Die gesundheitliche Entwicklung von Kindern in Deutschland erfährt in den vergangenen Jahren in bildungs- und gesundheitspolitischen Diskursen verstärkte Aufmerksamkeit. Im Laufe der letzten 20 Jahre haben gesundheitliche Beeinträchtigungen im Kindesalter zugenommen. Diese sind in der Regel nicht lebensbedrohlich, können aber das subjektive Wohlbefinden zum Teil erheblich beeinflussen, was sich dann in der Lebensqualität und der Leistungsfähigkeit der Kinder niederschlagen kann (vgl. Hurrelmann et al. 2003). Parallel zur Entwicklung neuer technischer Mess- und Diagnoseinstrumente entstanden neue Krankheitsbilder, die sich in „körperlichen, psychischen und sozialen Befindlichkeitsstörungen“ von Kindern und Jugendlichen äußern. „Störungen des Immunsystems, des Ernäh-rungs- und Bewegungsverhaltens und der Belastungsbewältigung scheinen die tieferen Ursachen hierfür zu sein.“ (ebd. S. 5) Dieser Entwicklung liegt ein erweitertes Verständnis von Gesundheit zugrunde. Danach wird der Gesundheitszustand nicht allein durch das Fehlen von Krankheit und Gebrechen, sondern über ein vollkommenes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden definiert. (Vgl. WHO 1947/48)
Trotz unterschiedlicher thematischer Schwerpunkte in der Gesundheits- und Bildungspolitik besteht ein Interesse an präventionspolitischen Instrumenten, wie z. B. Kindervorsorgeuntersuchungen und Sprachstandserhebungen. Diese sollen möglichst alle Kinder der jeweiligen Altersgruppe erfassen, um damit Krankheiten und Entwicklungsstörungen frühzeitig erkennen und rechtzeitig individuelle Präventionsmaßnahmen einleiten zu können.
Inhalt
1. Einleitung
2. Altersgerechte Entwicklung und Gesundheit als gesellschaftliche Norm und Leistung
2.1 Das allgemeine Verständnis von Gesundheit
2.2 Altersgerechte Entwicklung und Gesundheit von Kindern aus Sicht der Medizin
2.3 Der Kinderkörper in der Kindheitsforschung
2.3.1 Der gesundheitsrelevante Faktor Ernährung im Spannungsverhältnis von Energie- und Symbolkörper
2.3.2 Die Bedeutung des gesundheitsrelevanten Faktors körperliche Bewegung im Kinderalltag
3. Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland
3.1 Ernährung
3.2 Körperliche Bewegung
4. Die Lebenswelt Schule
5. Fragestellung, Methode und Design
5.1 Fragestellung
5.2 Forschungsmethode und Design
6. Ergebnisse und Diskussion
6.1 Der Gesundheitsfaktor Ernährung im Schulalltag
6.2 Der Gesundheitsfaktor Bewegung im Schulalltag
7. Fazit
8. Literatur
9. Anhang
1. Interview
2. Interview
3. Interview
4. Interview
5. Interview
6. Interview
1. Einleitung
Die gesundheitliche Entwicklung von Kindern in Deutschland erfährt in den vergangenen Jahren in bildungs- und gesundheitspolitischen Diskursen verstärkte Aufmerksamkeit. Im Laufe der letzten 20Jahre haben gesundheitliche Beeinträchtigungen im Kindesalter zugenommen. Diese sind in der Regel nicht lebensbedrohlich, können aber das subjektive Wohlbefinden zum Teil erheblich beeinflussen, was sich dann in der Lebensqualität und der Leistungsfähigkeit der Kinderniederschlagen kann (vgl. Hurrelmann et al. 2003). Parallel zur Entwicklung neuer technischer Mess- und Diagnoseinstrumente entstanden neue Krankheitsbilder, die sich in „ körperlichen, psychischen und sozialen Befindlichkeitsstörungen“ von Kindern und Jugendlichen äußern . „Störungen des Immunsystems, des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens und der Belastungsbewältigung scheinen die tieferen Ursachen hierfür zu sein.“ (ebd. S.5) Dieser Entwicklung liegt ein erweitertes Verständnis von Gesundheit zugrunde. Danach wird der Gesundheitszustand nicht allein durch das Fehlen von Krankheit und Gebrechen, sondern über ein vollkommenes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden definiert. (Vgl. WHO 1947/48)
Trotz unterschiedlicher thematischer Schwerpunkte in der Gesundheits- und Bildungspolitik[1] besteht ein Interesse an präventionspolitischen Instrumenten, wie z.B. Kindervorsorgeuntersuchungen und Sprachstandserhebungen. Diese sollen möglichst alle Kinder der jeweiligen Altersgruppe erfassen, um damit Krankheiten und Entwicklungsstörungen frühzeitig erkennen und rechtzeitig individuelle Präventionsmaßnahmen einleiten zu können.[2]
„Die gesellschaftliche Relevanz solcher Instrumente ist daran zu ermessen, dass immer mehr Kinder in verschiedene, staatlich institutionalisierte Formen der Evaluation ihrer Entwicklung einbezogen werden. […] es geht dabei um die Institutionalisierung einer Art Dauerbeobachtung von Kindern von Geburt an.“(Kelle 2007, S.198).[3]
Präventionsmaßnahmen zur gesundheitlichen Entwicklung von Kindern beruhen auf Erkenntnissen aus der Medizin, Kindheits- und Körpersoziologie. Alle drei Fachgebiete orientieren sich dabei an Modellen „normaler“ kindlicher Entwicklung, die sich in den westlichen Industriegesellschaften etabliert haben. Dabei ist immer mitzudenken, dass diese Entwicklungsmodelle durch kulturelle und individuelle Werte und Normen geprägt sind und werden.
Die Gesundheitsentwicklung von Kindern wird durch ihr tägliches Gesundheitsverhalten beeinflusst, das von gesundheitsrelevanten Faktoren bestimmt wird. Zu diesen Faktoren zählen Ernährung, sportliche Aktivitäten oder andere Freizeitbeschäftigungen, Alkohol-, Zigaretten- oder Medikamentenkonsum sowie der Umgang mit Problemen und deren Lösungsmöglichkeiten. „Diese gesundheitsrelevanten Faktoren bedingen einander und bestimmen in der jeweiligen Kombination das, was man weitläufig als Gesundheitszustand bezeichnet.“ (Robert Koch-Institut, 2006, S.12)
Eine grundlegende Bedeutung für die gesundheitliche Entwicklung bei Kindern wird der Ernährung und der körperlichen Aktivität beigemessen. Eine gesunde Ernährung in der Kindheit schafft „optimale Bedingungen für den Gesundheitsstatus, das Wachstum und die intellektuelle Entwicklung“ eines Menschen. (Zubrägel et al., 2003, S.159) Auch Bewegung im Kindesalter ist eine notwendige Voraussetzung für die organische und motorische Entwicklung. Sie spielt ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Bewältigung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben und bei der Ausbildung sozialer Kompetenzen. (Vgl. Opper et al., 2007, S.879)
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich vorrangig mit der Frage, welche pädagogischen Möglichkeiten es gibt, die Gesundheitsentwicklung von Kindern in der Schule zu fördern. Besondere Berücksichtigung finden dabei die gesundheitsrelevanten Faktoren Ernährung und körperliche Aktivität.
Die Fragestellung der Arbeit setzt sich aus zwei Aspekten zusammen.
1. Es wird untersucht, welche pädagogischen Möglichkeiten zur Förderung und Entwicklung der gesundheitlichen Faktoren Ernährung und körperliche Aktivität bei Grundschulkindern bereits im Unterricht und im Schulalltag umgesetzt werden.
2. Es wird untersucht, welche pädagogischen Möglichkeiten zur Förderung und Entwicklung der gesundheitlichen Faktoren Ernährung und körperliche Aktivität bei Grundschulkindern sich noch dazu eignen könnten, im Unterricht und im Schulalltag umgesetzt zu werden.
Der Fokus der Arbeit liegt darauf, solche pädagogischen Möglichkeiten zu identifizieren, die generell im Unterricht und Schulalltag von Grundschullehrern[4] genutzt werden können, um Ernährung und Bewegung bei den Schülern positiv zu unterstützen und weiterzuentwickeln.[5] Antworten und Anregungen zu diesem Thema liefern sechs Experteninterviews, die ich mit Grundschullehrerinnen geführt habe.
