oder dem Imitieren von spontanen Handlungen zu kompensieren.32 Auffällig für den Bereich des frühkindlichen Autismus ist außerdem, dass Worte oder Laute echoartig nachgesprochen (Echolalie), das Personalpronomina vertauscht oder Wortneubildungen benutzt werden.33 Die Anwendung von Sprache erfolgt dabei vielmals repetitiv und stereotyp.34
Auch wenn beim Asperger-Syndrom keine eindeutige Entwicklungsverzögerung im Bereich der Sprache besteht, kommt es dennoch zu qualitativen Auffälligkeiten in der Kommu-nikation.35 Hierbei kann es neben einem elaborierten und pedantischen Ausdruck zu einer unüblichen Lautstärke, Betonung, Stimmhöhe oder Prosodie kommen.36 Ein überförmlicher Sprachstil und Verständnisprobleme hinsichtlich Sarkasmus, Ironie oder Metaphern kann außerdem festgestellt werden.37 Erwähnenswert ist, dass die Aspekte der qualitativen Auf-fälligkeiten der Sprache hinsichtlich des Asperger-Syndroms kein Diagnosekriterium nach ICD-10 bilden.38
Begrenzte, repetitive und stereotypische Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten: Diese Besonderheiten sind charakterisiert durch das Beschäftigen mit oftmals mehreren unge-wöhnlichen, begrenzten sowie zugleich stereotypen Interessen und Aktivitäten. Im Leben und Alltag der Betroffenen zeigen sich zwanghaft routinierte und starre Handlungsabläufe. Dem folgend, wird versucht, eine möglichst gleichförmige und strikte Ordnung in den Abläufen zu etablieren und beizubehalten. Kommt es hierbei zu Unterbrechungen, Abwei-chungen oder Veränderungen, kann dies als bedrohlich empfunden werden und zu starken Reaktionen, wie Anspannung, Wut oder reaktivem auto- oder fremdagressiven Verhalten führen. Im frühkindlichen Alter kann es außerdem zu besonderen Bindungen an ungewöhn-liche Gegenstände kommen. Darüber hinaus ist es symptomatisch, dass dysfunktionalen Teilelementen von Objekten besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Ebenfalls sind Auffälligkeiten hinsichtlich ungewöhnlicher und wiederholender Bewegungsabläufe fest-zustellen. In diesem Zusammenhang kommt es zu unnatürlichen, bizarr-anmutenden und verschnörkelten motorischen Bewegungen (Manierismen) der Finger und Hände in Form von Flattern oder Jaktieren (Schütteln).39
Trotz qualitativer Abweichungen im jeweiligen Ausprägungsgrad sind die beschriebenen Charakteristika der Symptomtrias situationsübergreifend und bilden damit ein grundlegen-des Funktionsmerkmal von Autismus im Sinne des ICD-10.40
Neben der Symptomtrias als Kernsymptomatik besteht für Betroffene im Autismus-Spektrum allerdings auch ein erhöhtes Risiko, psychische Störungen beziehungsweise Komorbiditäten zu entwickeln.41
3.1.2 Neurologisch-psychiatrische Erklärungsansätze
Autismus und die damit verbundenen Diagnosen gelten den Ausführungen folgend als „[…] Entwicklungsstörungen des zentralen Nervensystems, […] die primär genetisch verursacht sind und mit strukturellen und funktionellen Veränderungen des Gehirns einhergehen, welche die Kontaktfähigkeit eines Menschen beeinflussen.“42
Nachfolgend werden vier Erklärungsansätze für Autismus aus klinischer Perspektive dar-gestellt, die für den späteren Verlauf hinsichtlich der Folgen für und die Unterstützung von Menschen im Autismus-Spektrum relevant sind: Die Intense World Theory, die Theorie einer veränderten Theory of Mind (ToM), die Theorie der schwachen zentralen Kohärenz und die Annahme von exekutiven Dysfunktionen.
