Diese Arbeit stellt sich die Fragen, auf was Fachkräfte achten, um Misshandlung oder Vernachlässigung von Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren zu erkennen. Welche Gründe sehen sie für die Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern? Diesen beiden Fragen möchte diese Bachelorthesis auf den Grund gehen und versuchen, Antworten zu finden. Vorab muss jedoch geklärt werden, was zu diesem Thema in der Literatur zu finden ist, um vergleichen zu können, ob Fachkräfte auf die bereits bekannten Merkmale achten.
Die Arbeit besteht aus einem ausführlichen Theorieteil, in dem die Thematik der Kindes-misshandlung und -vernachlässigung ausführlich erörtert wird. Daran anschließend folgt der empirische Teil der Arbeit, in dem eine eigens aufgestellte und durchgeführte Studie zu der oben aufgeführten Thematik dargestellt und diskutiert wird.
Immer häufiger rückt das Thema der Kindeswohlgefährdung in den Vordergrund. Die Fälle von misshandelten und vernachlässigten Kindern lösen sich schon fast gegenseitig ab in den Medien. Regelmäßig werden Fälle bekannt, bei denen Kinder über Jahre hinweg misshandelt oder vernachlässigt wurden. Erst im Oktober 2017 suchte die Polizei mittels Öffentlichkeitsfahndung nach einem kleinen vermutlich fünf Jahre alten Mädchen, welches über einen geraumen Zeitraum schwer sexuell misshandelt wurde. Auf den Verdacht kam die Polizei in diesem Fall durch das Internet. Kurz nach Bekanntwerden dieses Falles kamen in der Gesellschaft Fragen und Vorwürfe auf wie "Warum hat das niemand bemerkt?", "Warum lässt die Mutter so etwas zu?", "Wer tut so etwas?", "Irgendjemand muss das doch erkennen, wenigstens die Erzieherinnen im Kindergarten oder die Nachbarn!". Viele Menschen sind empört und der Meinung, dass sich etwas ändern muss.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Kindeswohl und dessen Schutz
2.1 Definition Kindeswohl
2.2 Kinderrechte und Kindeswille
2.3 Aktiver Kinderschutz in Deutschland
3. Kindeswohlgefährdung
3.1 Körperliche Misshandlung von Kindern
3.2 Psychisch – emotionale Misshandlung von Kindern
3.3 Der sexuelle Missbrauch von Kindern
3.4 Vernachlässigung von Kindern
3.5 Aktuelle deutschlandweite Statistiken zur Häufigkeit von Kindesmisshandlung
4. Folgen und Auswirkungen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung auf die frühkindliche Entwicklung
4.1 Kurz- und Langzeitfolgen von Kindeswohlgefährdung
5. Täterprofile und Täterdynamik
6. Risikofaktoren und Schutzfaktoren von häuslicher Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern
6.1 Risiko- und Schutzfaktoren des Kindes
6.2 Risiko- und Schutzfaktoren der Eltern
6.3 Risiko- und Schutzfaktoren durch das familiäre Umfeld
6.4 Risiko- und Schutzfaktoren der gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten
7. Erkennungsmerkmale von Kindesmisshandlung und –vernachlässigung
7.1 Typische Erkennungsmerkmale der Misshandlungsformen und der Vernachlässigung
7.2 Studie über das Erkennen von Kindesmisshandlung
8. Diagnostische Möglichkeiten zur Erkennung von häuslicher Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern für Institutionen zur Betreuung von Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren
8.1 „Einschätzskala Kindeswohlgefährdung in Kindertageseinrichtungen“ (KVJS/FVM, 2012, S.1)
8.2 „Wahrnehmungsbogen für den Kinderschutz“ (Thurn & Künster, 2013, S.1)
9. Möglichkeiten für Fachkräfte zur Prävention von häuslicher Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern
9.1 Präventionsprogramme für Eltern
9.2 Präventionsprogramme für Kinder
10. Empirie
10.1 Forschungsfrage der Studie
11. Methode
11.1 Stichprobenauswahl
11.2 Form der Datenerhebung
11.3 Auswertungsinstrument
12. Einhaltung der Gütekriterien
13. Auswertungssystem
14. Darstellung der Forschungsergebnisse
15. Diskussion der Ergebnisse
16. Probleme und Grenzen der Studie
17. Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
BGB Bürgerliches Gesetzbuch
BKA Bundeskriminalamt
FVM Forschungsgruppe für Verhaltensbiologie des Menschen
KiWo-Skala Kindeswohl Einschätz-Skala
KVJS Kommunalverband für Jugend und Soziales
Baden-Württemberg
PKS Polizeiliche Kriminalstatistik
SGB VIII Achtes Sozialgesetzbuch
UN-Kinderrechtskonvention Übereinkommen über die Rechte des Kindes
1. Einleitung
Immer häufiger rückt das Thema der Kindeswohlgefährdung in den Vordergrund. Die Fälle von misshandelten und vernachlässigten Kindern lösen sich schon fast gegenseitig ab in den Medien. Regelmäßig werden Fälle bekannt, bei denen Kinder über Jahre hinweg misshandelt oder vernachlässigt wurden. Erst im Oktober 2017 suchte die Polizei mittels Öffentlichkeitsfahndung nach einem kleinen vermutlich fünf Jahre alten Mädchen, welches über einen geraumen Zeitraum schwer sexuell misshandelt wurde. Auf den Verdacht kam die Polizei in diesem Fall durch das Internet. Kurz nach Bekanntwerden dieses Falles kamen in der Gesellschaft Fragen und Vorwürfe auf wie „Warum hat das niemand bemerkt?“, „Warum lässt die Mutter so etwas zu?“, „Wer tut so etwas?“, „Irgendjemand muss das doch erkennen, wenigstens die Erzieherinnen im Kindergarten oder die Nachbarn!“. Viele Menschen sind empört und der Meinung, dass sich etwas ändern muss.
Aus diesen Fragen und Vorwürfen, entstand das Thema dieser Arbeit. Es stellen sich die Fragen, auf was Fachkräfte achten, um Misshandlung oder Vernachlässigung zu erkennen. Welche Gründe sehen sie für die Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern? Diesen beiden Fragen möchte diese Bachelorthesis auf den Grund gehen und versuchen, Antworten zu finden. Vorab muss jedoch geklärt werden, was zu diesem Thema in der Literatur zu finden ist, um vergleichen zu können, ob Fachkräfte auf die bereits bekannten Merkmale achten.
Zu Beginn der Arbeit wird das Kindeswohl definiert, um den Beginn festzulegen, ab dem Handlungsbedarf besteht. Im Anschluss daran wird geklärt, welche Rechte Kinder haben und was für den Schutz von Kindern getan wird. Es folgt der Übergang zum eigentlichen Thema dieser Arbeit. Hierfür werden die einzelnen Formen der Misshandlung, die körperliche, die psychisch-emotionale und die sexuelle Misshandlung, sowie die Vernachlässigung erörtert und anhand der Literatur dargestellt. Im darauf folgenden Kapitel geht es um die Folgen, die misshandelte und vernachlässigte Kinder erleiden. Folgend darauf wird auf die Frage nach den Tätern. Hierfür werden Täterprofile aufgezeigt und die Täterdynamik erarbeitet. Daran schließen aktuelle Statistiken des Bundeskriminalamtes an, bei denen die Opferzahlen von Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren aufgelistet werden. Der nächste Punkt befasst sich mit den Risikofaktoren und den Schutzfaktoren auf verschiedenen Ebenen. Hierfür werden die Ebenen, des Kindes, der Eltern, des familiären Umfeldes und des kulturellen Umfeldes ausgewählt. Im nachfolgenden Punkt werden diagnostische Instrumente aufgezeigt, die den Einrichtungen zur Betreuung von Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren zur Verfügung stehen. Sie sollen es den Fachkräften erleichtern, festzustellen, ob ein Verdacht besteht.
Daran anschließend folgen Präventionsansätze, die von Fachkräften angewendet werden können, um die häusliche Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern zu verhindern. Dabei werden Modelle dargestellt, die mit Kindern oder mit Eltern durchgeführt werden können.
An diesen theoretischen Hintergrund schließt sich ein empirischer Teil an, der der Beantwortung der Forschungsfragen dient. Hierfür wird eine Forschung herangezogen, bei der Fachkräfte zu den Erkennungsmerkmalen, auf die sie achten befragt werden. Zudem wird erforscht, welche Faktoren, Fachkräfte als Risikofaktoren einschätzen. Dies hilft nachzuvollziehen, auf was Fachkräfte achten. Den Abschluss dieser Bachelorthesis bildet ein Fazit, in dem die wichtigsten Ergebnisse der Forschung noch einmal zusammengefasst und Auffälligkeiten herausgearbeitet werden. Zudem wird ein Ausblick gegeben, bei dem logische Schlussfolgerungen gezogen werden. In der gesamten Arbeit wird für die Beschreibungen von Personen, unabhängig des Geschlechts, die männliche Bezeichnung „Interviewpartner“ sowie „er“ verwendet, wobei weibliche und männliche Probanden und Interviewte gleichermaßen gemeint sind.
2. Das Kindeswohl und dessen Schutz
Das Wohl des Kindes findet immer mehr Bedeutung und Wichtigkeit in unserer Gesellschaft. Immer öfter muss entschieden werden, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt und wie diese durch Schutzmaßnahmen verhindert werden kann. Und doch gibt es einen Konflikt, da das Kindeswohl in keinem gesetzlichen Text klar definiert ist. Auch im Sozialwesen ist man sich über eine klare Definition nicht einig. Auf den folgenden Seiten wird diese Problematik und deren Ursprung näher untersucht.
2.1 Definition Kindeswohl
Um den Begriff Kindeswohl zu definieren, bedarf es einer Analyse der Grundbedürfnisse und Grundrechte des Kindes. Um der Frage, was ein Kind für eine gesunde Entwicklung benötigt, nachzugehen, werden im Folgenden die sieben Grundbedürfnisse nach Brazelton und Greenspan (2002) aufgegriffen. Die Reihenfolge der aufgeführten Bedürfnisse sagt in diesem Fall nichts über deren Wichtigkeit aus.
