Die fiktionalen Bilderwelten von Fernsehserien gehören fest zu unserem Alltag und im Fernsehen vergeht kaum eine Minute, in der nicht auf irgendeinem Kanal eine Serie ausgestrahlt wird. Doch wie gehen wir eigentlich mit diesen Inhalten um? Was passiert, wenn wir eine Fernsehserie rezipieren, und sei es nur aus Zeitvertreib? Sind wir Medieninhalten tatsächlich so machtlos ausgeliefert, wie es beispielsweise das Reiz-Reaktions-Modell oder andere medienwissenschaftliche Ansätze implizieren? Oder müssen wir den Fernsehzuschauer vielmehr als aktiv Handelnden betrachten?
Letztere Auffassung hat sich insbesondere in den Cultural Studies durchgesetzt. Diese vertreten die Meinung, dass sich die vollständige Wirkung eines Medientextes erst bei dessen Rezeption zeigt, abhängig von der aktuellen Situation des Rezipienten, dessen Vorwissen sowie beeinflusst durch eigene, persönliche Erfahrungen. Die Vorstellung Stuart Halls, einem herausragenden Vertreter der Cultural Studies, von der Aneignung von Fernsehtexten, in der Lesart und soziale Lage des Zuschauers untrennbar miteinander verknüpft sind, bildet die Grundlage dieser Arbeit. Das von ihm entwickelte Encoding/Decoding-Modell soll dabei nicht nur einen Schwerpunkt im ersten Teil der Ausarbeitung darstellen, sondern anschließend in der Untersuchung der US-amerikanischen Jugend-Dramaserie 'Dawson’s Creek' den theoretischen Bezugsrahmen bilden. Anhand einer beispielhaft ausgewählten Episode wird versucht, die von Hall konstatierten, verschiedenen Möglichkeiten der Deutung und Bewertung von Fernsehtexten zu veranschaulichen.
Die Arbeit soll einen Bogen schlagen vom Medienprodukt zur soziokulturell vermittelten Rezeption nach Stuart Hall sowie den daraus resultierenden möglichen Rezeptionspositionen und Lesarten.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Encoding/Decoding-Modell von Stuart Hall – Ausgangspunkt und Bezugsrahmen dieser Arbeit
2.1 Medienaneignung im soziokulturellen Kontext
2.2 Drei hypothetische Lesarten von Medientexten
2.3 Kritische Einwände gegen das Massenkommunikationsmodell
3. Das Beispiel Dawson’s Creek
3.1 Geschichte und Konzept der Serie
3.2 Die Episode „The Longest Day“ als exemplarischer Untersuchungsgegenstand
3.3 Darstellung der möglichen Rezeptionspositionen
4. Fazit
Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Millionen Menschen sehen sie täglich, lassen sich immer wieder aufs Neue von ihnen begeistern und richten nicht selten sogar ihre Tagesplanung nach ihnen aus. Die Rede ist von Fernsehserien. Die fiktionalen Bilderwelten gehören fest zu unserem Alltag und im Fernsehen vergeht kaum eine Minute, in der nicht auf irgendeinem Kanal eine Serie ausgestrahlt wird. Doch wie gehen wir eigentlich mit diesen Inhalten um? Was passiert, wenn wir eine Fernsehserie rezipieren, und sei es nur aus Zeitvertreib? Sind wir Medieninhalten tatsächlich so machtlos ausgeliefert, wie es beispielsweise das Reiz-Reaktions-Modell oder andere medienwissenschaftliche Ansätze implizieren? Oder müssen wir den Fernsehzuschauer vielmehr als aktiv Handelnden betrachten?
Letztere Auffassung hat sich insbesondere in den Cultural Studies durchgesetzt. Diese vertreten die Meinung, dass sich die vollständige Wirkung eines Medientextes erst bei dessen Rezeption zeigt, abhängig von der aktuellen Situation des Rezipienten, dessen Vorwissen sowie beeinflusst durch eigene, persönliche Erfahrungen. Die Vorstellung Stuart Halls, einem herausragenden Vertreter der Cultural Studies, von der Aneignung von Fernsehtexten, in der Lesart und soziale Lage des Zuschauers untrennbar miteinander verknüpft sind, bildet die Grundlage dieser Arbeit. Das von ihm entwickelte Encoding/Decoding-Modell soll dabei nicht nur einen Schwerpunkt im ersten Teil der folgenden Ausarbeitung darstellen, sondern anschließend in der Untersuchung eines populären, seriellen Fernsehtextes zur Anwendung kommen und hierbei den theoretischen Bezugsrahmen bilden.