Intense World Theory: Die Intense World Theory (Theorie der intensiv erlebten Welt) von H. und K. Makram ist ein neurobiologisches Modell, das die Annahme von Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsbesonderheiten bezüglich Hyper- und Hyposensibilitäten stützt. Sie besagt, dass das Erleben und das spezifische Verhalten von Menschen im Autismus-Spektrum aus einer veränderten Wahrnehmung resultiert. Dabei wird davon ausgegangen, dass „[…] Reize wie Geräusche, Licht und Gerüche, aber auch Gleich-gewichtsreize zu stark oder zu schwach wahr [genommen werden] und […] Schwierigkeiten [bestehen], diese passend zu integrieren.“43
Innerhalb der Theorie, welche vor allem im Bereich der Populärwissenschaften und den Selbstvertretungsorganisationen großen Zuspruch findet44, wird angenommen, dass die neuronalen Mikroschaltungen bei Menschen im Autismus-Spektrum überladen und sie daraufhin auf Reize hypersensibel reagieren.45 Einer besonderen Bedeutung wird hierbei der Amygdala (Mandelkern) beigemessen, welche aufgrund der Hyperaktivität und Sensibilität, Stress, Ängste und Schmerzen erzeugt sowie ein Angstgedächtnis befördert. Die durch Autist*innen wahrgenommene Umwelt wird demnach als so außerordentlich intensiv wahrgenommen, dass deren Gehirne dazu gezwungen sind sich von dieser Überforderung zu entlasten.46
Die Theorie bietet für das Verständnis des breiten Spektrums autistischer Störungen, deren Besonderheiten und Merkmale, wie sensorische Sensitivitäten, repetitives Verhalten, kom-munikative und lernspezifische Besonderheiten, sozialen Rückzug oder auch individuelle Fähigkeiten, einen guten Ansatz. Allerdings kann die Theorie der intensiv erlebten Welt keine allumfassende Erklärung über die Ursachen von Autismus abbilden.47
Theory of Mind (ToM): Die ToM wird als eine für die menschliche Beziehungs- und Bin-dungsfähigkeit fundamentale Fähigkeit angesehen.48 Bei der Kommunikation zwischen Menschen meint die ToM
„[…] die meta-kognitive Fähigkeit, anderen Personen in einer gegebenen Situation einen adäquaten mentalen Zustand (Wahrnehmung, Gedanke, Gefühl etc.) zuzuschreiben, um deren Verhalten entweder vorhersagen oder erklären zu können.“49
Der ToM-Begriff kann in seiner Definition zwischen den Komponenten kognitiv und affektiv differenziert werden, „[…] wobei kognitive ToM das korrekte Erkennen und Identifizieren eines mentalen Zustandes einer anderen Person bezeichnet, während sich affektive ToM auf das Nacherleben oder Miterleben eines Gefühlszustandes einer anderen Person bezieht […].“50 Es wird davon ausgegangen, dass bei Autist*innen Defizite in der ToM bestehen. Laut Kamp – Becker und Bölte zeigt sich jedoch, dass „[…] sowohl Kinder als auch Erwachsene mit Autismus sehr wohl affektiv an den Gefühlen anderer Menschen Anteil nehmen […]“51
Probleme bestehen aber bei der kognitiven Einordnung dieser Emotionen. Ersichtlich wird, dass eine differenzierte Betrachtung von Empathie beziehungsweise ToM dazu beitragen kann, den Blick auf die ToM und Autismus zu erweitern. Nichts desto trotz bestehen für viele Menschen im Autismus-Spektrum hierbei Defizite.52 Dies zeigt sich beispielsweise bei Problemen hinsichtlich der Bewältigung spezifischer ToM-Aufgaben, bei denen gezielt nach Absichten, Überzeugungen und Wünschen von dargestellten Personen gefragt werden und Probleme bestehen, soziale Eigenschaften zu zuordnen oder Emotionen anhand der Gesichtsmimik abzulesen.53 Diese Defizite in der ToM-Fähigkeit lassen den Schluss zu, dass Autist*innen im Hinblick auf die soziale Interaktion erschwerte Bedingungen und Voraussetzungen haben und verdeutlicht damit den Bezug dieser Theorie zu den Kernproblemen der Interaktion und Kommunikation von Autist*innen.
Durch vielmals schwer bis nicht einzuschätzende soziale Interaktionen zeichnet sich die Antizipation in sozialen Interaktionen als erschwert ab.54 Das Verhalten und nicht Verhalten von Autist*innen, welches inadäquat, auffällig, abweichend oder dissozial wahrgenommen werden kann, wirkt hinsichtlich der Ausführungen zur ToM erklärbarer. Ferner kann den Ausführungen folgend das generelle Erlernen von Sozialverhalten durch die Interaktion mit anderen Menschen von früh an als schwierig betrachtet werden.55
Theorie der schwachen zentralen Kohärenz: Eine weitere Theorie, die autistische Besonder-heiten und Ursachen erklären will, ist die Theorie der schwachen zentralen Kohärenz. Ursprünglich stammt die Theorie von Uta Frith (1989).56 Zentrale Kohärenz bedeutet dabei, dass die kognitiven Leistungen von Menschen dazu tendieren, einzelne Informationen und Stimuli in Beziehung zu anderen zu setzen und daraufhin als eingebettet in einen Kontext zu verstehen sind. Im Allgemeinen werden also wahrgenommene Reize in ihrer Beziehung zu wiederum anderen Reizen erlebt. Die Schwäche der zentralen Kohärenz beschreibt demzu-folge, Schwierigkeiten im Kontext dieser ganzheitlichen Verarbeitung bei Menschen im Autismus-Spektrum. Im Rahmen dieser Theorie wird angenommen, dass dieser globale Bearbeitungsmodus Autist*innen nicht oder zumindest nicht in der gleichen Weise, wie anderen zur Verfügung steht und sie deshalb eine Schwäche in der zentralen Kohärenz aufweisen.57 Abschließend kommt dem aufgezeigten Ansatz der schwachen zentralen Kohärenz von Menschen im Autismus-Spektrum eine besondere Bedeutung bei der Betrach-tung von Problemen hinsichtlich sozialer Interaktionen zu. Trotz der nicht zu leugnenden Stärken hinsichtlich einer besonderen Detailwahrnehmung, die als persönliche Ressource betrachtet werden können58, ist für gelingende soziale Interaktionen, besonders bezüglich deren Interpretation vielmals „[…] eine ganzheitliche, kontextgebundene Wahrnehmung erforderlich.“59 Ist diese verändert oder eingeschränkt liegen Beeinträchtigungen und Er-schwernisse im Austausch mit anderen nahe.