An erster Stelle wird das „Bedürfnis nach beständigen, liebevollen Beziehungen“ (Maywald, 2013, S.34) genannt. Mit diesem Bedürfnis geht die Wichtigkeit einer verlässlichen Bezugsperson einher. Diese Bezugsperson sollte das Kind in seiner Individualität annehmen und ihm dauerhaft Zuwendung und Geborgenheit schenken. Das Kind sollte sich auf seine Bezugspersonen verlassen können und bei diesen immer und in jeder Situation Schutz und Halt finden. Im Anschluss wird das „Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und Sicherheit“ (Maywald, 2013, S.35) aufgeführt. Das Kind benötigt mit Beginn seines Lebens eine Erziehung und Pflege, die den Körper und das Wohlbefinden des Kindes achten und ihn schützen, sowie gesunderhalten. Es darf weder zu Vernachlässigung der Pflege, noch zu körperlicher Misshandlung kommen. Die nächsten zwei genannten Bedürfnisse lassen sich zusammenfassen zu den „Bedrüfnis[sen] nach individuellen [und] entwicklungsgerechten Erfahrungen“ (Maywald, 2013, S.35). Die gesunde geistige und emotionale Entwicklung eines Kindes bedarf dem Kind und dessen Entwicklungsphase angepassten Erfahrungen, die durch die Bezugspersonen ermöglicht werden. Jedes Kind benötigt andere Erfahrungen und diese sollten immer den individuellen Interessen, Talenten und Begabungen eines einzelnen Kindes angepasst sein. Darauf folgt das „Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen“ (Maywald, 2013, S.36). Dieses Bedürfnis zeigt auf, dass Kinder einen sicheren Rahmen benötigen, in dem sie ihre eigenen Erfahrungen und Erkundungen vornehmen können. Dieser Rahmen wird von den Bezugspersonen des Kindes wohlwollend gesteckt und soll dem Kind ebenfalls eine Herausforderung stellen, an dem es seinen Willen stärken kann und lernt, Grenzen anzunehmen und Herausforderungen zu bewältigen. An sechster Stelle wird das „Bedürfnis nach stabilen und unterstützenden Strukturen“ (Maywald, 2013, S.36) genannt.
Um eine gesunde soziale Entwicklung zu gewährleisten, benötigt das Kind soziale Kontakte, wie Freunde, Familie und Bekannte. Deren Aufgabe ist es, das Kind zu unterstützen und ihm die Möglichkeit zur Entwicklung von Selbstwertgefühl und Selbstbehauptung zu geben. Als Letztes wird das „Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft für die Menschheit“ (Maywald, 2013, S.37) aufgeführt. Die Bezugspersonen eines Kindes haben die Verantwortung und zugleich die Pflicht, dem Kind eine Welt zur Verfügung zu stellen, die es gestalten kann. Jeder ist dafür verantwortlich, dass der nachkommenden Generation eine Welt zur Verfügung steht, die das Leben lebenswert macht. (vgl. Maywald, 2013, S.34 ff.)
Zusammengefasst lässt sich nun sagen, dass das Kindeswohl nur dann gewährleistet werden kann, wenn die Bezugsperson die Bedürfnisse und Rechte des Kindes achtet und sie in die Erziehung und Pflege des Kindes einbezieht. Im Rechtswesen hingegen ist das Kindeswohl ein „unbestimmter Rechtsbegriff“ (Hundt, 2014, S.11). Es lässt sich in keinem Gesetzestext eine klare Definition zu diesem Begriff finden und somit beinhaltet er eine gewisse Flexibilität. Der Begriff bedarf dieser Flexibilität, um in individuellen Situationen entscheiden und richtig handeln zu können. Nur hierdurch kann das Wächteramt flexibel unter den aktuellen Gegebenheiten eine klare Entscheidung treffen, ob das Wohl des Kindes gefährdet ist und ob weitere Maßnahmen erforderlich sind. Alle „Behörden, Institutionen und Gerichte“ (Hundt, 2014, S.11), die im Bürgerlichen Gesetzbuch (Achtes Buch) des Sozialgesetzbuches aufgeführt werden, haben die Entscheidungsgewalt, ob eine Kindewohlgefährdung in dem entsprechenden Fall vorliegt. Sobald ein Begriff mittels klarer Definition in den Gesetzestexten festgeschrieben ist, lässt dieser sich nur schwer oder gar nicht auf die einzelnen Fälle beziehen und anwenden. Als unbestimmter Rechtsbegriff unterliegt er den Vorstellungen von Werten, der jeweiligen Entscheidungskraft. (vgl. Hundt, 2014, S.11) Das Kindeswohl ist demnach in jedem Einzelfall neu zu interpretieren und zu konkretisieren (vgl. Maywald, 2013, S.32).
2.2 Kinderrechte und Kindeswille
„Das Kindeswohl ist auch der zentrale Gedanke der UN-Kinderrechtskonvention“ (Hundt, 2014, S.14.). Diese Konvention ist erstmals 1992 eingeschränkt in Deutschland in Kraft getreten und im Jahr 2010 wurden die zuvor hervorgelassenen Rechte nachträglich anerkannt. Dadurch, dass es der zentrale Gedanke ist, durchzieht es jedes Recht der UN-Kinderrechtskonvention. In dieser sind alle Rechte niedergeschrieben, die einem Kind in Deutschland zustehen und geachtet werden müssen. Eines dieser Rechte beschäftigt sich mit dem Kindeswillen. Zu finden ist dieses in der UN-Kinderrechtskonvention unter Artikel 12 „Berücksichtigung des Kindeswillens“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2010, S.15).
Demnach hat das Kind unabhängig seines Alters das Recht, seine Meinung zu ihn betreffenden Entscheidungen frei zu äußern. Hierbei gibt es keine Altersgrenze, da selbst bei Kleinkindern, die non-verbal geäußerte Meinung Beachtung findet. Jedoch ist hier anzufügen, dass der Kindswille dem Kindeswohl untergeordnet ist und er durch dies bedingt wird. (vgl. Maywald, 2013 S.37 f.)
Sollte die frei geäußerte Meinung eines Kindes nicht mit dem Kindeswohl vereinbar sein, so wird sie nur teilweise einbezogen. Diese Situation tritt häufig dann auf, wenn Kinder ihre Eltern trotz Gewalterfahrungen durch diese schützen möchten und somit den Wunsch äußern weiterhin bei den Eltern zu verbleiben. Das Kind gibt sich in diesem Fall die Schuld an der Gewalt selbst und spricht die Eltern damit frei. In Artikel 3 Absatz 1 der UN-Kinderrechtskonvention ist dies mit dem Satz „[…], ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2010, S.12) schriftlich festgelegt. (vgl. Hundt, 2014, S.15 ff.)
2.3 Aktiver Kinderschutz in Deutschland
Zum Kinderschutz in Deutschland gehört in erster Linie das Bundeskinderschutzgesetz, das am 1.Januar 2012 in Deutschland in Kraft getreten ist. In diesem Gesetz sind der Schutz von Kindern und Jugendlichen, sowie deren gesunde Entwicklung geregelt. Es dient außerdem dazu, betriebliche Geheimnisträger wie Ärzte bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung von der Schweigepflicht zu befreien. Ebenso veranlasst es, dass ein vorgelegtes Führungszeugnis für Personen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, Pflicht ist. Auch die Verbesserung der Kinderrechte und die Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen beinhaltet es. (vgl. Maywald, 2013, S. 26 ff.)
Ebenso findet der Kinderschutz im Kinder- und Jugendhilfegesetz aus dem Sozialgesetzbuch VIII Beachtung. Dieses Buch beinhaltet das Vorgehen von jeglichen Einrichtungen, die mit Kindern arbeiten, bei Kindeswohlgefährdung. Im Falle einer vorliegenden Kindeswohlgefährdung sind sich das Sozialgesetzbuch VIII, sowie das Grundgesetzbuch und Artikel 6 Absatz 3 einig, dass das Kind nur bei dringendem Verdacht auf Gefährdung des Schutzes des Kindes ohne Einwilligung der Eltern aus der Familie zu nehmen ist. Sollte ein Kind aus einer Familie genommen werden, so kommt es immer in die Obhut des zuständigen Jugendamtes. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2013, S.81 f.; Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, 2002, S.333 f.; Bundeszentrale für politische Bildung, 2011, S.14) Dem Jugendamt, kommt die Besetzung des Wächteramtes zu, welches über die Tätigkeiten der Eltern und deren Ausübung der Elternrechte wacht. Neben dem Wächteramt, haben auch andere Einrichtungen, die mit Kindern arbeiten, die Aufgabe und Pflicht, darauf zu achten, dass das Wohl keines Kindes gefährdet ist oder wird. (vgl. Hundt, 2014, S.42 ff.)
Der „Kinderschutz hat Vorrang vor [dem] Datenschutz“ (Maywald, 2013, S.28). Dies bedeutet, dass im Falle einer vorliegenden Kindeswohlgefährdung, Daten zum Kind ohne das Einverständnis der Erziehungsberechtigten erhoben und bei Ärzten, Erziehern und Erzieherinnen erfragt werden dürfen.
3. Kindeswohlgefährdung
Ebenso wie der Begriff des Kindeswohls lässt sich auch der Begriff Kindeswohlgefährdung nicht eindeutig definieren. Er besteht aus verschiedenen Gegebenheiten, die zusammenwirken und nicht ohne Verbindung mit den vorliegenden Risikofaktoren gesehen werden können. Eine Kindeswohlgefährdung liegt nur in seltenen Fällen klar und eindeutig vor. Häufiger kommt es vor, dass einzelne Gegebenheiten darauf hindeuten, es jedoch nicht klar erkennbar ist. Demnach stellt die Beurteilung über eine vorliegende Kindeswohlgefährdung immer einen Prozess des Verstehens und Klärens dar. Es muss zum einen unter Betrachtung der herrschenden Risikofaktoren verstanden werden, warum eine Gegebenheit, die auf eine Kindeswohlgefährdung hindeutet, vorliegt. Zum anderen muss geklärt werden, welche Faktoren vorliegen, die in ihrer Gesamtheit auf eine Kindeswohlgefährdung hindeuten könnten. (vgl. Hundt, 2014, S.20)
Der Begriff der Kindesmisshandlung lässt sich als eine „nicht zufällige, gewaltsame psychische und/oder physische Beeinträchtigung oder Vernachlässigung des Kindes durch Eltern/Erziehungsberechtigte oder Dritte, die das Kind schädigt, verletzt, in seiner Entwicklung hemmt oder zu Tode bringt“ definieren (Blum-Maurice, Knoller, Nitsch & Kröhnert, 2000, S. 2). Es gibt verschiedene Hinweise, die Anschein auf eine Kindesmisshandlung geben können. Diese Hinweise können in ihrer Gesamtheit jedoch auf verschiedene Arten der Kindesmisshandlung und Vernachlässigung hindeuten, die im Nachfolgenden aufgeführt werden. (vgl. Hundt, 2014, S.20). Jedoch lassen sich die verschiedenen Arten der Kindesmisshandlung nicht strikt trennen, da immer mehrere Formen in Verbindung miteinander auftreten (vgl. Engfer, 2005, S.4).
3.1 Körperliche Misshandlung von Kindern
„Die körperliche Kindesmisshandlung umfasst alle Arten bewusster oder unbewusster Handlungen, die zu nicht zufälligen körperlichen Schmerzen, Verletzungen oder gar zum Tode führen.“ (Kinderschutz-Zentrum Berlin e.V., 2009, S.38). Wie die Definition schon besagt, zeigt sich die körperliche Misshandlung meist durch sichtbare und wahrnehmbare Hinweise. Somit ist diese Form der Misshandlung die am schnellsten erkennbare und wird dadurch auch am häufigsten aufgedeckt (vgl. Hundt, 2014, S. 24).
