Goethe und das Problem der Sprache


Bachelor Thesis, 2013

48 Pages, Grade: 1,17


Excerpt

I. „Die abstrakten Worte (…) zerfielen mir im Mund wie modrige Pilze.“[1]

II. Sprachbewusstsein und Sprachkritik um 1800

II.1 Johann Gottfried Herder

II.2 Georg Christoph Lichtenberg

III. Goethe und das Problem der Sprache

III.1 Sprache als 'Surrogat'

III.2 „Der Widerstreit des Fixen und Beweglichen“[55]

III.3 Verpasste Verständigung

IV. Poetische Sprache als Ausweg aus der Problematik? ‒ Eine Schlussbetrachtung

IV.1 Das kreative Potential dichterischer Sprache

IV.2 Goethes Werke: Sein Versuch, „Sprache lebendig wachsen zu lassen“[110]

Literatur – und Siglenverzeichnis


I. „Die abstrakten Worte (…) zerfielen mir im Mund wie modrige Pilze.“[1]

 

Ein Satz, entnommen einem der sprachkritischsten Werke des 20. Jahrhunderts: Hugo von Hofmannsthal 'Ein Brief''[2] von 1902. Die wirkmächtige Metapher im Brief an Lord Chandos steht für eine Epoche, die durch eine Skepsis am Wort und am Mitteilungsvermögen gekennzeichnet ist. Auch Größen wie Friedrich Nietzsche oder Ludwig Wittgenstein wissen keine Antworten auf die Unzulänglichkeiten der Sprache zu geben. Die Moderne steckt zu Beginn des neuen Jahrhunderts in einer tiefen Sprachkrise. Der Begriff Sprachkrise wird dementsprechend häufig mit den Jahren des Fin de Siècle in Verbindung gebracht; bedauerlicherweise oftmals ausschließlich. Doch waren die literarischen Köpfe dieser Zeit keineswegs die Ersten, die die Unzulänglichkeiten sprachlichen Bezeichnens – gerade in der Arbeit am eigenen Werk – erkannten und am eigenen Leib zu spüren bekamen.

 

Gut hundert Jahre zuvor wuchs bei einem jungen Künstler in Weimar zusehends ein Problembewusstsein für die Schwierigkeiten des sprachlichen Bezeichnens und der zwischenmenschlichen Kommunikation. Johann Wolfgang von Goethe, so der Name des besagten jungen Mannes, veröffentlichte zwar Zeit seines Lebens kein eindeutig poetologisches oder sprachtheoretisches Werk. Seine kritischen Gedanken über das Unvermögen der Sprache finden sich jedoch, wenn auch unzusammenhängend und verstreut, überaus zahlreich in seinen Werken, Briefen und theoretischen Schriften. Sonderbar, mag der ein oder andere anmerken, denn ist nicht Goethe einer der berühmtesten – wenn nicht sogar der berühmteste und damit einer der sprachmächtigsten – Schriftsteller, Dichter und Denker deutscher Lande?

 

Die intensive Arbeit mit und die gleichzeitige Verzweiflung über das Wort stehen tatsächlich in einem paradoxen Verhältnis. Es kommt die Frage auf, warum sich Goethe trotz seiner oftmals so kritischen Position gegenüber der Sprache während seiner Schaffenszeit in so vielfältiger Weise ebendieser Sprache bedient hat. Wie bringt er solch großartige Werke wie den 'Faust' zustande, wenn er im gleichen Atemzug das eben noch angewandte Sprachsystem als defizitär bezeichnet und daran verzweifelt? Eine Wanderung durch Goethes Werke und Schriften soll Klarheit in dieses Paradoxon bringen.

 

Vorab ist es allerdings dienlich, sich einen Überblick zu verschaffen über die Gedanken zur Sprache, die rund um das abschließende 18. und einsetzende 19. Jahrhundert vorherrschten. Prägende Denker und Sprachphilosophen, insbesondere Herder und seine Ansichten zur Sprache allgemein, zu ihrem Ursprung und ihren Grenzen, sollen dabei herangezogen werden. Ihren Abhandlungen lassen sich bereits interessante sprachskeptische Grundgedanken entnehmen, die auch in Goethes Gedankengut auftauchen werden.

 

In einem nächsten Schritt wird der zentrale Aspekt, Goethes Problem mit der Sprache, angegangen. Geordnet nach unterschiedlichen Problembereichen wird ein Blick auf Goethes Skepsis am Wort, an definitiven Bezeichnungen und dem sprachlichen Mitteilungsvermögen geworfen. So wird die Sprache zunächst grundsätzlich als Surrogat enttarnt, woraufhin die Folgen einer solchen Charakteristik im Bereich der Naturwissenschaft sowie der zwischenmenschlichen Kommunikation beleuchtet werden. Besonders zwei seiner bekanntesten Romane, 'Die Leiden des jungen Werthers' und 'Die Wahlverwandtschaften', werden insofern Aufschluss geben über Goethes sprachkritische Grundpositionen. Weitere Dramen und Prosawerke, seine Schriften zur Naturwissenschaft und auch autobiographische Texte beinhalten ebenfalls aufschlussreiche ergänzende Gedanken zu Sprache und Wort.

 

Auf dieser Grundlage soll anschließend die Frage geklärt werden, warum Goethe als Künstler an den anerkannten Mängeln der Sprache letztlich doch nicht gescheitert ist. Kunst als Ausweg(?), lautet der Ansatz, dem Goethe zu folgen schien und den es genauer zu untersuchen gilt. Ziel ist es, herauszufinden, wie ihm ein Weg aus der Sprachproblematik gelang, warum er sich dem Wort nicht verweigerte, oder sogar ins Schweigen verfiel.

 

Immerhin war gerade die Sprache für Goethe als Künstler zeit seines Lebens das Medium, über das er sich seinen Mitmenschen am liebsten mitteilte.

II.      Sprachbewusstsein und Sprachkritik um 1800

 

II.1    Johann Gottfried Herder

 

Menschliche Kommunikation und Sprache stellen einen Themenbereich dar, den zu diskutieren die Menschheit vermutlich niemals müde werden wird. Dass kritische Stimmen nicht erst im beginnenden 20. Jahrhundert das erste Mal lautwerden, wurde bereits festgestellt. Der junge Goethe war aber keinesfalls der einzige Dichter mit sprachkritischen Gedanken, sondern reiht sich ein in eine Generation äußerst sprachbewusster Dichter und Denker.