Exekutive Dysfunktionen: Unter Exekutivfunktionen werden „[…] eine Vielzahl von Vor-gängen, die mit Planungsprozessen, Vorausschau und zielgerichtetem, problemorientiertem Handeln verbunden […].“60 Exekutivfunktionen sind hierbei „[…] eine Gruppe kognitiver Fähigkeiten, die die Grundlage für die Vorbereitung und Ausführung von flexiblem und effektivem Verhalten in neuen Situationen bilden […].“61 Es geht also primär um Hand-lungsplanungen, die alle Leistungen beinhalten die mit konkreten Handlungsintentionen sowie „[…] mit der Planung und Ausführung komplexer, zielgerichteter, problemorientierter Handlungen befasst sind unter Vorausschau möglicher Konsequenzen des eigenen Ver-haltens.“62 Demnach bilden Exekutivfunktionen und die damit verbundenen Leistungen die Grundlage vieler emotionaler, kognitiver und sozialer Leistungen, die bei der Bewältigung des Alltags unmittelbare Relevanz aufweisen. Menschen im Autismus-Spektrum können hierbei Defizite aufweisen, die sich durch die Schwäche bei Planungen und durch unflexible Denkstrukturen in stereotypen und repetitiven Verhalten äußern können.63
3.2 Autismus aus Betroffenenperspektive
Ergänzend zur klinischen Betrachtungsweise wird im Folgenden die Perspektive der Menschen im Autismus-Spektrum in den Blick genommen. Dafür beginnt das folgende Kapitel mit der Darstellung von Autismus im Kontext von Selbstvertretungsorganisationen und leitet dann über in ein Konzept der Merkmalsbetrachtung von Autismus, das von der Selbstvertretungsorganisation Autistic Self Advocacy Network (ASAN) verwendet wird.
3.2.1 Autismus im Zuge von Selbstvertretungsorganisation
Eine wesentliche Bedeutung für die Betroffenenperspektive spielen Selbstvertretungsorgani-sationen, die sich als Expert*innen in eigener Sache betrachten.64 Hierbei ist besonders auf das ASAN hinzuweisen, welches sich vor circa 15 Jahren im Zuge des Autism Rights Move-ment (ARM) gegründet hat. ASAN stellt heute die weltweit einflussreichste Selbstver-tretungsorganisation dar65 und vertritt die Auffassung, dass Autismus eine neurologische Variation des menschlichen Seins und keine schwere oder zu eliminierende Krankheit ist.66 Diese Ansicht vertreten neben ASAN auch Selbstvertretungszusammenschlüsse aus Deutsch-land, wie etwa autWorker e.G. aus Hamburg und Aspies e.V. aus Berlin. Entgegen der defizitären Zuordnung von Autismus als Krankheit versteht das ASAN Autismus als Behin-derung und verwendet den Begriff als politischen Kampfbegriff, um mehr Aufmerksamkeit für die Verbesserung der Rechte von Autist*innen zu erreichen. Zusätzlich wird mit dieser Einordnung die Möglichkeit forciert, sich mit der Behindertenbewegung zu solidarisieren. Dabei wird ein Verständnis von Behinderung zugrunde gelegt, dass Behinderung als Wechsel-wirkung zwischen Personen mit Beeinträchtigung und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren versteht und die Kompetenz von Betroffenen mit Behinderungserfahrungen in den Mittelpunkt stellt. Entsprechend wird Behinderung dort nicht einseitig als Defizit oder Hilfsbedürftigkeit verstanden.67
3.2.2 Das Autismus-Konzept nach ASAN
Die traditionelle Sicht von psychischer Gesundheit und das Ziel der unauffälligen sozialen Anpassung von Menschen im Autismus-Spektrum ist zumeist nicht mit den Positionen von Betroffenen vereinbar. Menschen im Autismus-Spektrum, Aktivist*innen und das ASAN wünschen sich stattdessen eine soziale und personenzentrierte Unterstützung, um ein Leben mit Autismus zu gestalten, bei dem statt einer Behandlung im Sinne von Heilung das Erreichen von mehr Lebensqualität und die Akzeptanz des autistischen Seins im Mittelpunkt steht. Um solche Ziele möglich zu machen, hat die Autistin Dora Raymaker ein Konzept von Autismus entwickelt, auf welches sich das ASAN stützt. Trotz der grundsätzlichen Einzigartigkeit aller Menschen (sogleich der Menschen im Autismus-Spektrum) wurde hierbei der Versuch unternommen, charakteristische Merkmale von Autismus aus der Betroffenenperspektive herauszustellen und entgegen dem Defizit- und Pathologie-Modell im medizinisch-psychiatrischen Kontext Fähigkeiten und Stärken zu berücksichtigen.68