Körperliche Misshandlung wird am häufigsten durch Schläge mit der Hand, Niederprügeln, grobes Festhalten, Verbrühen, Würgen, Hungern und Dursten lassen, Unterkühlen sowie durch aggressive und gewalttätige Angriffe mit Stöcken, Küchengeräten, Gürteln und weiterem ausgeübt (vgl. Kinderschutz- Zentrum Berlin e.V., 2009, S.38). Körperliche Misshandlungen können einmalig in einer Ausnahmesituation, jedoch auch über einen fortlaufenden Zeitraum regelmäßig auftreten. (vgl. Hundt, 2014, S.24 f.) Eine weitere Art der körperlichen Misshandlung, ist das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Diese erstreckt sich über einen längeren Zeitraum. Bei dieser Art der Misshandlung werden bei dem Kind, meist durch eine Bezugsperson, Krankheiten sowie Verletzungen vorgetäuscht, herbeigeführt oder vom Heilen abgehalten. Das Kind wird auffallend häufig bei Medizinern vorgestellt, jedoch tritt nach dessen Aufsuchen keine Besserung auf. Eine Besserung der Krankheitssymptome und das Abheilen von Verletzungen treten erst bei Trennung des Kindes von der betreffenden Bezugsperson auf. Dieses Syndrom gewann in Deutschland in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung. (vgl. Fürniss, 2005, S.28)
3.2 Psychisch – emotionale Misshandlung von Kindern
„Psychische Misshandlung umfasst chronische qualitativ und quantitativ ungeeignete und unzureichende, altersinadäquate Handlungen und Beziehungsformen von Sorgeberechtigten zu Kindern. Dem Kind wird zu verstehen gegeben, es sei wertlos, mit Fehlern behaftet, ungeliebt, ungewollt, gefährdet oder nur dazu nütze, die Bedürfnisse anderer Menschen zu erfüllen.“ (Kinderschutz-Zentrum Berlin e.V., 2009, S.45).
Die psychische Misshandlung, ist wie in der Definition beschrieben eine Misshandlung, bei der dem Kind seelischer Schaden durch Bezugspersonen zugefügt wird. Es gibt verschiedene Formen dieser Misshandlung, unter denen sich die Ablehnung gegenüber dem Kind, das Missachten des Kindes, das Verängstigen des Kindes, das Unterordnen des Kindes, das Ausgrenzen des Kindes, das Drangsalieren des Kindes sowie das Abwerten des Kindes befinden. Die psychisch-emotionale Misshandlung tritt am häufigsten auf, da sie in Verbindung mit allen anderen Misshandlungs- und Vernachlässigungsformen auftritt. (vgl. Hundt, 2014, S.26f.)
Eine weitere Form der psychischen Misshandlung, die sich scheinbar nur indirekt auf das Kind bezieht, ist die Partnerschaftsgewalt der Eltern. Bei dieser Form leidet das Kind unter einer streit- und konfliktreichen Trennung der Eltern oder unter dem Sorgerechtsstreit um das Kind. Oft wird das Kind an dieser Stelle außen vorgelassen und gerät nicht selten in den Hintergrund. (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin e.V., 2009, S.46f.)
3.3 Der sexuelle Missbrauch von Kindern
Der sexuelle Missbrauch von Kindern ist eine besonders schwere Form der Misshandlung. Sexueller Missbrauch stellt jede sexuelle Handlungen und jeden sexuellen Kontakt zu einem Kind durch eine Bezugsperson oder einen Dritten dar. Ebenfalls fallen darunter auch sexuelle Handlungen ohne Körperkontakt. Zum einen gibt es sexuelle Misshandlung, die unter Körperkontakt stattfindet, wie die penetrativen Handlungen, bei denen ein Einführen des Penis, der Finger oder von Gegenständen in die anale oder vaginale Gegend stattfindet. Hierrunter fallen auch jegliche sexuelle Berührungen in intimen Gegenden des Kindes, die der Befriedigung des Täters dienen. Zum anderen gibt es sexuelle Misshandlung ohne Körperkontakt, bei der das Kind gezwungen wird, pornografische Darstellungen zu betrachten, eigene Pornografien darzustellen und wörtliche sexuelle Belästigungen gegenüber dem Kind. (vgl. Jud, 2015, S. 42ff.) Sexueller Missbrauch tritt häufig in Verbindung mit anderen Formen der Kindesmisshandlung und Vernachlässigung auf (vgl. Hundt, 2014, S.28).
3.4 Vernachlässigung von Kindern
„Kindesvernachlässigung ist eine situative oder andauernde Unterlassung fürsorglichen Handelns.“ (Kinderschutz-Zentrum Berlin e.V., 2009, S.43). Wie die Definition schon besagt, stellt die Vernachlässigung von Kindern ein nicht-Befriedigen der Grundbedürfnisse des Kindes seitens der Bezugspersonen dar. Entweder ist die Bezugsperson aufgrund des Kenntnisstandes nicht in der Lage auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen und sie zu befriedigen oder sie ist körperlich sowie geistig nicht in der Lage dazu. Oft sind es auch Bezugspersonen, die selbst nie gelernt haben, auf Bedürfnisse anderer einzugehen, sowie keine eigene Bedürfnisbefriedigung erfahren haben. Es gibt verschiedene Formen der Vernachlässigung. Zum einen ist es die Nichtachtung der körperlichen Bedürfnisse des Kindes, eine mangelnde medizinische Versorgung und eine Aufsichtspflichtverletzung. Zum anderen gibt es noch die emotionale und kognitive Vernachlässigung, die sich durch unzureichende Liebe und Nähe gegenüber dem Kind und einer vernachlässigenden kognitiven Förderung darstellt. (Hundt, 2014, S. 30f.) Die Vernachlässigung wird in unserer Gesellschaft als harmlose Form der Misshandlung betrachtet, jedoch kann diese ungeachtet bis zum Tode des Kindes führen (vgl. Jud, 2015, S. 46ff.)
3.5 Aktuelle deutschlandweite Statistiken zur Häufigkeit von Kindesmisshandlung
Für die folgende Darstellung einiger Zahlen bezüglich der angezeigten Missbrauchs und – Vernachlässigungsfälle aus dem Jahr 2016 in Deutschland wird die polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes herangezogen. Alle Daten beziehen sich auf zur Anzeige gebrachte Fälle und geben keine Auskunft über die Dunkelziffer der Fälle.
Im Jahr 2016 wurden allein in Deutschland 1.677 Kinder unter 6 Jahren sexuell misshandelt oder missbraucht. Darunter befinden sich 70 Fälle des versuchten Missbrauchs und 1.607 Fälle des vollzogenen Missbrauchs. Zu den Statistiken des sexuellen Missbrauchs zählen Formen wie exhibitionistische Handlungen, versuchter/vollzogener Beischlaf, Förderung sexueller Handlungen, Zuhälterei und weiteres. Die Zahl der gemeldeten Fälle von sexuell missbrauchten Kindern ist im Vergleich zum Vorjahr 2015 um 90 Fälle gesunken. Geht man nun weiter in dieser Statistik, so folgt die Zahl von körperlich misshandelten Kindern in Deutschland aus dem Jahr 2016. Dies betrifft 6.769 Kinder. Dabei handelt es sich um 380 Fälle der versuchten und um 6.389 Fälle der vollzogenen Körperverletzung. Unter den Fällen befinden sich Formen wie die körperliche Misshandlung mit Todesfolge, gefährliche und schwere Körperverletzung, fahrlässige Körperverletzung, Kinderhandel und Aussetzen des Kindes. Im Vergleich zum Vorjahr ist diese Zahl der gemeldeten Fälle um 399 gestiegen. Insgesamt gab es im Jahr 2016 10.181 Straftaten, denen Kinder unter 6 Jahren zum Opfer gefallen sind. Diese Anzahl der gesamten Straftaten ist im Vergleich zum Vorjahr 2015 um 854 Fälle gestiegen. (vgl. Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2015; Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2016)
4. Folgen und Auswirkungen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung auf die frühkindliche Entwicklung
Störungen und Einschränkungen in der Entwicklung durch eine Kindesmisshandlung oder durch die Vernachlässigung des Kindes lassen sich nicht vermeiden und sind somit immer eine Folge von Kindeswohlgefährdung. Es gibt verschiedene Folgen, die oft auch gehäuft auftreten und somit nicht immer eindeutig auf eine Art der Kindesmisshandlung hindeuten. Da in vielen Fällen mehrere Typen der Misshandlung auftreten, werden auch die Symptome immer gemeinsam auftreten. Meist ist aufgrund der Schwere der Auswirkungen damit zu rechnen, dass für den Täter die Folgen für das Opfer vorhersehbar waren. Eine Misshandlung oder Vernachlässigung in der frühen Kindheit ist mit sofortigen Folgen wie auch mit Langzeitfolgen verbunden. (vgl. Herrmann, Dettmeyer, Banaschak & Thyen, 2016, S. 47; Moggi, 2005, S. 94 ff.) In welcher Häufung die Symptome auftreten und stark sie ausgeprägt sind, hängt immer vom Ablauf der Tat selber ab (vgl. Hundt, 2014, S. 32).
Bei den Kurzzeit- wie auch den Langzeitfolgen gilt zu beachten, dass diese nicht zwingend auf eine Kindesmisshandlung hindeuten müssen, da sie auch auf andere traumatisierende Ereignisse wie beispielsweise den Tod eines Familienmitgliedes zurückgeführt werden können (vgl. Goldbeck, 2015, S.147 ff.). Im Nachfolgenden werden einige sofortige Auswirkungen auf die Gesundheit und die kindliche Entwicklung, wie auch die Langzeitfolgen für den Erwachsenen aufgelistet und kategorisiert.
4.1 Kurz- und Langzeitfolgen von Kindeswohlgefährdung
Es gibt Kurzzeitfolgen, die mit körperlichen Verletzungen einhergehen. Bei sexuellem Missbrauch mit Körperkontakt entstehen häufig Verletzungen im Intimbereich des Kindes sowie an der Innenseite der Oberschenkel. Auch Geschlechtskrankheiten wie Pilzinfektionen können hierdurch übertragen werden. (vgl. Goldbeck, 2015, S.147)
Unter Beachtung aller Formen der Kindesmisshandlung und –vernachlässigung, kann es zu geistigen, emotionalen, physischen, psychosomatischen und sozialen Störungen kommen. Diese Störungen lassen sich keinem speziellen Typ der Misshandlung zuordnen. Die geistigen und emotionalen Störungen beinhalten beispielsweise Sprach- und Lernstörungen, Depressionen, Suizidgedanken, fehlendes Selbstwertgefühl, Feindseligkeit, sowie Schuldgefühle und Scham. Zu den physischen Störungen zählen körperliche Verletzungen wie Verbrennungen, Bisswunden, Hämatome und Knochenbrüche. Die psychosomatischen Störungen betreffen chronische Schmerzen wie Bauchschmerzen oder Essstörungen, die ohne klaren medizinischen Befund bleiben. Zu diesen Störungen zählen auch das wiederholte Einnässen und Einkoten, welches nicht auf organischen Ursachen begründet. (vgl. MacMillan & Munn, 2001, S.325 ff.) Unter soziale Störungen fallen starkes körperliche Nähe suchen zu fremden Personen, aggressives Verhalten ohne ersichtlichen Auslöser, Verschließen und hyperaktives Verhalten. (vgl. MacMillan & Munn, 2001, S.325 ff.)
