Die Idee zur vorliegenden Magisterarbeit entstand in einem Projekt des Studiengangs Kulturwissenschaft der Universität Bremen zum Thema: "Familie und Kindheit in Süditalien, Wandlungen des Familienlebens in einer süditalienischen Tourismusregion". Die Arbeit präsentiert nun die Resultate meiner zweimonatigen Feldforschung im süditalienischen Dorf Furore an der Costiera Amalfitana (Region Kampanien).
Die Forschung wurde in Zusammenarbeit mit der Universität "La Sapienza" in Rom und dem "Centro Universitario per i Beni Culturali" in Ravello durchgeführt. Zwölf Studierende aus Bremen und sechs aus Rom beteiligten sich an dem Projekt und verteilten sich auf insgesamt zehn Orte an der Costiera. Mein Forschungsfeld war das Dorf Furore. Die Familie Ferraioli nahm mich im Februar und März 1996 für sechs Wochen als Gast in ihrem Haus auf, wodurch ich die Möglichkeit hatte, das Familienleben kennenzulernen und den Kinderalltag im Ort zu beobachten.
Eine Präsentation der Ergebnisse fand zum einen in Form einer Fotoausstellung statt, die in Ravello (Oktober 1996) und Bremen (März 1997) gezeigt wurde. Zum anderen stellten die Teilnehmer des Projekts Ausschnitte aus den entstandenen Arbeiten dem interessierten Publikum im Rahmen eines zweitägigen Seminars im Centro Universitario in Ravello vor.
Gliederung
1.Einleitung
1.1 Thema und Fragestellung
1.2 Aufbau der Arbeit
2. Konzepte des sozialen Raumes
2.1 Die Beziehungen zwischen dem physischem Raum und den Personen
2.2 Die Veränderung sozialer Räume im Prozeß der Globalisierung
2.3 Sozialer Raum und kulturelle Identität
3. Das Thema Kindheit in den Kulturwissenschaften
3.1 Grundlagen der Kindheitsforschung
3.1.1 Martha Muchows Lebensraumstudie
3.1.2 Die „ Culture and Personality School“
3.1.3 Die Geschichte der Kindheit
3.1.4 Das Verschwinden der Kindheit
3.2 Neuere Forschungen zu Kinderalltag und Kinderkultur in Europa
3.2.1 Kindheitsräume
3.2.2 Kindheit und Medien
4. Feldforschung mit Kindern
4.1 Angewandte Untersuchungsmethoden
4.2 Probleme einer Feldforschung mit Kindern
5. Vorstellung des Ortes
5.1 Topographie
5.2 Ökonomie
5.3 Das Projekt in Furore
6. Kinderräume in der Familie
6.1 Das Haus und die Großfamilie
6.2 Die Küche
6.3 Kinderzimmer
7. Beobachtung eines Tagesablaufs der siebenjährigen Luisa
7.1 Der Weg zur Schule
7.2 Die Schule
7.3 Die ‘Scuola materna’
7.4 Das Mittagessen
7.5 Der Nachmittag
7.6 Das Abendessen
7.7 Der Katechismusunterricht
7.8 Die Spielplätze
8. Fußball in den sozialen Räumen der Kinder
8.1 Il mio gioco preferito
8.2 Ein Spiel auf engem Raum
8.3 Fußball als multimediales Ereignis
8.4 Fußball ist “Männersache“
8.5 Per quale squadra tifi ?
9. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Idee zur vorliegenden Magisterarbeit entstand in einem Projekt des Studiengangs Kulturwissenschaft der Universität Bremen zum Thema: "Familie und Kindheit in Süditalien, Wandlungen des Familienlebens in einer süditalienischen Tourismusregion".[1] Die Arbeit präsentiert nun die Resultate meiner zweimonatigen Feldforschung im süditalienischen Dorf Furore an der Costiera Amalfitana (Region Kampanien).
Die Forschung wurde in Zusammenarbeit mit der Universität "La Sapienza" in Rom und dem "Centro Universitario per i Beni Culturali" in Ravello durchgeführt. Zwölf Studierende aus Bremen und sechs aus Rom beteiligten sich an dem Projekt und verteilten sich auf insgesamt zehn Orte an der Costiera. Mein Forschungsfeld war das Dorf Furore. Die Familie Ferraioli nahm mich im Februar und März 1996 für sechs Wochen als Gast in ihrem Haus auf, wodurch ich die Möglichkeit hatte, das Familienleben kennenzulernen und den Kinderalltag im Ort zu beobachten.
Eine Präsentation der Ergebnisse fand zum einen in Form einer Fotoausstellung statt, die in Ravello (Oktober 1996) und Bremen (März 1997) gezeigt wurde.[2] Zum anderen stellten die Teilnehmer des Projekts Ausschnitte aus den entstandenen Arbeiten dem interessierten Publikum im Rahmen eines zweitägigen Seminars im Centro Universitario in Ravello vor.