Die vorliegende Arbeit beruht auf den empirischen Daten und Ergebnissen der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS), die vom Robert Koch-Institut von Mai 2003 bis Mai 2006 deutschlandweit durchgeführt wurde. In dieser Studie wird der Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen im Alter von 0 bis 17 Jahren in einer so genannten repräsentativen Stichprobe untersucht, an der insgesamt 17.641Mädchen und Jungen teilnahmen. Sie gibt Aufschluss über Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen, ihre Lebensbedingungen und die Verbreitung von Krankheiten und Gesundheitsbeeinträchtigungen.
Zur Vorbereitung der empirischen Untersuchung dieser Arbeit sind theoretische und methodische Klärungen notwendig. Die Frage, welche pädagogischen Möglichkeiten sich zur Förderung der gesundheitlichen Entwicklung von Kindern im Schulalltag eignen, ist auch abhängig von kulturellen und individuellen Normen und wird von Verfahren zur Entwicklungsevaluation aus den Bereichen der Medizin-, Kinder- und Körpersoziologie beeinflusst. Alle drei Bereiche orientieren sich an den in westlichen Industriegesellschaften entwickelten Modellen „normaler“ kindlicher Entwicklung. Dabei ist immer mitzudenken, dass diese Entwicklungsmodelle durch kulturelle Artefakte geprägt, in institutionellen Ordnungen strukturiert und in einer praktisch-kulturellen Ordnung gelebt werden (vgl. Kelle, 2007, S.98).
Darauf folgt eine inhaltliche und anwendungsbezogene Klärung der Begriffe Ernährung und körperliche Aktivität. In diesem Zusammenhang werden die Ergebnisse der KiGGS Studie zu den gesundheitsrelevanten Faktoren Ernährung und körperliche Aktivität vorgestellt.
Auf Basis der theoretischen Überlegungen und der Ergebnisse von KiGGS wird die Fragestellung präzisiert, indem die Studienergebnisse als Ausgangslage für die pädagogischen Möglichkeiten dienen.
Zunächst wird die Methode und das Design der Befragung vorgestellt, d.h. der Leitfaden, die Durchführung der Interviews und die Auswertung der erhobenen Daten werden beschrieben. Die Auswertungsergebnisse und die Diskussion folgen den Ergebnissen von KIGGS. In einem Fazit werden abschließend die Empfehlungen, die sich aus den Ergebnissen der Befragung ableiten lassen, zusammengefasst.
2. Altersgerechte Entwicklung und Gesundheit als gesellschaftliche Norm und Leistung
2.1 Das allgemeine Verständnis von Gesundheit
Gemessen an den epidemiologischen Routinedaten, wie meldepflichtige Infektionskrankheiten und Kindersterblichkeit, können Kinder in Deutschland weitestgehend als gesund eingestuft werden. Im Sinne dieser „klassischen“ Gesundheitsindikatoren hat sich die gesundheitliche Lage der Kinder sehr günstig entwickelt. Infektionskrankheiten und Kindersterblichkeit sind statistisch kaum noch von Bedeutung. (Vgl. Hurrelmann et al. 2003)
Das allgemeine Verständnis von Gesundheit definiert sich aber nicht allein über statistische Daten von Morbidität, Mortalität und medizinischer Grundversorgung der Bevölkerung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert: Health is „characterized not merely by ’absence of disease or infirmity’ but also by a ‘state of complete physical, moral and social well-being‘”. (WHO 1947/48, S.4) Im Sinne dieser Definition von Gesundheit sind für die Beurteilung des Gesundheitszustandes und der Gesundheitsentwicklung einer Person nicht nur somatische Indikatoren wie Krankheit oder Lebenserwartung von Bedeutung, sondern auch deren subjektives Wohlbefinden: wie sich diese Person fühlt, wie sie mit ihrem Alltag zurechtkommt, wie ihre Kontakte zu anderen Menschen sind. Damit wird die physische Wahrnehmung von Gesundheit um eine psychische und soziale Dimension erweitert. Dieses erweiterte Verständnis von Gesundheit wird auch mit dem Begriff subjektive Gesundheit bzw. subjektives Wohlbefinden beschrieben.
Legt man dieses erweiterte Verständnis von Gesundheit zur Beurteilung des Gesundheitszustandes von Kindern in Deutschland zugrunde, ergibt sich ein anderes Bild. Denn nur auf den ersten Blick erscheinen Kinder als die gesündeste Bevölkerungsgruppe.
Parallel zum erweiterten Gesundheitsverständnis und zu neuen technischen Mess- und Diagnoseinstrumenten entwickelten sich Störungsbilder, z.B. Gesundheitsbeeinträchtigungen, wie chronische und psychosomatische Krankheiten (Allergien, Essstörungen, Erschöpfung, Kopf-, Bauch-, Rückenschmerzen), emotionale Befindlichkeitsstörungen (Ängstlichkeit, Unsicherheit), Verhaltens- und psychische Auffälligkeiten (Konzentrations-, Aufmerksamkeitsprobleme), Beeinträchtigungen des Bewegungsapparats, Sprach- und Sprechstörungen. Ursachen hierfür scheinen im Ernährungs- und Bewegungsverhalten, (Drogenkonsum: Alkohol, Zigaretten, Medikamente), der Belastungsbewältigung (Umgang mit Problemen und deren Lösungsmöglichkeiten) und in Störungen des Immunsystems zu liegen. Sie entstehen „ in den Schnittbereichen zwischen psychischen und körperlichen Anforderungen auf der einen Seite und sozialen und physischen Umweltbedingungen auf der anderen Seite.“ (Hurrelmann et al., 2003, S.5)
Das erweiterte Gesundheitsverständnis führt zum einen zu einer größeren Palette von Gesundheitsbeeinträchtigungen, die in der Regel nicht lebensbedrohlich sind, zum anderen aber auch zu einer größeren Eigenverantwortung des Einzelnen für seine Gesundheit; das gilt auch für Kinder. Denn der Gesundheitszustand und die gesundheitliche Entwicklung eines Menschen werden auch durch gesundheitliche Faktoren (z.B. Bewegung) beeinflusst, die sich im alltäglichen Verhalten zeigen. In gewissem Sinn führt das erweiterte Gesundheitsverständnis dazu, dass der Einzelne über sein tägliches Handeln für seine subjektive Gesundheit, die das Fehlen, die Behandlung und Vermeidung von Krankheiten impliziert, mitverantwortlich ist.
2.2 Altersgerechte Entwicklung und Gesundheit von Kindern aus Sicht der Medizin
Das Postulat einer „normalen“ kindlichen Entwicklung entstand Ende des 19. Jahrhunderts und steht in engem Zusammenhang mit der Etablierung der Pädiatrie und Entwicklungspsychologie. (Vgl. Tumult nach Kelle 2007, S.201) Die Medizin sieht sich als zentrale Wissenschaft, die die medizinischen Kategorien- und Normsysteme für den kindlichen Körper definiert und darüber festlegt, was in Abgrenzung zu Krankheiten und Behinderungen als „normal“ gilt. (Vgl. Fuhs 2003; Kelle 2007) Die Medizin schafft also die Rahmenbedingungen, durch die der Kinderkörper verstanden wird. Dabei ist sie von einem biologischen Reduktionismus geprägt, der den Körper als eine reale, materielle Entität beschreibt. Auch wenn Veränderungen nicht ausgeschlossen werden, ist der Körper etwas Konstantes und funktioniert unabhängig von sozialen Kontexten. (Vgl. Prout 2003)
Eine wichtige Funktion spielen die medizinischen Vorsorgeuntersuchungen für Kinder. Sie dienen nicht nur dem Zweck der Früherkennung von Krankheiten und Entwicklungsstörungen, sondern legen auch Entwicklungsnormen fest und tragen damit zur Konstruktion dessen bei, was unter „normaler Kindheit“ zu verstehen ist. Die so genannte Somatometrie bildet die Grundlage der Vorsorgeuntersuchungen. Besondere Beachtung finden dabei die Kategorien Alter, Körpergröße und Gewicht, die als wichtige Indikatoren bei der Beurteilung der gesundheitlichen Entwicklung von Kindern gelten. In so genannten Somatogrammen werden in Form von Graphen Normwerte für Körpergröße und Körpergewicht abgebildet, die alters-, geschlechts- und entwicklungsabhängige Veränderungen berücksichtigen. Bei der Vorsorgeuntersuchung werden die gemessenen Größen eines untersuchten Kindes in das entsprechende Somatogramm eingetragen. Durch den unmittelbaren Vergleich mit den Normwerten wird festgestellt, ob die Größen- und Gewichtsentwicklung eines Kindes seinem Alter entsprechend „normal“ verläuft, was man als „unauffällig“ bezeichnet, oder ob Abweichungen von den Normwerten vorliegen, was man als„auffälligen“ Entwicklungsverlauf bezeichnet.