Sollten Kurzzeitsymptome länger als vier Wochen anhalten, so ist davon auszugehen, dass diese Kinder eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln, bei der sie das schlimme Erlebnis, meist sexueller Missbrauch, nicht richtig verarbeiten konnten und es dadurch, tagsüber oder in nächtlichen Träumen wiedererleben. Das Geschehnis wirkt frisch und wird immer wieder durchlebt. (vgl. Goldbeck, 2015, S.149 f.)
Hier kommen weitere Langzeitfolgen hinzu, bei denen es zu lebenslangen Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, suizidalem Verhalten, Essstörungen, sozialen Störungen und Suchtverhalten kommen kann (vgl. Moggi, 2005, S. 99). Oft sind gerade diese Langzeitfolgen, die meist unbehandelt bleiben, der Auslöser dafür, dass es zu einer Wiederholung der Tat des Opfers als Täter kommt (vgl. Goldbeck, 2015, S. 150). Somit tritt ein Teufelskreislauf auf, der nur schwer durchbrochen werden kann und zu vielen weiteren Misshandlungstaten führt. Eine weitere Folge, die im schlimmsten Falle eintritt, ist der Tod des Opfers. Hierbei sind die Verletzungen durch die Misshandlung in einem solch hohen Ausmaß, dass das Kind diesen erliegt.
Meist ausgelöst wird die Todesfolge durch Brüche des Schädelknochens, Einblutungen in den Körper durch verletze innere Gefäße und Organe, sowie durch das Schütteltrauma bei Säuglingen, bei dem es zu Einblutungen im Kopf und zu Verletzungen oder Zerstörung von Nerven, die für die Atmung zuständig sind kommen kann. (vgl. Herrmann et al., 2016, S. 41; Trube-Becker, 1987, S.28 f.)
Unterstützend zu den oben genannten Kurz- und Langzeitfolgen wird im Folgenden eine Studie aufgeführt, die sich mit den aus Kindesmisshandlung und –vernachlässigung resultierenden Folgen für Erwachsenen beschäftigt hat. Die ACE – Studie (ACE = ‚Adverse Childhood Experiences‘ zu Deutsch ‚Negative Kindheitserfahrungen‘) wurde in Zusammenarbeit des ‚Centers for Disease Control and Prevention‘ (zu Deutsch ‚Staatliche Gesundheitsbehörde‘) und des ‚Kaiser Permanente’s Health Appraisal Center in San Diego‘ (zu Deutsch ‚Krankenversicherung und Gesundheitsorganisation‘) mit circa 17.500 Erwachsenen aus fünf Staaten in den USA durchgeführt. Bei der Studie wurden den Probanden 10 Fragen gestellt, die sich auf die zehn häufigsten Kindheitstraumata wie den körperlichen, den sexuellen und den emotionalen Missbrauch, sowie die körperliche und die emotionale Vernachlässigung und häusliche Gewalt gegen die Mutter bezogen. Zudem zählen dazu noch Suchtmittel-Missbrauch im Haushalt des Kindes, psychische Erkrankungen im Haushalt, die Trennung beziehungsweise die Scheidung der Eltern und die Inhaftierung der Eltern. Die Fragen waren alle so gestellt, dass der Proband mit Ja oder Nein antworten musste. Je nach Antworten des Probanden wurde im Anschluss ein ACE-Score (zu Deutsch „Wert der negativen Kindheitserfahrungen“) ermittelt, anhand dem festgestellt werden konnte, wie viele negative Kindheitserfahrungen ein Proband gemacht hat. Zudem wurden die Probanden medizinisch untersucht, um zu sehen, wie ihr momentaner Gesundheitszustand ist. Aus den Ergebnissen ließ sich herausfinden, dass 67% der Befragten mindestens ein Kindheitstraumata aufwiesen, wogegen 17% sogar vier oder mehr Traumata durchlebt hatten. Bei den Befragten, die ein oder mehrere Kindheitstraumata erlebt haben, ließen sich Krankheiten und Umstände, wie Depressionen, Alkoholsucht, Erkrankungen von Herz und Leber, oft wechselnde Sexualpartner, Selbstmordversuche, Rauchen und frühe, ungewollte Schwangerschaften feststellen. Anhand dieser Ergebnisse wird bestätigt, dass es einen starken Zusammenhang zwischen negativen Kindheitserfahrungen und Krankheiten im Erwachsenenalter gibt. (vgl. Felitti, Anda, Nordenberg, Wiliamson, Spitz, Edwards, Koss & Marks, 1998, S245 ff.)
5. Täterprofile und Täterdynamik
Der Frage, was dies für ein Mensch ist, der ein Kind auf solch schlimme Weise misshandelt oder vernachlässigt, kann nur schwer nachgegangen werden. Bis heute ist es niemandem gelungen, auf diese Frage eine eindeutige und aussagekräftige Antwort zu finden. Lediglich in Einzelfällen konnten Täterprofile ermittelt und erstellt werden.
Da jedoch die Psyche des Menschen so vielfältig ist, kann nur selten eine Schablone über zwei verschiedene Täter gelegt werden. Man kann einzelne Eigenschaften bei den Tätern finden, die übereinstimmen, jedoch sind diese nur ein Bruchteil der Persönlichkeit und somit geben sie keinen Aufschluss darüber, ob Menschen mit diesen Eigenschaften vermehrt dazu neigen eine Gewalttat zu begehen. (vgl. Ullrich & Marneros, 2002, S.257 ff.)
Die Täterprofile der einzelnen Misshandlungsformen und der Vernachlässigung, lassen sich nur schwer voneinander trennen oder unterscheiden. Oft spiegeln sich dieselben Eigenschaften in der Persönlichkeit verschiedener Täter wieder. Bei dem sexuellen Missbrauch von Kindern lassen sich die Täterprofile in drei Typen einordnen. Zum einen gibt es den fixierten Tätertyp, der meist vorgibt, sich besonders gut in Kinder einfühlen zu können und sie in hohem Maße zu verstehen. Zudem zeigt dieser Typ schon früh seine Neigung zu Kindern und besitzt kein Interesse an Gleichaltrigen oder älteren Personen. Ein weiterer Typ ist der regressive Täter, welcher vorrangig sexuelles Interesse an gleichaltrigen Erwachsenen zeigt, jedoch eventuelle Auseinandersetzungen zu diesen, durch das Vergehen an Kindern kompensiert. (vgl. Goldbeck, Allroggen, Münzer, Rassenhofer & Fegert, 2017, S.11) Diesem Typus wird auch zugeschrieben, dass 90% der Täter einen interfamiliären sexuellen Missbrauch begehen (vgl. Elz, 2001, S. 113). Als dritter Typ wird der soziopathische Täter aufgeführt, der sexuelle Kontakte mit Kindern überwiegend mit sadistischen und aggressiven Handlungen verbindet (vgl. Goldbeck et al., 2017, S.11).
Schorsch hingegen beschreibt vier Tätertypen anhand ihres Sozialverhaltens und ihren Personeneigenschaften. Als ersten Tätertyp nennt er den kontaktarmen und geistig sowie körperlich zurückgebliebenen Täter. Dieser Täter charakterisiert sich dadurch, dass es nur wenige soziale Kontakte zu Gleichaltrigen hat und sich zurückhaltend und unauffällig zeigt. Er leidet unter dieser sozialen Ausgeschlossenheit und fühlt sich in der Gemeinschaft von Kindern wohl. Durch sein Verhalten bei einem sexuellen Übergriff kommt er dem fixierten Täter nach Goldbeck et al. (2017, S.11) am nächsten. Seine Tat ist ebenfalls meist frei von Aggressivität und Sadismus und oft ist es seine kindliche Zuneigung, die dann zu dem sexuellen Missbrauch ausartet. Schorsch benennt diesen Täter als Jugendlichen Täter, da dieses Täterprofil meist dem Vorgehen von minderjährigen Straftätern entspricht. Als zweites Täterprofil führt er den sozial zurückgebliebenen Täter auf, der von Kindesbeinen auf am Rande der Gesellschaft stand und somit auch nur wenige bis keine sozialen Kontakte hat. Der Täter nutzt den sexuellen Missbrauch von Kindern beider Geschlechter, um seine soziale Rückständigkeit auszugleichen. Das Vorgehen dieses Täters ist mit aggressivem Verhalten verbunden und wird meist einem minderbemittelten Jugendlichen zugeschrieben. Der dritte Tätertyp entspricht einem Pädophilen mit gesteigertem Alter.
Mit dem steigenden Alter dieses Täters, häufen sich auch dessen Konflikte wie beispielsweise der Verlust des Partners, des Jobs oder die soziale Ausgrenzung. Durch unsere gesellschaftlichen Werte kommen dem älteren Mann anerzogene Werte eines Kindes wie Höflichkeit, Vertrauen und Zuneigung entgegen. Aufgrund der sozialen Ausgrenzung und der damit verbundenen Kontaktlosigkeit entwickelt sich eine Sucht nach der emotionalen Zuneigung des Kindes und in Folge dessen kommt es zu dem sexuellen Missbrauch. Als vierten und letzten Typ nennt Schorsch den Mann mittleren Alters, der am Rande der Gesellschaft steht und weder soziale Kontakte hat noch jemals hatte. Dieser Täter verfällt meist dem Alkohol oder anderen Süchten und lebt oft in der Arbeitslosigkeit. Der sexuelle Missbrauch ist meist nicht seine erste Tat, da schon anderweitige Strafdelikte voraus gehen. Seine Opfer sucht dieser Täter ebenfalls aus der Randschicht und bevorzugt Jungen sowie Mädchen, die meist schon vorhergegangenen erzwungenen sexuellen Kontakt zu Erwachsenen hatten. (vgl. Schorsch, 1971, zitiert nach Venzlaff, 1989, S. 297 ff.)