 

Eine der bekanntesten sprachtheoretischen Abhandlungen entsteht in den Siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts in Goethes unmittelbarer Nähe. Die 'Abhandlung über den Ursprung der Sprache' (1772) entstammt keiner geringeren Feder als der seines engen Bekannten Johann Gottfried Herder. Die beiden begegneten sich das erste Mal im September 1770 in Straßburg[3]. Goethe las Herders Texte mit Faszination und Begeisterung.[4]

 

Herder betrachtet Sprache vom Ursprung aus und fragt sich, wie der Mensch zur Sprache kam. Die zentrale Fähigkeit, die ihn dabei vom Tier unterscheidet, ist seine „Besonnenheit“[5]. Besonnenheit meint letztlich die menschliche Reflexion, von Herder zuvor umschrieben mit Verstand oder Vernunft.[6] Sie ist maßgebliche Determinante für das menschliche Sprachsystem. Mittels der Besonnenheit löst der Mensch genau ein Merkmal eines beliebigen Gegenstandes aus der Wahrnehmungsvielfalt seiner Sinneseindrücke heraus und isoliert es. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf diesen einen Sinnesreiz, der abgesondert und als für diesen Gegenstand spezifisches Merkmal erkannt wird.[7] Berühmtes Beispiel hierfür ist Herders blökendes Schaf. Sein Blöken stellt das auserkorene Merkmal beziehungsweise den Sinnesreiz dar, an dem das Schaf zukünftig erkannt werden kann.[8] Ist beim wiederholten Aufeinandertreffen wieder das Blöken jenes Merkmal, das als signifikant herausgefiltert wird, etabliert es sich und wird zu einem „innerlichen Merkwort“.[9] Mit diesem wird das Schaf zukünftig benannt.

 

Dass ein Merkmal als signifikanter empfunden wird als ein anderes, liegt nach Herder an seiner größeren Intensität gegenüber anderen Merkmalen. Es wird herausgefiltert, weil es „am stärksten Eindruck macht“ und „am tiefsten eindrang“.[10] Dadurch erscheint die Besonnenheit jedoch ambivalent: Wir wählen zwar rein zufällig ein beliebiges Merkmal zum Benennen aus. Dieses Merkmal drängt sich uns aber gerade aufgrund seiner größeren Intensität auf. Wir kommen also gar nicht dazu, das Merkmal zu übersehen oder nur rein willkürlich auszuwählen.[11] Jene Tatsache wird von Herder vernachlässigt.

 

Stattdessen ist es ihm wichtiger, hervorzuheben, dass Sprache nicht auf gesellschaftlichen Konventionen beruht. Ob das ausgewählte Merkmal wirklich das für einen Gegenstand spezifischste ist, kann nicht nach festen Konventionen überprüft werden.[12] Sprache ist vielmehr anthropomorph, geht vom Menschen aus: Seine Willkür ist es, die ein Merkmal – möge es die wesentlichsten Eigenschaften darstellen oder nicht – herauslöst. So wurde das Blöken als Merkwort für das Schaf ausgewählt, auch wenn vielleicht das wollene Fell eine wesentlichere Eigenschaft eines Schafes gewesen wäre. Die anschließende Umwandlung der willkürlichen Zeichen in verbale Signifikanten unterliegt genauso einer subjektiven Setzung.[13] Daraus ergibt sich eine erste sprachkritische Konsequenz hinsichtlich der Besonnenheit. Sie kann

 

weder die Verbindung von Assoziationen erfassen, die dem ersten Urteil der Seele, wie Herder es nennt, d.i. der bewußten Anerkennung eines Merkmals als für den Gegenstand x spezifischen, vorausliegen, noch kann sie beurteilen, ob die Verbindung der Assoziationen dem Gegenstand x überhaupt entspricht.[14]

 

Darüber hinaus müssen alle wahrnehmungs- und empfindungsimmanenten Merkmale eines Gegenstandes im Bezeichnungsmoment für den Sprecher anwesend sein. Dies ist allerdings zum Teil schon bei wahrnehmbaren, insbesondere aber bei nicht wahrnehmbaren Gegenständen, nicht der Fall. Aus diesem Grund kann nicht über nicht Gegenständliches gesprochen werden. Problematisch ist in dieser Beziehung auch die Tatsache, dass wir immer nur Einzelnes an einer Erscheinung wahrnehmen, z.B. nur eine Ausprägung der Farbe Rot, nicht aber ihr gesamtes Spektrum.[15]

 

In der Konsequenz kann nur Wahrnehmbares bezeichnet werden. Die Bezeichnung ist punktuell und beschränkt, sie hat relativen Charakter und kann, wie das sich wandelnde Bezeichnete selbst, widersprüchlich sein.[16] So kann, um bei den Farben zu bleiben, die gerade noch orangerot wahrgenommene Sonne im Untergehen plötzlich eher signalrot oder rosa erscheinen. Der Begriff rot zur Beschreibung der Sonne ist aufgrund seiner unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten daher relativ zu betrachten. Aus diesem Grund lehnt Herder eine zu starre naturwissenschaftliche Terminologie ab: durch einen Begriff wird noch lange nicht die Sache erfasst. Stattdessen plädiert er für eine “negative Philosophie“ (FA1 I, 557)[17], die die Grenzen von Erkenntnis und Benennung in den Vordergrund rückt.