Beispiel: Schematische Darstellung von zwei Somatogrammen; Schröder (2006)
Nach der obigen Wachstums- und Gewichtskurve gelten z.B. für einen neunjährigen Jungen die körperlichen Entwicklungsnormen: Körpergröße 135cm +/- 10cm, Körpergewicht 29kg +10/-7kg. Liegen die ermittelten Messwerte innerhalb der angegebenen Größen, ist das ein medizinischer Indikator dafür, dass die körperliche Entwicklung unauffällig verläuft. Ein medizinischer Indikator wird es aber nur deshalb, weil die Normen in Relation zueinander gesetzt und bewertet werden. Dabei ist wichtig, dass bei der Bewertung neben biologischen auch kulturelle Einflüsse für die kindliche Entwicklung von Bedeutung sind.
Auf den ersten Blick sagt das Somatogramm zur Gewichtsentwicklung aus, dass z.B. neunjährige Jungen durchschnittlich 29kg schwer sind. Im Somatogramm wird aber auch die statistische Definition zur Beurteilung von Unter-, Normal- und Übergewicht anhand von Perzentilen festgelegt. Das 50%-Perzentil (P50) entspricht danach dem Durchschnittsgewicht, das 10%-Perzentil (P10) dem Untergewicht, das 90% Perzentil-(P90) dem Übergewicht. Das Normalgewicht kann also irgendwo zwischen dem 10%- und dem 90%-Perzentil liegen. Erst durch die statistische Definition von Körpergewicht in die Kategorien Unter-, Normal- und Übergewicht ergibt sich eine Bewertung der kindlichen Entwicklung. Welches Körpervolumen in einer Gesellschaft als zu dick oder zu dünn definiert wird oder als Garant für optimale Gesundheit steht, hängt jedoch auch von den kulturell geprägten Schönheitsidealen bzw. -normen für den Körper ab, die in den westlichen Industrienationen als sehr schlank definiert werden.
Das menschliche Körpervolumen wird mit dem Body-Maß-Index (BMI) bestimmt. Dabei wird das Gewicht ins Verhältnis zur Körperfläche gesetzt (BMI = kg/m2). Bei Erwachsenen sollte der Body-Maß-Index zwischen 18kg/m2 und 25kg/m2 liegen (WHO). Für Kinder gibt es bisher keine konstanten Richtwerte. Dies hat mit den alters- und entwicklungsabhängigen Unterschieden bei Größe, Gewicht und BMI zu tun, aber auch damit, dass Kinderärzte über Jahre hinweg bei den Vorsorgeuntersuchungen kontinuierlich Messwerte erfassten, die bei der Ermittlung der Durchschnittswerte und dem Spektrum der Abweichungen immer auch mit einfließen. Werden Kinder über Generationen größer und/oder schwerer, ändert das nichts an der Einteilung der Perzentile und damit auch nichts am prozentualen Anteil der Kinder der jeweiligen Referenzgruppe. Erst wenn wie bei den Erwachsenen konstante Richtwerte festgelegt werden, kann festgestellt werden, ob Kinder einer Altersgruppe im Vergleich zu Kindern einer Altergruppe früherer Generationen tendenziell größer, dünner, kleiner oder dicker werden.[6]
Für Erwachsene gelten die BMI-Richtwerte zwischen 18kg/m2 und 25kg/m2. Der durchschnittliche BMI für Erwachsene liegt also bei 21,5 kg/m2, d.h. in Körperwerten ausgedrückt 160cm/54kg (+11/-8), 170cm/61kg (+14/-8), 180cm/68kg (+15/-9), 190cm/75kg (+16/-10). Richtwerten liegt statistisches Datenmaterial zugrunde, deshalb erwecken sie den Eindruck, sie seien objektiv. Die Richtwertober- und -untergrenzen werden aber von Menschen (Mediziner) definiert. Die Untergrenze für den erwachsenen BMI hätte man auch bei 20kg/m2 festlegen können. Diese Definition hätte dann vielleicht in der aktuellen Diskussion zu den Aussagen geführt, „die Deutschen sind zu dick und zu dünn.“
Körper, deren Maße innerhalb der o.g. Richtwerte liegen, entsprechen dem in den westlichen Industrienationen verbreiteten Körperideal, das hauptsächlich durch die Mode- und Freizeitbranche vertreten wird.[7] Über die Medien wird dieses Körperideal der breiten Masse seit den sechziger Jahren nahe gebracht. So werden Körpernormen geschaffen, die nicht unbedingt geplant sind, sich aber über die „normative Kraft des Faktischen“ verfestigen (Abels 2001, S.41). Seit mehr als einem halben Jahrhundert definiert die Modebranche die Körpernormen und verbreitet sie kontinuierlich und beständig mit Hilfe der Medien. Damit konnten sich diese Körpernormen allmählich im Alltag verfestigen, so dass niemand mehr an ihnen vorbeikommt. Bis zu diesem Punkt sind Körpernormen im soziologischen Sinn eigentliche keine Normen, da die Gesellschaft bisher kein Interesse daran zeigte, sie mit Hilfe von Sanktionen einzufordern oder sie dem Einzelnen im Sozialisationsprozess als „normal“ nahe zu bringen, so dass dieser die Normen in seinem alltäglichen Handel bestätigt (ebd.). Das kann sich aber ändern, wenn die Medizin, unterstützt durch gesellschaftspolitische Interessen, verbindliche Richtwerte für den Körper, auch für den Kinderkörper festlegt (s. o.). Dann würden sie zu Normen im soziologischen Sinne, und ihre Einhaltung könnte von der Gesellschaft eingefordert werden. Damit trägt die Medizin zur „Normalisierung“ von Körpernormen bei, die nicht eindeutig durch gesundheitliche Kriterien bestimmt sind. Im Sinne von Michel Foucault kennzeichnet der Begriff der Normalisierung die Art und Weise […], in der die moderne Medizin sozial ordnende Funktionen erfüllte und zur Disziplinierung der Gesellschaft beitrug.“(Foucault zitiert nach Kelle 2007, S.199)
2.3 Der Kinderkörper in der Kindheitsforschung
Die moderne Kindheitsforschung wird von drei Forschungsschwerpunkten bestimmt. Die sozialwissenschaftliche Berichterstattung beschäftigt sich mit der sozialen Lage von Kindern und den historischen Transformationen von Kindheit. Es geht um Kinderarmut und soziale Problemlagen von Kindern, um Kinderrechte und letztlich um eine kinderfreundliche Gesellschaft.
Die Entwicklungspsychologie ist an den „universalen“ Gesetzen des Aufwachsens interessiert. In der modernen Entwicklungspsychologie wird Kindheit im Kontext gesellschaftlicher und historischer Wandlungsprozesse gesehen, wobei die „ Entwicklungstatsache“ (Bernfeld 1967) im Wesentlichen durch die soziale Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen begründet wird. Das kindliche Aufwachsen gehört zur Entwicklung im Lebenslauf und wird dem entsprechend als Teil eines lebenslangen Prozesses analysiert. Dazu gehören z.B. die Erforschung der Bedingungen für gelungene und der Risiken misslungener Entwicklung. Die Entwicklungspsychologie gliedert die kindliche Entwicklung nach Altersphasen, die durch Kultur und Umwelt bedingt sind.
