Dieser Essay behandelt die Darstellungen von Innen- und Außenwelt in der Lyrik und analysiert diese philosophisch. Einige Konstruktivisten - aber nicht nur sie - behaupten, zwischen Innenwelt und Außenwelt könne nicht unterschieden werden, zumal die Welt dem Ich und dem Nicht-Ich stets gemeinsam sei. Dagegen steht Walter Schulz' Theorie des "gebrochenen Weltbezugs", der unvermeidlich dadurch entstehe, dass Weltbezug und Welt-Distanz auseinandertreten. Ähnliche Gedanken finden sich zuvor schon u.a. in dichterischer Phantasie, so in Friedrich Rückerts Gedicht "Ich bin der Welt abhanden gekommen". Darin zeigt der Autor, wie ein "gestörtes" Verhältnis zur Welt in einen völlig neuen Weltbezug verwandelt werden kann.
Innenwelt und Außenwelt
Über diese Unterscheidung – und insbesondere über den Begriff ‚Außenwelt‘ – machen sich (radikale) Konstruktivisten, aber auch Kritiker des Konstruktivismus immer wieder lustig. Einer dieser Kritiker, der „neue Realist“Markus Gabriel, behauptet gar, der Begriff Außenwelt beruhe auf einem falschen wissenschaftlichen „Weltbild“ und dieses wiederum teilweise auf abstrusen Alltags-Vorstellungen und -Meinungen, wonach es scheint, „als ob die Welt irgendwie da draußen wäre, als ob wir in einer Art Zimmer oder Kino sitzen und uns die Wirklichkeit anschauen. Daher kommt dann der Begriff der >Außenwelt<. Aber wir sind natürlich mittendrin, nur dass wir oft keine Ahnung haben, wo wir sind, was das Ganze soll oder in welchem Film wir gelandet sind.“1 (Wobei sich Letzteres wohl auch auf den Verfasser, M. Gabriel, beziehen lässt, zumal dieser sogar die Existenz der Welt leugnet (!), somit natürlich auch Außen- und Innen-Welt...)
In Wirklichkeit sind aber Innenwelt und Außenwelt als solche vorhanden und voneinander unterscheidbar. Die Innenwelt ist je-meinig: mein Körper, meine Seele, mein Geist, mein subjektives Sein (Subjekt-Sein), das sich als solches auch auf Objektives beziehen kann, so z.B. auf die Außenwelt. Die Außenwelt ist trotzdem nicht Teil, sondern „nur“ Bezugsobjekt der Innenwelt. Die Außenwelt umfasst alles außer mir Befindliche.
Dennoch gibt es Gegenstände (Objekte) der Innenwelt, die zugleich Objekte der Außenwelt sind: Mentale Objekte2 befinden sich im Gehirn, also in der Innenwelt. Sie können sich aber auf Gegenstände der Außenwelt beziehen, z.B. als Gegenstände der Wahrnehmung. In Vorstellungen (Gedächtnis-Inhalten) und im Denken werden diese „Gegenstände der Außenwelt“ – in Form mentaler Objekte – gespeichert, d.h. total innerlich. Hier wird Außenwelt zur Innenwelt.
Meine Innenwelt ist zugleich Außenwelt für jede andere Person, jede Person, die ich nicht bin. Somit kann Innenwelt auch Außenwelt sein. Innenwelt und Außenwelt gehen – unter bestimmten Bedingungen – ineinander über, durchdringen sich. Sie sind nichtsdestoweniger tatsächlich vorhanden als unter-scheidbare Teile und Aspekte, und daher auch: als Teilaspekte der Welt (die M. Gabriel für „nicht-existent“ hält, s.o.).
Was die Durchdringung von Innen- und Außenwelt bedeutet, hat Novalis folgendermaßen zum Ausdruck gebracht:
Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkte der Durchdringung. Wir müssen suchen, eine innere Welt zu schaffen. Nach innen geht der geheimnisvolle Weg.3
Und doch gibt es auch „Wege zum Sinn“, die uns von innen nach außen (und wieder zurück) führen.4 Im Übrigen sind die beiden ersten Sätze des Novalis-Zitats wohl dick zu unterstreichen, während die beiden letzten stark an Augustinus erinnern („Noli foras ire. In te ipso habitat veritas.“: ‚Geh‘ nicht hinaus. In Dir selbst wohnt die Wahrheit.‘). Wobei Augustinus ja nicht der Erste und nicht der Letzte war, der über ‚die Wahrheit‘ Fragwürdiges verlauten ließ.5
Wie die Welt „abhanden“ kam
Was Novalis empfiehlt, haben er und seine romantischen Freundinnen und Freunde im Geiste in dichterische Taten umgesetzt, neu in die Welt gebracht. Sie haben neue Innenwelten erschaffen. So auch
Friedrich Rückert6 (1788-1866)
Ich bin der Welt abhanden gekommen
1. Ich bin der Welt abhanden gekommen, Mit der ich sonst viele Zeit verdorben, Sie hat so lange nichts von mir vernommen, Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben.