Die nachfolgenden Merkmale von Autismus sind zwar für die meisten Menschen im Autismus-Spektrum charakteristisch, können jedoch in verschiedenen Ausprägungsgraden vorkommen und sind zum Teil eng miteinander verknüpft.69 Dies hat zur Folge, dass diese nur individuell zu erschließen sind, was es notwendig macht, die individuelle Lebens-geschichte und den individuellen Entwicklungsverlauf sorgfältig aufzubereiten. Im Zusam-menhang von schwachen Ausprägungen autistischer Verhaltensweisen oder Merkmalen ist die Betrachtung der Überlappung zu Normalverhalten zu beachten, denn70, hierbei können trotz schwacher Ausprägungen ebenso zu Unterstützungsbedarfe aufkommen, wenn Personen in spezifischen Situationen unter einer ihrer autistischen Verhaltensweisen oder Merkmalen leidet.71 Hierbei entsteht der Leidensdruck jedoch meist auf Grund der Reaktion der Umwelt und weniger durch Autismus selbst.
Wenn es um eine Attestierung von Autismus im Spektrum geht, sollten die meisten der Merkmale deutlich beobachtbar sein, ihr Zusammenwirken nicht vernachlässigt werden und eine Einschätzung durch professionelle Fachleute erfolgen.72
Wahrnehmungsbesonderheiten und unterschiedliche (hyper- oder hypo-) sensorische Erfahrungen: In diesem Kontext soll der Fokus auf die vielfältigen Besonderheiten der Wahrnehmung von Autist*innen gelegt werden, welche sowohl beobachtbar sind, als auch durch die Betroffenen selbst wiederholt herausgestellt werden. Generell erscheint die Wahrnehmung von Autist*innen hierbei überentwickelt und hochfunktional.73 Für das Verständnis von Verhaltens- und Erlebensweisen der Menschen im Autismus-Spektrum übernehmen diese Wahrnehmungsbesonderheiten dabei eine Schlüsselfunktion.74 Beispiele für diese verschiedenen Sensorischen Erfahrungen sind:
„[…] Hyper- oder Hyposensibilität gegenüber Geräuschen, Lichtverhältnis-sen, Temperaturen, Schmerzen, Textilien, Körperberührungen oder Ge-schmacksstoffen; ferner eine Synästhesie, sogenannte Filterschwäche, Über-selektivität, mangelnde zentrale Kohärenz […]“75
Hinzu kommen dabei für Details besonders ausgeprägte Beobachtungsgabe, aber auch Probleme hinsichtlich der Wahrnehmung des eigenen Körpers.76
Ohne auf alle Wahrnehmungsbesonderheiten des Autismus-Konzepts nach ASAN und Autist*innen einzugehen, ist es erwähnenswert, dass besonders „[…] Überempfindlich-keiten als ein zentrales Merkmal herausgestellt [werden], die sehr oft als stresshaft, angstaus-lösend oder aversiv erlebt werden und dementsprechend bewältigt werden müssen.“77
Unübliches Lern- Leistungs- und Problemlösungsverhalten: Diese Besonderheit bezieht sich auf die durch Autist*innen oftmals eigens erarbeiteten Strategien und Wege, welche genutzt werden, um Aufgaben und Probleme bearbeitbar zu machen. Diese Form des autodidak-tischen Lernens kann als eine Art der Selbstbildung betrachtet werden, wobei kognitive sowie perzeptive Kompetenzen und eigens entwickelte Lernstrategien Anwendung finden.78 Neben den sich verdeutlichenden Problemen bei schulischem Lernen oder generellen zwischenmenschlichen Anforderungen in der Gesellschaft, kann der eigene Lernstil und das Drängen auf selbstentwickelte Lösungsstrategien Ausdruck von Selbstwirksamkeit, Selbst-ständigkeit, Autonomie und Kontrolle hinsichtlich eigener Lebensumstände sein.79 Im Kontext dieser Strategien erscheinen die ausgeprägten Interessen von Autist*innen als ein prominentes Vehikel, um die Art der beschriebenen Selbstbildung voranzubringen.80
Zusammengefasst lässt sich für den Aspekt des besonderen Lern- und Problemlöse-verhaltens festhalten, „[…] dass Versuche, das unübliche Lernverhalten in ein adaptives oder erwünschtes Korsett zu pressen, ebenso problematisch einzuschätzen sind wie die Ignoranz oder Entwertung der selbsterarbeiten Strategien.“81 Dem folgend wird heute davon ausge-gangen, dass Autist*innen in ihren eigenen Lern- und Problemlösestrategien in Anlehnung an ihre Interessen gefördert werden müssen.82