Die heute generell übliche Einteilung ist:
1. Säuglingsalter: Geburt bis zum 1. Lebensjahr
2. frühe Kindheit: 1.-5. Lebensjahr
3. mittlere Kindheit: 6.-10. Lebensjahr
4. späte Kindheit : 11.-12. Lebensjahr
5. Jugendalter: 12.-18. Lebensjahr
In der Sozialisationsforschung wird Kindheit in der Moderne zunehmend als gesellschaftliches Moratorium charakterisiert. Kindheit ist ein durch räumliche und zeitliche Variablen gekennzeichnetes soziales und kulturelles Phänomen. Sie ist als Lebensphase des Lernens und Spielens zu einer kulturellen Selbstverständlichkeit geworden. Diese Entwicklung ergab sich aber nicht von selbst, sondern wurde in politischen und kulturellen Auseinandersetzungen über mehrere Jahrhunderte durchgesetzt (vgl. Ariès 1984).[8]
Kinder sind als Persönlichkeiten „in Entwicklung“ anerkannt. Im Gegensatz zur Pädiatrie, die eher die körperlichen Grenzen der Kinder betont, thematisieren die Sozialwissenschaften die Kompetenzen der Kinder, ihre Selbstständigkeit und die Strategien, mit denen Kinder in ihrer Lebenswelt zurechtkommen. Kinder übernehmen nicht unreflektiert die Werte, Normen und Handlungsmuster der Gesellschaft, in der sie leben, sondern setzen sich produktiv mit diesen auseinander und verarbeiten sie individuell in unterschiedlicher Weise. Sie beteiligen sich aktiv an der Gesellschaft, was auch bedeutet, dass sie an deren Gestaltung und Veränderungen beteiligt sind. (Vgl. Preuss-Lausitz, 2003, S.15ff.) Diese Erkenntnisse wirken sich auf neuere Forschungsansätze aus. Wenn man etwas über Kinder und deren Aufwachsen in Erfahrung bringen will, reicht es nicht mehr aus, erwachsene Bezugspersonen zu befragen. Die Kinder werden als kompetent erachtet, selbst Auskunft über ihre Angelegenheiten zu erteilen.
Die Vorstellung vom aktiv handelnden und in die Realität eingreifenden Kind darf aber nicht die Tatsache außer Acht lassen, dass Kinder in existentiellen Abhängigkeiten leben. Die Entwicklungsprozesse von Kindern sind in vielfältiger Weise mit der Erwachsenenwelt verknüpft. Ein Säugling ist ohne die „Allround“ Fürsorge mindestens einer erwachsenen Bezugsperson nicht überlebensfähig. Kinder können nur dann ihre Ich-Identität entwickeln, wenn sie „ eine stabile emotionale Bindung an engere Bezugspersonen – meist Ihre Eltern “ aufbauen können (Preuss-Lausitz, 2003, S. 15).
Nicht allen Kindern steht die gleiche Auswahl von gut sortierten und vielfältigen Handlungsoptionen zur Verfügung. Ein Kind wird in ein familiäres, ökonomisches und politisches Umfeld hineingeboren ohne es sich aussuchen zu können. Und man sollte auch zur Kenntnis nehmen, „ dass der Tätigkeitsrahmen von Kindern […]in der Regel eingeschränkter ist als der von durchschnittlichen Erwachsenen, wobei es hier je nach Alter große Unterschiede gibt.“ (Leu, H. R., 1996, S.195)
In der Kindheitsforschung der letzten Jahre gewinnt der Kinderkörper größere Bedeutung. In den Sozialwissenschaften wird der Körper als etwas „Form- und Veränderbares“ beschrieben, wobei der Einzelne für die Form und die Veränderungen seines Körpers mitverantwortlich ist. (Vgl. Giddens 1991) Dabei wurde und wird eine Trennung zwischen dem materiellen und dem symbolischen Körper vorgenommen. Während in der Medizin der materielle Körper Gegenstand der Untersuchung und Beobachtung ist, ist es in den Sozialwissenschaften der symbolische Körper. Wichtige Anregungen zur Überbrückung dieser Trennung kommen dabei aus der Frauenforschung, die sich intensiv mit dem Körper im Rahmen der geschlechtsspezifischen Sozialisation auseinandergesetzt hat. In der Praxis wurde untersucht, wie einzelne Personen ihren Körper in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten erfahren und interpretieren. Diese Auseinandersetzungen strukturieren und prägen unsere Körpererfahrungen und die Bedeutungen, die wir dem Körper zuschreiben. Bei diesen Studien wurde herausgearbeitet, dass zwischen dem materiellen Körper (Natur) und seiner äußeren Erscheinungsform (Symbol) nicht getrennt werden kann. (Vgl. Bilden 1991)
„Die Frauenforschung hat an der Körperdebatte deutlich gemacht, dass Gesellschaft nicht nur auf einer symbolischen Ebene existiert, sondern in vielfältiger Weise immer auch an die Körper gebunden ist.“ (Fuhs 2003, S.54)
Obwohl sich das Verständnis für den Kinderkörper in der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung deutlich vom biologischen Reduktionismus absetzt, orientiert es sich bezüglich der Krankheits- und Gesundheitsbegriffe an den Kategorien- und Normsystemen der Medizin und reproduziert so „ein Bild von Normalität, das unausgesprochen Naturdefinitionen der Medizin enthält.“ (Fuhs 2003, S.52) Prout (2003) weist darauf hin, dass aus den Körperkonstruktionen der Medizin nicht unbedingt Schlüsse für die Wahrnehmung von Kinderkörpern gezogen werden können. Kinderkörper müssen „in Aktion und in Zusammenhang mit der sich veränderten Lebenswelt untersucht und verstanden werden.“ (Fuhs 2003, S.63) Dabei ist von Interesse, wie dieser Körper agiert, wie er erlebt und konstruiert wird.
Hier bietet der Ansatz von Preuss-Lausitz (2003) einen Zugang. Er teilt „das Reden über den Körper in drei Bereiche ein: In den Energiekörper (Gesundheit und Krankheit, Wachstum und Verfall, Energie und Kraftlosigkeit), in den Symbolkörper (Kleiden und Schmücken, Mimik und Gestik, Körperinszenierung) und in den sexuell-libidinösen Körper.“ (ebd. S.18)
Ein wichtiges Kriterium liegt meiner Meinung nach darin, in welcher Relation diese drei Körperbereiche zueinander stehen. Dabei fällt auf, dass sowohl der Energie- wie auch der Lustkörper des Kindes im Gegensatz zu seinem Symbolkörper durch endogene, genetisch gesteuerte Anteile in der Entwicklung beeinflusst werden. Diese Einflüsse können unterschiedlich stark sein. So ist z.B. der Lustkörper in der Altersphase der späten Kindheit, besonders heftig von hormonellen Veränderungen betroffen. Die Entwicklungspsychologie spricht in diesem Fall auch nicht von der Entwicklung des Körpers, sondern von seiner Reifung. Unter Entwicklung ist immer die ganzheitliche Veränderung eines Menschen zu verstehen, die durch die körperliche Reifung, aber auch durch kognitive, affektive, soziale und sonstige Faktoren bedingt wird, wobei sie nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten erfolgt und ein Leben lang dauert, was auch bedeutet, dass sie nicht nur auf Kinder bezogen wird. Die Reifung dagegen bezieht sich insbesondere auf den kindlichen Körper, ist allerdings auch nicht unbeeinflusst von Umweltbedingungen. So verlagerte sich z.B. die biologische Geschlechtsreife in den letzten hundertfünfzig Jahren nach vorne[9], das Geburtsgewicht und das Längenwachstum nahmen zu. Diese Veränderungen werden allgemein auf die verbesserten Lebensbedingungen, wie ärztliche Versorgung und Ernährung, zurückgeführt.
Preuss-Lausitz (2003) verweist darauf, dass in der Postmoderne jeder aufgefordert sei, seinen Körper zu modellieren und in Szene zu setzen. „Der Körper soll Teil einer individuell modellierten sozialen Konstruktion werden“ und wird „ so zu einer zentralen und bewusst geplanten Dimension der Ich-Identität.“ (ebd. S.18) Gleichzeitig verweist er aber auch auf die Gefahren für Kinder und Jugendliche, die sich aus diesen Ansprüchen ergeben können, bis hin zur Möglichkeit des Scheiterns. (Vgl. ebd.)
2.3.1 Der gesundheitsrelevante Faktor Ernährung im Spannungsverhältnis von Energie- und Symbolkörper
Eine gesunde Ernährung in der Kindheit schafft „optimale Bedingungen für den Gesundheitsstatus, das Wachstum und die intellektuelle Entwicklung“. (Zubrägel et al., 2003, S.159) Aber nicht nur das, ohne Nahrungszufuhr würde der Mensch sterben, denn der Körper ist die physische Grundlage seiner Existenz. Der Energiekörper selbst ist bestrebt, genügend Nahrung zu erhalten und äußert diesen Wunsch durch Hunger- bzw. Durstgefühle, die früher oder später vom Individuum gestillt werden müssen.