1.1 Thema und Fragestellung
Das Thema Kindheit ist in den letzten beiden Jahrzehnten immer mehr in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen gerückt. Der akademische Diskurs fokussiert dabei den Wandel des Phänomens Kindheit in den als post- oder spätmodern bezeichneten Gesellschaften (Berg 1991; Hengst 1985, 1990, 1991; Zeiher 1989, 1991; Zinnecker 1990; De Bois-Reymond 1994, Zeiher/Büchner/Zinnecker 1996). An dieser aktuellen Diskussion in den Sozial- und Kulturwissenschaften wollten wir uns beteiligen, indem wir den Blick auf die sozialen Räume der Kinder richteten. Die Veränderungen dieser Räume, ihre Zusammensetzung aus verschiedenen kulturellen Elementen und die Bedeutungen, mit denen Orte und Plätze besetzt werden, sollten an einem konkreten Beispiel analysiert werden. Die Darstellung des Kinderalltags und seiner räumlichen Ausformung wird in vielen Arbeiten zum Thema Kindheit vernachlässigt. Die Veröffentlichungen über Kindheit beständen, so die Kritik von Pamela Reynolds (1989:1), im wesentlichen aus Verallgemeinerungen. Zudem mangele es an einer Perspektive, die Kinder als aktive Produzenten ihrer eigenen Kultur wahrnimmt und ihre Sichtweise zu verstehen sucht (vgl. Dracklé 1996). Angeregt durch diese Kritik, wurde das Thema innerhalb des Projekts mittels einer ethnologischen Feldforschung untersucht. Ein Vorteil dieser qualitativen empirischen Methode ist die Möglichkeit, die Beschreibungen konkreter Situationen des Alltagslebens zum Ausgangspunkt der theoretischen Überlegungen zu machen und die Perspektive der untersuchten Gruppe in die Analyse miteinzubeziehen. Peter Bräunlein und Andrea Lauser (1994) bestätigen für den Bereich einer Anthropologie der Kindheit einen großen Nachholbedarf an Arbeiten, die sich dieser Perspektive annehmen.[3]
Ziel des Projektes war es, ein aktuelles Thema mit der Methode der Ethnologie in einem Gebiet zu untersuchen, das man als ein klassisches Feld der europäischen Ethnologie bezeichnen kann.
Als Forschungsfeld für die Untersuchung bot sich die Costiera Amalfitana aus mehreren Gründen an: Die südlich von Neapel gelegene Halbinsel ist Teil Süditaliens, einer Region, die häufig als ökonomisch rückständig und als kulturell in Tradtionen verhaftet beschrieben worden ist (vgl. Gribaudi 1996). Darüber hinaus ist die Costiera eine berühmte Tourismusregion, in der die lokalen Traditionen in einen engen Kontakt zu globalen kulturellen Elementen treten, die durch den internationalen Tourismus befördert werden. Die Situierung der Forschung in einer Region, in der ein rapider Wandel von einer agraischen zu einer modernen Dienstleitungsgesellschaft stattgefunden hat, erschien uns als besonders reizvoll.
Einen weiteren Anstoß, eine Forschung über Familie und Kindheit gerade in Süditalien durchzuführen, gab der wissenschaftliche Diskurs, der in der Vergangenheit von Gegensätzlichkeiten geprägt war. Den Romantisierungstendenzen in einigen Arbeiten (z. B. Schitteck 1979, van Hentig 1975) stehen Studien gegenüber, die die ökonomische und politische Marginalisierung des Südens insbesondere auf die Strukturiertheit der süditalienischen Familie zurückführen. So ist etwa in der einflußreichen Arbeit von Edward Banfield (1967) die Rede vom "amoralischen Familiarismus".
Das Thema wurde innerhalb des Projekts anhand von zwei Fragenkomplexen bearbeitet, die ich für meine Magisterarbeit übernommen habe.
In einem ersten Schritt wird nach den Orten, Plätzen und Räumen der Kinder gefragt: Welche privaten und öffentlichen Institutionen bieten Raum für die Kinder? Wie sieht die Infrastruktur für die Kinder in Furore aus, und welche sozialen Situationen finden in den verschiedenen Räumen statt? Lassen sich auch in Süditalien die für den Norden Europas beschriebenen Tendenzen der 'Individualisierung' (Zinnecker 1990) und 'Verinselung' (Zeiher 1989) der Kindheitsräume beobachten oder steht die Familienorientierung im Vordergrund? Gibt es auch dort immer mehr spezialisierte Angebote für Kinder oder handelt es sich eher um funktionsdiffuse Plätze, die von den Kindern als Spiel-Räume genutzt werden?
Die zweite Fragestellung zielt auf die Verknüpfungen zwischen den lokalen und globalen kulturellen Elementen in den Kindheitsräumen: Welche Verbindungen und Verschränkungen zwischen der lokalen Tradition und einer globalen Kinderkultur lassen sich in den Kinderräumen beobachten, und welche sozialen Folgen haben diese Kombinationen? Eine romantisierende Sichtweise würde die Gefährdung lokaler Traditionen und Werte im Zuge der Modernisierung und Globalisierung im süditalienischen Untersuchungsgebiet in den Mittelpunkt rücken. Die vorliegende Arbeit versucht sich in einer pragmatischeren Analyse. Das Globale wird dem Lokalen nicht polarisierend gegenübergesetzt, sondern es sollen die kulturellen Synthesen und Neuschöpfungen, die sich im Alltagsleben der Kinder herstellen, untersucht werden. Dabei wird davon ausgegangen, daß eine zunehmende zeitliche und räumliche Vernetzung der lokalen Schauplätze mit einer globalen "Weltkultur" stattfindet, so daß kaum mehr allein von geographischen Räumen gesprochen werden kann, die eine bestimmte, klar abgegrenzte Kultur beinhalten (vgl. Kearny 1995, Hannerz 1995, Breitenbach/Zukrigel 1995, Appadurai 1990).
