Die Mikrostudie zur sozialpolitischen Kultur in Darmstadt der 1950er-Jahre betrifft den Stadtteil Darmstadt-Süd/Heimstättensiedlung. In dieser Zeit umfasste er mehrere Siedlungen: die eigentliche Heimstättensiedlung ("Altsiedlung") der Einheimischen aus den 1930-er Jahren, die Buchenlandsiedlung der Bukowinadeutschen und die Donausiedlung der Ungarndeutschen. Am Beispiel von zwei markanten Interessenkonflikten in Darmstadt-Süd spiegelt die Studie die frühe Einsetzung der Aushandlungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsinstrumente der demokratischen Kommunalpolitik wider – mit deren Stärken und Schwächen, und vor dem Hintergrund der gegebenen sozialen Vielfalt des Stadtteils.
Die Studie basiert vornehmlich auf Dokumenten des Stadtarchivs Darmstadt, dem Heimatruf, dem 1951–1954 monatlich in Frankfurt a.M. erschienenen Periodikum vormaliger Leiter des Volksbundes der Deutschen in Ungarn, sowie auf zahlreichen lebensgeschichtlichen Interviews. Sie ist auch als zeitgeschichtlicher Beitrag zur führungs- und raumbezogenen Sozialgeschichte im untersuchten Jahrzehnt konzipiert.
3. Der Sport- und Kulturverein Rot-Weiß Darmstadt e.V.
4. Aushandlungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse der demokratischen Kommunalpolitik im gemeinnützigen Vereinswesen in Darmstadt-Süd
5. Ein kommunalpolitisches Lehrstück: Der Bezirkssportplatz der Heimstättensiedlung (1960)
6. Ausblick auf die folgenden sechs Jahrzehnte
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2. Der zweite Schwabenball in Darmstadt (26. Januar 1952).
Abbildung 3. Der dritte Schwabenball in Darmstadt (23. Januar 1953).
Abbildung 4. Die erste Kerbveranstaltung der Donausiedler im Jahre 1953. Foto ©Josef Lach jun.
1. Einführung
In den 1950-er Jahren umfasste der Stadtteil Darmstadt-Süd/Heimstättensiedlung mehrere Siedlungen: die eigentliche Heimstättensiedlung („Altsiedlung“) der Einheimischen aus den 1930-er Jahren, die Buchenlandsiedlung der Bukowinadeutschen und die Donausiedlung der Ungarndeutschen. Alle drei „Randsiedlungen“ befanden sich damals kontinuierlich im grundsätzlich von verschiedenen Bau- und Siedlungsgenossenschaften vorangetriebenen Aufbau. Zeitgleich mit der Überwindung der schlimmsten wirtschaftlichen Not und des bedrückendsten sozialen Elends der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden hier bestimmte Strukturen für kulturelle und sportliche Aktivitäten von den Siedlergruppen bewusst geschaffen, zum Teil sogar organisatorisch manifestiert, und dadurch schlussendlich verfestigt. Die nachfolgenden lokalpolitischen Beispiele für das gemeinnützige Vereinswesen vor Ort belegen, dass manche Abgrenzungen sowohl von den Einheimischen als auch von den bukowina- und ungarndeutschen Heimatvertriebenen im genannten Jahrzehnt gewollt waren – zum Teil mit politischer Unterstützung, zum Teil trotz anderer Vorstellungen der Stadt Darmstadt.
Die vorliegende Mikrostudie zur sozialpolitischen Kultur betrifft den Stadtteil Heimstättensiedlung. Sie basiert vornehmlich auf Dokumenten des Stadtarchivs Darmstadt, dem Heimatruf, dem 1951–1954 monatlich in Frankfurt a.M. erschienenen Periodikum vormaliger Leiter des Volksbundes der Deutschen in Ungarn, sowie auf zahlreichen lebensgeschichtlichen Interviews. Sie ist auch als zeitgeschichtlicher Beitrag zur führungs- und raumbezogenen Sozialgeschichte im untersuchten Jahrzehnt konzipiert. Am Beispiel von zwei markanten Interessenskonflikten in Darmstadt-Süd soll sie die frühe Einsetzung der Aushandlungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsinstrumente der demokratischen Kommunalpolitik widerspiegeln – mit deren Stärken und Schwächen, und vor dem Hintergrund der gegebenen sozialen Vielfalt des Stadtteils.