Weitere Aspekte des unüblichen Lern- und Problemlösungsverhalten betreffen Schwierig-keiten bezüglich exekutiven Funktionen, Problemen bei der Bewältigung von Aufgaben, bei denen verbale Fähigkeiten notwendig sind, aber ebenso Stärken hinsichtlich der Schnellig-keit bei der Erfassung von Mustern und Zeichen.83
Fokussiertes interessenbezogenes Denken und Spezialinteressen und Sonderbegabungen: Spezialinteressen, spezifische Stärken oder Inselbegabungen werden trotz ihrer bereits frühen Beschreibung durch beispielsweise Hans Asperger und Leo Kanner erst im Verlauf der letzten Jahre wertgeschätzt. Besonders hinsichtlich der Diagnosen frühkindlicher Autis-mus und atypischer Autismus wurden diese lange als zwanghaft oder stereotyp pathologisiert und entwertet.84 Dabei wird entgegen dieser Abwertung von Betroffenen berichtet,
„[…] dass die Beschäftigung mit eigenen, speziellen Themen nicht nur der Wissensbereicherung und Steigerung von Lebensqualität, sondern ebenso der Entspannung, Beruhigung oder Kompensation stresshafter Situationen dient und zudem ein Gefühl von Sicherheit, Vertrautheit, Vorhersehbarkeit und absoluter Zufriedenheit […] bietet.“85
Motorische Besonderheiten: Die für diesen Aspekt der Charakteristik geltenden Verhaltens-weisen umfassen alle motorischen oder physischen Auffälligkeiten, wie „[…] mit dem Ober-körper schaukeln, Zehengang, auf den Füßen wippen, mit den Händen flattern, bizarre oder verkrampfte Armbewegungen, steife Körperhaltung u.a.m.“ 86 Diese Auffälligkeiten können in diesem Kontext sowohl schwach und kaum von außen merkbar oder aber deutlich und für andere irritierend auftreten. Dabei können die beschrie-benen Bewegungsmuster soziale Einflüsse haben, wenn beispielsweise aufgrund der Andersartigkeit Autist*innen von anderen gemieden werden.87 Wichtig zu betonen ist allerdings, dass diese nach außen hin möglicherweise irritierend wirkenden Verhaltens-weisen für Autist*innen funktional bedeutsam sein können und damit in ihrer Relevanz als Problemlöse- oder Bewältigungsverhalten nicht geschmälert werden sollten.88 Auch bei diesem Merkmal der Beschreibung von Autismus nach ASAN können neben den Problemen im Rahmen motorischer Fertigkeiten, Bewegungs- oder Handlungsabläufen und Koordina-tionsstörungen genauso motorische Stärken, wie Geschicklichkeit beinhaltet sein.89
Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine und Ordnung: Vielmals ist dieses Merkmal ein überaus wichtiger Bestandteil des Lebens von Menschen im Autismus-Spektrum. Nach der Charakteristik durch ASAN rücken Stress und potenzielle Ängste in den Vordergrund, die dadurch entstehen, dass Autist*innen mit unbekannten oder veränderten Situationen um-gehen müssen.90 So können Abweichungen von einer bestimmten Routine oder die Störung eines spezifischen Ablaufs zu schwer steuerbaren Wutausbrüchen führen, die in der Folge von sogenannten meltdowns über shutdowns (Abkapseln oder Abschalten) bis hin zu länger anhaltender Handlungsunfähigkeit führen können. Um diesen möglichen Kontrollverlusten, Ängsten und Stressoren vorzubeugen, beharren Autist*innen vielmals auf Beständigkeit, Routine und Ordnung.91 Das darin inbegriffene und vermeintlich kognitiv unflexible Verhal-ten ist als unbewusster Überlebenstrieb von Autist*innen zu sehen.92 Im Lichte von Fähig-keiten und Stärken können sich unter dem Aspekt des Bedürfnisses nach Beständigkeit, Routine und Ordnung auch mögliche Kompetenzen einreihen. Demnach kann im Kontext der Ausrichtung von alltäglichen Handlungen, das Organisieren, das Erstellen und Einhalten von Tagesabläufen und Zeitplänen für Menschen im Autismus-Spektrum Vergnügen bedeuten und damit subjektiv bedeutsam sein.93
Sprachliche Besonderheiten: Zu den Schwierigkeiten in Bezug auf Sprache werden unter diesem sechsten Merkmal verbale und nonverbale Kommunikationsformen gezählt. Diese betreffen
„[…] das Ausbleiben einer verbalen Sprache, Verzögerungen oder Besonder-heiten in der Sprachentwicklung […], spezielle Sprachphänomene […], seman-tisch-pragmatische oder andere Verständnisschwierigkeiten […], wie auch Schwierigkeiten, Emotionen oder Befindlichkeiten auszudrücken […]“.94