Die Fragestellung läßt sich folgendermaßen zusammenfassen:
Wo finden sich die sozialen Räume der Kinder, aus welchen Elementen (global/lokal) sind sie zusammengesetzt? Wie sind die sozialen Beziehungen und Situationen in diesen Räumen strukturiert, und welche Veränderungen haben die Kindheitsräume in den letzten Jahren erfahren?
1.2 Aufbau der Arbeit
Die Arbeit ist in zwei größere Abschnitte gegliedert. Im ersten werden der theoretische Rahmen und die Methoden der Untersuchung vorgestellt.
Im ersten Kapitel dieses Abschnitts beschäftigte ich mich mit dem Konzept des sozialen Raums. Die Fragestellung der Untersuchung wird theoretisch eingefaßt und erläutert. Anschließend referiere ich Ergebnisse der kulturwissenschaftlichen Kindheitsforschung. Ausgehend von den 'Vorläufern' dieser Forschungsrichtung konzentriere ich mich dabei auf die Themen Kinderräume und Medienkonsum, da sich insbesondere im Bereich der Medien die Verknüpfungen zu einer globalen Kinderkultur herstellen. Das letzte Kapitel dieses Abschnitts schildert die bei der Feldforschung angewandten Methoden und problematisiert die Besonderheiten einer Forschung mit Kindern.
Der zweite Abschnitt der Arbeit präsentiert die Ergebnisse der Feldforschung. Zu Beginn stelle ich das Dorf Furore vor, um anschließend im Kapitel 'Kinderräume in der Familie' das von mir beobachtete Leben einer Großfamilie und die sozialen Situationen und Räume der dort lebenden Kinder zu beschreiben. Die Beobachtung eines Tagesablaufs der siebenjährigen Luisa dient dann als 'roter Faden', um die Institutionen Schule, Vorschule, den Katechismusunterricht und die öffentlichen Räume der Kinder zu schildern. Im letzten Kapitel widme ich mich dem Fußballspiel der Kinder. An diesem Beispiel sollen die genannten Fragestellungen vertieft werden. Die Räume dieses Spiels werden beschrieben und die Bedeutungen dieses sozialen Phänomens für die sekundäre Sozialisierung besonders der Jungen werden herausgestellt. Während meines Aufenthalts in Furore konnte ich beobachten, daß eine große Anzahl der Kinderräume durch dieses Spiel geprägt waren. Am Phänomen Fußball lassen sich die Verbindungen lokaler Gegebenheiten mit den meist medial vermittelten nationalen und globalen Ereignissen in den sozialen Räumen der Kinder aufzeigen.
2.Konzepte des sozialen Raumes
Zu Beginn der Arbeit werde ich den theoretischen Rahmen für die oben gestellten Fragen skizzieren. Konzepte zum sozialen Raum finden sich in einer Vielzahl soziologischer und ethnologischer Arbeiten, da Raum neben der Zeit eine Grundvoraussetzung sozialen Handelns ist.
Im folgenden sollen die verschiedenen Dimensionen, die ein Raum als sozialer Raum hat, in drei aufeinander aufbauenden Schritten nachgezeichnet werde. Zuerst wird der Zusammenhang zwischen dem physischen Raum und den handelnden Personen geschildert, dabei beziehe ich mich auf Überlegungen, die auch in der Kindheitsforschung angewandt werden (Muchow 1935, Zeiher 1989). Anschließend wird nach den Veränderungen sozialer Räume im Zuge der Globalisierung gefragt (Giddens 1996, Morley 1997) und abschließend wird das Verhältnis zwischen dem sozialen Raum und der kulturellen Identität einer Gemeinschaft problematisiert (Hall 1994 a, b; Halbwachs 1967).