 

Das Problem der relativen Terminologie zugrundelegend, behauptet Herder weiter, dass Namen nicht nur Einzelnes, sondern etwas Allgemeines erfassen. In diesem Sinne gelten sie als 'Ideen' oder 'innere Worte'. Solch eine Idee, die hinter dem Benannten steckt, ist subjektimmanent und entspricht allgemeinen Wahrheiten, die den Menschen eingeboren sind.[18] Auch hier tun sich indes Grenzen der Sprache auf: Wenn ein inneres, noch unausgesprochenes Wort inhaltlich nichts Bestimmtes meint, kann der Mensch weder genau wissen, was er im Sprechen mitteilt, noch das Gesagte modifizieren oder kontrollieren, ob das von ihm Gemeinte auch adäquat im Gesagten ausgedrückt wurde.[19]

 

In diesem Zusammenhang favorisiert Herder vor allem aufgrund ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit die mündliche statt der schriftlichen Sprache, die demgegenüber reichlich Kritik erfährt. Herder sieht Schriftsprache gegenüber der mündlichen als reduziert und zu stark reglementiert an. Artikulation und Gestik fehlen, um Empfindungen zu kommunizieren. Darüber hinaus geht die kreative Denkfähigkeit im Schreiben zurück.[20]

 

Mit einer gewissen Skepsis beäugt Herder auch die neue Kommunikationssituation, die das Medium Schrift schafft. Sender und Empfänger sind räumlich und zeitlich getrennt, sodass sich zwei Kommunikationssituationen ergeben. Überdies erfährt der Schreiber eine doppelte Entfremdung, bei der er zunächst vom selbst verfassten Text, sodann von seinem potentiellen Leser entfernt wird. Damit einher geht eine sentimentalistische Sprachkritik, wenn Herder die Schwierigkeit der Vermittlung emotionaler Inhalte beleuchtet.[21]

 

Diese wird ergänzt durch eine kommunikative Sprachskepsis. Sprache stellt nur ein unzureichendes Band zwischen Menschen dar, ist ihre intersubjektive Verbindlichkeit doch fragwürdig und ihre Semantik stattdessen subjektiv. Deutlich wird das an der Metapher der Geldmünzen. Ob Worte gleich den verschiedenen Münzen ihren Wert tatsächlich auch besitzen und das Gegenüber den jeweils beigelegten Wert erkennt, ist unklar.[22]

 

Wahre Erkenntnis wird demnach negiert und es zeichnet sich in einem weiteren Schritt auch eine erkenntnistheoretische Skepsis ab. Sprache ist ein unvollkommenes Werkzeug der Vernunft und der zwischenmenschlichen Kommunikation. Wo sie zum einen ordnenden Charakter besitzt, ist sie zum anderen eingrenzend, da sie das Bezeichnende von seiner außersprachlichen Referenz trennt. Entsprechend ist auch der sprachgebundenen Erkenntnis eine Grenze gesetzt.[23] Der Artikulation geht keine über die bloße Verlautbarung hinausgehende, zuvor andersartig gewonnene Erkenntnis voraus. Es werden also zuvor keine Unterschiede zwischen Dingen erkannt. Stattdessen greift der Mensch auf bereits Unterschiedenes zurück, um etwas Neues zu bezeichnen. Sprache repräsentiert mithin sprachlich nur bereits Unterschiedenes, das reproduziert wird. Sie dient ferner nicht der Mitteilung innerhalb der Auseinandersetzung über Sachverhalte .[24]

 

Es kann jedoch nicht kontrolliert werden, ob die bereits vorgenommene Unterscheidung richtig ist. Demnach können auch nur die Mitglieder derselben Sprachgemeinschaft miteinander kommunizieren, die die gleichen Vor-Unterscheidungen teilen.[25] Schlussfolgernd gibt es keine weitere differenziertere Erkenntnis, als die, dass ein Merkmal einem Gegenstand als zugehörig anerkannt und er damit benannt wird.[26]

 

Trotz der erkannten Grenzen der Sprache finden sich in Herders Gedankengut durchaus auch optimistische Passagen. Unbeschadet der Begrenztheit des einzelnen Begriffs kann Sprache bei angemesser Verwendung, zum Beispiel der entsprechenden Verknüpfung von Begriffen, zur Erkenntnis beitragen und eine intersubjektive Vermittlung ermöglichen. So gesteht er den Worten in den 'Fragmenten' zu, dass diese „[...] Hüllen sind, in welchen wir die Gedanken sehen [...]“ (FA1 I, 552) und folglich die Sprache eine „Schatzkammer“ (FA1 I, 552) menschlicher Gedanken und Kenntnisse darstellt.

 

II.2    Georg Christoph Lichtenberg

 

Mögen die Meinungen über Literatur und Kunst des langjährigen Professors der Philosophie, Johann Christoph Lichtenberg, und Johann Wolfgang Goethes zwar größtenteils nicht übereinstimmen, so finden sich bei Lichtenberg dennoch in drei Linien sprachkritische Gedanken, die im Zusammenhang mit der Sprachskepsis Goethes von Interesse sind.

 

Lichtenberg unterstellt den Worten zunächst eine abstrakte, relativ grobe und damit unzureichende Art der Bezeichnung:

 

[…], und die Wörter wodurch wir die Eigenschaften der Seele ausdrücken sind so zu reden nur Geschlechts-Namen, die noch sehr viele Gattungen unter sich begreifen. […] Eben so wird man oft in unsrer Sprache finden, wieviel Regungen es in uns gibt, die feiner sind als unsre Worte.[27]

 

Um innere psychische Vorgänge auszudrücken, mangelt es der Sprache in diesem Zusammenhang zudem an semantischen Verknüpfungen. Die einzelnen Worte geben nicht die vielfältigen Bezüge, wie sie innerhalb der Seele vorzufinden sind, wieder.[28]

 

Darüber hinaus zeichnet sich – wie schon bei Herder – auch bei Lichtenberg eine kommunikative Skepsis ab: „Eine Verbindung von Begriffen mit Worten ausgedruckt kann für einen andern ganz etwas anders werden.“[29] Diese kommunikative Misere findet sich im Übrigen auch bei anderen Philosophen der Goethe-Zeit. Johann Georg Hamann beispielsweise, deutscher Philosoph und von Goethe vielfach gelesen, geht ebenfalls von einer semantischen Vagheit der Begriffe aus, wenngleich er diese teilweise auch positiv bewertet. Ihre Mehrdeutigkeit befähigt Sprache nach seiner Ansicht dazu, ein universelles Kommunikationsinstrument zu werden.[30] Allerdings besteht in der Kommunikation auch in Hamanns Augen immer die Gefahr des Scheiterns, da Sprache als Zeichensystem einer stetigen Deutung unterliegt, die eben auch misslingen kann. Die Eindeutigkeit einer sprachlichen Äußerung ist ihr nicht von Natur aus eigen, sondern entsteht erst in einem komplexen Kommunikationsprozess.[31]

 

Um auf Lichtenberg zurückzukommen, so betrachtet dieser im Rahmen der kommunikativen Sprachskepsis die unterschiedliche Semantisierung derselben Worte bei verschiedenen Rezipienten. Im Ergebnis stellt Sprache eine Art heterogenes Konglomerat von subjektiven Spracharten dar, das keine objektive Kommunikation erlaubt. Somit wird das Individuum in seinem Sprachsystem isoliert.[32] Gerade die Ratio des Gegenübers verhindert als brechendes Mittel das adäquate Verständnis der sprachlichen Äußerung. Sie wird explizit als „Gesinnungs-System“[33] bezeichnet, welches sich aus den jeweils unterschiedlichen Erfahrungen und Erlebnissen des Einzelnen konstituiert. Dieses System prägt ferner    unsere Meinungen, die dann wiederum weitere Äußerungen beeinflussen. Aufgrund solch einer meinungsabhängigen Sprachproduktion kommt es zu einem differierenden Sprachverständnis.