Der gesundheitsrelevante Faktor Ernährung kommt im Essverhalten in Form von täglichen Ernährungsgewohnheiten, wie regelmäßige Mahlzeiten, und der Nahrungsmittelauswahl zum Ausdruck. Die im Folgenden gewählten Beispiele und Ergebnisse stammen ausschließlich aus dem Jugendgesundheitssurvey, der 2002 durchgeführt worden ist und Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 15 Jahren befragte. (Vgl. Hurrelmann et al., 2003)
Die Kinder und Jugendlichen wurden gefragt, wie oft sie frühstücken, zu Mittag und zu Abend essen. Es zeigte sich, dass ein Drittel der 10- bis 15-jährigen Kinder und Jugendlichen während der Schulzeit morgens nicht oder nur unregelmäßig frühstückt, während fast alle (96%) sich am Wochenende die Zeit für Frühstück nehmen. Auffallend ist, dass Mädchen seltener als Jungen und ältere Schüler seltener als jüngere frühstücken. Das Mittag- und Abendessen wird von der überwiegenden Mehrheit der Schüler (79%) täglich eingenommen. Hier sind es auch wieder die Mädchen, die mit zunehmendem Alter unregelmäßig essen oder ganz auf Mahlzeiten verzichten.
Der Verzicht auf bzw. die unregelmäßige Einnahme von Mahlzeiten zeigt, dass Mahlzeiten heute weniger den Tagesablauf strukturieren. Überspitzt ausgedrückt: Man isst, wenn es sich gerade ergibt. Die Einnahme regelmäßiger Mahlzeiten bei Kindern und Jugendlichen scheint von den Faktoren Zeit, Geschlecht und Alter abzuhängen.
Ernährung scheint eine zwiespältige Angelegenheit zu sein. Sie ist einerseits existenzielle Grundlage eines Menschen, andererseits schlägt sie sich direkt im Gewichtsstatus nieder, der wiederum fast existentiell für den Symbolkörper zu sein scheint. Es scheint fast so, dass die Normen für den Gewichtsstatus eher von den kulturell bedingten Ansprüchen an den Symbolkörper geprägt sind und sich weniger an den Bedürfnissen des Energiekörpers orientieren.
Nicht nur übergewichtige, sondern auch normal- und untergewichtige Kinder und Jugendliche haben den Wunsch, Gewicht zu reduzieren, was durch strenge Diäten, rigoroses Fasten (Hungern) oder durch Auslassen von Mahlzeiten erreicht wird. So wie Übergewicht gesundheitliche Risiken und Erkrankungen (z.B. Herz-Kreislauferkrankungen, Bluthochdruck, Diabetes TypII und Beeinträchtigungen im Bewegungsapparat) zur Folgen haben kann, birgt auch Untergewicht gesundheitliche Risiken und Beeinträchtigungen (Entwicklungsverzögerungen, Ruhelosigkeit, Essstörungen wie Magersucht, Ess-Brechsucht, Ess-Sucht). Unter- und Übergewicht sind zwei Seiten einer Medaille. Bei Übergewicht wird dauerhaft zuviel, bei Untergewicht dauerhaft zu wenig Energie zugeführt.
Der Jugendgesundheitssurvey untersuchte Risiko- und Schutzfaktoren, die die Entwicklung von Unter- und Übergewicht statistisch vorhersagen bzw. vermeiden können. Es stellte sich heraus, dass es keine statistisch bedeutsamen Zusammenhänge zwischen Übergewicht und dem Verzehr ungesunder Lebensmittel gab. Lediglich normalgewichtige Jugendliche wiesen einen etwas stärkeren Konsum von Süßigkeiten auf. Übergewicht zeigte sich besonders bei Jugendlichen, die keinen regelmäßigen Rhythmus in den täglichen Mahlzeiten aufwiesen.
Das prägnanteste Ergebnis in der Gewichtsverteilung ergab sich aus der sozialen Lage der Familie. Übergewicht nimmt besonders bei Jungen, aber auch bei Mädchen, mit geringer werdendem sozialem Status deutlich zu. Untergewicht kommt besonders häufig bei Jungen und Mädchen mit hohem sozialem Status vor. Weitere Merkmale der Familie konnten nicht identifiziert werden. Jungen sind häufiger von Übergewicht, Mädchen häufiger von Untergewicht betroffen.
Über- und Untergewicht schlägt sich auch im Selbstwertgefühl und in der Einschätzung der allgemeinen subjektiven Gesundheit nieder. Jungen mit Normal- und Untergewicht besitzen ein annähernd gleiches, übergewichtige Jungen ein graduell geringeres Selbstwertgefühl. Jungen mit Normalgewicht fühlen sich gesünder als Jungen mit Unter- oder Übergewicht.
Untergewichtige Mädchen besitzen ein höheres Selbstwertgefühl als normal- und übergewichtige, wobei das Selbstwertgefühl der Mädchen mit zunehmender Körperfettmasse linear abnimmt. Der subjektive Gesundheitsstatus bei den Mädchen hängt signifikant vom Gewicht ab. Untergewichtige Mädchen fühlen sich am gesündesten.
Das subjektive Körperempfinden in Bezug auf das eigene Körpergewicht kann sich deutlich vom objektiven Gewichtsstatus unterscheiden. Fast die Hälfte der Mädchen hält sich für zu dick, gut ein Drittel ist mit seinem Gewicht zufrieden, der Rest (ca. 14%) findet sich zu dünn. Die Hälfte der Jungen ist mit ihrem Gewicht zufrieden, ein Drittel findet sich zu dick, der Rest (ca. 15%) findet sich zu dünn.
Die Auswertung bezogen nur auf die Gruppen der „objektiv“ Unter- und Übergewichtigen ergab: Die Mehrheit der übergewichtigen Mädchen und Jungen hält sich für zu dick, der Rest glaubt genau das richtige Gewicht zu haben.
Die Hälfte der untergewichtigen Jungen und ein Drittel der untergewichtigen Mädchen glaubt, genau das richtige Gewicht zu haben, knapp die Hälfte der Mädchen und mehr als ein Drittel der Jungen glaubt, zu dünn und knapp ein Fünftel der untergewichtigen Mädchen und gut ein Zehntel der Jungen glaubt, noch zu dick zu sein.
Tendenziell bestätigen die Ergebnisse die Annahme, dass Normen für den Gewichtsstatus eher von den kulturell bedingten Ansprüchen an den Symbolkörper geprägt werden und sich weniger an den Bedürfnissen des Energiekörpers orientieren. Bezogen auf den gesundheitsrelevanten Faktor Ernährung zeigt sich, dass die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen sich einseitig ernährt und dass Defizite hinsichtlich bestimmter Nährstoffe bestehen. Es konnte z.B. aber nicht bestätigt werden, dass übergewichtige Kinder und Jugendliche sich ungesünder ernähren als unter- und normalgewichtige.
Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen tritt vermehrt auf, wenn kein regelmäßiger Rhythmus bei den Mahlzeiten vorliegt und wenn sie aus einer niedrigen Wohlstandsgruppe kommen. Im Gegensatz dazu tritt Untergewicht vermehrt bei Kindern und Jugendlichen aus einer höheren Wohlstandsgruppe auf.
Das Selbstwertgefühl und die Wahrnehmung der allgemeinen subjektiven Gesundheit orientieren sich ebenfalls am Gewichtsstatus. Paradoxerweise fühlen sich Mädchen gesünder, wenn sie untergewichtig sind. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass Untergewicht im Gegensatz zu Übergewicht nicht als gesundheitliche Beeinträchtigung angesehen wird, obwohl körperliche Beschwerden wie Müdigkeit, Erschöpfung und Schwindel durchaus darauf zurückgeführt werden können. Dafür sprächen auch die Ergebnisse im Bereich des subjektiven Körperempfindens in Bezug auf das eigene Körpergewicht. Fast die Hälfte der Mädchen aus der Gruppe der „objektiv“ Untergewichtigen hält sich auch für zu dünn. Vom gesundheitlichen Standpunkt aus wäre die logische Konsequenz, mehr zu essen, um den eigenen Gewichtsstatus zu erhöhen. Aber der Wille und Wunsch nach einem schlanken Energiekörper als optimale Voraussetzung für den Symbolkörper scheint so groß, dass gesundheitliche Kriterien von vorn herein ausgeblendet werden.