Diese Tätertypen werden meist außenstehenden, nicht familiären Tätern zugeschrieben, jedoch geschieht Misshandlung zumeist in der Familie und durch Familienangehörige. Familiäre Täter werden häufig in Konflikt- und Ausnahmesituationen zum Täter. Vorkommnisse werden in Stresssituation von dem Familienmitglied überbewertet und es tritt ein Gefühl der Überforderung und Hilflosigkeit ein, welches an dem Kind durch Misshandlung abreagiert wird. Es gibt verschiedene Faktoren, die meist gemeinsam dazu führen, dass eine Person ein Kind misshandelt oder vernachlässigt. (vgl. Maywald, 2013, S.81)
Anhand einer Studie zwecks der Diplomarbeit von Herrn Sterk (2002), lassen sich weitere Persönlichkeitsmerkmale der Täter des sexuellen Missbrauchs erörtern. Die Studie wurde an sieben Standorten in Psychiatrien, Justizvollzugsanstalten und ambulanten Stellen zur Betreuung durchgeführt. Von insgesamt 70 angefragten Sexualstraftätern, erklärten sich 36 zu der Befragung bereit. Mittels Fragebögen wurden den Tätern verschiedene Fragen zu deren Kindheit, Wohnsituation zum Tatzeitpunkt, sozialen Eingebundenheit zum Tatzeitpunkt und deren Fantasien und Neigungen gestellt. Aus den Ergebnissen der Studie lässt sich herausgreifen, dass 75% der Täter aus der Mittelschicht kommen, 6% aus der Oberschicht und lediglich 19% aus der Unterschicht. (vgl. Sterk, 2002, S.98 ff.) Schlussfolgernd zu diesem Ergebnis kann die Annahme bestätigt werden, dass Misshandlung in allen gesellschaftlichen Schichten vorkommt und nicht als Problem der Unterschicht gelten kann. Zu dieser Annahme kam es, da in dieser unteren Schicht die Fälle der Kindesmisshandlung vermehrt aufgedeckt werden. (vgl. Maywald, 2013, S.79; Sterk, 2002, S.102). Weiterhin kann man den Ergebnissen der Studie entnehmen, dass 22 der befragten Probanden aus einem strengen bis teilweise strengen Elternhaus kommen, 12 der Befragten kommen aus einem „normalen“ Elternhaus und lediglich 2 Probanden kommen aus einem nachlässigen Elternhaus.
Dies weist darauf hin, dass ein zu autoritärer Erziehungsstil ebenfalls ein Auslöser für eine Gewalttat sein kann. Insgesamt kann man durch diese Studie davon ausgehen, dass Gewalttäter aus allen Schichten der Gesellschaft kommen und überwiegend aus der Mittelschicht, in der sie „normal“ eingegliedert sind. Zumeist leben sie im familiären Kreis des kindlichen Opfers und sind sozial eingebunden. (vgl. Sterk, 2002, S. 139 ff.)
Wenn man nach der Dynamik der Täter sucht, so lassen sich auch die oben aufgeführten Täterprofile heranziehen, durch die klar wird, aus welchen Gründen und unter Ausnutzung welcher Taktik Täter bei einer Kindesmisshandlung oder –vernachlässigung vorgehen. Bei den meisten Misshandlungsformen und der Vernachlässigung des Kindes liegen mehrere Faktoren vor, die in einer Kurzschlussreaktion ohne vorherige Planung zu der Tat führen. Im Anschluss der Tat werden die Täter versuchen, die Tat zu verheimlichen oder andere Gründe für deren Folgen und Auswirkungen suchen und nennen. So wird der Täter bei körperlicher Misshandlung des Kindes meist dem Gegenüber glaubhaft machen wollen, dass das Kind sich die Verletzungen eigenständig oder durch einen Unfall zugezogen hat. Auch die Abmagerung und Dehydrierung eines Kindes in Folge der Vernachlässigung wird auf das Verhalten des Kindes wie Erbrechen oder Essensverweigerung geschoben. (vgl. Trube-Becker, 1987, S.21)
Betrachtet man nun jedoch das Vorgehen eines pädophilen Täters, so beginnt die Tat schon weit vor dem körperlichen Übergriff auf das Kind. Zuvor versucht der Täter mit allen Mitteln, das Vertrauen des Kindes zu gewinnen und eine positive Beziehung aufzubauen. Im Anschluss daran testet der Täter den körperlichen Kontakt im Spiel aus und steigert ihn, unter dem Vorwand, dass dies zum Erwachsenwerden des Kindes wichtig sei. Für die gegenseitigen sexuellen Kontakte von Täter und Opfer erhält das Opfer meist Geschenke und andere Belohnungen. Jedoch können Täter auch aggressives und forderndes Verhalten zeigen, um die Bereitschaft ihres Opfers zu fördern. Im Anschluss an die Tat versuchen die Täter, durch emotional begründete Erpressung, das Kind zum Schweigen über die Tat zu bringen. Sie bedrohen das Kind damit, dass sie ihm den Kontakt zum Täter verbieten oder dass dem Kind von Zuhörern kein Glaube geschenkt wird. Zumal das Kind aufgrund seines Entwicklungsstandes nicht erkennen kann, dass der Aufbau des Vertrauensverhältnisses mit den liebevollen Zuwendungen lediglich der Bereitschaft zu dem sexuellen Übergriff diente, sieht es sich als Mitschuldigen und entwickelt Scham und Schuldgefühle. (vgl. Kuhle, Grundmann & Beier, 2015, S.118 ff.)
6. Risikofaktoren und Schutzfaktoren von häuslicher Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern
Das Risiko für häusliche Kindesmisshandlung und –vernachlässigung wird dann verstärkt, wenn mehrere Risikofaktoren gleichzeitig auftreten und so miteinander wirken. Es gibt Risikofaktoren, die einzeln auftreten und dadurch nicht sofort ein Risiko für die Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern darstellen. Im Gegensatz hierzu gibt es Schutzfaktoren, die den Risikofaktoren entgegentreten und diese eventuell neutralisieren können. Sowohl die Risiko- wie auch die Schutzfaktoren lassen sich verschiedenen Ebenen zuordnen.
Zum einen gibt es hier die Einflüsse des Kindes, die Einflüsse der Eltern, die „Einflüsse des familiären Umfeldes“ (Bange, 2015, S.104), sowie auch die „Einflüsse des gesellschaftlichen und kulturellen Kontextes“ (Bange, 2015, S.104). (vgl. Bange, 2015, S.104) Jedoch muss vorab gesagt werden, dass die Ebene der Einflüsse des Kindes keinesfalls eine Schuld des Kindes darstellen soll (vgl. Bender & Lösel, 2005, S.326). Im Nachfolgenden werden für jede Ebene Einflüsse genannt (vgl. Bange, 2015, S.104).
6.1 Risiko- und Schutzfaktoren des Kindes
Ein Risikofaktor stellt das Alter dar, da gerade Säuglinge auf die komplette Bedürfnisbefriedigung und Versorgung durch die Eltern angewiesen sind und noch keine ihrer Grundbedürfnisse alleine befriedigen können. Hier kann es durch die hohe Belastung zu einer Überforderung der Eltern kommen. (vgl. Bender & Lösel, 2005, S.327) Auch das Geschlecht gilt als Risikofaktor, da Jungen bis 6 Jahre häufiger Opfer häuslicher Gewalt sind als Mädchen. Dies zeigt sich auch durch die Zahlen des Bundeskriminalamtes, bei denen im Jahr 2016 1.127 Jungen öfter Opfer körperlicher Gewalt geworden sind als Mädchen. (vgl. Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2016) Als weiteren Risikofaktor stellt die Studie Avon Longitudinal Study, die in England circa 14.000 Kinder untersucht hat, das Geburtsgewicht heraus. Kinder mit einem niedrigen Gewicht bei der Geburt, hatten in dieser Studie ein mehr als doppelt so hohes Risiko, im Laufe der Entwicklung misshandelt zu werden. (vgl. Sidebotham, Heron & The ALSPAC Study Team, 2003)
Dieser Risikofaktor scheint als Grund für eine Misshandlung zunächst nicht nachvollziehbar, es könnte jedoch sein, dass bei diesen Kindern Misshandlungsfälle eher aufgedeckt werden, da sie häufiger Arztbesuche wahrnehmen müssen. Weitere Risikofaktoren sind Gesundheitsschäden sowie Entwicklungsverzögerungen und Behinderungen des Kindes. Diese wirken als Risikofaktoren, da auch hier die Eltern eine höhere Belastung haben und sich intensiver um das Kind kümmern müssen. (vgl. Bender & Lösel, 2005, S.328)
Ebenfalls ein Risikofaktor sind Aggressivität und starkes Temperament des Kindes, wodurch es bei Eltern wieder zu Stress kommen kann, da diese Kinder mehr Aufmerksamkeit fordern (vgl. Lösel & Bliesener, 2003, S.18 f.). Ein weiterer Risikofaktor stellen eine ungewollte oder mit Komplikationen verbundene Schwangerschaft dar (vgl. Maywald, 2013, S.80 f.). Als Schutzfaktoren des Kindes gelten gute Leistungen und Erfüllung der elterlichen Erwartungen wie auch ein hohes Selbstbewusstsein mit einem guten Selbstbild (vgl. Bange, 2015, S.105).
6.2 Risiko- und Schutzfaktoren der Eltern
Als Risikofaktoren gelten zum einen weitere Misshandlungen. Wenn ein Kind von einer Misshandlungsform betroffen ist, so ist die Hemmschwelle des Täters zu einer weiteren Form niedrig. Ein weiterer Faktor ist das Alter der Mutter bei der Geburt des Kindes. Je früher die Schwangerschaft und damit verbunden je jünger die Mutter, desto höher ist das Risiko für Misshandlung. Junge Mütter haben meist noch wenig Erfahrung und sind so schneller überfordert. Soziale Zurückgezogenheit ist ebenfalls ein Risikofaktor, da die Kinder meist wenig Freunde haben und die Eltern so wenig bis keine Unterstützung in der Betreuung der Kinder erfahren. Somit steigt das Risiko der Überforderung und der damit verbundenen Misshandlung oder Vernachlässigung des Kindes. Ein weiterer Faktor besteht, wenn die Beziehung der Eltern problematisch ist und es häufig zu Streit oder gar häuslicher Gewalt kommt. Zudem können auch der Tod eines Elternteils und der neue soziale Vater einen Risikofaktor darstellen, da dieser eine andere Hemmschwelle dem Kind gegenüber aufweist. (vgl. Bange, 2015, S.105)
Psychische Krankheiten der Eltern stellen ebenfalls einen Risikofaktor dar, da hierdurch oft die Fähigkeit der Eltern, sich angemessen um das Kind zu kümmern, eingeschränkt ist (vgl. Bender & Lösel 2005, S.321). Das Temperament und der Charakter der Eltern können auch einen Risikofaktor darstellen. Sollten Eltern die Grundbedürfnisse des Kindes den Erziehungszielen unterordnen, so gefährdet dies das Wohl des Kindes und häufig wird dies dadurch begleitet, dass die Eltern ihre eigenen Bedürfnisse über die des Kindes stellen. Auch eine Sucht der Eltern kann einen Risikofaktor darstellen, da sich die Bezugsperson unter Einfluss von Drogen und Alkohol nicht mehr angemessen um das Kind kümmern kann. Die Suchtmittel können zudem eine Wesensveränderung der Bezugsperson hervorrufen, die dann einen Risikofaktor für Misshandlung und Vernachlässigung darstellt. Mangelnde Kenntnisse, durch eventuell eigens durchlebte Fehlerziehung und Fehlversorgung können auch eine Gefährdung für das Kind darstellen. Zu wenig Zeit für das Kind, durch Job, Partner und die eigenen Bedürfnisse können zur Vernachlässigung und Ablehnung des Kindes führen. Sollten Eltern in der eigenen Kindheit misshandelt oder vernachlässigt worden sein, so können sie dies unter Umständen an ihr Kind weiter geben. (vgl. Kunkel, 2006, S.27 f.)