Neben Schwierigkeiten mit dem Verstehen und Ausdrücken von Sprache sind innerhalb dieses Merkmals auch besondere Leistungen inbegriffen. Zu berücksichtigen sind dabei sprachliche Fähigkeiten von Menschen im Autismus-Spektrum, die zu Tage treten können durch den Einsatz von Neologismen als kreative Leistungen, dem Verfassen von autobio-graphischen Texten oder Gedichten sowie beeindruckenden Wortschatzsammlungen, oder Stärken hinsichtlich der Verständigung in mehreren Fremdsprachen.95
Besonderheiten in der sozialen Kommunikation: Die Besonderheiten in der sozialen Inter-aktion sind mit Schwierigkeiten von Autist*innen verbunden, die sich auf die Erfassung, das Aufrechterhalten und das Pflegen von sozialen Interaktionen beziehen und aus klinischer Perspektive als Grundmerkmal von Autismus gelten.96 Diese Schwierigkeiten äußern sich beispielsweise im Meiden sozialer Interaktionen und Situationen durch sozialen Rückzug, Selbstisolation, Probleme der Wechselseitigkeit von Gesprächen, Schwierigkeiten beim Entziffern und Erkennen von emotionalen sowie Problemen bei nonverbalen sozialen Botschaften. Daneben bestehen in Form von sozialer Sensibilität und vorurteilfreiem Entgegentreten auch gewisse Fähigkeiten.97
3.3 Kritische Beurteilung der verschiedenen Perspektiven auf Autismus
Im Anschluss an die Darstellung von Autismus aus verschiedenen Perspektiven soll in diesem Abschnitt eine kritische Diskussion dieser erfolgen. Durch Klassifikationssysteme und die damit einhergehende medizinisch-psychiatrische Sichtweise ergeben sich hinsicht-lich einer sozialarbeitsspezifischen Betrachtung Grenzen und Kritikpunkte. Während die Herangehensweise der Sozialen Arbeit den individuellen Einzelfall in den Fokus der Betrachtung setzt, nutzt die Medizin Systeme, wie das ICD und das DSM, zur Diagnose-stellung, Dokumentation, Verschlüsselung und Legitimierung notwendiger Behandlungs-verfahren.98 Grundsätzlich beschreiben Diagnosen von Klassifikationssystemen, wie dem ICD-10, eine Vielzahl von kumulierenden Symptomen, welche dann unter einem Krankheits- beziehungsweise Störungsbegriff zusammengefasst werden.99 Dabei ist die Zuordnung von Symptomen und Charakteristika bestimmter Störungsbilder immer eine Einordnung in eine Häufigkeitsverteilung, die dazu führt, dass bestimmte, als wirksam befundene Interventionen durch die Pflege- oder Sozialversicherung der deutschen Sozialgesetzgebung subventioniert oder auch vollständig übernommen werden.100 Die erteilten Diagnosen sind zwar grundlegend relevant, um Menschen professionelle Hilfe anbieten und zugänglich machen zu können, sie beschreiben jedoch nicht die individuellen Situationen der betroffenen Menschen. Anders als die Soziale Arbeit verfolgt die Klassifikation nach dem ICD beispielsweise nicht das Ziel einer spezifischen Sichtweise des individuellen Einzelfalls. Die medizinische Klassifikation des ICD-10 und deren spezifische Sichtweise soll es möglich machen, für eine Vielzahl an Menschen mit ähnlichen Symptomen breite, effektive und effiziente Maßnahmen erarbeiten und anbieten zu können.101 Sie dient damit als Grundlage für Vergütungs- und Finanzierungssysteme, Quali-tätsberichte oder die statistische Erfassung von Krankheiten und Gesundheitsproblemen sowie zur Verschlüsselung von Diagnosen in der stationären und ambulanten Versorgung in Deutschland.102
Trotz der zuvor erörterten Einordnung und der verschiedenen Zielsetzungen medizinischer Klassifikationen einerseits und der Sozialen Arbeit andererseits, verdeutlichen sich überge-ordnete Kritikpunkte an der Darstellung von Autismus auf Grundlage des ICD-10. Als einer der zentralen Kritikpunkte erscheint insofern bereits frühzeitig die Art und Weise der Beschreibung von Autismus auffällig, denn bereits bei der strukturellen Einordnung der autistischen Syndrome unter den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen sticht der Begriff Störung als defizitär heraus.