 

In einem dritten Punkt schafft schließlich auch Lichtenberg in der Diskussion um das menschliche Sprachvermögen einer naturwissenschaftlichen Skepsis Raum, besonders der festgestellten Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens.[34] Oftmals erlebt er bei seinen Schülern sprachlich bedingte Verständnisprobleme, gerade wenn es um mathematische Rechnungen wie beispielsweise die Multiplikation geht. Zudem wirft er der Sprache eine Wahrheitsverzerrung vor, indem sie das Denken mittels gewohnter Sprachstrukturen, aber auch hinsichtlich der Einzelworte verbal beeinflusst und zu falschen Schlüssen führt.[35] Somit scheitert die generalisierende Terminologie sowohl, im Versuch, das Innere eines Menschen adäquat auszudrücken, als auch in der wissenschaftlichen Beschreibung außersprachlicher Gegenstände.

 

Um die erkenntnishemmende Kraft der Sprache zu mindern, plädiert Lichtenberg für eine möglichst exakte Begrifflichkeit, eine Betrachtung sprachlicher Zeichen als arbiträr und damit wandelbar und zuletzt, für kreative Impulse, die die festgefügte Sprachordnung durchbrechen.[36]

 

Was zeichnet nun die Sprachskepsis um 1800 im Allgemeinen aus? Philosophen erleben Sprache als unzulängliches Mittel zum Ausdruck von Emotionen, die begrenzte Erkenntnis in den Naturwissenschaften macht auch vor großen Köpfen wie Herder nicht Halt und die Problematik einer mit Worten gelingenden Kommunikation drängt sich auf. Drei Aspekte, die Sprache zu einem fragwürdigen Instrument werden lassen, drei Aspekte, denen auch Goethe in seinem Dasein als Dichter und Naturwissenschaftler begegnet.

III.    Goethe und das Problem der Sprache

 

Für den Dichter Goethe war Sprache ein unabdingbares Werkzeug und Instrument. Immer wieder hatte er mit dessen Mitteln zu kämpfen, immer wieder drohte er, an den Mängeln der Sprache zu scheitern. Die Sprachproblematik beschäftigte den Künstler von den jungen Mannesjahren an bis ins hohe Alter. Die Folge: eine unermessliche Vielfalt an Gedanken zur Sprache, die sich mannigfaltig in seinen Werken niederschlägt.

 

III.1  Sprache als 'Surrogat'

 

Einer der wesentlichsten Punkte der Goetheschen Sprachkritik ist ihr Surrogatcharakter. Ein Surrogat, das ist ein „Stoff, Mittel o.Ä. als behelfsmäßiger, nicht vollwertiger Ersatz“[37]. Demnach stellt Sprache einen unzureichenden Ersatz, einen Vertreter oder Behelf dar, durch den jedoch keine definitiven Bestimmungen möglich sind.[38] „Die Macht des Wortes reicht nicht hin, die Größe des Augenblicks bannend festzuhalten“[39], formuliert es so treffend Hans Rudolf Schweizer. Dieser Gedanke erinnert stark an die Unzulänglichkeiten, die Hugo von Hofmannsthal der Sprache zur Jahrhundertwende gut hundert Jahre später vorwerfen wird: weder das menschliche Innenleben, noch die Realität sind adäquat abbildbar. Im Gegenteil übersteigen Empfinden und Gegenstand das sprachliche Ausdrucksvermögen.[40] Gleichermaßen verweist auch Goethe auf die unüberwindbare Kluft zwischen Gegenstandsphäre und ihrer verbalen Repräsentation, die sich gerade vor ihm als Künstler auftut: „Was mit mir das Schicksal gewollt? Es wäre verwegen, das zu fragen: denn meist will es mit vielen nicht viel. Einen Dichter zu bilden, die Absicht wär ihm gelungen. Hätte die Sprache sich ihm nicht unüberwindlich gezeigt.“[41]

 

Viele der Romanfiguren Goethes unterliegen einem ähnlichen Schicksal und finden immer wieder nur sprachliche Surrogate für das, was ihnen auf dem Herzen liegt – mitunter gelingt ihnen noch nicht einmal das. So ergeht es beispielsweise Götz von Berlichingen im gleichlautenden Schauspiel in einem Gespräch: „- Ich wollte was antworten, aber der Paß vom Herzen nach der Zunge war versperrt.“[42]

 

Niemand sonst leidet allerdings dem Anschein nach so sehr unter dem mangelnden Vorrat an Ausdrücken zur Gefühlsvermittlung, wie die womöglich berühmteste Figur des Sturm und Drang: Goethes Werther. Er versucht verzweifelt, in den Briefen an Freund Wilhelm seine inneren Qualen und Seelenempfindungen, insbesondere in der Liebe zu Lotte, auszudrücken. Die Schwierigkeit der Darstellung innerer Empfindungen beschreibt Werther zunächst für den Prozess einfachen, angemessenen Abmalens einer Landschaft, die ihn begeistert. In dem Brief vom 10. May lässt er sich über die Unmöglichkeit der Darstellung aus:

 

ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! – Mein Freund – Aber ich gehe darüber zu Grunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.[43]

 

Dass Gleiches auch für das gesprochene Wort gilt, erkennt Werther schon kurze Zeit später in einem weiteren Brief am 30. May, in dem es heißt:

 