2. Ein landsmannschaftlicher Binnenkonflikt in Darmstadt: Der Schwabenball und der Ungarndeutsche Kulturverein der Donausiedlung
Der erste „Schwabenball“ der ungarndeutschen Heimatvertriebenen fand 1951 in Hessen, genauer in der „kleinen Großstadt“ Darmstadt, statt, die damals insgesamt rund 95.000 Einwohner hatte.[1] Darmstadt als hessischer Veranstaltungsort war eine vortreffliche Wahl, weil damals in der Sankt-Stephan-Siedlung Schätzungen zufolge bis zu 100 katholische und in der Donausiedlung etwa 40 bis 60 evangelische zwei- bis vier-Generationen-Familien aus Ungarn lebten.[2] Somit befand sich hier zweifellos das bedeutsamste Zentrum der heimatvertriebenen Ungarndeutschen in Hessen.
Die Hauptorganisatoren waren zugleich Gründungsmitglieder der hessischen Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn wie beispielweise Ernst Gori aus der Donausiedlung oder die in Frankfurt a.M. lebende Schlesierin Irma Steinsch. Gori wurde 1949 zum Vorsitzenden der landsmannschaftlichen Vereinigung der sogenannten Deutschbewussten in Hessen gewählt. Seit Juni 1950 unterrichtete er in der (zum Teil in gemeinschaftlicher Selbsthilfe) gerade eben aufgebauten Friedrich-Ebert-Schule Heimstättensiedlung/Darmstadt.[3] Irma Steinsch war die Begründerin der Donausiedlung Darmstadt, ferner die „Managerin“ und Aufsichtsratsvorsitzende der Ungarndeutschen Bau- und Siedlungsgenossenschaft Darmstadt-Süd/Donausiedlung e.V. Sie nahm auch die Geschäftsleitung der hessischen Landsmannschaft wahr.[4]
Als Veranstaltungsstätte fungierte beim ersten Schwabenball noch der kleine Concordiasaal, bei den darauffolgenden die viel größeren Säle auf der Mathildenhöhe.
Abbildung 1. Die Trachtengruppe der Donausiedlung, angeführt von Lehrer Ernst Gori, auf einem der ersten Schwabenbälle in Darmstadt (Mathildenhöhe). Foto ©Josef Lach jun.
Abbildung 2. Der zweite Schwabenball in Darmstadt (26. Januar 1952).
Es traten (laut Heimatruf, dem Presseorgan der hessischen Landsmannschaft der „deutschbewussten“ Ungarndeutschen sowie der Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung ungarndeutscher Interessen e.V.) etwa 60 Trachtenpaare vor insgesamt rund 1.000 ungarndeutschen Gästen auf. Das erste Paar trug den Vortänzerstrauß, einen mit Bändern geschmückten „Rosmarein“, der später „verlizitiert“ wurde. Bukowinadeutsche und siebenbürgische Trachtenpaare sowie prominente einheimische und US-amerikanische Ehrengäste nahmen am Ball ebenfalls teil.[5]
Abbildung 3. Der dritte Schwabenball in Darmstadt (23. Januar 1953).