Auffällig kritikwürdig erscheint auch der aufgezeigte klassische Symptomtrias, welcher als Defizitkatalog gemäß des ICD-10 die inhaltliche Beschreibung durch eine kontinuierliche, generalisierende, statische und defizitorientierte Sprache hervortritt. Dabei betrifft dies auch die Diagnose des Asperger-Syndroms, die entgegen dem frühkindlichen Autismus oft als vermeintlich leichtere Form des Autismus gehandhabt wird. Denn trotz der Zuschreibung kognitiver Fähigkeiten, eines Ausbleibens von Sprachentwicklungsauffälligkeiten sowie der Anerkennung von Stärken, ist die defizitäre Verortung bei allen Beschreibungen der autistischen Syndrome im ICD-10 deutlich vorhanden und weithin verallgemeinert. Generell kann durch die dargestellten Informationen aus dem Bereich der klinischen Disziplinen im Kontext der Klassifikation von Autismus im Sinne des ICD-10 der Schluss von zugrunde-liegenden defizitbasierten oder pathologiebasierten Modellen gezogen werden. Die Symp-tomtriade und besonders ihre Darstellung im Rahmen der klinischen Perspektive nach dem ICD-10 zeichnet damit ein zweifelsfrei einseitiges Bild von Menschen, die als autistisch gelten. Daraus folgend kann das Verhalten und Erleben von Autist*innen als gestört und krankhaft erscheinen, was im weiterem Verlauf zu der Annahme verleiten kann, dass Autismus ausschließlich als starkes Leiden und Autist*innen als therapiebedürftige Fälle zu betrachten sind. Die Auswirkungen dieser defizitären Betrachtungen und der daraus folgenden Pathologisierung von Autismus sind vielfältig und haben in vielerlei Hinsicht Schäden bei Autist*innen angerichtet.103 Die auf Grundlage der ICD-10 erstellten Diagnosen im Kontext von Autismus scheinen somit als Problembeschreibung ein defizitäres und einseitiges Bild von Autismus aufzuwerfen.
[...]
1 vgl. Amorosa (2017) S. 43f.
2 vgl. Freitag et al. (2017) S. 1.
3 vgl. Bölte (2009) S. 21.; vgl. Tebartz van Elst et al. (2016) S. 11.
4 Tebartz van Elst et al. (2016) S. 11.
5 vgl. Theunissen (2016) S. 21f.
6 vgl. Freitag et al. (2017) S. 1f.; vgl. Theunissen (2021) S. 42.
7 vgl. Biscaldi (2016) S. 24.; vgl. Kamp-Becker, Bölte (2014) S. 29.
8 vgl. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) unter Beteiligung der Arbeitsgruppe ICD des Kuratoriums für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen (KKG) (2020) (O.s).
9 vgl. Girsberger (2016) S. 50f.
10 American Psychiatric Association. (2013). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (5th ed.).; vgl. Theunissen (2016) S. 23ff.
11 vgl. Theunissen (2021) S. 42.
12 vgl. Sievers (2021) S. 1ff.
13 vgl. Amorosa (2017) S. 31f.
14 vgl. Theunissen (2021) S. 55.
15 vgl. Girsberger (2016) S. 31.
16 vgl. Theunissen (2021) S. 45.
17 vgl. Theunissen (2020) S. 58.; vgl. Theunissen, Paetz (2015) S. 44.
18 Beispielsweise Baron-Cohen und Theunissen.
19 vgl. Theunissen (2016) S. 25f.; vgl. Theunissen (2021) S. 45.
20 vgl. Kabsch (2018) S. 28.
21 vgl. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) unter Beteiligung der Arbeitsgruppe ICD des Kuratoriums für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen (KKG) (2020) (o.S.).
22 vgl. Riedel, Clausen (2016) S. 38.
23 vgl. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) unter Beteiligung der Arbeitsgruppe ICD des Kuratoriums für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen (KKG) (2020) (o.S.).
24 vgl. Tebartz von Elst et al. (2016) S. 12.
25 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) unter Beteiligung der Arbeitsgruppe ICD des Kuratoriums für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen (KKG) (2016) (o.S.).
26 vgl. Freitag et al. (2017) S. 4.
27 vgl. Freitag et al. (2017) S. 2f.; vgl. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) unter Beteiligung der Arbeitsgruppe ICD des Kuratoriums für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen (KKG) (2016) (o.S.).
28 vgl. Freitag et al. (2017) S. 3.
29 vgl. Freitag et al. (2017) S. 2.; vgl. Bundesverband Autismus Deutschland e.V. (2021).
30 vgl. Freitag et al. (2017) S. 2.; vgl. Girsberger (2016) S. 45.
31 vgl. Biscaldi (2016) S. 23.
32 vgl. Biscaldi (2016) S. 23.; vgl. Freitag et al. (2017) S. 2.
33 vgl. Remschmidt, Kamp-Becker (2006) S. 36.; vgl. Biscaldi (2016) S. 23.; vgl. Freitag et al. (2017) S. 3.
34 vgl. Biscaldi (2016) S. 23.
35 vgl. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) unter Beteiligung der Arbeitsgruppe ICD des Kuratoriums für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen (KKG) (2016) (o.S.).; vgl. Freitag et al. (2017) S. 6.