Eine schlechte Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind, kann auch ausschlaggebend für die Misshandlung des Kindes sein. Auch auf Seiten der Eltern gibt es Schutzfaktoren, die den Risikofaktoren entgegenwirken. Den entscheidenden Schutzfaktor stellt eine emotional sichere Bindung zwischen Eltern und Kind, die auf Wertschätzung und Zuwendung beruht, dar. (vgl. Bange, 2015, S. 105 f.)
6.3 Risiko- und Schutzfaktoren durch das familiäre Umfeld
Unter den Risikofaktoren des familiären Umfeldes, befindet sich zum einen die Situation, in der die Eltern durch Familienmitglieder nur wenig bis gar keine Unterstützung in der Erziehung und Betreuung des Kindes erhalten, was zu Überforderung und Überlastung führt. Finanzielle Not durch Verlust des Arbeitsplatzes kann zu einer Frustration der Eltern führen und der damit verbundenen Abreaktion am Kind. Auch das Selbstwertgefühl der Eltern sinkt, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren, was einen Risikofaktor darstellen kann. Die Nachbarschaft kann ebenfalls einen Risikofaktor darstellen, wenn die Familie in Armut lebt, deprimiert ist und eine hohe Gewaltbereitschaft herrscht, denn so steigt auch das Gewaltpotential der Eltern. Auch die soziale Isolation der Familie kann einen Risikofaktor beinhalten, da so auch meist keine Hilfe zur Verfügung steht und oft Familien, bei denen Misshandlung vorherrschend ist, sich zurückziehen, um nicht aufzufallen. Die Schutzfaktoren lassen sich hier im Umkehrschluss aus den Risikofaktoren entwickeln, so wirken sich Hilfen durch Nachbarn und Familie bei der Betreuung und Erziehung positiv aus und beugen Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern vor. (vgl. Bender & Lösel, 2005, S.330 f.)
6.4 Risiko- und Schutzfaktoren der gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten
Zum einen werden Kinder in unserer Gesellschaft immer mehr sexualisiert, so zum Beispiel in der Werbung, dies ruft eine Senkung der Hemmschwelle von Tätern hervor. Auch der immer leichtere Zugang zu kinderpornografischen Materialien stellt einen Risikofaktor dar. Ebenfalls ein Problem unserer Gesellschaft, welches gleichzeitig einen Risikofaktor darstellt, ist die milde Bestrafung bei Vergehen an einem Kind. Meist wird auch das Verbrechen unter Alkoholeinfluss gemildert und verharmlost, was dazu führt, dass die Hemmschwelle dazu, ein Missbrauch unter Alkoholeinfluss durchzuführen, sinkt. (vgl. Bange, 2015, S.106) Schutzfaktoren sind auf dieser Ebene häufiger zu verzeichnen, da der Schutz durch den Staat immer mehr an Bedeutung gewinnt. Es gibt Frühe Hilfen für Eltern und weitere Unterstützungsmaßnahmen, um den Risikofaktoren vorzubeugen. Zudem werden Kindern in der heutigen Zeit mehr Werte und Rechte zugesprochen, die unter anderem ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung beinhalten. (vgl. Bender & Lösel, 2005, S.332 ff.)
7. Erkennungsmerkmale von Kindesmisshandlung und –vernachlässigung
Es gibt keinen eindeutigen Leitfaden, anhand dessen beurteilt werden kann, ob Kindesmisshandlung beziehungsweise –vernachlässigung vorliegt. Jeder Fall ist anders und damit verbunden ist auch die Reaktion eines jeden Kindes individuell. Es gibt eine Reihe von Merkmalen und Hinweisen, die eventuell einzeln oder in Verbindung miteinander unter Vorkommnis einer oder mehrerer Misshandlungsformen auftreten können. Nicht jedes Kind zeigt sofort oder in gewissem Abstand Anzeichen dafür, dass etwas vorgefallen ist. Bei fast allen Formen der Misshandlung und Vernachlässigung durch eine Bezugsperson kann es auftreten, dass das Kind aus Schutz der Eltern, Angst oder Scham die Vorfälle für sich behält. Körperliche Anzeichen lassen sich oft leichter erkennen als psychische und emotionale Folgen, jedoch verschwinden diese meist auch nach kurzer Zeit. (vgl. Goldbeck et al., 2017, S.13) Es ist zudem immer wichtig, nicht sofort bei einem dieser Anzeichen auf eine eventuelle Misshandlung oder Vernachlässigung zu schließen, sondern das Kind weiter zu beobachten. Im Folgenden werden mögliche Hinweise auf die einzelnen Formen der Misshandlung und der Vernachlässigung aufgeführt. Diese können untereinander gehäuft auftreten und müssen nicht zwingend auf eine gewisse Form hinweisen. Bei jeder Misshandlungsform kann es zu Störungen der altersgerechten Entwicklung des Kindes kommen. (vgl. Maywald, 2013, S.79 ff.)
7.1 Typische Erkennungsmerkmale der Misshandlungsformen und der Vernachlässigung
Körperliche Misshandlungen sind erkennbar an Blutergüssen, die in Form von Schuhabdrücken, Handabdrücken oder an Körperteilen sind, an denen im normalen Spielalltag keine Blutergüsse auftreten. Des Weiteren kann man aufgrund von Knochenbrüchen unterschiedlicher Stadien, schweren Hautverletzungen wie Schnitten, Bissen, Einblutungen, Verbrennungen sowie Erfrierungen eine körperliche Misshandlung in Betracht ziehen. (vgl. Hundt, 2014, S.24)
Zu den genannten körperlichen Erkennungsmerkmalen kommen zusätzlich meist psychische Hinweise, bei denen es zu einer Wesensveränderung, zu Störungen der Persönlichkeit, die meist mit niedrigem Selbstwertgefühl und Angststörungen des Kindes einhergehen, kommen. Weitere seelische Schäden können sein, dass das Kind lernt Konflikte mit anderen Kinder auf die gleiche gewaltsame Weise wie sein Angreifer zu lösen. Hierbei entwickelt sich bei dem Kind ein aggressives Verhalten. (vgl. Maywald, 2013, S.81 ff.) Erkennbar wird diese Form auch, wenn das Kind im Gespräch mit einer Vertrauensperson den Vorfall offenbart oder es in einer Malsituation auf das Blatt bringt. Beim Aufmalen des Geschehenen, kann das Kind den Vorfall verarbeiten. (vgl. Goldbeck et al., 2017, S.13 f.)
Aus der psychisch-emotionalen Misshandlung resultieren jedoch vermehrt seelische Folgen, wodurch sie für Außenstehende bei einem Kind nur schwer erkennbar ist. Eines der häufigsten Erkennungsmerkmale sind Störungen der Bindung zwischen Eltern und Kind. Zudem kann sich das Kind nur schwer auf weitere Personen einlassen und wird lange Zeit brauchen, bis es jemandem Vertrauen schenkt. Zusätzlich kommen hierzu Auffälligkeiten der Persönlichkeit des Kindes, die mit einem niedrigen Selbstwertgefühl und sozialen Schwierigkeiten einhergehen. (vgl. Hundt, 2014, S.26 ff.)
Auch bei dieser Misshandlungsform kann es dazu kommen, dass Kinder das Verhalten des Täters kopieren und mit anderen Kindern ebenfalls herablassend umgehen (Maywald, 2013, S.81 ff.) Kinder werden diese Misshandlungsform eventuell in Rollenspielen oder in dem Malen von Bildern verarbeiten und so aufzeigen (vgl. Goldbeck et al., 2017, S.13 f.).
Der sexuelle Missbrauch hingegen lässt sich am besten und eindeutigsten im Gespräch mit dem Kind erkennen, denn häufig machen Kinder Vertrauenspersonen gegenüber indirekte Aussagen bezüglich des Vorfalls und sprechen vermehrt über sexuelle Themen. Zudem gibt es auch Kinder, die den Vorfall in einem Bild darstellen und ihn so versuchen zu verarbeiten. Hinzu können hier auch körperliche Merkmale kommen wie Verletzungen im Intimbereich oder im Bereich der Oberschenkel, sowie Geschlechtskrankheiten. Meist klagen diese Kinder auch über anhaltende Bauchschmerzen. Wie bei den anderen Formen der Misshandlung treten auch hier meist psychische Merkmale auf wie das Zurückziehen aus der Gruppe, aggressives Verhalten, Ängste, Einnässen, Einkoten und Verhaltensauffälligkeiten wie ein übermäßiges Interesse an dem nackten Körper anderer Kinder und Erwachsener. Hier wird zudem meist das normale Doktorspiel im Kindesalter ausgeweitet, bis hin zu Befehlen gegenüber anderer Kinder zu sexuellen Handlungen. (vgl. Goldbeck, 2015, S.146 f.; Goldbeck et al., 2017, S.13 ff.)
Die Vernachlässigung eines Kindes lässt sich im Gegensatz zur psychisch-emotionalen Misshandlung meist sehr gut durch äußerliche Merkmale erkennen. Diese Kinder haben meist dreckige, witterungsunpassende, kaputte, in der Größe falsche Kleidung an, die häufig über mehrere Tage hinweg getragen wird. Auch das Essen und Trinken der Kinder wird vernachlässigt, so kommt es zu schimmeligen Broten in der Brotbox, zu andauernd leeren Trinkflaschen und die Kinder sind körperlich meist abgemagert und zeigen Wachstumsstörungen. Der Stand der Hygiene gibt zudem Aussagen darüber, ob das Kind vernachlässigt wird. So haben vernachlässigte Kinder zumeist ungewaschene Haare und ungepflegte Haut und Nägel. Verletzungen und Wundstellen werden nicht gepflegt und verschlechtern sich dadurch. Zu diesen äußerlichen Merkmalen kommen wie bei den anderen Formen der Misshandlung ebenfalls innere Erkennungsmerkmale.
Diese zeigen sich durch Zurückziehen aus der Gruppe, Klammern an Bezugspersonen, dauerhaftes Nähe suchen, Bindungsstörungen sowie Entwicklungsstörungen wie zum Beispiel Sprachverzögerungen. (vgl. Hundt, 2014, S.32 ff.; Maywald, 2013, S.47 ff.)