Dem schlanken (untergewichtigen) Energiekörper scheint ein höherer Status zugerechnet zu werden, als dem über- und sogar dem normalgewichtigen. Diese Annahme könnte mit dem Ergebnis unterstützt werden, dass Untergewicht bei Kindern und Jugendlichen aus höherem Wohlstandsniveau häufiger auftritt. Die Kinder sind ja nicht untergewichtig, weil sie in ihren Familien zu wenig zu essen bekommen. Dem schlanken, unterernährten Energiekörper scheint ein höherer Status beigemessen zu werden, zumindest im höheren Wohlstandsniveau. Ein Grund dafür könnte sein, dass der unterernährte Energiekörper in der westlichen Industriegesellschaft selten ist, schließlich haben wir Nahrung im Überfluss. Ableitend daraus ist der unterernährte Energiekörper dann auch ein Zeichen kultivierter Lebensgewohnheiten, man isst nicht viel, sondern Teures und Ausgefallenes in kleinen Portionen. Feinkostläden, Restaurants, Hochglanzmagazine und Koch- und Bildbände kommen dieser sozialen Differenzierung über das Ernährungsverhalten entgegen.
Ernährung hat aber natürlich nach wie vor die Aufgabe, den Energiekörper zu versorgen. Sie erfolgt jedoch weniger in regelmäßigen Mahlzeiten und dient allmählich immer weniger der Strukturierung des Tagesablaufs. Es hat fast den Anschein, als würde sie zur sozialen Differenzierung herangezogen.[10]
2.3.2 Die Bedeutung des gesundheitsrelevanten Faktors körperliche Bewegung im Kinderalltag
Bewegung im Kindesalter ist eine notwendige Voraussetzung für die organische und motorische Entwicklung. Sie spielt ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Bewältigung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben und bei der Ausbildung sozialer Kompetenzen. (Vgl. Opper et al. 2007, S.879) Kinder haben von sich aus ein großes Bedürfnis nach vielfältiger körperlicher Bewegung und nutzen alle nur erdenklichen Gelegenheiten, diesem entgegenzukommen. Deshalb wundert es Erwachsene z.B. nicht, wenn Kinder auf dem Weg zur Schule auf einem Bein hopsen oder auf den Randsteinen des Bürgersteigs balancieren, als ob rechts und links einer tiefer Abgrund wäre.
Körperliche Bewegung von Kindern ist ein wichtiges Kriterium in den Kinder- und Jugendgesundheitsstudien und wird in unterschiedlichen Forschungsansätzen untersucht. Es wird vor allem danach gefragt, wie oft und wie lange sich die Kinder und Jugendlichen pro Woche körperlich bewegen. Die Ergebnisse werden meistens nicht isoliert betrachtet, sondern mit relevanten anderen Ergebnissen in Beziehung gesetzt, z. B. mit anderen Freizeitaktivitäten wie Medienkonsum oder mit dem Gewichtsstatus. Im Jugendgesundheitssurvey (Hurrelmann et al. 2003) wurde nach körperlicher Aktivität, Gewichtstatus und TV-Konsum gefragt. Die Kinder und Jugendlichen wurden gefragt, wie oft sie sich in der Woche mindestens für eine Stunde körperlich anstrengten. Die Ergebnisse wurden den Gruppen der unter-, normal- und übergewichtigen Kinder und Jugendlichen zugeordnet.
Unter- und normalgewichtige Jungen treiben an vier Tagen pro Woche Sport oder bewegen sich anderweitig, übergewichtige Jungen nur gut an drei Tagen (3,4). Untergewichtige Mädchen sind mit 3,6 Tagen häufiger aktiv als normalgewichtige mit 3,3 Tagen und übergewichtige mit 3Tagen.
Die Studie konnte keinen statistisch bedeutsamen Zusammenhang zwischen der körperlichen Aktivität und der Dauer des Fernsehkonsums zeigen. Dieses Ergebnis wird aber in Verbindung mit dem allgemein hohen Niveau des Fernsehkonsums bei Kindern und Jugendlichen erklärt. „Damit kann selbst ein übermäßiger Fernsehkonsum nicht direkt mit Übergewicht in Verbindung gebracht werden. Anders stellt sich dieser Zusammenhang möglicherweise dar, wenn mit dem Fernsehen gleichzeitig ein hoher Konsum an Süßigkeiten und anderen Snacks verbunden ist.“ (Zubrägel et al., 2003, S.159)
Andere Studien sind mehr daran interessiert, wie der Kinderalltag strukturiert ist. Sie fragen die Kinder danach, wie viel Freizeit sie haben und welchen Aktivitäten sie in ihrer Freizeit nachgehen.
Die frei verfügbare Zeit der Kinder wird als Zeit des Spielens verbucht. Zunehmend fällt auf, dass Kinder schon früh in organisierte Freizeit, häufig in Sportvereine eingebunden sind. Es wird auch oft von der „Versportung“ der Kindheit gesprochen, die Teil eines umfassenden Modernisierungsprozesses dieser Altersphase zu sein scheint. Dabei lassen sich geschlechtsspezifische Sportarten unterscheiden. Für Mädchen sind Reitsport und Tanz bzw. Gymnastik soziokulturell signifikant, für Jungen gilt das für Fußball und Fahrradfahren. (vgl. Zinnecker et al. 1998)
Ob und wie häufig Kinder sich körperlich bewegen, hängt von den räumlichen Lebensbedingungen ab, die gleichzeitig Bewegungsmöglichkeiten und Bewegungseinschränkungen darstellen. „Jede Kindergeneration wird mit den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen auch in Gestalt der räumlichen Lebensbedingungen konfrontiert.“ (H. Zeiher, 1995, S.176) Zeiher skizziert in dem Aufsatz „Die vielen Räume der Kinder. Zum Wandel räumlicher Lebensbedingungen seit 1945“ (ebd.), wie sich die räumliche Umwelt für Kinder seit Ende des Zweiten Weltkriegs verändert hat und welche Bedingungen sich daraus für das Tun der Kinder ergeben. Kennzeichnend bis heute sind die ausdifferenzierten Spezialräume, die bis in die 1970er Jahre hinein entwickelt und flächendeckend umgesetzt worden sind. Der öffentliche Raum wurde durch den Straßenverkehr geprägt. Straßen wurden begradigt und auf Kosten der Fußgängerwege verbreitert. Freiflächen wurden zu Autoparkplätzen, kleine innerstädtische Einzelhandelsgeschäfte verschwanden und Supermärkte und Einkaufszentren entstanden an den Stadträndern, meist nur mit dem Auto erreichbar. Stattdessen wurden in den Innenstädten Handels- und Dienstleistungsgewerbe angesiedelt. Landschaften wurden für unterschiedliche Funktionen aufbereitet. Es entstanden großflächige Felder mit geraden, heckenlosen Asphaltwegen für die industrielle Landwirtschaft, Naherholungsgebiete, Naturschutzgebiete etc. Mittlerweile gibt es viele Gegenentwürfe zu dieser Entwicklung, sie ist nach wie vor aber Realität der Kinder.
Zeiher unterscheidet den „ Raum nach Grad seiner Offenheit oder Determination gegenüber möglichen Handlungen.“ (ebd. S.183) Ein Raum ist determinativ, wenn er günstige Voraussetzungen für bestimmte Handlungen oder Handlungssequenzen bereitstellt und diese dadurch besonders gut ermöglicht, im Gegenzug aber viele andere Handlungen von vorn herein ausschließt. Ein offener Raum gibt keine Handlungen oder Handlungssequenzen vor. Sie entstehen im offenen Raum nur, wenn eine Person sie ganz von sich aus hervorbringt.
Spielplätze, Musik- und Tanzschulen, Töpfer- und Malkurse sind Beispiele für spezialisierte Räume. Spielplätze sind durch ihre Möblierung auf bestimmte Handlungen von Kindern spezialisiert, was auch eine bestimmte Altersgruppe von Kindern impliziert, die dann auch genau das spielt, was der Spielplatz vorgibt. Das Klettergerüst bietet nur eine einzige Form von Klettern an. Dabei fördert es wahrscheinlich die körperliche Geschicklichkeit und Kraft genauso gut wie ein Baum, ein Zaun oder eine Garage, weil es dem Kind genau diese Tätigkeit des Kletterübens anbietet. Aber die Garage ist nicht nur für die Kinder da, sie gibt auch die Tätigkeit des Kletterns nicht vor, man kann sich in oder hinter oder auf ihr verstecken, der Weg übers Dach ist vielleicht eine Abkürzung, oder man kann sich ungestört auf ihrem Dach treffen und unbeobachtet sein.