2.1 Die Beziehungen zwischen dem physischen Raum und den Personen
Raum bezeichnet in erster Hinsicht eine dreidimensionale physische Gegebenheit. Erst wenn Menschen in ihm agieren, soziales Handeln stattfindet, interpersonelle Beziehungen eingegangen werden, wird er zu einem sozialen Raum. Zwischen den Individuen und ihren Handlungsräumen besteht eine enge Beziehung. Martha Muchow (1935), die als erste die Kategorie Raum bei der Beschreibung des Kinderlebens in einer Großstadt verwandte, bezeichnete in ihrer Studie diese 'Lebensräume'[4] als 'personale Welt', die erst im Wechselspiel zwischen Person und Umwelt entsteht (ebd: 71). Zwischen den physischen Gegebenheiten und den Interessen der handelnden Personen entwickelt sich eine Relation mit dialektischen Merkmalen. So beeinflußt zum einen der physische Raum die Möglichkeiten des Handelns, zum anderen bestimmen die Interessen der handelnden Individuen das Geschehen in einem sozialen Raum. Zudem sind die Räume oft erst von Menschen geschaffen oder zumindest bearbeitet. Dies gilt im besonderen Maße für den untersuchten Ort Furore. Der größte Teil der 'bewohnbaren' Flächen wurde der naturgegebenen Landschaft mit viel Mühe abgerungen. Wohnhäuser, Straßen, Parkplätze und Gärten sind in die stark abfallende Landschaft integriert. Das begrenzte Angebot von ebenen Flächen ist mit großer Kreativität erweitert worden. Den so entstandenen Gebäuden und Plätzen wurde von den Erbauern häufig eine bestimmte Funktion zugedacht. Die Nutzung dieser Räumlichkeiten kann aber durchaus vielschichtig sein. Der Kirchenvorplatz in Furore ist am Sonntagmorgen vor der Messe Treffpunkt der Kirchgänger, die hier ihre Beziehungen pflegen, Informationen austauschen und Verabredungen treffen. Der gleiche Schauplatz wird zu einem anderen Zeitpunkt zum sozialen Raum der Kinder, die sich dort zum Spielen versammeln. Verschiedene Gruppen besetzen vorübergehend ein und denselben Ort mit unterschiedlichen Interessen. Die Subjekte bleiben hier trotz einer vorgegebenen Räumlichkeit mit 'eingeschriebener' Funktion die kreativen Akteure, die das Geschehen an einem Schauplatz bestimmen. Die Kirchentür wird zum Fußballtor.
Die architektonischen Ausgestaltungen und die Ausstattungen der Räume beeinflussen die dort möglichen Handlungen und Beziehungen besonders dann, wenn es sich um hochspezialisierte Räume handelt. Die Kindheitsforscherin Helga Zeiher (1994: 353) formuliert diesen Zusammenhang so:
"Räumliche Gegebenheiten stellen Möglichkeiten und Grenzen für das Tun dar. In den Einteilungen, Abgrenzungen und Entfernungen, in den Ausstattungen und Zuordnungen der räumlichen Welt sind soziale Verhältnisse verfestigt."
Zeiher entwickelte ihr Raumkonzept insbesondere für den städtischen Raum. Moderne Großstädte zeichnen sich durch einen hohen Grad der Spezialisierung des Raumangebotes aus. Die Handlungen werden dort viel mehr von der Ausgestaltung des Raumes bestimmt, als dies in ländlichen Gebieten der Fall ist, wo es mehr funktionsdiffuse Räume gibt, die eher mit unterschiedlichen Interessen verschiedener sozialer Gruppen besetzt werden können.
Bei der Untersuchung der Kinderräume wird der Blick darauf gerichtet, ob die Räume speziell für Kinder ausgestattet sind oder ob es sich bei den Kinderräumen eher um funktionsdiffuse Plätze und Örtlichkeiten handelt. Um diese Unterscheidung begrifflich zu fassen, bietet sich eine Überlegung Hermann Bausingers (1987:16) an, die dieser für den Begriff Kinderkultur eingeführt hat. Bausinger unterscheidet zwischen der 'Kultur für Kinder', d.h. von Erwachsenen speziell für Kinder angebotene Kinderkultur, und der 'Kultur der Kinder', die diese unabhängig von Erwachsenen schaffen. Parallel dazu kann zwischen den 'Räumen für Kinder', d.h. von den Erwachsenen speziell für Kinder zur Verfügung gestellte Räumlichkeiten, und den 'Räumen der Kinder', d.h. Plätze und Orte, die Kinder mit ihren Interessen besetzen, differenziert werden. Für die Beschreibung der Kinderräume in Furore ist diese Perspektive interessant, da es wegen der allgemeinen Begrenztheit der Flächen nur wenige speziell für Kinder ausgestattete Räume gibt. Es ist ein Ziel dieser Arbeit zu beobachten, mit welchen Strategien die Kinder sich ihre Spiel-Räume sichern.[5]
Mit Bezug auf Maurice Halbwachs (1967) möchte ich eine weitere wichtige Dimension des architektonisch ausgestalteten Raums ansprechen. In diesen Räumen werden die Geschichte und die Tradition einer Gemeinschaft repräsentiert. Halbwachs unterstreicht die Bedeutung der emotiven Qualitäten, mit denen die räumliche Umgebung besetzt werden, für die Identität und die Kontinuität sozialer Gruppen. Die Strukturen eines Ortes, mit dem eine Gruppe in konstanter Beziehung steht und auf den sie kreativ einwirkt, präge sich in die Vorstellung der dort Lebenden ein, und so werde Kontinuität und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft erzeugt. Soziale Räume stehen somit in einer engen Beziehung zu der dort ausgebildeten kulturellen Identität. Die Beziehung zwischen lokalem Schauplatz, handelndem Subjekt und dessen kultureller Identität hat sich unter den Bedingungen der Globalisierung verändert. Hierauf werde ich nun genauer eingehen.
2.2 Die Veränderung sozialer Räume im Prozeß der Globalisierung
Der englische Soziologe Anthony Giddens beschreibt als eine Konsequenz der Moderne[6] die Ablösung der sozialen Handlungen vom lokalen Schauplatz. Soziales Handeln sei nicht mehr ausschließlich an einen Ort gebunden.