7.2 Studie über das Erkennen von Kindesmisshandlung
In einer Studie, die in Zusammenarbeit der Charité Berlin und der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin durchgeführt wurde, wurden Kinder- und Hausärzte aus Berlin zum Erkennen von Fällen der Kindesmisshandlung befragt. Mittels Fragebogen konnten 187 Ärzte befragt werden, darunter befanden sich 123 Kinderärzte und 64 Hausärzte. Die Ärzte wurden mittels eines vierseitigen Fragebogens zu ihrer Praxis, zu registrierten Fällen der Kindesmisshandlung im Jahr 2003 sowie zu einem breiten Gewaltbegriff befragt, welche verschiedene Formen der Misshandlung beinhaltet. Aus dem Ergebnis der Studie lassen sich Erkennungsmerkmale herausfiltern, welche von den Ärzten bei einer Verdachtsklärung, beachtet wurden. Dabei unterschieden sich die Kinder- von den Hausärzten. Die Kinderärzte nannten an erster Stelle mit 93%, das Verhalten des Kindes, welches auf einen Verdacht hinwies. An zweiter Stelle mit 91% wurden körperliche Ausfälligkeiten genannt, darauf folgte mit 89% das interaktive Verhalten zwischen Eltern Kind, welches in der Praxis beobachtet wurde. Direkt danach wurden Hinweise durch Personen wie das Praxispersonal mit 68% und das Umfeld mit 49% genannt. Lediglich 42% der Kinderärzte sind durch das Gespräch mit den Eltern und 34% durch Äußerungen des Kindes selbst zu dem Verdacht gekommen. An letzter Stelle und damit am seltensten sind 26% der Kinderärzte durch Hausbesuche zu dem Verdacht gekommen. Die Reihenfolge der beachteten Erkennungsmerkmale der Hausärzte unterscheidet sich an einzelnen Stellen von der der Kinderärzte. An erster Stelle steht auch bei den Hausärzten mit 88% das Verhalten des Kindes, welches auf die Misshandlung hinwies. Darauf folgt jedoch mit 76% das interaktive Verhalten zwischen Eltern und Kind. Danach schließen mit 67% die körperlichen Auffälligkeiten des Kindes an. An vierter Stelle folgen mit 56% die Hausbesuche, die auf die Gewalt aufmerksam machten. Im Anschluss daran kommen die Hinweise durch das Praxispersonal mit 50% und die Äußerungen des Kindes mit 44%. Anschließend kommen die Hinweise aus dem Umfeld mit 41% und zuletzt mit 26% das Gespräch mit den Eltern. Herausstechend ist hier, dass Kinderärzte sowie Hausärzte die meisten Fälle der Kindesmisshandlung im Jahr 2003 anhand des kindlichen Verhaltens aufdecken konnten. (vgl. Heintze, Wirth, Welke & Braun, 2006, S.397 ff.)
8. Diagnostische Möglichkeiten zur Erkennung von häuslicher Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern für Institutionen zur Betreuung von Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren
Laut § 8a Abschnitt 4 im Sozialgesetzbuch 8 sind Fachkräfte in Einrichtungen, die der Betreuung von Kindern dienen, dazu verpflichtet bei einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung eine Risikoeinschätzung vorzunehmen und deren weiteres Vorgehen darauf zu begründen. Zusätzlich sollte ebenfalls eine insoweit erfahrene Fachkraft des Jugendamtes hinzugezogen werden, um die Qualität und Sicherheit der Einschätzung zu gewährleisten. Die Erziehungsberechtigten wie auch das Kind selbst sind einzubeziehen, sofern dabei nicht zusätzlich der Schutz des Kindes gefährdet wird. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2013, S.81)
Bei der Abschätzung der Gefährdung steht an erster Stelle immer das Wohl des einzelnen Kindes. Aus diesem Grund gilt es, unüberlegtes und vorschnelles Handeln zu vermeiden und in Ruhe, ohne nutzlose Zeitverschwendung einem Verdacht nachzugehen. Fachkräfte sollten erste Anzeichen eines Kindes nicht sofort mit einer Misshandlung oder einer Vernachlässigung in Verbindung bringen, sondern vorerst weitere Ursachen ausschließen, um keine Fehlentscheidung zu riskieren. Durch einen Fehlverdacht könnte es dazu kommen, dass die Eltern eingeschüchtert werden und das Kind sich im Falle eines tatsächlichen Verdachtes verschließt. (vgl. Hundt, 2014, S.88)
Um den Fachkräften diese schwierige aber verpflichtende Aufgabe zu erleichtern, wurden Bögen zur Risikoeinschätzung im Falle einer möglichen Kindeswohlgefährdung entwickelt. Zusätzlich zu diesen Bögen gilt es Verhaltensauffälligkeiten eines Kindes zu beobachten und dauerhaft zu dokumentieren, um im Falle eines Verdachtes diese Beobachtungen vorlegen zu können. (Els, 2014, S.120 ff.) Folgend werden nun zwei der geläufigsten Instrumente zur Einschätzung einer Gefährdungssituation aufgeführt.
8.1 „Einschätzskala Kindeswohlgefährdung in Kindertageseinrichtungen“ (KVJS/FVM, 2012, S.1)
Die KiWo-Skala wurde von der Forschungsgruppe für Verhaltensbiologie des Menschen, kurz FVM, erstellt, die beauftragt wurde durch den Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden – Württemberg, kurz KVJS. Die Einschätzskala, das Begleitmanual sowie das Ablaufschema sind frei verfügbar auf der Internetseite des KVJS. Die Skala wurde im Jahr 2012 aktualisiert. Die Zielgruppe dieser Skala beinhaltet Kinder in Kindertagesstätten im Alter von 4 Monaten bis 6 Jahre. Es wird bei der Einschätzung in drei Altersgruppen unterschieden, die von 0;4 bis 1;5, von 1;6 bis 2;11 und von 3;0 bis 6;11 gehen. Bei dem Ausfüllen der Skala werden zwei Bereiche bewertet.
Zum einen betrifft dies die Auffälligkeiten am Kind, worunter der Gesundheitszustand, die Versorgung mit Nahrung, die Anziehsachen, Auffälligkeiten am Körper des Kindes, die auf Gewalt hinweisen, Auffälligkeiten in der Bewegung und der Sprache und Auffälligkeiten im Verhalten des Kindes fallen. Zum anderen werden Auffälligkeiten im Verhalten der Eltern untersucht, welche die gesamten Auffälligkeiten der Eltern, Auffälligkeiten in der Eltern-Kind-Beziehung und das Verhalten beim Hinweis auf einen Verdacht beinhalten. Zu diesen neun Bereichen können weitere Merkmale hinzugefügt werden. Hinsichtlich der Auswertung werden die Werte der angekreuzten Felder summiert und schließen so auf eine der vier Verdachtsstufen, die von keiner, über geringe zu mittlerer und schließlich zu hoher Gefährdung gehen. Zusätzlich zu den neun Merkmalen gibt die Skala noch die Möglichkeit weitere Risikofaktoren wie eine eventuelle Misshandlung oder Vernachlässigung von Geschwisterkindern oder der Eltern in der eigenen Kindheit und das jeweilige Lebensumfeld der Familie zu erfassen. Im Anschluss an die Auswertung folgt ein Ablaufschema, welches Hilfestellung bietet, wie das weitere Vorgehen geplant werden kann. Hier werden verschiedene Ablaufschemen empfohlen, die mit verschiedenen Möglichkeiten enden, wie der weiteren Beobachtung des Kindes, einem Gespräch mit den Eltern, der Besprechung im Team, das Einbeziehen einer insoweit erfahrenen Fachkraft oder die Einbeziehung des Jugendamtes. (vgl. KVJS/FVM, 2012, S.1 ff.)
8.2 „Wahrnehmungsbogen für den Kinderschutz“ (Thurn & Künster, 2013, S.1)
Der Fragebogen wurde von einer Arbeitsgruppe der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Ulm entwickelt. Er dient lediglich der Erfassung von Merkmalen einer möglichen Gefährdungssituation, jedoch nicht der Feststellung einer vorliegenden Kindeswohlgefährdung. Für diese Feststellung wird das Hinzuziehen einer insoweit erfahrenen Fachkraft dringendst empfohlen. (vgl. Thurn & Künster, 2013, S.1) Der Fragebogen beschäftigt sich neben den allgemeinen Angaben zum Kind auch mit neun Formen, die das Wohl des Kindes gefährden, worunter die Vernachlässigung der Erziehung, der medizinischen Versorgung, der emotionalen Bedürfnisse, der körperlichen Bedürfnisse, der Beaufsichtigung, sowie das Dulden einer gewaltvollen Lebenswelt, die körperliche Misshandlung und der sexuelle Missbrauch fallen. Hinzu kommen weitere Fragen zu Belastungen in der Familie, beispielsweise zu sozial bedingten Belastungen der Lebenssituation der Familie, zu einem überdurchschnittlichen Betreuungsbedarf des Kindes und dem Verhalten der Eltern bezüglich der Fürsorge ihres Kindes. Zuletzt richten sich die Fragen des Bogens an die eigene Einschätzung der Fachkraft. Bei der Beantwortung der Fragen unterstützt in Teil D des Bogens eine Sammlung an Definitionen der einzelnen Gefährdungsformen.
Zuletzt wird der Fachkraft mit Hilfe einer Frage empfohlen eventuell ein Gespräch mit den Eltern zu führen, welches in Notizen festgehalten wird. (vgl. Künster, Thurn, Fischer, Wucher, Kindler & Ziegenhain, 2013, S. 1 ff.)
9. Möglichkeiten für Fachkräfte zur Prävention von häuslicher Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern
Prävention bedeutet Risikofaktoren für eine schlechte Eltern-Kind-Beziehung und eine damit verbundene mögliche Misshandlung oder Vernachlässigung der Kinder zu verstehen und bei diesen anzusetzen. Es gilt, bei Verdacht auf bestehende Risikofaktoren Hilfen anzubieten und die Eltern bei der Annahme dieser Hilfsangebote zu unterstützen und zu begleiten. (vgl. Ludwig-Körner & Koch, 2005, S.735 ff.) Unabdingbar für die Präventionsarbeit ist eine fortlaufende gute Beziehung und Partnerschaft zwischen Fachkräften und Eltern. Nur wenn Fachkräfte dauerhaft in Kontakt mit den Eltern stehen, können aufkommende Risikofaktoren und Gefährdungssituationen erkannt werden. Hierzu zählen häufige und regelmäßige Gespräche mit den Eltern in Form von Elternabenden, Entwicklungsgesprächen, Tür- und Angelgesprächen sowie das Bereitstellen von Informationen zu einer gesunden Eltern-Kind-Beziehung und zu einer gewaltfreien Erziehung. Zusätzlich kann in jeglichen Gesprächen über das Kind auf das Recht der Kinder zu einer gewaltfreien Erziehung hingewiesen werden. Ebenfalls ausliegen sollten Informationen zu Hilfestellen und Hilfsangeboten, auch Fachkräfte sollten immer für Gespräche bereit sein und den Eltern von Beginn an, immer ihre Hilfe anbieten. (vgl. Maywald, 2013, S.89 f.) Es gibt verschiedene Präventionsprogramme für Eltern und Kinder während der Kindergartenzeit und darüber hinaus. Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, wird im Folgenden nur eine Auswahl an Präventionsprogrammen genannt und jeweils ein Programm genauer aufgeführt.
9.1 Präventionsprogramme für Eltern
Bei Präventionsprogrammen für Eltern geht es im Normalfall darum die Kompetenzen der Eltern zu stärken und ihnen Möglichkeiten sowie Strategien für eine gewaltfreie und möglichst konfliktfreie Erziehung mitzugeben. Die Kompetenzen der Eltern zu stärken bewirkt, dass Eltern gar nicht oder selten in hilflose Situationen kommen und durch die Aussichtslosigkeit und Überforderung zur Misshandlung oder Vernachlässigung übergehen. Für Fachkräfte gibt es verschiedene Präventionsprogramme, die gelegentlich einer Fortbildung bedürfen, jedoch dann meist vor Ort in der Kindertagesstätte durchgeführt werden können. (vgl. Maywald, 2013, S.89 ff.)