Was ich dir neulich von der Mahlerei sagte, gilt gewiss auch von der Dichtkunst; es ist nur daß man das vortreffliche erkenne und es auszusprechen wage, und das ist freylich mit wenigem viel gesagt. Ich habe heut eine Scene gehabt die rein abgeschrieben die schönste Idylle von der Welt gäbe; doch was soll Dichtung, Scene und Idylle? Muß es denn immer geboßelt seyn,wenn wir Theil an einer Naturerscheinung nehmen sollen? (FA I.8, 33)

 

Die Empfindungen der Seele können mit einfachen Worten nicht ausgedrückt werden, die künstlerische Darstellung ist unangemessen und entspricht nicht der Sache selbst. Immer wieder verzweifelt Werther daran, Wilhelm die köstlichsten Worte seiner Geliebten Lotte mitzuteilen: „Sie sagte das! O Wilhelm, wer kann wiederhohlen was sie sagte! wie kann der kalte, todte Buchstabe diese himmlische Blüthe des Geistes darstellen!“ (FA I.8, 119) Werthers Verzweiflung, nicht nur über die unerfüllte Liebe zu Lotte, auch weil er die brodelnden Gefühle seines Inneren nicht durch Worte aussprechen und sich so nicht von ihnen befreien kann, steigert sich im Laufe des Romans ins Unermessliche: „– Vergehen! – Was heißt das? Das ist wieder ein Wort! Ein leerer Schall! Ohne Gefühl für mein Herz.–“ (FA I.8, 249).

 

Die Symbolik des leeren Schalls zur Umschreibung der Unzulänglichkeit der Worte findet sich auch in einem anderen Werk Goethes. Sie stammt von keinem Geringeren als dem Gelehrten Faust. Bei einem Spaziergang mit seiner jungen Liebe Gretchen erkennt auch Doktor Faustus, wie behelfsmäßig Namen und Begriffe nur sein können:

 

Nenn' es dann wie du es willst,/

 

Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott!/

 

Ich habe keinen Namen/

 

Dafür! Gefühl ist alles;/

 

Name ist Schall und Rauch,/

 

Umnebelnd Himmelsgut./[44]

 

Wörter sind nicht hinreichend, deshalb erlebt auch Werther seine Erzählungen stets als verfälschend und kritisiert sie in vielfacher Hinsicht: „Was ich dir erzähle, ist nicht übertrieben, nichts verzärtelt, ja ich darf wohl sagen, schwach schwach hab ich's erzählt und vergröbert hab ichs, indem ichs mit unsern hergebrachten sittlichen Worten vorgetragen habe.“ (FA I.8, 165) Er bremst sich selbst in seinem Sprechen, kann er doch nicht das Einzigartige, das Spezifische einer Sache, ausdrücken: „Lieber, ich mag nicht ins Detail gehen; so reizend es mir war, so einförmig würde es in der Erzählung werden.“ (FA I.8, 153)

 

In diesem Widerspruch der Allgemeinheit der Wörter auf der einen und dem Besonderen der einzelnen Erscheinung auf der anderen Seite, liegt ein weiteres Problem des sprachlichen Bezeichnens. Sprache ist nach Goethe von einer Einseitigkeit gekennzeichnet, die nie ganz das Individuelle auszudrücken vermag.[45] Vor allem in seinen Arbeiten zur Farbenlehre musste der Naturwissenschaftler das feststellen, worauf das nächste Kapitel noch intensiver eingehen wird. Dass das Innere einer Sache mit den allgemeinen Worten nicht erfasst wird und die Menschen einer Erscheinung bei ihrer Würdigung nur eine Art Begriffsschablone aufdrücken, wirft auch der Werther Lottens Mann Albert vor:

 

Daß ihr Menschen, rief ich aus, um von einer Sache zu reden, gleich sprechen müßt, das ist thöricht, das ist klug, das ist gut, das ist bös! Und was will das alles heissen? Habt ihr deswegen die inneren Verhältnisse einer Handlung erforscht? Wißt ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum sie geschehen mußte. Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit euren Urtheilen seyn. (FA I.8, 95)

 

Eine Handlung mit Worten zu beurteilen, heißt demnach noch lange nicht, diese auch begriffen zu haben. Man kann mit Worten nicht den eigentlichen Charakter einer Sache erfassen.

 

Das Phänomen Sprache kann ebenfalls nicht gänzlich erfasst werden. Goethe begreift Sprache als sogenanntes „Urphänomen“[46], auf das andere Phänomene zurückgeführt werden, wenn sie erklärt werden. Es bleibt das ewig Unerklärbare. Niemand kann also diese Sprache der Natur völlig fassen und mit einem letzten Dogma bezeichnen oder angeben, was sie in Wahrheit sei.[47]

 

Darüber hinaus richtet sich Goethe in seiner Arbeit mit und an dem Wort konsequent gegen den Sprachpurismus. Dieser zielt auf die Bereinigung des Deutschen von Fremdwörtern ab und schafft somit seiner Meinung nach Raum für Surrogate in der deutschen Sprache. Im siebten Buch von 'Dichtung und Wahrheit' kritisiert Goethe entsprechend die Ablehnung von Fremdwörtern auch in solchen Fällen, in denen das Deutsche dafür nur Surrogate bietet. So sieht er die Gefahr, dass „durch diese löblichen Bemühungen [...] jedoch der väterländischen breiten Plattheit Tür und Tor geöffnet [wird]“[48]. Auch die sorgfältigste Übersetzung beinhaltet stets etwas Fremdes, erläutert er schon in seinen naturwissenschaftlichen Schriften.[49] Auch in seinen 'Maximen und Reflexionen' beäugt Goethe in dem Kapitel 'Literatur und Sprache' die Tätigkeiten der Sprachpuristen äußerst skeptisch, denn „wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen“[50]. Hinzu ist ein „pedantische[r] Purismus […] ein absurdes Ablehnen weiterer Ausbreitung des Sinnes und Geistes […]“ (HA XII, 508), weshalb Goethe „[...] allen negativen Purismus [verflucht], daß man ein Wort nicht brauchen soll, in welchem eine andre Sprache Vieles oder Zarteres gefaßt hat.“ (HA XII, 508). Die anti-sprachpuristische Position taucht an vielen weiteren Stellen des Kapitels auf. Um nur ein zusätzliches Beispiel zu nennen, behauptet Goethe, Reinigung führe nicht zwangsläufig zu einem gelungeneren Inhalt. Im Gegenteil hat der „geistlose […] gut rein sprechen, da er nichts zu sagen hat.“ (HA XII, 509)