In der vorliegenden Arbeit habe ich mich für die US-amerikanische Jugend-Dramaserie Dawson’s Creek entschieden, die für den US-Sender ‚The WB Television Network‘ in den 1990er Jahren zu einem Publikumserfolg wurde und unter Jugendlichen schnell einen sehr hohen Bekanntheitsgrad erreichte. Anhand einer beispielhaft ausgewählten Episode werde ich versuchen, die von Hall konstatierten, verschiedenen Möglichkeiten der Deutung und Bewertung von Fernsehtexten zu veranschaulichen.
Die Arbeit soll einen Bogen schlagen vom Medienprodukt zur soziokulturell vermittelten Rezeption nach Stuart Hall sowie den daraus resultierenden möglichen Rezeptionspositionen und Lesarten.
2. Das Encoding/Decoding-Modell von Stuart Hall – Ausgangspunkt und Bezugsrahmen dieser Arbeit
2.1 Medienaneignung im soziokulturellen Kontext
Was machen die Medien mit den Menschen? Lange Zeit stand diese Frage im Fokus der Wirkungs- und Rezeptionsforschung. Dabei ist das Bild der „übermächtigen Medien“, die auf den passiven Rezipienten in einer Art „kommunikativen Einbahnstraße“ einwirken, schon lange überholt (Reiz-Reaktions-Modell: Medium sendet Reiz, Rezipient empfängt und reagiert).[1] Fest steht: Menschen nehmen Medienangebote selektiv wahr. Was dem einen gefällt, gefällt noch lange nicht dem anderen. Insofern muss die eingangs gestellte Frage neu formuliert werden: Was machen die Menschen mit den Medien? Eine Antwort hierauf liefert der Uses and Gratification-Ansatz (Nutzen und Belohnungs-Ansatz): Ihm liegt die Auffassung zu Grunde, dass der Mensch bestimmte Bedürfnisse an ein Medium heranträgt, zum Beispiel das Bedürfnis nach Information oder Ablenkung. Der besondere Fortschritt dieses Modells gegenüber dem Reiz-Reaktions-Modell liegt darin, die Nutzer eines Mediums als aktiv Rezipierende zu betrachten.
Der britische Soziologe Stuart Hall deckte in den zahlreichen Theorien der Medienforschung seiner Zeit jedoch einen entscheidenden Defizit auf: Rezipienten, wie zum Beispiel Fernsehzuschauer, werden als „isolierte Individuen“ betrachtet, losgelöst von jeglichem Kontext. Hall entwickelte einen Ansatz, in dem „aktive“ Rezipienten sowie die sie umgebende Gesellschaft und geltende Machtverhältnisse eine zentrale Rolle einnehmen und der davon ausgeht, dass beispielsweise bei der Bedeutungszuschreibung bei der Rezeption von Fernsehsendungen ständig zwischen Rezipient und Medientext vermittelt wird. Dabei greift er auf semiotische Überlegungen zurück und verknüpft diese mit sozialwissenschaftlichen Ansätzen, worauf ich im Folgenden noch näher eingehen werde. Hall gilt nicht zuletzt wegen dieses subjektbezogenen Ansatzes, der als Encoding/Decoding-Modell bekannt wurde, als einer der Begründer der Cultural Studies.[2]
Da Halls Encoding/Decoding-Modell auf semiotischen Überlegungen basiert, soll zunächst festgehalten werden, dass mit einem „weiten“ Textbegriff operiert wird. Unter dem Ausdruck ‚Text‘ ist nicht nur tatsächlich Geschriebenes oder Gedrucktes zu verstehen, sondern grundsätzlich jedes kommunikative Produkt in seiner Gesamtheit.[3] Hierunter fallen demnach also auch Radio- und Fernsehsendungen oder Filme. Im Folgenden werde ich die Ausdrücke ‚Medientext‘ und ‚Medienprodukt‘ weitgehend synonym gebrauchen.