Beispiele für Präventionsprogramme, die bei den Eltern ansetzen sind „Starke Eltern – Starke Kinder“ (Honkanen-Schoberth, 2014, S.13), Frühe Hilfen, wie „Guter Start ins Kinderleben“ (Ziegenhain, Schöllhorn, Künster, Hofer, König & Fegert, 2010, S.58) und das Programm „Triple P“ (Deegener & Hurrelmann, 2002, S.2). Nachfolgend soll nun das Präventionsprogramm Triple P genauer beschrieben werden. Dies bietet einen Einblick darüber, worum es in Programmen für Eltern geht und was mit diesen erreicht werden soll. Das „Positive Parenting Program“ hat sich zum Ziel gesetzt, Eltern Strategien zur Hand zu geben, wie sie ihr Kind gewaltfrei und harmonisch erziehen können. Hierbei wird automatische die Fähigkeit zur Erziehung und die Beziehung zwischen Eltern und Kind verbessert. Risikokinder sollen so vor Gewalt geschützt werden. Das Programm gliedert sich in acht Punkte. Zu Beginn wird den Eltern vermittelt, was positive Erziehung ist und wie diese sich gestaltet, anschließend werden Ursachen von Verhaltensproblemen genannt. An dritter Stelle werden Strategien vermittelt, wie Eltern mit Veränderungen beginnen können, darauf folgen Hinweise zur Förderung der kindlichen Entwicklung und Strategien zum Umgang mit Problemverhalten. Zuletzt gibt es Tipps für den Alltag im Familienleben, eine Zusammenfassung zur Erinnerung und weitere Hilfeangebote. In dem Kurs können Eltern sich zusätzlich Austauschen und Tipps untereinander geben. (vgl. Deegener & Hurrelmann, 2002, S. 2 ff.)
9.2 Präventionsprogramme für Kinder
Der Sinn der Präventionsprogramme liegt darin, Kinder zu stärken und ihnen eine gesunde Entwicklung zu einem selbstbestimmten Menschen zu ermöglichen. Kinder sollen ein Selbstbewusstsein entwickeln und Strategien vermittelt bekommen, wie sie selbstbestimmt und harmonisch in einer Gesellschaft leben können. Nur wenn Kinder stark gemacht werden, sind sie in der Lage sich gegen Misshandlung und Vernachlässigung zu wehren oder sich Hilfe zu holen. Sie lernen, dass sie keine Schuld daran tragen und es Menschen gibt, die ihnen helfen können. (vgl. Maywald, 2013, S.90 f.)
Es gibt eine Vielzahl an Angeboten für Fachkräfte, die in Bezug auf Präventionsarbeit mit Kindern durchgeführt werden können. Aufgrund des Rahmens der Arbeit werden auch hier einige Programme genannt und eines genauer beschrieben. Beispiele für Präventionsprogramme mit Kindern sind das Programm „Faustlos“ (Cierpka, 2015, S.14) „Kindergarten Plus“ (Maywald, 2013, S.91) und „Papilio“ (Papilio Akademie, 2015, S.6). Papilio ist ein Programm, welches Fachkräfte nach einer Fortbildung in der Einrichtung durchführen und umsetzen können. Während der Umsetzung im Alltag werden Eltern automatisch einbezogen. Das Programm setzt im Kindergartenalter bei den Kindern an und möchte deren sozial-emotionale Kompetenzen stärken, um die Kinder stark zu machen, nein zu sagen, wenn sie etwas nicht möchten. Die Kinder sollen emotional gefestigt und selbstbestimmt sein. Nur so schaffen sie es sich in die Gruppe einzugliedern und sich trotzdem zu behaupten.
Hierdurch möchte es Risikofaktoren mindern und so die Kinder vor Gewalt schützen. Eltern nehmen an diesem Programm über Elternabende und den Elternclub teil, der von der ausgebildeten Fachkraft geleitet wird. In diesem Club werden die Eltern in ihren Erziehungskompetenzen gestärkt und bekommen vermittelt, wie entwicklungsfördernde Erziehung ablaufen kann. Hauptsächlich steht bei dem Präventionsprogramm die Sucht- und Gewaltprävention im Vordergrund. Mit den Kindern werden drei Bereiche auf spielerischer Ebene durchgeführt. Zum einen der Bereich, in dem das Spielzeug für eine Zeit weggelassen wird, bei dem die Kinder wieder lernen sich mit anderen Kindern und mit sich selbst zu beschäftigen. Ein weiterer Bereich, ist das Meins-Deins-Deins-Unser-Spiel, bei dem die Kinder Kompetenzen im Umgang mit anderen Menschen erwerben und ausbauen. Der letzte Bereich ist der Paula und die Kistenkobolde Bereich, bei dem es darum geht, dass Kinder den Umgang mit ihren eigenen und den Grundgefühlen anderer wie Wut und Angst, lernen. (vgl. Papilio Akademie, 2015, S.6 ff.)
10. Empirie
Im Anschluss an die vorangegangene Theorierecherche wird nun die Forschung zu dieser Bachelorthesis aufgeführt, die sich aus weniger bis kaum erforschten Teilen des Theoriestandes ableitet. Die Studie beschäftigt sich mit den Meinungen der pädagogischen Fachkräfte, die im direkten Bezug zu den Kindern stehen und demnach widergeben können, was sich aus der Theorie in der Praxis umsetzen lässt.
10.1 Forschungsfrage der Studie
Die Forschungsfragen bilden die Grundlage einer Studie und geben vor, wonach man suchen möchte und was das Ziel der Studie ist. Sie geben einem den Weg für die Befragung der Probanden vor. Die im Folgenden aufgeführten Forschungsfragen sind theoriegeleitet. Sie wurden aus der Theorie entwickelt und durch den niedergeschriebenen Theorieteil der Arbeit unterstützt. (vgl. Mayring, 2015, S.58 ff.)
1. Welche Merkmale benennen pädagogische Fachkräfte für häusliche Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern durch deren Bezugspersonen?
2. Welche Gründe benennen pädagogische Fachkräfte für häusliche Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern durch deren Bezugspersonen?
Der Weg zu diesen Forschungsfragen führte über die Theorie. Im Vorfeld der Arbeit wurden unter Einbezug einer großen Auswahl an Büchern Informationen zu dem theoretischen Fundus dieses Themas gesammelt. Medien wie Zeitungen und Online-Redaktionen zeigen auf, dass Menschen nach dem Bekanntwerden eines Falles von Kindesmisshandlung, Vorwürfe äußern. Diese Vorwürfe beinhalten, dass pädagogische Fachkräfte in Kindergärten solche Fälle vorzeitig erkennen sollten. In Folge dessen und dem erschreckend niedrigen Forschungsstand zu Misshandlungsformen wie der psychischen Gewalt und der Vernachlässigung, fiel die Entscheidung darauf, zu erforschen, worauf pädagogische Fachkräfte achten, um Misshandlung oder Vernachlässigung bei einem Kind zu erkennen und was sie für Risikofaktoren halten (vgl. Deegener & Körner, 2005, S. 46.). Nur so kann man verstehen, worauf sie achten und warum sie darauf achten.
11. Methode
Es gibt zwei verschiedene Wege der Forschung, die man je nach Individualität der Forschung einschlagen kann. Zum einen ist dies die quantitative Forschung, die den Menschen nur in einzelnen Merkmalen sieht, welche erforscht werden sollen. Hierbei wird eine Erforschung von einer Masse an Daten vorgenommen, die letztendlich ein allgemeingültiges Ergebnis liefern soll.
Dem gegenüber steht die qualitative Forschung, die ihre Ergebnisse in Interviews erforscht. Es geht hier darum, eine kleinere Menge an Probanden zu befragen, deren Meinung von Bedeutung ist. Der Wert der qualitativen Forschung liegt in der Erforschung von Einzelfällen, ohne das Ziel der Verallgemeinerung. Bei der qualitativen Forschung steht der Forscher im direkten Kontakt zu seinen Probanden und erstellt vorab keine Hypothesen. Bei der quantitativen Forschung hingegen werden vorab Hypothesen aufgestellt, die es zu belegen oder zu widerlegen gilt. (vgl. Mayring, 2016, S.19 ff.; Schumann, 2018, S.9 ff.) Bezüglich dieser Forschung fiel die Entscheidung auf den qualitativen Ansatz. Es sollen Meinungen der Fachkräfte erforscht werden, um diese letztendlich in Bezug zur Theorie zu setzen. Für diese Meinungsforschung muss der Mensch als Ganzes gesehen werden und hierfür steht die qualitative Forschung. Die Meinungen sollen letztendlich zusammengetragen werden, jedoch verfolgt die Forschung zu keinem Zeitpunkt das Ziel, eine allgemeingültige Aussage zu treffen. Zudem setzt die qualitative Forschung einen persönlichen Kontakt zwischen Forscher und Proband voraus, der für solch ein belastendes Thema wichtig ist.
11.1 Stichprobenauswahl
Zur Auswahl der Probanden für die Forschung wurde eine Klumpenstichprobe herangezogen. Hierbei wurden aus einem Umkreis von 100km um den Landkreis Stuttgart mehrere Einrichtungen in den Blick genommen. Aus diesen Klumpen fiel die Entscheidung dann auf zwei Landkreise in diesem Bereich. Die Landkreise Heilbronn und Hohenlohe wurden dann in ein mehrstufiges Auswahlverfahren einbezogen. Hierbei wurden alle Einrichtungen, die mit Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren arbeiten, anhand dieser Landkreise aufgeteilt und die Entscheidung fiel auf neun verschiedene Einrichtungen, von denen sechs Einrichtungen sich bereiterklärten, an der Forschung teilzunehmen. (vgl. Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute e.V., 2014, S. 23 f.) Gründe für Absagen der anderen Einrichtungen waren der Stress durch die Vorbereitungen der Weihnachtszeit und die hohe Anzahl an Krankheitsfällen unter den Mitarbeitern. Aus den ausgewählten sechs Einrichtungen wurde jeweils eine pädagogische Fachkraft interviewt. Die Fachkräfte arbeiten in unterschiedlichen Positionen, unter ihnen befanden sich Zweitkräfte, Leitungen und Auszubildende mit vorausgegangenem pädagogischem Studium. Vorerst wurden diese sechs pädagogischen Fachkräfte befragt und im Falle, dass die Interviews nicht ergiebig genug gewesen wären, so wären weitere Fachkräfte aus diesen Einrichtungen angefragt worden.
[...]
- Quote paper
- Beatrix Albrecht (Author), 2018, Häusliche Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern. Welche Risikofaktoren und Erkennungsmerkmale gibt es aus der Sicht von pädagogischen Fachkräften?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1177968
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.