Bis heute hat es etliche Spielplatz-Untersuchungen gegeben, deren Ergebnisse in neuere Spielplatzplanungen eingeflossen sind. Der nur fürs Kinderspiel spezialisierte Raum Spielplatz wurde bisher nicht aufgegeben, aber seine Möblierung wird heute offener und altersheterogener gestaltet. Bekannt ist z.B. das „Orion-Raumnetz“, das alle Ausprägungen von Stärke und Schwäche zulässt. In der Mitte ist der Platz für die Großen und Mutigen, weil es dort am meisten vibriert, die Kleinen und Ängstlichen machen erste Kletterversuche am Rand oder wippen nur dort. Jeder kann nach seinen Fähigkeiten mitmachen, ohne sein Gesicht zu verlieren. Der beste Spielplatz ist aber schließlich der, dem man es nicht ansieht: Das Leben selbst.
Am Rande sei angemerkt, dass Raumspezialisierungen auch zu Vandalismus führen können, den man als Ausweglosigkeit der Kinder interpretieren kann, weil sie spüren, dass sie die Spezialisierungen anders nicht aufbrechen können oder als Abwehrhandlung gegen die Ansprüche, die aus der Erwachsenenwelt an sie gestellt werden. (Vgl. ebd.)
Die Funktionalisierung des Lebensraums führt nach H. Zeiher dazu, dass Kinder ihn nicht mehr als „ zusammenhängendes Segment “ erfahren, sondern als unabhängig voneinander existierende Teilräume, die verstreut und zum Teil weit von einander entfernt liegen. Sie nennt das „ das Modell des verinselten Lebensraums “. Die Aneignung des „ verinselten Lebensraums “ ist für Kinder schwieriger. Sie ist nicht mehr durch eine allmähliche Erweiterung des Nahraums, wie im „ traditionellen Modell “ möglich, weil die Teilräume unabhängig von ihrer Entfernung gewählt werden. Im Gegensatz zum „ traditionellen Modell “, in dem der Lebensraum dem Kind vorgegeben ist, bestehen beim „ Modell des verinselten Lebensraums“ Wahlmöglichkeiten, die allerdings erst individuell und aktiv hergestellt werden müssen. Dieser Zugewinn bringt den Kindern aber auch gleichzeitig neue Abhängigkeiten. Der verinselte Lebensraum, die spezialisierten Räume sind oft an Termine und Öffnungszeiten gebunden, was spontanes Handeln erschwert und in persönlichen Tagesabläufen, zu denen auch bei Kindern schon Terminkalender gehören, berücksichtigt werden muss. (Vgl. ebd. 187 ff.)
Um der Vereinsamung zu entgehen, nehmen viele Kinder an organisierten Veranstaltungen teil. Solche Veranstaltungsorte verteilen sich zuweilen wie Inseln über die ganze Stadt. Und jedes Kind hat seine eigene Route, die unabhängig von der der anderen Kinder ist. „Damit schränken sich ‚erspielbare“ Erfahrungsbereiche von Kindern ebenso nachhaltig ein, wie Gelegenheitsstrukturen für Aushandlungs- und Durchsetzungsprozesse in gleichaltrigen- und gemischtaltrigen Kindergruppen und risikoreiche Bewährungssituationen in frühen Altersphasen.“ (Nauck, B. et al. 1996, S. 370)
Erst mit Ende der mittleren Kindheit bekommen die Kinder die Möglichkeit sich selbständig im öffentlichen Raum zu bewegen und die Chance mit Peers „erspielbare “ Erfahrungen zu erleben. Ungefähr ab dem zehnten Lebensjahr trauen Erwachsene den Kindern langsam zu, sich angemessen und sicher im öffentlichen Raum zu bewegen, der für Kinder in erster Linie durch die Gefahren des Autoverkehrs bestimmt ist. Zum Ende der mittleren Kindheit können Kinder aus den funktionalisierten Lebensräumen ausbrechen und Formen von „Straßenkindheit“ erleben, die es so gut wie gar nicht mehr gibt. Jenseits der institutionellen Freizeiteinrichtungen existieren kleine Kindergesellschaften, die über eine gemeinsame Aktivität manchmal nur einen Tag, manchmal einen Monat andauern. Sie entstehen in Kaufhäusern, auf Rolltreppen oder auf Vorplätzen von Gebäuden. Sie sind Ansätze eines kindlichen Autonomieprojekts, das sich der Kontrolle durch die Erwachsenen entziehen will. (Vgl. Rusch 1998)
Ältere Kinder versuchen oft mit viel Phantasie und Abenteuerlust, die heutige Spezialisierung der Räume zu durchbrechen. Sie interessieren sich besonders für Räume, die noch nicht oder nicht mehr für bestimmte Funktionen vorgesehen sind. Beliebt sind Baustellen und ungenutzte Höfe. Eine andere Möglichkeit besteht in der Umwidmung von Räumen zum Spielen, die eigentlich von Erwachsenen nicht dafür vorgesehen sind. (vgl. H. Zeiher 1985)
Beispiel: Eine kleine Kindergesellschaft trifft sich auf dem Vorplatz eines öffentlichen Gebäudes, der durch eine größere Treppenanlagen und Grünstreifen gegliedert ist. Die Kinder kennen den Platz. Er eignet sich gut zum Spielen mit „Rollgeräten“. Sie erscheinen mit ramponierten Skateboards, Inlinern oder Fahrrädern, beliebt sind Mountainbikes und BMX-Räder. Irgendwo am Straßenrand hat jemand Sperrmüll gesehen, alte Bretter, Türen, Metallgestelle. Die Gruppe beschließt, „Brauchbares“ zu holen, und gemeinsam bauen sie auf dem Vorplatz einen Parcours auf. Sie integrieren die Treppenanlage, die Randsteine und kleinen Mauern der Grünstreifen, die Treppengeländer. Sie beginnen, die zum Teil waghalsigen Konstruktionen mit ihren „Rollgeräten“ zu erkunden. Sie probieren Bewegungsfiguren aus, müssen sie an die Hindernisse anpassen. Mit zunehmender Sicherheit werden die Figuren, aber auch der Parcours verändert, um den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen. Am späten Nachmittag löst sich die Kindergesellschaft allmählich auf. Am nächsten Tag finden sich einige der Kinder an selber Stelle wieder ein, aber der Parcours wurde inzwischen weggeräumt, die Umwidmung des Platzes wurde durch Erwachsene rückgängig gemacht.
Die gesellschaftlichen und räumlichen Lebensbedingungen, in denen Kinder heute aufwachsen, findet man im Mainstream der Kindheitsforschung in den beiden Thesen wieder:
1. Das Kinderleben ist durch einen hohen Organisationsgrad und durch erhebliche Produktivitätsverluste auf Seiten der Kinder gekennzeichnet.
2. Im Verlauf der gesellschaftlichen Modernisierung individualisieren sich die kindlichen Tagesabläufe immer mehr.
Das tägliche Verhalten der Kinder, in dem sich die gesundheitsrelevanten Faktoren Ernährung und körperliche Aktivität ausdrücken, ist von einem Spannungsverhältnis zwischen Energie- und Symbolkörper und von Umweltbedingungen beeinflusst, die zum Teil so stark sind, dass sie von Kindern nur sehr schwer an die eigenen Bedürfnisse angepasst werden können.
3. Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland
Die Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS[11] ) gibt Aufschluss über die Verbreitung von Krankheiten, das Gesundheitsverhalten und die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Infektions- und Krebserkrankungen waren nicht Gegenstand der Studie, weil diese Krankheiten von Ärzten und Krankenhäusern kontinuierlich gemeldet und zentral erfasst werden und so bei Bedarf auf vorhandene Datenquellen zurückgegriffen werden kann. Die Studie wurde von Mai 2003 bis Mai 2006 vom Robert Koch-Institut durchgeführt. Die zentrale Frage lautete: „Wie gesund sind unsere Kinder?“
Mit einer so genannten repräsentativen Zufallsstichprobe[12] wurde der Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen im Alter von 0 bis 17 Jahren untersucht. Insgesamt nahmen 17.641Studienteilnehmer daran teil, 8.656 Mädchen und 8.985 Jungen. Pro Geburtsjahr wurden ca. 1.000 Kinder bzw. Jugendliche untersucht, was eine ausreichende statistische Genauigkeit gewährleistet. Nach Ziehung einer repräsentativen Zufallsstichprobe wurden die Teilnehmer schriftlich eingeladen. Nach freiwilliger Einwilligung unterzogen sich alle einer standardisierten Untersuchung und Befragung, die in dafür speziell eingerichteten Untersuchungszentren vor Ort von vier ärztlich geleiteten Untersuchungsteams durchgeführt wurden. Um so genannte „saisonale Effekte“ zu vermeiden, achtete man darauf, dass die Teams in allen vier Jahreszeiten einmal an jedem Studienort waren. In den Untersuchungszentren wurde eine körperliche Untersuchung mit einigen Tests, z.B. einem Seh- und Reaktionstest, ein ärztliches Interview, eine schriftliche Befragung der Eltern sowie eine Blut- und Urinuntersuchung als zusätzliches Angebot durchgeführt. Kinder und Jugendlichen ab dem elften Lebensjahr wurden selbst befragt. Je nach Altersgruppe setzten sich die Untersuchungen aus unterschiedlichen Elementen zusammen. Die Altergruppeneinteilung erfolgte nach entwicklungs- und verhaltensspezifischen Merkmalen (vgl. RKI 2006, S.18):
(0-2 Jahre) Säuglings- und Kleinkindalter
(3-6 Jahre) Vorschulalter
(7-10 Jahre) Grundschulalter
(11-13 Jahre) Pubertätsalter
(14-17 Jahre) Jugendalter
Die gesammelten Daten und Informationen sollen den Gesundheitszustand aller in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen in seinen wichtigsten Aspekten abbilden. Dafür wurden viele einzelne Aspekte von Gesundheit in einer Befragung ermittelt. Dazu gehörten: körperliche Beschwerden und Befindlichkeit; akute und chronische Krankheiten; Behinderungen; Gesundheitsrisiken und Unfälle; psychische Gesundheit: Verhaltensauffälligkeiten, Lebensqualität, Schutzfaktoren; Ernährung, Essstörungen und Adipositas; Gesundheitsverhalten und Freizeitaktivitäten; Medikamentenkonsum, Impfstatus, Inanspruchnahme medizinischer Leistungen; Körpermaße; motorische Leistungsfähigkeit; Sehvermögen; Blutdruck; Blut- und Urinparameter; Schilddrüsensonografie.
Die Untersuchung all dieser Einzelaspekte ermöglichte einen Überblick und eine umfassende Einschätzung der gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Sie bildete aber auch die Grundlage für eine wissenschaftliche Analyse der Zusammenhänge zwischen den einzelnen gesundheitsrelevanten Aspekten. Themen von besonderem Interesse wurden in vier zusätzlichen Modulen vertieft untersucht:
[...]
[1] In der Gesundheitspolitik sind die volkswirtschaftlichen Konsequenzen von Bedeutung. Werden Krankheiten und Entwicklungsstörungen spät entdeckt, steigen die Behandlungskosten. Ziel ist es, Krankheiten und Entwicklungsstörungen so früh wie möglich zu diagnostizieren, um die Kosten gering zu halten. Die Bildungsinstitutionen sind daran interessiert, „normal“ entwickelte Kinder aufzunehmen. Sie sind durch homogene Altersgruppen organisiert, für die altersgemäße Entwicklungsnormen zugrunde gelegt werden. Werden diese Normen von den Kindern nicht erfüllt, kommen die Bildungsinstitutionen in Handlungsschwierigkeiten.
[2] Reibungspunkte liegen z.B. in den Diagnostikverfahren und den Normen, die diesen zugrunde gelegt werden. Während im Rahmen der Kindervorsorgeuntersuchungen, die von Kinderärzten durchgeführt werden, die Häufigkeit der auffälligen Befunde (ca.5%) in den letzten 20Jahren abgenommen hat (vgl. Robert Koch-Institut 2004 nach Kelle 2007, S.200), haben im gleichen Zeitraum die auffälligen Befunde im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung, die von Amtsärzten durchgeführt werden, zugenommen, z.B. diagnostizieren hessische Amtsärzte bei 15% der Schulanfänger Sprachstörungen (vgl. Hessisches Sozialministerium 2006 nach Kelle, S.200). Die unterschiedlichen Befunde können zum einen durch unterschiedliche Diagnostikverfahren, zum anderen aber auch durch die Bewertung der Normen, die diesen Verfahren zugrunde liegen, entstehen. So können Normen für die kindliche Entwicklung von Amtsärzten strenger bzw. enger interpretiert werden als von Kinderärzten, weil z.B. andere Erwartungen an die kindliche Entwicklung gestellt werden.
[3] Die Teilnahme an den Kindervorsorgeuntersuchungen (U1-U9) war bisher freiwillig es besteht aber der politische Wille, dass diese Untersuchungen gesetzlich verpflichtend für alle Kinder in Deutschland werden.
[4] In dieser Arbeit wird wegen der Lesbarkeit im Plural die männliche Form gewählt. Wird die weibliche Form gewählt, sind ausschließlich Frauen gemeint.
[5] Nicht berücksichtigt werden therapeutische Maßnahmen für einzelne Schüler, die bereits Gesundheitsbeeinträchtigungen bezüglich einem oder beiden Faktoren aufweisen Es geht zum Beispiel nicht darum, welche pädagogischen Möglichkeiten Lehrer nutzen, Kinder mit feinmotorischen Schwierigkeiten zu unterstützen und zu fördern.
[6] Es besteht auf Seiten der Medizin das Bestreben, verbindliche Richtwerte für den Kinderkörper zu entwickeln.
[7] Hätte man Mediziner in der Barockzeit gebeten, ein Somatogramm für den BMI mit Hilfe von Perzentilen zu entwickeln, hätten diese Wissenschaftler mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit andere BMI-Richtwerte zugrunde gelegt. Die Schönheitsnormen für den Körper dieser Zeit waren andere als unsere heutigen und können auf zeitgenössischen Bildern gut nachvollzogen werden. Männer und Frauen auf diesen Zeichnungen und Gemälden sind von großer Statur, haben einen üppigen fleischigen muskulösen Körper mit dickem Hintern und kräftigen Beinen (vgl. die Gemälde „Die drei Grazien“, „Die Amazonenschlacht“ von Peter Paul Rubens, Orlandi 1977, S. 33, 46). Auch für Kinder galten Schönheitsnormen. Sie werden auf den Bildern oft sehr pummlig, bei Akten mit einer beachtlichen Anzahl von Speckröllchen und dicken Bäuchlein dargestellt (vgl. die Gemälde „Kind mit Vogel“, „Jungfrau mit Engeln“ ebd. S. 42 ff.). Würde einer dieser dargestellten Person heute einen Mediziner aufsuchen, würde dieser ihr raten, aus gesundheitlichen Gründen dringend abzunehmen.
[8] Ariès beurteilt diese Entwicklung aber negativ. Er stellt die These auf, dass mit der Entdeckung der Kindheit die Leidenszeit der Kinder beginnt. Seiner Meinung nach war im Mittelalter die Lebenswelt der Kinder nicht räumlich und kulturell von der der Erwachsenen getrennt, was er positiv beurteilt. Erst im Laufe der Jahrhunderte wurden die Kinder aus dem Leben der Erwachsenen ausgegliedert. Für Ariès begann so für die Kinder der Weg in die pädagogische Dressur der Gesellschaft mit Schule und Kleinfamilie.
[9] 1869 lag das Menarchealter der Mädchen im Durchschnitt bei 15,6 Jahren, 1967 bei 13,3 Jahren. (Berndt 1982, S. 180)
[10] Die soziale Differenzierung über das Ernährungsverhalten ist kein Phänomen der Postmoderne. Nur das äußere Erscheinungsbild aus diesem Ernährungsverhalten hat sich geändert. Menschen, die sich heute darauf beziehen, sind dünn, in früheren Zeiten waren sie wohlgenährt, heute würde man sagen dick bzw. übergewichtig.
[11] KiGGS ist ein Kunstwort und lässt sich sprachlich nicht aufschlüsseln.
[12] Bedingungen für eine repräsentative Zufallsstichprobe sind: Die Teilnehmer werden auf „zufällige Weise“ gewonnen: sie werden mit Hilfe des Einwohnermeldeamtsregisters ausgewählt (Ziehung einer repräsentativen Zufallsstichprobe). Dabei muss die strukturelle Verteilung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland abgebildet werden, d.h. wie sie sich über die einzelnen Bundesländer, über Dörfer, kleine und große Gemeinden, Klein- und Großstädte im Norden, Süden, Westen und Osten verteilen. Dazu gehört auch, dass Teilnehmer ohne deutsche Staatsangehörigkeit und solche mit anerkannten Behinderungen angemessen repräsentiert werden.
- Quote paper
- Elke Lichtenberg (Author), 2008, Gesundheitsentwicklung von Kindern und pädagogische Möglichkeiten in der Schule, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/118147
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.