Es spricht einer der profiliertesten Leiter des vormaligen Volksbundes der Deutschen in Ungarn, der damals in Mühlhausen/Heidelberg lebende Heinrich Mühl, auf dem Ball. Diesmal seien rund 1.500 Ungarndeutsche bei der Veranstaltung erschienen – behauptete der Heimatruf.[6]
Goris persönliches Engagement für die Darmstädter Etablierung des Schwabenballs diente – durch eine realitätsbezogene Neukonzipierung – der Wiederbelebung der in Ungarn gepflegten Kulturtradition. Sein primäres Anliegen war eine „heimatlich geprägte“ Feier, ein großes „Familienfest“, das den überall in der Bundesrepublik zerstreut lebenden Landsleuten, die sich zuletzt in den Verteilungslagern gesehen haben, die Chance bietet, sich wiederzusehen. Zudem sollte eine sogar für einheimische Hessen oder US-amerikanische Besatzungskräfte attraktive Plattform für ein gegenseitiges Kennenlernen sowie für fröhliche, gesellschaftsschichtübergreifende Geselligkeit geschaffen werden. Mit diesen „laschen“, der gesellschaftlichen Valenzbildung dienenden, Zielsetzungen, denen es an sozialpolitischen Ecken und Kanten mangelte, und die somit zur offensiven vertriebenenpolitischen Profilierung ungeeignet schienen, waren aber die von Heinrich Mühl (1901–1963)[7] angeführten ehemaligen Volksdeutschen Kameraden und Kameradinnen (wie Irma Steinsch, Matthias Vogl und Heinrich Neun) nicht zufrieden. Sie betätigten sich ab 1951 in der Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung ungarndeutscher Interessen (Frankfurt a.M.), um sowohl die laufende Ansiedlung und Eingliederung als auch die eventuelle gemeinsame Rückkehr der ungarndeutschen Heimatvertriebenen in das von Kommunisten befreite Ungarn maßgeblich mitbestimmen und mitgestalten zu können. Sie hatten noch den Usus der vormaligen Volksgruppen- bzw. Volksbundführung in lebhafter (und guter) Erinnerung. So konnte der alljährliche Budapester „Landesschwabenball“ gegenüber den Regierungsstellen als minderheitenpolitisches Druckmittel zur imposanten Großkundgebung der inneren Geschlossenheit und Stärke der überwiegend bäuerlichen „Volksgruppe“ instrumentalisiert werden. Die gelungene Darmstädter Festveranstaltung wurde von ihnen bereits 1952 zur „würdigen Schau der ungarndeutschen Volksart“[8] verklärt, um ihr einen übergeordneten vertriebenenpolitischen Sinn zu geben und sie auch als Forum für landsmannschaftliche Agitation und Propaganda zu nutzen.
Nachfolgend einige Beispiele für die 1952–1954 anlässlich des jährlich wiederkehrenden Fests in Darmstadt vor einer landesweiten Öffentlichkeit verkündeten Thesen des Arbeitskreises um Heinrich Mühl:
Der Darmstädter Schwabenball sei ein Ball,
1) der ungarndeutsche Heimat stiftet; daher sei er ein „Heimatball“ der „Volksgruppe“,
2) der die Manifestierung der Anerkennung durch die Landes- und Stadtregierung sei, dass die Ungarndeutschen „vollwertige Staatsbürger“ seien,
3) der die Erinnerung daran sei, dass ein Teil der jetzigen ungarndeutschen Vertriebenen über Vorfahren verfügt, die vor etwa 200–250 Jahren aus Hessen ausgewandert sind, folgerichtig sozusagen urhessisch (historisch gesehen hessischer als die meisten heutigen Hessen) sei,
4) der (in Bezug auf die Lastenausgleichs-Pläne der Bundesregierung und den Hessenplan) beweisen würde, dass die Ungarndeutschen für jegliche seelische, geistige, politische und materielle Eingliederungshilfe würdig seien,
5) der den Kreis um Ludwig Leber (Stuttgart), der die Ungarndeutschen von den Deutschen segregieren und in das nationalungarische Lager überführen wolle, politisch demaskieren würde,
6) der ein Forum sei, das der rechtsgeschichtlichen Aufklärung diene. Bei der Abwägung der Rückkehrchancen seien die Ungarndeutschen unter den Landsmannschaften, die aufgrund des Potsdamer Abkommens vertrieben wurden, zu positionieren, also kategorisch nicht unter den „Südostdeutschen“ usw.
Es war kommunalpolitisch weise, dass der auf dem Ball anwesende Oberbürgermeister Ludwig Engel (SPD) auf solche einseitig-selbstbezogenen, fast selbstsüchtigen, vertriebenenpolitischen Ausführungen, die die Interessen, Problemlagen, Sichtweisen und bisherigen Eingliederungsleistungen der Gesamt-Stadtgemeinschaft Darmstadts schlichtweg außer Acht ließen, nicht verbindlich reagierte. Stattdessen nahm er auf das damals einzigartig integrative Potential des Fests Bezug und betonte, dass der jährliche ungarndeutsche Ball für ihn eine Darmstädter Kulturveranstaltung sei und als solche „aus dem Leben der Stadt nicht mehr wegzudenken“[9]. Somit erklärte er im Namen des Magistrats den Schwabenball bereits 1953, fünf Jahre nach der Ankunft der ersten ungarndeutschen Heimatvertriebenen in der Stadt, sozialpolitisch überaus konstruktiv und vorausschauend, kurz und bündig für heimisch.