"In vormodernen Gesellschaften fallen Raum und Ort weitgehend zusammen, weil die räumliche Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens für den größten Teil der Bevölkerung und in den meisten Hinsichten von der 'Anwesenheit' bestimmt werden: an einen Schauplatz gebundene Tätigkeiten sind vorherrschend." (Giddens 1996:30)
In der Moderne aber werde der soziale Raum immer häufiger von 'Abwesendem' strukturiert. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien begünstigen soziale Beziehungen über große Raum- und Zeitspannen hinweg, ein persönlicher, gesichtsabhängiger Kontakt (face-to-face) zwischen den Handelnden ist nicht mehr unbedingt notwendig. Diesen Prozeß bezeichnet er als Entbettung.
"Unter Entbettung verstehe ich das 'Herausheben' sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre unbegrenzte Raum-Zeitspannen übergreifende Umstrukturierung." (Giddens 1996:33)
Die in der Vormoderne vorherrschenden gesichtsabhängigen Beziehungen würden zusehends ersetzt durch abstrakte Vertauensverhältnisse zu Expertensystemen, wie dem Bankenwesen oder technologischen Systemen. Der Wandel, dem die sozialen Beziehungen unterliegen, ist für Giddens ein dialektischer Prozeß, und er ergänzt den Begriff der Entbettung um den Begriff der Rückbettung, der die Rückaneignung oder Umformung entbetteter sozialer Beziehungen an lokale raum-zeitliche Gegebenheiten bezeichnet. Abstrakte Beziehungen werden durch gesichtsabhängige Kontakte ergänzt und wieder an einen lokalen Schauplatz gebunden.
Durch Giddens Analyse der sozialen Beziehungen unter den Bedingungen der Spätmoderne werden weitere Dimensionen des sozialen Raums sichtbar. Zum einen bleibt der lokale Schauplatz wichtiger Bestandteil des Handlungsraumes. Zum anderen kommen die Beziehungen auf einer Ebene zustande, die unabhängig von einem konkreten Ort ist. Diese 'neue' Ebene entsteht als Folge des Globalisierungsprozesses:
"Definieren läßt sich der Begriff der Globalisierung demnach im Sinne einer Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen, durch die entfernte Orte in solcherweise miteinander verbunden werden, daß Ereignisse am einen Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt." (Giddens 1996: 85)
Als Folge dieser Überlegungen werden in der Untersuchung der Kinderräume in Furore nicht nur die gegebenen Örtlichkeiten beschrieben, sondern es gilt, das 'Abwesende', das den Raum mitstrukturiert, ebenfalls zu entdecken. Deshalb werde ich genauer auf den Bereich der Medien eingehen, da sich hier eine wichtige Nahtstelle zwischen den lokalen Gegebenheiten und den globalen kulturellen Elementen finden läßt (vgl. Morley 1997). Die modernen Massenkommunikationsmittel, und hier insbesondere das Fernsehen, sind wichtige Träger, Vermittler und Produzenten von kulturellen Mustern geworden. In den Soap-Operas, den Comic-strips oder in den Übertragungen nationaler oder globaler Ereignisse werden Images transportiert, die sich z. B. auf die Geschlechterollen, nationale oder regionale Identität beziehen können. Der Zuschauer nimmt sie an seinem lokalen Schauplatz, dem privaten Raum des Wohnzimmers (für italienische Verhältnisse eher die Küche) auf, interpretiert sie und verarbeitet diese Bilder und Vorstellungen mit seiner lokalspezifischen Erfahrung. Morley (1997: 24) vertritt die These, daß das Fernsehen an der Schnittstelle zwischen privatem Raum und Öffentlichkeit wesentlich an der Konstruktion eines 'Wir- Gefühls', das Identifikationsmöglichkeiten bereithält, beteiligt ist.
Es kann nun gefragt werden: Welche Konsequenzen hat die 'Delokalisierung' sozialen Handelns für den Zusammenhang von sozialem Raum und kultureller Identität ?
2.3 Sozialer Raum und kulturelle Identität
Die Bedeutung der Architektur eines Ortes für die Identität und das Gedächtnis einer sozialen Gruppe habe ich oben mit Bezug auf Halbwachs dargelegt. In der Ethnologie wurden in der Vergangenheit aber auch die Landschaft und das Klima eines geographischen Raums in Beziehung zur Kultur der dort lebenden Gemeinschaften gesetzt. Der Mittelmeerraum und insbesondere Süditalien wurden hierfür als Beispiele herangezogen. Es wurden quasi kausale Zusammenhänge zwischen den charakterlichen Eigenschaften der Süditaliener und den Besonderheiten der Landschaft hergestellt.[7] Die Bewohner des Mittelmeerraums wurden als eine homogene kulturelle Gruppe beschrieben, die die Regeln von 'honor and shame ' befolgt (Haller 1995: 79). Solche vereinfachenden und verallgemeinernden Schlußfolgerungen werden heute vehement kritisiert (vgl. Nadig 1997 und Haller 1995). Die Idee einer 'kulturellen Basispersönlichkeit' (Nadig 1997:87), die eng mit einer geographischen Herkunft verknüpft ist, wird den sich dynamisch wandelnden, vielfältigen, verwirrenden und teilweise widersprüchlichen Entwicklungen innerhalb von Kulturen nicht gerecht.
