Betrachtet man die Darstellung der Stadt in der Literatur, so sollte man nie außer acht lassen, daß das literarische Bild der Stadt zu keiner Zeit mit der faktischen Stadt gleichsetzbar und auch kein getreues Abbild der herrschenden Verhältnisse ist, sondern in erster Linie als abhängig von der Einstellung und Persönlichkeit des Autors gesehen werden sollte. Dennoch ist der Einfluß der außerliterarischen Wirklichkeit nicht zu vernachlässigen und hat wohl jede fiktionale Stadt entscheidend mitgeprägt.
Von alters her zeigten sich die Menschen fasziniert von der großen Stadt, wie bereits die frühen literarischen Belege aus den alten Epen wie der Ilias oder der Odyssee und der Bibel bestätigen. Die Stadt galt und gilt immer noch einerseits als Schutzraum und Kulminationspunkt von Wissen und Macht, andererseits wurde und wird sie immer wieder in den negativen Ausmaßen erfahren, die ein Zusammenleben vieler Menschen auf engem Raum mit sich bringt, und es ist es nicht weiter verwunderlich, daß die Stadt in der Literatur zu allen Zeiten in ambivalenten Bildern gezeigt wird. Das eindrucksvollste Beispiel dafür ist wohl zweifelsohne in der Offenbarung des Johannes zu finden, die der Stadt Babylon, der "Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden" das "neue Jerusalem" gegenüberstellt, das sich durch reine Schönheit und Regelmäßigkeit auszeichnet.1 Ein Beispiel, das nicht nur die zwiespältige Einstellung der Stadt gegenüber wiedergibt, sondern auch zeigt, wie sehr sich literarisches Bild und reale Stadtkonzeption gegenseitig beeinflussen, da die Idealstadt des "Himmlischen Jerusalem" nicht nur zum Vorbild für die jenseitsgerichteten literarischen Stadtkonzepte des Mittelalters wie den Gottesstaat des Augustinus wurde, sondern selbst den faktischen mittelalterlichen Städtebau bestimmte.
Nach dem Aufbrechen des jenseitsgerichteten Weltbildes des Mittelalters entwickelte sich in der Renaissance ein Interesse am Individuum und an der unmittelbaren Wirklichkeit. Der Roman, der sich dann seit dem 18. Jahrhundert in Europa zur führenden literarischen Form entwickelt, kommt dieser neuen Denkweise nahe und wird zum idealen Medium zur Darstellung der Stadt, da sich durch einen städtischen Schauplatz mit seinen vielfältigen Möglichkeiten und Erscheinungsformen auf plausible Weise die unterschiedlichsten Charaktere, Situationen und Handlungen zusammenführen lassen.
Von Roman zu Roman kann sich die Bedeutung der Stadt für das Textganze allerdings erheblich unterscheiden.[...]
Inhaltsverzeichnis
- I. Einführung
- II. Die Stadtdarstellung vom 18. Jahrhundert bis zur Moderne
- 1. Frühformen der Großstadtdarstellung im Roman des 18. Jahrhunderts
- 2. Die realistische Stadtdarstellung im 19. Jahrhundert
- 3. Subjektivierung und Fragmentarisierung - die Großstadtdarstellung in der Moderne
- III. Das zeitgenössische Bild der Stadt
- 1. Die Gestalt der heutigen Stadt
- 2. Das Leben in der zeitgenössischen Großstadt
- 3. Von der lesbaren Stadt zur opaken Zeichenstätte
- 4. Die zeitgenössische Literatur und die Großstadt - allgemeine Kennzeichen
- IV. London und die London-Darstellung von der Nachkriegszeit bis in die sechziger Jahre
- 1. Die \"reaction against experiment\" - Die Großstadt im traditionell erzählten zeitgenössischen englischen Roman
- 2. Die Wiederaufnahme des experimentellen Erzählens
- 2.1 Die intertextuell bestimmte Großstadterfahrung - David Lodge, The British Museum is Falling Down (1969)
- V. Die britische Megalopolis - Londons Weg in die Unübersichtlichkeit und Unwirtlichkeit
- 1. Die Großstadt zwischen Sein und Schein - Peter Ackroyd, The Great Fire of London (1982)
- 2. Die geheime Tiefenstruktur der Großstadt - Peter Ackroyd, Hawksmoor (1985)
- 3. Stadtgeschichte - und -geschichten - Michael Moorcock, Mother London (1988)
- 4. Die Großstadt im postmodernen historischen Roman - Lawrence Norfolk, Lemprière's Dictionary (1991)
- VI. Schlußbetrachtung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit analysiert die Darstellung der Großstadt im zeitgenössischen englischen Roman anhand von London als exemplarischem Fall. Sie verfolgt die Entwicklung des Stadtbildes in der Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart und beleuchtet die Veränderungen der Großstadtdarstellung in der Moderne.
- Die Entwicklung des Stadtbildes in der englischen Literatur
- Die Bedeutung der Stadt als Schauplatz und Setting im Roman
- Die Ambivalenz der Großstadt als Ort der Faszination und des Grauens
- Die Auswirkungen der Moderne auf die Darstellung der Großstadt
- Die Darstellung Londons als Spiegelbild der gesellschaftlichen Veränderungen in England
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel führt in die Thematik ein und stellt die Problematik der literarischen Stadt in Bezug zur realen Stadt dar. Im zweiten Kapitel wird ein historischer Überblick über die Entwicklung der Großstadtdarstellung im Roman vom 18. Jahrhundert bis zur Moderne gegeben. Das dritte Kapitel analysiert die Darstellung der heutigen Großstadt in der Literatur, wobei insbesondere auf die Veränderungen der Stadtstruktur und die Auswirkungen des urbanen Lebens auf die Menschen eingegangen wird. Das vierte Kapitel konzentriert sich auf die Darstellung Londons in der englischen Literatur von der Nachkriegszeit bis in die sechziger Jahre. Das fünfte Kapitel untersucht die Darstellung Londons in der postmodernen englischen Literatur, wobei verschiedene Romane mit ihren unterschiedlichen Perspektiven auf die Großstadt analysiert werden.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit den zentralen Begriffen der Großstadtdarstellung im englischen Roman, darunter die Themen Urbanisierung, Moderne, Postmoderne, Identität, Entfremdung, Macht, Zeichen, Mysterium, Geschichte, und Realität.
- Arbeit zitieren
- Daniela Krommer (Autor:in), 1994, Die Großstadt im zeitgenössischen englischen Roman - am Beispiel London, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11821