Die persönliche Konsequenz seiner von der kämpferischen Volksbundtradition abweichenden kommunalpolitischen Einstellung für Gori war, dass er den Vorsitz der hessischen Landsmannschaft verlor. Zudem aberkannte die von Matthias Vogl angeführte neue Leitung Gori seinen Beitrag zur Wiederbelebung des ungarndeutschen Schwabenballs auf hessischem Boden per se. Sie reklamierte sich selbst das ausschließliche Recht auf die Neuetablierung. Dies geschah mit dem Axiom, dass die Landsmannschaft als explizit politische Organisation die einzige berufene „Wahrerin der Kulturgüter“, die die Vertriebenen aus der Heimat mit sich brachten, sei. Gori versuchte, der drohenden Übernahme zuvorzukommen oder zumindest entgegenzuwirken, indem er 1953/54 einen Schwabenball in Eigenregie, in Organisation seines gerade eben ins Leben gerufenen Darmstädter Ungarndeutschen Kulturvereins, aufzog. Diese Veranstaltung in den Mathildensälen wurde auf den 16. Januar 1954 terminiert und unter den Ungarndeutschen landesweit propagiert. Daraufhin wurde Gori im Presseorgan der hessischen Landsmannschaft als „kein rechter Ungarndeutscher“ persönlich angegriffen. Ihm wurde absurderweise unterstellt, dass er im Auftrage des Kreises um den „Ungarischbewussten“ Ludwig Leber sowie im Dienste nationalungarisch gesinnter Emigranten durch „Quertreibereien“ die friedliche Aufbauarbeit in Deutschland sabotieren wollte. Die Gesamtleserschaft wurde alarmiert und gegen ihn mobilisiert und die Erscheinung auf dem „richtigen“, weil von Vogls Landsmannschaft organisierten, (vierten) Darmstädter Schwabenball vom 23. Januar 1954 zur „Pflicht der Rechten“ gemacht.[10] Irma Steinsch suchte Oberbürgermeister Engel (mit Halbwahrheiten) auf, um Gori bei ihm anzuschwärzen; gleichzeitig versuchte sie den ehemaligen Oberbürgermeister Ludwig Metzger in den Binnenkonflikt zu ziehen.[11] Dieses Beispiel ist als Fortsetzung des in der Minderheitenpolitik Ungarns praktizierten Nullsummenspiels (durch die altbekannten destruktiven Methoden wie Alarmierungen, Mobilisierungen, Verleumdungen, Beschuldigungen, Beschwerdeführungen, Kränkungen, Abrechnungsbestrebungen und Gehässigkeiten usw.) in Hessen zu sehen. Es spiegelt die massiven Schwierigkeiten der deutschbewussten akademischen Elite der 1950-er Jahre, sich auf eine demokratische Vertriebenenpolitik auf lokaler wie Landesebene einzustellen, wider.[12]
Wie vorhin flüchtig erwähnt, existierte in der Donausiedlung Darmstadt bereits anfangs der 1950-er Jahre ein von Ernst Gori begründeter Ungarndeutscher Kulturverein. Es verwundert nicht, dass dessen Gründung durch den landesweiten Erfolg der ersten Schwabenbälle inspiriert wurde. Das Gründungsfest fand am 23. August 1953 in dem (noch nicht fertiggestellten) mit einer Zeltplane überdachten Festsaal der Gaststätte „Zur Stadt Budapest” statt. Den Vorsitz übernahm Gori. Die rührigsten Mitarbeiter der ersten Zeit waren Michael Kuhn, Viktor Guszmann (aus Pécsvárad, Komitat Baranya; einer der in Südungarn allgemein bekannten Leiter des vormaligen Volksbundes der Deutschen in Ungarn; nach dem Krieg der Begründer der katholischen ungarndeutschen Sankt-Stephan-Siedlung bei Darmstadt)[13] und Konrad Pflug. (Wichtige Mitglieder des Vorstandes waren später unter anderem die Siedler Peter Hildebrand, Heinrich Rothermel, Hans Fischer, Jakob Drechsler und Konrad Wolf.) Als Gäste waren der hessische Kultusminister Ludwig Metzger (1902–1993), Oberbürgermeister Ludwig Engel (1906–1975), Rechtsanwalt Viktor Guszmann und der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Siedler des Stadtteils Heimstättensiedlung, Hans Straub (1899–1962), anwesend. In der Festrede sprach der bedeutendste weltliche Unterstützer der Darmstädter Heimatvertriebenen, Ludwig Metzger (SPD), von seiner Hoffnung, dass der Kulturverein zur echten und engeren Gemeinschaftsbildung unter den Siedlern durch ein geistiges Band beitragen werde.