Um der Dynamik von Globalisierungsprozessen und deren Auswirkungen auf lokale Gemeinschaften auf die Spur zu kommen, wurde das traditionelle Konzept kultureller Ganzheiten in der Ethnologie in den letzten Jahren aufgegeben zugunsten eines Modells der kulturellen Identität, die als prozeßhaftes Geschehen einem ständigen Wandel unterliegt und sich auch unabhängig von klassifizierbaren geographischen Räumen konstituiert (Kearny 1995; Hall 1994). Die Beziehungen zwischen geographischem Raum und der kulturellen Identität werden in diesen Theorien anders gewichtet. Nicht das Territorium bestimmt eine ethnische Gruppe, sondern ein Ort kann durch Menschen mit Bedeutung besetzt werden oder auch nicht. Dieter Haller bringt dies wie folgt auf den Punkt:
"Flächenextension ist zunächst einmal bedeutungs - los, sie kann mit Bedeutung, Interaktion und Identität besetzt werden." (Haller 1995: 83)[8]
Dieses 'Besetzen eines Territoriums' wird nach Stuart Hall, einem Theoretiker der 'Cultural Studies' Schule in England, durch ein System kultureller Repräsentationen geleistet (Hall 1994b:200). Er analysiert den Begriff der nationalen Identität und vertritt die These, daß Nationen 'vorgestellte Gemeinschaften' seien. Die Zugehörigkeit zu dieser symbolischen Gemeinschaft werde diskursiv konstruiert. Die Notwendigkeit permanenter diskursiver 'Neuverhandlungen' entsteht vor allem in Gesellschaften, die einem fortwährenden und schnellen Wandel unterliegen, in denen also die Erfahrung der Diskontinuität zu den konstituierenden Merkmalen gehört. Vor diesem Hintergrund kommt Hall zu dem Schluß, das sich das spätmoderne Subjekt ohne eine sichere und anhaltende Identität erfährt: "Identität wird ein 'bewegliches Fest'" (ebd.:182). Regionale oder nationale Identitäten erscheinen nicht selbstverständlich, sondern es bedarf einer 'Erzählung der Nation', an der die Subjekte teilhaben können und die Bedeutungen produziert. Landschaften und Klima einer Region bilden Elemente dieser 'Erzählungen'[9], und sind nicht die ursächlichen Faktoren bestimmter kultureller Verhaltensweisen oder Charakterstrukturen.
Bei der Identitätskonstruktion wird auch auf Elemente zurückgegriffen, die nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang zum lokalen Umfeld stehen. Kulturelle Muster finden, wie oben ausgeführt, durch die modernen Kommunikationstechnologien, aber auch durch Migrationsbewegungen[10] oder den internationalen Tourismus nahezu globale Verbreitung.
In der vorliegenden Arbeit werde ich zwei Bereiche der diskursiven Konstruktion italienischer Identität untersuchen, die mir bei der Beobachtung sozialer Räume der Kinder in Furore besonders aufgefallen sind. Im Kapitel '6.2 Die Küche' schildere ich einige Aspekte des Diskurses über die regionale Küche und das Kapitel '8. Fußball in den sozialen Räumen der Kinder' vermittelt einen Einblick in die Diskussionen über die italienische Art, Fußball zu spielen. Es soll dabei gezeigt werden, daß sich die Kinder an diesen Diskursen aktiv beteiligen und daß durch diese Partizipation identitätsstiftende Elemente vermittelt werden, die zum Teil als Elemente lokaler Kultur wahrgenommen werden, zum Teil aber als global vermittelte Elemente bezeichnet werden können.
3. Das Thema Kindheit in den Kulturwissenschaften
Das Thema Kindheit wird in den Sozial- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahren immer häufiger diskutiert. Im folgenden werde ich eine gezielte Auswahl von Untersuchungen zum Thema vorstellen, um in die Diskussion über den Wandel des Phänomens Kindheit in der Moderne einzuführen. Die referierten und kommentierten Ergebnisse der Untersuchungen sollen den Rahmen für die spätere Analyse der Feldforschungsdaten stellen. Im wesentlichen werde ich zwei Forschungsrichtungen skizzieren, die im engen Zusammenhang mit dem Thema der Arbeit stehen. Neben einer sozialhistorischen Ausrichtung der Kindheitsforschung[11], die hier nur kurze Erwähnung finden wird, sind dies
einerseits die soziologischen Untersuchungen zum Wandel der Kindheit in der Moderne, bei denen der Blick auf die Veränderung der sozialen Räume und Zeiten der Kinder gerichtet ist,
und andererseits Forschungen, die das Thema Kindheit und Medien in den Mittelpunkt stellen.
Beginnen werde ich mit der Vorstellung der mir wesentlich erscheinenden 'Vorläufer' der Kindheitsforschung im 20. Jahrhundert, in denen einige grundlegende Gedanken schon formuliert wurden. Martha Muchow (1935) führte schon in den 1920er Jahren den Begriff des Raumes in die Kindheitsforschung ein. Margaret Mead (1949) konstatierte die kulturspezifische Konstruktion der Kindheit, und Philippe Ariès (1960) verwies auf die Geschichtlichkeit der Kindheitsvorstellungen.