 

Ablehnung findet ferner das von Phrasenhaftigkeit und Vagheit gekennzeichnete Sprechen, mit dem sich auch Werther in seiner Tätigkeit beim Gesandten plagen muss, der, „wenn man seinen Perioden nicht nach der hergebrachten Melodie herab orgelt,“ ( FA I.8, 129) nichts darin versteht. Solch hergebrachte Phrasen stellen für Goethe einen Missbrauch der Sprache dar, sind nichts weiter als hohle Schriften, in denen Worte durch ihren zu häufigen Gebrauch an Bedeutung und Sinn verlieren.[51]

 

Der Künstler wird in seinen Arbeiten immer wieder aufs Neue von einer Desillusionierung heimgesucht und ringt einen permanenten Kampf um sein Mitteilungsvermögen.

 

Vieles hab' ich versucht, gezeichnet, in Kupfer gestochen/

 

 Öl gemalt, in Ton hab' ich auch manches gedruckt,/

 

Unbeständig jedoch, und nichts gelernt noch geleistet;/

 

 Nur ein einzig Talent bracht' ich der Meisterschaft nah:/

 

Deutsch zu schreiben. Und so verderb' ich unglücklicher/

 

 Dichter/

 

In dem schlechtesten Stoff leider nun Leben und Kunst.// (HA I.1, 177)

 

heißt es in den 'Venetianischen Epigrammen'. Er kann als Dichter selbst nicht immer sagen, was er sagen möchte und nur darauf hoffen, irgendwann verstanden zu werden. Goethe verspürt eine Diskrepanz zwischen seiner dichterischen Kraft auf der einen Seite und einer Umwelt auf der anderen, die sich in ihrem ungeprüften Vokabular völlig abgesichert glaubt.[52] Damit ist ein Problem aufgegriffen, das zu späterem Zeitpunkt noch genauer interessieren wird, an dieser Stelle aber bereits einen Unmut deutlich macht, der in einer Sprach- und Kommunikationsverweigerung Goethes hätte münden können, gleich seiner Romanfigur Ottilie in den 'Wahlverwandtschaften'.[53]

 

Letztlich findet der Betrachter bei Goethe allerdings keinen grundsätzlichen Argwohn gegen die Sprache schlechthin, sondern einen, der sich gegen einen metaphysischen, genauer aristotelischen Sprach- und Zeichenbegriff richtet. Aristoteles betrachtet Sprachzeichen als repräsentative Formungen der Stimme, die für etwas stehen. Solch ein Phänomen wird auch als „aliquid pro aliquo“[54], lateinisch soviel wie etwas für etwas, bezeichnet. Die Schwierigkeiten eines solchen metaphysischen Sprachbegriffs werden im nächsten Kapitel, der Sprache der Naturwissenschaften, näher beleuchtet.

 

Gleich seinem Gelehrten Faust, kann Goethe also das Wort keineswegs so hoch schätzen. Als dieser versucht, das Alte Testament zu übersetzen, scheitert er und muss feststellen: „»im Anfang war das Wort!« Hier stock' ich schon! Wer hilft mir weiter fort. Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen“ (FA, I.7.1, 61). Ähnlich geht es Goethe, insbesondere in seiner Position als Naturwissenschaftler.

 

III.2  „Der Widerstreit des Fixen und Beweglichen“[55]

 

Die Naturwissenschaften erwecken den Eindruck, durch terminologisch eindeutige Systeme die außersprachliche Wirklichkeit adäquat abzubilden. Wenn die Sprache aber nur als unzureichendes Surrogat, das heißt als mangelhafter Ersatz, Vertreter oder Behelf, fungieren kann, hat dies weitreichende Konsequenzen für das naturwissenschaftliche Verständnis von Erkenntnis und Wahrheit.

 

Das liegt Goethes Überzeugung nach in einem ersten Schritt bereits daran, dass Sprache selbst nur eine Erscheinung für sich ist. Daraus ergibt sich die Schwierigkeit, mittels einer Erscheinung eine andere Erscheinung darzustellen, wenn ein Signifikant und seine gegenständliche Referenz jeweils eigenständige Erscheinungen sind.[56] Mit Sprache kann ein Phänomen dann eigentlich nur umrissen werden, sie kann aber nicht „der Seele Bild“[57] sein. Gleichermaßen erkennt Werther in seinen Briefen, wie die Worte doch nur einen Umriss einer Sache – den bereits angeführten Schall – darstellen.

 

Insbesondere in seinen Arbeiten zur 'Farbenlehre' erlebt Goethe selbst zuhauf die Unzulänglichkeiten naturwissenschaftlicher Terminologie. Schon im Vorwort des Didaktischen Teils bedauert er, „so mannigfaltig, so verwickelt und unverständlich uns oft die Sprache scheinen mag, so bleiben ihre Elemente doch immer dieselbigen“[58], wohingegen sich die Naturphänomene allerdings im Wandel befinden. Den sich stetig wandelnden Realphänomenen auf der einen Seite, steht auf der anderen Seite eine festgefügte, durch klare Definitionen abgesicherte und abgeschlossene Terminologie gegenüber. „Es ist schlimm genug, […] daß man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann“ (FA I.8, 300), bedauert auch Eduard den besagten Bedeutungswandel außersprachlicher Phänomene in den 'Wahlverwandtschaften'. Der Roman ist grundsätzlich gezeichnet von sprachkritischen Momenten. Der Hauptmann schlägt statt Worten Experimente vor, die „einen bessern Begriff geben als Worte, Namen und Kunstausdrücke“ (FA I.8, 303), ja „[m]an sollte dergleichen […] nicht mit Worten abtun“ (FA I.8, 305).

 

Durch Sprache werden Phänomene nicht eingefangen, sondern hingegen das Lebendige einer jeden Sache durch ihre Starrheit getötet.[59] Den „kalte[n], todten Buchstaben“ (FA I.8, 119) verfluchte schon Werther, nicht nur in Bezug auf den Ausdruck von Emotionen, sondern auch in anderen Verhältnissen:

 

Der Fürst fühlt in der Kunst und würde noch stärker fühlen, wenn er nicht durch das garstige wissenschaftliche Wesen und die gewöhnliche Terminologie eingeschränkt wäre. […] und er es auf einmal recht gut zu machen denkt, wenn er mit einem gestempelten Kunstworte drein stolpert. (FA I.8, 155ff.)