[14] Der Verein diente aber eigentlich in erster Linie dem Erhalt des mitgebrachten Kulturguts (z.B. des Schwabenballs). Zwei weitere wichtige Zielsetzungen sollten die Chancen der Siedlerkinder auf einen sozialen Aufstieg erhöhen: Man wollte den Bildungsrückstand aufholen, der u. a. durch den meist nur mangelhaften Deutschunterricht in den ungarischen Schulen entstanden war, und die Integration auch durch das Kennenlernen der neuen Heimat fördern.[15] Zunächst konnte eine Laienspielgruppe (mit den Spielleitern Konrad Wolf und Jakob Hettich) und ein von Gustav Kastner geführter gemischter Chor gebildet werden. Vier Jahre zuvor, noch in der Notunterkunft des Evangelischen Hilfswerks Darmstadt (in der Rheinstraße), entstand die Initiative der Siedlungsgenossenschaftsmitglieder, die Hochzeits-, Trauer-, Weihnachts- und Silvesterfeiern gemeinsam zu begehen. Diese sollte nunmehr der Kulturverein als Tradition der evangelischen „Siedlerfamilie” weiterführen – ganz nach den Idealvorstellungen Ludwig Metzgers. 1954 kam noch eine Aufgabe hinzu: Der Kulturverein sollte die neue Idee des sogenannten Rot-Weiß Kirchweihfestes ebenfalls umsetzen, hegen und pflegen.
Abbildung 4. Die erste Kerbveranstaltung der Donausiedler im Jahre 1953. Foto ©Josef Lach jun.
Das Kirchweihfest fand auf der noch nicht befestigten
Fünfkirchner Straße statt. Auf dem Foto ist auch der erste „Kerbevadder“, Hans
Stein, zu sehen (mit schwarzem Zylinder,
links, neben dem „Kerbebaum“).
Abbildung 5. Kirchweihfest („Kerb“) in der Donausiedlung Darmstadt (Mitte der 1950-er Jahre). Foto ©Jakob Assmuß.
Es etablierte sich als Rot-Weiß-Kerb in Konkurrenz zu dem Blau-Weiß-Kirchweichfest der benachbarten Sportvereinigung Eiche. Der Baum mit dem Kranz stand auch diesmal vor der Gasstätte „Zur Stadt Budapest“. Der Kerbevadder war ebenfalls Hans Stein.[16]
Die unrühmliche Konfliktsituation innerhalb der „deutschbewussten“ Führungselite wegen der Zugehörigkeit des Schwabenballs belastete die Donausiedler etwa zwei Jahre schwer. Die Konkurrenz wurde erst in der zweiten Hälfte der 1950-er Jahre obsolet, nachdem Irma Steinsch als Aufsichtsratsvorsitzende der ungarndeutschen Bau- und Siedlungsgenossenschaft abgewählt und Ernst Gori weggezogen war.
3. Der Sport- und Kulturverein Rot-Weiß Darmstadt e.V.
Im südlichen Stadtteil Darmstadts wurde im Jahre 1951 erstmals ein Fußballverein gegründet. An den Vorbereitungen zur Gründung dieses Vereins waren auch Männer und Kinder aus der Donausiedlung beteiligt.
„Ich erinnere mich noch gut daran, dass z.B. der Geschäftsführer der Ungarndeutschen Bau- und Siedlungsgenossenschaft, Heinrich Derner[17], bei der Diskussion um einen Namen in pathetischen Worten davon sprach, dass die Vereinsgemeinschaft ‘so fest und stark wie eine deutsche Eiche‘ werden sollte. Als der Verein mit dem Namen SG ‘Eiche‘ Darmstadt schließlich gegründet wurde, traten außer einigen erwachsenen Donausiedlern natürlich auch wir, fußballbegeisterte Kinder, sehr hoffnungsfroh in den Verein ein. Einige von uns, wie z.B. Hans Schild, hatten sogar bei den Arbeiten zur Vorbereitung des Fundamentes für die erste Vereinsbaracke mitgeholfen“[18] – schrieb Landrat a.D. Josef Lach jun. 2008.