36 vgl. Freitag et al. (2017) S. 3.; vgl. Biscaldi (2016) S. 23.
37 vgl. Freitag et al. (2017) S. 3, 6.
38 vgl. Freitag et al. (2017) S. 6.
39 vgl. Freitag et al. (2017) S. 3.; vgl. Biscaldi (2016) S. 23.
40 vgl. Freitag et al. (2017) S. 2.; vgl. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) unter Beteiligung der Arbeitsgruppe ICD des Kuratoriums für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen (KKG) (2016) (o.S.).
41 vgl. Girsberger (2016) S. 132.
42 Kamp-Becker, Bölte (2014) S. 33.
43 Lechmann (2020) S. 127.
44 vgl. Lechmann (2020) S. 127.
45 vgl. Theunissen (2015b) S. 186.
46 vgl. Theunissen (2016) S. 52.
47 vgl. Theunissen (2015b) S. 186f.
48 vgl. Kamp-Becker, Bölte (2014) S. 43.
49 Vogeley (2015c) S. 367.
50 Vogeley (2015c) S. 367.
51 Kamp – Becker, Bölte (2014) S. 44.
52 vgl. Kamp-Becker, Bölte (2014) S. 44.; vgl. Vogeley (2015c) S. 367.
53 vgl. Kamp-Becker, Bölte (2014) S. 44.
54 vgl. Kabsch (2018) S. 36.
55 vgl. Dziobek, Köhne (2011) S. 566.
56 vgl. Frith, U (1989).; vgl. Kamp-Becker, Bölte (2014) S. 44.
57 vgl. Vogeley (2015b) S. 317.; vgl. Kamp-Becker, Bölte (2014) S. 44f.
58 vgl. Vogeley (2015b) S. 317.
59 Kamp-Becker, Bölte (2014) S. 45.
60 vgl. Kamp-Becker, Bölte (2014) S. 42.
61 Vogeley (2015a) S. 132.
62 Vogeley (2015a) S. 132f.
63 vgl. Vogeley (2015a) S. 132f.; vgl. Kamp-Becker, Bölte (2014) S. 42.
64 vgl. Theunissen (2021) S. 46.
65 vgl. Theunissen (2020) S. 46.
66 vgl. Theunissen (2021) S. 46.
67 vgl. Theunissen (2020) S. 50.
68 vgl. Theunissen (2020) S. 57.; vgl. Theunissen (2021) S. 47.
69 vgl. Theunissen (2014) S. 18.; vgl. Theunissen (2021) S. 51.
70 vgl. Theunissen, Paetz (2015) S. 43.; vgl. Theunissen (2021) S. 52.
71 vgl. Tebartz van Elst (2016) S. 154.
72 vgl. Theunissen (2021) S. 51f.
73 vgl. Theunissen, Paetz (2015) S. 42.
74 vgl. Theunissen (2016) S. 27.
75 Theunissen (2014) S. 18.
76 Theunissen (2014) S. 18.
77 Theunissen (2016) S. 28.
78 vgl. Theunissen, Paetz (2015) S, 42.; vgl. Theunissen (2016) S. 32.
79 vgl. Theunissen, Paetz (2015) S. 42.
80 vgl. Theunissen (2016) S. 32f.
81 Theunissen (2016) S. 34f.
82 vgl. Barnett (2014) S. 66, 83, 195.; vgl. Theunissen (2014) S. 183ff.
83 vgl. Theunissen (2014) S. 19.
84 vgl. Theunissen (2014) S. 19.
85 Theunissen, Paetz (2015) S. 42.
86 Theunissen (2014) S. 20.
87 vgl. Theunissen (2014) S. 20.
88 vgl. Theunissen, Paetz (2015) S. 42.
89 vgl. Theunissen (2014) S. 20.
90 vgl. Theunissen (2014) S. 20f.
91 vgl. Theunissen, Sagrauske (2019) S. 50ff.
92 vgl. Schmidt (2016) S. 159.
93 vgl. Theunissen (2014) S. 20f.
94 Theunissen (2014) S. 21.
95 vgl. Theunissen (2014) S. 21.
96 vgl. Theunissen, Paetz (2015) S. 43.; vgl. Theunissen, Sagrauske (2019) S. 57.
97 vgl. Theunissen (2021) S. 51f.
98 vgl. Kabsch (2018) S. 28.
99 vgl. Kabsch (2018) S. 27.
100 vgl. Kamp-Becker, Bölte (2014) S. 74.; vgl. Kabsch (2018) S. 28.
101 vgl. Lingg, Theunissen (2008) S. 20ff.
102 vgl. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) unter Beteiligung der Arbeitsgruppe ICD des Kuratoriums für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen (KKG) (2016) (o.S.).
103 vgl. Theunissen (2014) S. 14f.
- Quote paper
- Tobias Thiemrodt (Author), 2021, Autismus und Soziale Arbeit. Unterstützung bei der Bewältigung von Bedarfen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1191554
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.