2. Es ist mir auch gar nichts daran gelegen, Ob sie mich für gestorben hält, Ich kann auch gar nichts sagen dagegen, Denn wirklich bin ich gestorben der Welt.
3. Ich bin gestorben dem Weltgetümmel, Und ruh‘ in einem stillen Gebiet! Ich leb‘ allein in meinem Himmel, In meinem Lieben, in meinem Lied.
Gustav Mahler hat dieses Gedicht (dieses „Lied“) im Jahre 1902 für Solostimme mit Orchesterbegleitung vertont und dabei dessen emotionale Qualitäten erst recht zur Geltung gebracht.7 So dass es – nicht nur musikalisch – in einer personalen, wahrhaft lyrischen Präsenz erscheint, die man dem eher „schlichten“ Text Rückerts zunächst vielleicht gar nicht zutraut, jedenfalls nicht bei oberflächlicher Lektüre.
Was teilt uns Rückert denn da in durchweg anscheinend umgangssprachlicher Form eigentlich mit? Was will er uns sagen? In durchweg umgangssprachlich und dennoch lyrischer Form? Allerdings! Denn es handelt sich ja um „gebundene Sprache“: 12 Verse in drei Strophen, stets in relativ einfachen, eingängigen Kreuz-Reimen, von denen wohl nur der kühn mit dem „Weltgetümmel“ gereimte „Himmel“ als unecht (bzw. holprig) zu bezeichnen ist.
Was könnte der Kreuzreim hier symbolisieren? Das Kreuz steht bekanntlich nicht nur für das Leiden in und an der Welt, sondern auch – vom Haupte Christi ausgehend – für den Weg nach oben, zum Himmel, in das All, in die Verheißung unendlichen Heils, ewiger Glückseligkeit. So dass sich die Frage stellt, ob und wie sich diese Verheißung in Rückerts Gedicht vielleicht wiederfindet.
Konkret geht es beim Kreuzreim um die „paarweise gekreuzte Reimstellung, so daß der 1. Vers mit dem 3., der 2. mit dem 4. usw. reimt: Reimfolge ababcdcd; in Volkslied und volkstümlicher Lyrik beliebt.“8 Aha! Der Dichter ist „der Welt abhanden gekommen“, lebt scheinbar nur für sich, in seinem eigenen „Himmel“ – und bleibt dennoch unwiderruflich der Volks-Gemeinschaft verbunden, in deren Sprache er, ein deutscher Dichter, Patriot und Kosmopolit, sich ausdrückt. Wie ein „Volks-Gerüst“ trägt die Reimform sein Gedicht.
In „paarweise gekreuzter Reimstellung“. Um welche „Paare“ geht es denn? Das seit der Renaissance klassische „Ich und Welt“? Wohl kaum, denn die Welt ist dem Ich ja „abhanden“ gekommen, verloren gegangen – oder nur fremd, entfremdet geworden? Aufschluss versprechen die beiden letzten Verse, in denen das Ich mit seinem „Himmel“ ein Paar bildet und zugleich das „Lieben“ und das „Lied“ in paarähnlicher Symbiose erscheinen. Tatsächlich handelt es sich also nur um zwei „Paare“: ein getrenntes in den ersten beiden Strophen (Ich versus Welt) und ein vereintes in der letzten Strophe: das Ich und der persönliche Liebes-Himmel des Poeten. – So weit meine Vermutungen zu den möglichen Symbol-gehalten der Form dieses Gedichts.
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1 Gabriel 2013, S. 120 f.:,
2 Hierzu: Changeux 1984
3 In: Novalis 1798
4 Hierzu: Robra 2015
5 Näheres hierzu bei: ders. a..a.O. S. 57-62
6 „Ich denke nie, ohne zu dichten.“, lautete seine Devise. (Zit. in: Fritz Martini: Deutsche Literaturgeschichte, Stuttgart 1960, S. 342.) Rückert war immerhin Professor der Orientalistik.
7 Leicht zugänglich bei Youtube.
8 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1964, S. 354
- Arbeit zitieren
- Dr. Klaus Robra (Autor:in), 2022, Friedrich Rückerts "Ich bin der Welt abhanden gekommen". Darstellungen der Innen- und Außenwelt in der Lyrik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1180216
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