3.1 Grundlagen der Kindheitsforschung
3.1.1 Martha Muchows Lebensraumstudie
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es vor allem Pädagogen und Psychoanalytiker, die die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen zu erklären versuchten, indem verschiedene Phasenmodelle des Wachstums und der Persönlichkeitsentwicklung aufgestellt wurden.[12] Einen wichtigen Ausgangspunkt für die Untersuchung konkreter Lebensumwelten von Kindern in Deutschland, stellt die in den 20er Jahren in Hamburg entstandene Studie von Martha Muchow (1935) dar. Im Zuge der Auseinandersetzung mit der neuen faszinierenden und zugleich beängstigenden Umwelt der Großstadt entstand eine psychologische Untersuchung zu der Fragestellung, wie sich diese neue Siedlungsform auf die dort aufwachsenden Kinder auswirkt. Muchow erforschte die konkreten Erfahrungen von Kindern in einem Hamburger Arbeiterviertel. Sie ließ Kinder zwischen 9 und 13 Jahren ihre Spielplätze in Karten verzeichnen, befragte sie nach ihren Spielgewohnheiten und beobachtete zusammen mit ihren Studenten das Verhalten von Kindern an ausgewählten Orten. Der nicht-schulische und außerfamiliäre Bereich von Kindheit sollte im Mittelpunkt der Studie stehen, da in dem 'freien' Spiel der Lebensraum Großstadt die wichtigste Rolle spielte. Sie kam zu dem Ergebnis, daß sich die Räume der Kinder mit wachsendem Alter in konzentrischen Kreisen um das Elternhaus erweitern.
Eine Auseinandersetzung mit den Ergebnissen wurde durch die Auflösung des Hamburger Psychologischen Instituts durch die Nationalsozialisten verhindert. Erst Ende der 1970er Jahre wurde ihre Arbeit für die Kindheitsforschung wiederentdeckt. Heute beziehen sich einige deutsche und europäische Kindheitsforscher auf Muchows Studie der Kindheitsräume.[13]
3.1.2 Die "Culture and Personality School"
Einen wichtigen Beitrag zum Forschungsbereich Kindheit innerhalb der Ethnologie lieferte in den 20er bis 60er Jahren die in den USA beheimatete "Culture and Personality School". Als eine bekannte und einflußreiche Vertreterin dieser kulturrelativistischen Forschungsrichtung sei Margaret Mead genannt.[14] Sie unternahm ethnologische Forschungen in sogenannten primitiven Gesellschaften (Samoa, Neu Guinea), um die Adoleszenz in diesen fremden Kulturen zu untersuchen. Vor dem Hintergrund einer von der Psychoanalyse beinflußten Theorie schloß sie von Ihren Beobachtungsdaten über die Phase der Adoleszenz auf die besonderen kulturell bedingten Persönlichkeitstrukturen der Erwachsenen. Frühkindliche Erfahrungen wurden als so prägend angesehen, daß das Verhalten im Erwachsenenalter als Resultat dieser Erfahrungen interpretiert wurde. Ihre Arbeiten sollten verdeutlichen, daß Kindheit und Adoleszenz vor allem kulturell bedingt sind. Sie standen damit in Opposition zu eher biologistisch geprägten Konzepten von Jugend und Adoleszenz, die zu ihrer Zeit in den USA diskutiert wurden.[15] In einer Studie über das Aufwachsen in Samoa analysierte sie Kinderzeichnungen und bezog sich auf Gespräche mit jungen heranwachsenden Mädchen (Mead 1928). Die Ergebnisse verglich sie auch mit den Bedingungen des Heranwachsens in den USA oder Europa (Mead 1949). Die Erziehung und die frühen Erfahrungen der Kinder betrachtete Mead als eine Art Schlüssel zum Verständnis der Erwachsenen.
"I watched the Manus baby, the Manus child, the Manus adolescent, in an attempt to understand the way in which each of these was becomming a Manus adult." (Mead 1968:16)
Die eindeutigen und teilweise zwangsläufigen Beziehungen zwischen den Erziehungspraktiken und einer späteren Persönlichkeitsstruktur, die Mead behauptete, gaben Anlaß zur Kritik. Pia Haudrup Christensen (1994) bezeichnete die von Mead hergestellten Zusammenhänge als mechanistisch und deterministisch. Lindesmith und Strauss (1959:449) bemängelten an Meads Schlußfolgerungen unter anderem, daß die Zuordnungen zwischen den Erziehungspraktiken und den späteren Charakterzügen erst im Nachhinein (post-hoc) erfolgten, der Kausalzusammenhang zwischen den zeitlich weit auseinanderliegenden Phänomenen würde nur behauptet.
Aus heutiger Sicht muß der Kritik noch ein weiterer Punkt hinzugefügt werden: Kindheit und Adoleszenz wurden in den Arbeiten der "Culture and Personality School" lediglich als Übergangszustand betrachtet, "in Kindern sah man vorwiegend Mängelwesen, eben noch nicht Erwachsene. Im Blickpunkt des wissenschaftlichen Interesses standen nicht die Kinder, sondern die kulturspezifische Erziehung." (Bräunlein/Lauser 1994:I)
Als wichtiges Ergebnis dieser Forschungsrichtung kann man, bei aller berechtigten Kritik, festhalten, daß Kindheit als ein sozial geformtes, kulturell geprägtes und wandelbares Phänomen beschrieben wurde, das nicht als reines Naturphänomen existiert. Das Kindheit und die Kindheitsbilder historisch gewachsene Vorstellungen sind, die einem stetigen Wandel unterliegen, ist ein wesentliches Ergebnis der Arbeit von Philippe Ariès (1960).