 

Besonders deutlich zeigt sich die stete Wandelbarkeit naturwissenschaftlicher Phänomene, ihre Dynamik, in der Betrachtung einzelner Farben. Goethe macht wie folgt darauf aufmerksam:

 

So einfach auch die Farben in ihrer ersten elementaren Erscheinung sein mögen; so werden sie doch unendlich mannichfaltig, wenn sie aus ihrem reinen und gleichsam abstracten Zustande sich in der Wirklichkeit manifestiren, besonders an Körpern, wo sie tausend Zufälligkeiten ausgesetzt sind. Dadurch entspringt eine Individualisirung bis ins Gränzenlose, wohin keine Sprache, ja alle Sprachen der Welt zusammengenommen, nicht nachreichen. (WA II.3, 203)

 

Wo dem Fließenden nur Starres, dem Wandelbaren das Festgefügte gegenübersteht, da kann Sprache bloß als eine Art Symbol dienen. Immer wieder betont Goethe ihren Symbolcharakter, wenn er zum Beispiel in der Farbenlehre darauf hinweist: „[...] und so entsteht eine Sprache, eine Symbolik, die man auf ähnliche Fälle als Gleichnis, als nahverwandten Ausdruck, als unmittelbar passendes Wort anwenden und benutzen mag.“ (HA XIII, 316) Ein „freies physisches Phänomen, das nach allen Seiten wirkt, ist nicht in Linien zu fassen […].[…] Aber sehr oft stellen diese Figuren nur Begriffe dar; es sind symbolische Hülfsmittel, […] welche sich nach und nach an die Stelle des Phänomens, an die Stelle der Natur setzen und wahre Erkenntnis hindern, anstatt sie zu befördern“[60]. Goethe kommt also zu folgendem Schluss: „Man bedenkt niemals genug, daß eine Sprache eigentlich nur symbolisch, nur bildlich sei und die Gegenstände niemals unmittelbar, sondern nur im Widerscheine ausdrücke.“ (HA XIII, 491)

 

In den Naturwissenschaften wird letztlich eine Kategorisierung und Schematisierung ähnlicher Phänomene durch das Hilfsmittel Sprache vorgenommen. Ebensolche Ordnungsbemühungen finden sich in Goethes 'Wahlverwandtschaften'. Die dort vorherrschende Ordnungsthematik lässt sich vielfach auf das Sprachsystem übertragen und mit einer Sprachreflexion verknüpfen. Bereits im ersten Kapitel des ersten Teils weist Charlotte ihren Mann Eduard auf die geplante Ordnung der Tagebücher hin, die zu einem für sie und andere „erfreuliches Ganze[s]“ (FA I.8, 276) zusammengestellt werden sollen. Hinzu unterstützt ihn der Hauptmann im viertel Kapitel bei der Sonderung und Archivierung wichtiger Dokumente, Papiere und Nachrichten, die in „Behältnisse, Kammern, Schränken und Kisten“ (FA I.8, 296f.) sortiert werden. In ebensolche Behältnisse, nämlich Kategorien, ordnet die sprachliche Artikulation Phänomene ein, wobei die Kategorien ihrerseits vollkommen gegenstandsfremd sind. Es bleibt stets eine Kluft zwischen Signifikant und Referenz bestehen. Diese Gegenstandsferne der Sprache vermittelt Goethe zusätzlich in der Figur des alten, zur Hilfe angestellten Schreibers. In seinem Schreiben vollkommen isoliert verkörpert er die Absonderung der Sprache von der Lebenssphäre (FA I.8, 297).[61] Ähnlich entfremdend lässt sich Charlottes Umgestaltung des Friedhofs betrachten.

 

Mit möglichster Schonung der alten Denkmäler hatte sie alles so zu vergleichen und zu ordnen gewußt, daß es ein angenehmer Raum erschien, auf dem das Auge und die Einbildungskraft gern verweilte. Auch dem ältesten Steine hatte sie seine Ehre gegönnt. Den Jahren nach waren sie an der Mauer aufgerichtet, eingefügt oder sonst angebracht; der hohe Sockel der Kirche selbst war damit vermannigfaltigt und geziert. (FA I.8, 283)

 

Charlotte stülpt den Gräbern eine chronologische Ordnung über, sodass sie vollends von ihren ehemaligen Besitzern gelöst sind und kein räumlicher Bezug mehr zwischen Grabstein und -stätte besteht.[62] Entfremdend ist außerdem die topographische Karte, die der Hauptmann vom Landgut erstellt:

 

Die topographische Charte, auf welcher das Gut mit seinen Umgebungen, nach einem ziemlich großen Maßstabe, charakteristisch und faßlich durch Federstriche und Farben dargestellt war, und welche der Hauptmann durch einige trigonometrische Messungen sicher zu gründen wußte, war bald fertig. (FA I.8, 296)

 

Der Hauptmann trägt für die Abmessungen einen vorher festgelegten Maßstab an das abzubildende Landgut heran. Diese von außen herangetragene Ordnung ist, wie auch seine archivarische Tätigkeit, vollkommen gegenstandsfremd. In gleicher Weise dient auch das Sprachsystem lediglich dazu, die tatsächlichen Phänomene für die Vernunft in eine überschaubare Ordnung zu bringen. Die Ordnung ergibt sich aber nicht aus dem Phänomen beziehungsweise der Landschaft selbst heraus und ist damit gänzlich anthropomorphistisch, womit ein weiteres Problem naturwissenschaftlicher Terminologie identifiziert ist.[63]

 

Der Begriff Anthropomorphismus beschreibt die Tatsache, dass Phänomene immer nur in Bezug auf den Menschen erschlossen werden. Eine ausschließlich gegenstandsorientierte, vom wahrnehmenden Subjekt unabhängige Darstellung ist nicht möglich, vor allem nicht mithilfe von Worten und Begriffen. Aufgrund einer daraus resultierenden Einseitigkeit der Sprache erweist sich der Versuch einer sprachlich vermittelten Naturerkenntnis als äußerst schwierig.[64] Exemplarisch verweisen die Messungen des Hauptmanns auf ein anthropomorphistisches naturwissenschaftliches Arbeiten, da er selbst den Maßstab auswählt, mit dem er an das Landgut herantritt und es in gewisser Weise in seine Karte einbettet.[65]