Die „Eiche“ galt fortan als Sportvereinigung, die überwiegend dem Willen der einheimischen Siedler entsprang, jedoch nicht ausschließlich für sie gedacht war. Im Stadtteil Darmstadt-Süd/Heimstättensiedlung wurde ihr von der Stadtverwaltung ein Sportgelände zur Verfügung gestellt. Die Erwartungen der ungarndeutschen Kinder wurden jedoch enttäuscht: Kaum eines von ihnen kam in der Schülermannschaft der „Eiche“ zum Einsatz und eine weitere wurde zunächst noch nicht gebildet. Es war auch für fußballbegeisterte junge ungarndeutsche Männer unmöglich mitzuspielen, insbesondere weil sie Anfänger waren, und die Stammgarde der „Eiche“ aus leistungsstarken, erfahrenen Spielern aus der Heimstättensiedlung/„Altsiedlung“ bestand. Sie fühlten sich weder sportlich, noch menschlich anerkannt, „zumal sie auch manchmal in abfälligem Ton zu hören bekamen, dass sie überhaupt nichts zu sagen und keine Ansprüche zu stellen hätten“ – erinnert sich Josef Lach jun.[19] Nachdem die angefragten katholischen Ungarndeutschen der Sankt-Stephan-Siedlung ebenfalls kein Interesse gezeigt hatten, in ihrem Fußballverein Landsleute aus der evangelischen Donausiedlung aufzunehmen, entschlossen sich unter anderen Hans Hammel, Richard Haller und Alexander Hilgert, einen eigenen Verein zu gründen. Sie sammelten Unterschriften und diskutierten im Gasthaus „Zur Stadt Budapest“ leidenschaftlich die Planung und Umsetzung einer Vereinsgründung. Gastwirt Josef Lach sen. erhielt vom Kreisfußballwart Heinrich Ripper schon im Voraus die Zusage unbürokratischer Hilfe bei der kurzfristigen Einplanung des neuen Vereins in den Spielplan der nächsten Punktrunde der untersten Kreisklasse.
Am 4. Juli 1954 spielte Deutschland im Finale der Fußballweltmeisterschaft in Bern gegen Ungarn und die Donausiedler versammelten sich im großen Saal des Gasthauses „Zur Stadt Budapest“, um sich die Fernsehsendung gemeinsam anzuschauen. Viele Donausiedler hatten ein emotionales Verhältnis zu der „Goldenen Elf“ Ungarns. Es waren drei Schlüsselpositionen der damals weltberühmten ungarischen Nationalmannschaft von Spielern deutscher Herkunft besetzt, namentlich von Ferenc Puskás (Mannschaftskapitän), Nándor Hidegkuti und Sándor Kocsis. Die älteren Siedler drückten vielleicht immer noch den Ungarn die Daumen; die Generation der Söhne fiel hingegen von einem Jubel in den anderen, sie fanden nämlich alle Tore großartig.[20]
Zwei Tage später gründeten 61 Männer und Jugendliche im großen Saal des Gasthauses „Zur Stadt Budapest” den Sportverein „Rot-Weiß“, die somit zweite Sportvereinigung des Stadtteils Heimstättensiedlung. Bereits bei der Gründung waren drei Nicht-Donausiedler mit dabei.[21] Die Interessierten in der benachbarten Buchenlandsiedlung hingegen erfuhren erst zwei, drei Tage später von der als Reaktion auf das großartige WM-Finale in Bern rasch durchgeführten Vereinsgründung, traten dann aber sofort bei.[22] Der nach dem Prinzip der Schicksalsgemeinschaft der Vertriebenen erfolgten Vereinsgründung lag aus der Sicht der Initiatoren ihre Zurückweisung seitens des Nachbarvereins „Eiche” zugrunde. „Das Gefühl der gemeinsamen Herkunft und das Bewusstsein, ein gemeinsames Schicksal zu haben, sollte sich besonders in den ersten Jahren als außerordentliche Triebfeder, auch in sportlicher Hinsicht, erweisen” – schreibt der Zeitzeuge Hans Hammel.