Stuart Hall geht davon aus, dass mediale Texte bei ihrer Produktion von bestimmten Kodes geprägt werden. Hierbei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle: Auf der Seite des Kommunikators bzw. Produzenten eines medialen Textes sind dies zum Beispiel die Absichten und Ziele der Medienmacher sowie deren Wissensrahmen. Hierzu gehören neben technischen Fertigkeiten und bestimmten Berufsideologien etwa auch Annahmen der Produzenten eines Medienprodukts über das Publikum. So können, bezogen auf Nachrichtensendungen im Fernsehen, Ereignisse nicht direkt (als eben jenes Ereignis) übermittelt werden, sondern müssen erst unter Beachtung gewisser Konventionen in einen Diskurs umgewandelt werden.[4] Diese „Aufbereitung“ hängt nicht unwesentlich von den beteiligten Produzenten einer Fernsehnachricht bzw. den Redakteuren ab. Andererseits müssen auch die Produktionsverhältnisse und die zur Verfügung stehende technische Infrastruktur auf der Seite des Produzierenden berücksichtigt werden. All diese Faktoren schlagen sich bei der Herstellung des Medienprodukts durch den Kommunikator im Text nieder, was Hall als ‚Encoding‘ bezeichnet. Die andere Ebene – bzw. ‚Sinnstruktur‘, wie Hall es bezeichnet – bildet das Konsumieren des Medientextes durch den Rezipienten, folglich ‚Decoding‘ genannt. Auch hier manifestieren sich Wissensrahmen und Produktionsverhältnisse des Mediennutzers, denn Hall versteht den Moment des ‚Decoding‘ analog zum ‚Encoding‘ als eine Art medialer Produktion. Seiner Auffassung nach zeigt sich die Wirkung einer medialen Botschaft erst dann, wenn diese durch den Empfänger als sinnhaft angeeignet wird, d.h. dieser sich den Medieninhalt im eigenen lokalen Lebenskontext zu eigen macht.[5] Dabei spielt auf der Seite des Rezipienten dessen soziokultureller Hintergrund eine wichtige Rolle. Persönliche Kenntnisse, Erfahrungen, Anschauungen ebenso wie perzeptive, emotionale, kognitive und ideologische Prozesse. Unter ‚Decoding‘ ist demnach die Aktivität zu verstehen, bei der die Rezipierenden dem Kommunikat eine bestimmte Bedeutung zuschreiben.
Somit wird bereits klar, dass Hall den Prozess der Medienkommunikation zwischen den beiden beschriebenen Sinnstrukturen, also zwischen Produktion (‚Encoding‘) und Rezeption (‚Decoding‘), lokalisiert. Entscheidend dabei ist jedoch, dass die beiden Sinnstrukturen nicht identisch sind. Der Kode der Produktion muss nicht zwangsläufig mit dem Kode, den ein Rezipient bei der Dekodierung anwendet, übereinstimmen.[6] Hall führt mögliche Differenzen beispielsweise auf unterschiedliche soziokulturelle Umfelder von Rezipienten und Produzenten zurück, denen sie entstammen. Der Zuschauer einer Fernsehserie, den ich in dieser Arbeit als zentrales Beispiel gewählt habe, befindet sich also immer im Spannungsfeld zwischen Text und Kontext.
Um auf den semiotischen Aspekt zurückzukommen, auf den ich zu Anfang hingewiesen hatte: Hall ist der Auffassung, dass jeder mediale Text als ‚bedeutungstragender‘ Diskurs beschrieben werden muss, der sich aus verschiedenen polysemen Zeichen zusammensetzt.[7] Er unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Denotation, d.h. der konventionellen Bedeutung eines Zeichens in einem bestimmten Zeichensystem, sowie Konnotation. Letztere liegt vor, wenn sich die Denotation eines Zeichens „mit den tiefen semantischen Kodes einer Kultur kreuz[t] und zusätzliche, aktivere ideologische Dimension an[nimmt].“[8] Die Konnotation ist also kulturell vermittelt und fügt einem Zeichen ein oder mehrere zusätzliche Bedeutungsaspekte hinzu. Hall unterstreicht jedoch, dass diese untereinander nicht gleichrangig sind. Daraus schließt er, dass Medientexte vieldeutig sind und somit mehrere Lesarten erlauben. Serielle Fernsehtexte, insbesondere Soap Operas, erweisen sich hier als ergiebige Beispiele, da sie aufgrund ihrer (zumeist zahlreich vorhandenen) Figuren und verschiedenen Handlungsebenen offen sind für verschiedene Lesarten. Bevor ich mich jedoch einem Beispiel genauer widme, konzentriere ich mich im folgenden Abschnitt zunächst auf Halls Kategorisierung in drei idealtypische Rezeptionspositionen.