 

Explizit um solche Kategorisierungsversuche geht es auch im sprachskeptischen Zentrum der 'Wahlverwandtschaften', der Gleichnisrede im vierten Kapitel des ersten Teils. Der Versuch, die Leidenschaftsbeziehungen der Hauptfiguren über das chemische Modell der attractio electiva duplex zu beschreiben, scheitert an den Mängeln sprachlichen Bezeichnens. Im Modell trennen sich je zwei zuvor liierte chemische Elemente und wechseln die Partner, sodass eine neue chemische Verbindung entsteht. Dieses Phänomen terminologisch vom chemischen auf den zwischenmenschlichen Bereich zu übertragen, gelingt im Roman nicht.[66]

 

Innerhalb der Versuche, Charlotte das Phänomen der Wahlverwandtschaft nahezubringen, thematisieren der Hauptmann und Eduard nicht nur den Anthropomorphismus der Sprache, sie leben ihn auch. Eduard tadelt Charlotte zu Beginn, weil sie ihm beim Vorlesen ins Buch schaut. Er will sich das wissenschaftlich Geschriebene auf eine narzisstische, subjektive Weise aneignen. „Das Geschriebene, das Gedruckte, tritt an die Stelle meines eigenen Sinnes, meines eigenen Herzens“ (FA I.8, 299), bekennt er. Charlottes Verwirrung über den Begriff der Verwandtschaft im chemischen Zusammenhang resultiert ebenfalls aus einem sprachlichen Anthropomorphismus, da ihr der Begriff Verwandtschaft bisher nur in Bezug auf den Menschen geläufig war.[67] „Der Mensch ist ein wahrer Narziß; er bespiegelt sich überall gern selbst; er legt sich als Folie der ganzen Welt unter“ (FA I.8, 300), lautet das Urteil Eduards daraufhin so passend, welches der Hauptmann noch unterstützt: „so behandelt er alles was er außer sich findet; seine Weisheit wie seine Torheit, seinen Willen wie seine Willkür leiht er den Tieren, den Pflanzen, den Elementen und den Göttern.“ (FA I.8, 300).

 

Wenn jeder Mensch die Welt aber nur in Bezug auf sich und von sich aus erkennen kann, so kann es keine allgemeine Wahrheit geben. In seinem 'Versuch einer Witterungslehre' von 1825 beleuchtet Goethe das Problem der Wahrheit und der menschlichen Erkenntnis noch aus einer anderen Perspektive. So ist er überzeugt:

 

[d]as Wahre, mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen. (HA 13, 305)

 

An dieser Stelle wird Goethes erkenntnistheoretische Skepsis überaus deutlich erkennbar. Phänomene können insbesondere nicht in Sprache als einem stellvertretendem Medium dargestellt werden, denn „[d]urch Worte sprechen wir weder die Gegenstände noch uns selbst völlig aus“[68]. Sprache ist somit ein inadäquates Darstellungsmedium, wenn es darum geht, Wahrheit zu vermitteln. Wird die Wahrheit einer Aussage verstanden als die „Übereinstimmung der Zeichenkette mit dem durch sie bezeichneten Sachverhalt“[69], so erfüllt Sprache – wie sich bereits in III.1 herausgestellt hat – in ihrer Gestalt als Surrogat diese Anforderung nicht. Erkenntnis und ihr sprachlicher Ausdruck bleiben eine „ewig unzureichende Annäherung“[70] an das Phänomen.

 

Gleiches erlebt der Leser, wenn er sich mit dem Romantitel der 'Wahlverwandtschaften' auseinandersetzt. Die Gleichnisrede bringt keine eindeutige Definition des Begriffs Wahlverwandtschaft hervor, sodass sich der Leser fragen kann, inwiefern der Titel überhaupt geeignet ist, um das Romangeschehen adäquat zu repräsentieren. Er wird dabei nicht umhin kommen, die terminologische Insuffizienz des Titels – und damit eine poetologische Sprachskepsis ‒ zu erfahren[71]: Zunächst lassen sich die Hauptcharaktere nicht eindeutig einzelnen chemischen Elementen zuordnen, auf die das System einer Wahlverwandtschaft übertragen werden könnte. Auch müssten bei einer attractio electiva duplex, wie zuvor beschrieben, zwei Paare miteinander liiert sein, die sich dann trennen und die Partner wechseln. Im Romangeschehen sind allerdings nur Charlotte und Eduard verheiratet, zwischen Ottilie und dem Hauptmann besteht kein Verhältnis. Wie die Verhältnisse am Ende des Romans beschaffen sind, bleibt weitestgehend offen.[72] Allein die Diskussion der drei Protagonisten um den Begriff Wahlverwandtschaft charakterisiert dann ausgiebig dessen Ungenauigkeit. In der Forschung wird seine semantische Inkongruenz ebenfalls betont. Der Begriff erscheint in sich ambivalent, einer freiwilligen Wahl steht die naturgegebene und damit unveränderliche Verwandtschaft gegenüber.[73] Somit scheitern nicht nur die Figuren an dem Begriff, auch der Leser kann den Titel nicht eindeutig mit der Handlung in Einklang bringen. Das Geschehen kann also durch den Begriff – ganz in der Art eines Symbols – nicht eindeutig ausgedrückt werden.

Excerpt out of 48 pages

Details

Title
Goethe und das Problem der Sprache
College
University of Dusseldorf "Heinrich Heine"  (Neuere Deutsche Literaturwissenschaft)
Grade
1,17
Author
Year
2013
Pages
48
Catalog Number
V1181065
ISBN (eBook)
9783346601834
ISBN (eBook)
9783346601834
ISBN (eBook)
9783346601834
ISBN (Book)
9783346601841
Language
German
Keywords
Goethe, Sprachkritik, Sprachkrise, Sturm und Drang, Werther, Wahlverwandschaften, Johann Wolfang Goethe, Poesie, Drama, Wahlverwandtschaften
Quote paper
Theresa Gießau (Author), 2013, Goethe und das Problem der Sprache, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1181065

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