[23] In der medienwirksamen Öffentlichkeit in Darmstadt galt der „Rot-Weiß” von da an und noch viele Jahre als ausgesprochener Flüchtlingssportverein der Ungarn- und Bukowinadeutschen. Erster Vorsitzender wurde der Gastwirt Josef Lach sen. (aufgewachsen in Borjád, Komitat Baranya), eine integrative Persönlichkeit[24], die auch im Nachbarsportverein „Eiche“ weiterhin Mitglied blieb. Für die Verbandsrunde 1954/55 konnte man eine Herrenmannschaft, „eine B-Jugend Mannschaft und eine Schülermannschaft melden. Die Fußball-B-Jugend machte bald Furore und schaffte bereits im selben Spieljahr die Kreismeisterschaft und die Bezirksmeisterschaft.”[25] Die Spiele der B-Jugendmannschaft gegen Groß-Gerau und Erbach für die Bezirksmeisterschaft 1954/55 erhielten schnell einen „historischen Wert“ für die ungarn- und bukowinadeutschen Siedler. In den sportlichen Erfolgen äußerte sich das verbissene soziale Aufstiegs- und Anerkennungsstreben der Vertriebenenkinder.[26]
Abbildung 6. Die Fußball-B-Jugendmannschaft des Sport- und Kulturvereins Rot-Weiß Darmstadt im Spieljahr 1954/55. Foto ©Josef Lach sen.
Abgebildet sind: Jugendleiter Melchior Schäffer, die Spieler Heinrich Schäffer, Hans Schild, Karl Schlitt, Josef Becker, Detlef Kuhr, Hans Ganglauf, Josef Wolf, Trainer Ludwig Herwig, Vorsitzender Josef Lach sen., die Spieler Heinrich Rothermel, Josef Lach jun., Hans Karl, Andreas Pentecker, Peter Fischer, Heinrich Hammel.
Am 22. August 1954 schloss sich auch der Kulturverein dem Sportverein an. Dadurch entstand der Rot-Weiß Sport- und Kulturverein unter der Leitung von Gastwirt Lach. Weitere Vorstandsmitglieder wurden Peter März sen. (Stellvertretender Vorsitzender), Philipp Blumenschein (Abteilungsleiter), Heinrich Derner (Schriftführer), Fritz Lerche (Kassierer) und Melchior Schäffer (Jugendleiter).[27] Josef Lach sen. führte 40 Jahre später, in einer Jubiläumsrede, zu dem Hauptziel des Sport- und Kulturvereins Folgendes aus:
Die Gründer von Rot-Weiß Darmstadt waren alle Mitglieder der Ungarndeutschen Bau- und Siedlungsgenossenschaft. Wir Erwachsenen lernten uns beim Bau unserer Häuser kennen, aber gemeinsame Kinderjahre hatten wir nicht. Nun hatten wir aber Kinder. Wir, die Donausiedler, kommen aus 40 verschiedenen Ortschaften aus Ungarn und Jugoslawien. Deshalb brauchten wir für unsere Kinder eine sportliche und kulturelle Betätigung als Integrationshilfe in der neuen Heimat.[28]
Das langjährige, kontinuierliche Engagement der Vereinsleitungen wurde ein charakteristisches Merkmal der „Rot-Weißen“: Lach sen. bekleidete das Amt der Gesamtvereinsleitung 18 Jahre lang. Sein Nachfolger, Gymnasiallehrer und SPD-Kommunalpolitiker Heinrich Knieß (* 1932. Varsád/Waschad (Komitat Tolna); † 2002. Darmstadt) führte den Verein 30 Jahre lang. Sepp Dietrich aus der Buchenlandsiedlung war 1962–1990 der stellvertretende Vorsitzende des Gesamtvereins. Bruno Theis (ebenfalls aus der Buchenlandsiedlung) war zunächst langjähriger Schriftführer, ab 1982 Abteilungsleiter für Gesang.
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- Krisztina Kaltenecker (Author), 2022, Heimatvertriebene in Darmstadt der 1950-er Jahre. Das gemeinnützige Vereinswesen der Ungarndeutschen und die Instrumente der demokratischen Kommunalpolitik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1184806
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