2.2 Drei hypothetische Lesarten von Medientexten
Nach Hall lassen sich im Zusammenhang mit Medientexten zwei generelle Arten von Missverständnissen unterscheiden: Zum einen Missverständnisse auf der wörtlichen Ebene, die zum Beispiel vorliegen, wenn der Rezipierende bestimmte im „Text“ verwendete Termini nicht versteht, er/sie der Logik nicht folgen kann, sich durch die Art bzw. Form der Darlegung verwirrt fühlt oder einfach nicht der verwendeten Sprache mächtig ist. Wesentlich häufiger sind laut Hall jedoch Missverständnisse, die durch eine andere Auffassung des Zuschauers hervorgerufen werden, d.h. dieser nicht innerhalb des bevorzugten Kodes agiert und den Fernsehtext nicht wie von den Sendeanstalten beabsichtigt interpretiert.[9]
In diesem Kontext stellt Hall fest, dass immer mehr Erklärungsversuche für die Problematik der Missverständnisse über die „selektive Wahrnehmung“ getätigt werden. Darunter sind individuelle Lesarten zu verstehen, was es unmöglich mache, Rezeptionspositionen zu gewissen „Typen“ bzw. Lesarten zusammenzufassen, da jeder Rezipierende eine gänzlich eigene Lesart auf den rezipierten Medientext anwende. Hall entkräftet jedoch diese Auffassung und vertritt den Standpunkt, dass die „selektive Wahrnehmung“ fast nie so selektiv, willkürlich oder privatisiert sei, wie es der Begriff vermuten ließe. Seiner Meinung nach weisen die Rezeptions-Schemata entscheidende Ballungen auf – individuelle Abweichungen fielen dabei kaum ins Gewicht. Er kommt zu dem Schluss, man müsse jede neue Untersuchung über das Rezeptionsverhalten von Fernsehzuschauern wohl zukünftig „mit einer Kritik der Theorie der selektiven Wahrnehmung beginnen.“[10]
Da keine zwangsläufige Korrespondenz zwischen ‚Encoding‘ und ‚Decoding‘ vorliegt, unterliegt der Dekodierungsprozess Hall zufolge eigenen Bedingungen. Es handelt sich bei der Medienaneignung also keinesfalls um einen linearen Vorgang, wie in früheren Massenkommunikationsmodellen angenommen. Dennoch muss allerdings ein gewisser Grad an Reziprozität zwischen den beiden Sinnstrukturen vorhanden sein, um überhaupt von „einem effektiven kommunikativen Austausch“ sprechen zu können.[11] Grundlegend ist aber, dass der Kodierungsvorgang durch den Kommunikator die Dekodierung durch den Rezipienten nicht festlegen kann. Hierauf basiert Hall seine drei hypothetischen Rezeptionspositionen, von ihm ‚readings‘ genannt:
[...]
[1] Erstmals widerlegt von: Paul Felix Lazarsfeld: The people’s choice. How the voter makes up his mind in a presidential campaign. New York 1944.
[2] vgl.: Andreas Hepp: Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung. 2. Auflage, Wiesbaden 2004. S.110f.
[3] vgl.: Andreas Hepp: Cultural Studies und Medienanalyse, a.a.O., S. 109.
[4] vgl.: Stuart Hall: Kodieren/Dekodieren, in: Roger Bromley, Udo Göttlich, Carsten Winter: Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg 1994. S. 92-110, hier: S. 96.
[5] vgl.: ebd. S. 96.
[6] vgl.: Stuart Hall: Kodieren/Dekodieren, a.a.O., S. 98.
[7] vgl.: Andreas Hepp: Cultural Studies und Medienanalyse, a.a.O., S. 113.
[8] Stuart Hall: Kodieren/Dekodieren, a.a.O., S. 102.
[9] vgl.: Stuart Hall: Kodieren/Dekodieren, a.a.O., S. 105.
[10] ebd. S. 106.
[11] ebd. S. 106.
- Arbeit zitieren
- Christian Undorf (Autor:in), 2007, "Wie im echten Leben...", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/118414
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