3.1.3 Die Geschichte der Kindheit
Einen weiteren wichtigen Beitrag für die kulturwissenschaftliche Forschung zum Thema Kindheit in Europa gab 1960 Philippe Ariès (deutsch 1975) mit seinem Buch über die Geschichte der Kindheit. Als Historiker betrachtete er den Wandel des Phänomens Kindheit in der westeuropäischen Kultur seit dem Mittelalter bis zur Moderne. Seine Hauptthese ist, daß Kindheit in unserem heutigen Verständnis erst mit der bürgerlichen Gesellschaft ab dem 19. Jahrhundert entstanden ist. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden Kinder als kleine Erwachsene angesehen, die in der Gemeinschaft eine 'Lehre' durchliefen, bis sie völlig integriert waren.
"Die Dauer der Kindheit war auf das zarteste Kindesalter beschränkt, d.h. auf die Periode, wo das kleine Wesen nicht ohne fremde Hilfe auskommen konnte; das Kind wurde also, kaum das es sich physisch zurechtfinden konnte übergangslos zu den Erwachsenen gezählt, es teilte ihre Arbeit und ihre Spiele." (Ariès 1975: 46)
Der Bruch zwischen den Erfahrungswelten der Erwachsenen und der Kinder sei erst mit dem Aufkommen der bürgerlichen Familie und der Einführung des Schulsystems entstanden. Während im Mittelalter noch die lokale soziale Gemeinschaft die wichtigste Bezugsgruppe der Individuen darstellte, in der Kinder und Erwachsene gemeinsam ohne prinzipiellen Unterschied zusammenlebten, erhält im beginnenden Industriezeitalter allein die Familie diese Funktion. Die vorzivilisatorische "Sozialität" sei durch den "gewaltigen Aufschwung des Familiensinns" (ebd.:558) verloren gegangen.
Mit einer Fülle von Beispielen aus der mittelalterlichen Kunst und Kultur belegte Ariès seine Thesen. Dieter Richter (1987:20) macht darauf aufmerksam, daß dabei der Unterschied zwischen den Kindheitsbildern und dem Kinderleben vernachlässigt werde. Es ginge bei Ariès eher um die Repräsentationen und Vorstellungen der Erwachsenen von Kindheit als konkret um das Alltagsleben der Kinder.
Auch wegen der romantisierenden Rückschau auf die Sozialität im Mittelalter wurde Ariès Arbeit kritisiert (vgl. Hengst 1991:15f.). Ariès beklagt die Institutionalisierung der Kindheit, die diese erst als eine von der Welt der Erwachsenen getrennte Welt entstehen läßt. Anfang der 1980er Jahre wurde eine gegenläufige These zum weitverbreiteten Paradigma der Kindheitsforschung. Die Kindheit sei im Begriff sich aufzulösen, die Erfahrungswelten der Kinder und der Erwachsenen glichen sich immer mehr. Die Arbeit des amerikanischen Medienökologen Neil Postman (1982) wurde zum Ausgangspunkt für die Diskussion um das "Verschwinden der Kindheit" (ebd.) oder die "Liquidierung der Kindheit" (Hengst 1985).
3.1.4 Das Verschwinden der Kindheit
Postman versuchte in seiner Studie zur Mediennutzung der Kinder in den USA den Nachweis dafür zu erbringen, daß die neuen Medien, insbesondere das Fernsehen, das Ende der Kindheit herbeiführen. Das Fernsehen zerstöre die symbolische Umwelt der Gutenberg-Ära, die allein Kritik, Abstraktionsvermögen, methodisches Denken, die Fähigkeit des Triebaufschubs und Individualität, also Kultur verbürge. Im Gegensatz zu Ariès idealisiert Postman die bürgerliche Vorstellung von einer behüteten und sorglosen Kindheit, die durch den zunehmenden Medienkonsum der Kinder dem Untergang nahe sei. Seine Arbeit wurde wegen ihrer kulturpessimistischen Tendenzen heftig kritisiert. Pointiert kann man Postman vorwerfen, daß in seiner Studie Kinder zu passiven Empfängern einer kommerzialisierten Kultur degradiert werden. Die zunehmende Bedeutung der Medien für die Kindheit in der Moderne wurde zu einem zentralen Thema in der neueren Kindheitsforschung (vgl. Hengst 1985,1990 u.1996; Du Bois Reymond 1994; Büchner 1994)
3.2 Neuere Forschungen zu Kinderalltag und Kinderkultur in Europa
Ende der 1970er Jahre beginnt ein Boom in der Kindheitsforschung.[16] Übergreifendes Thema der meisten Arbeiten ist die Veränderung der Kindheit in der Moderne. Einige Forscher und Forscherinnen nehmen dabei die Grundidee Martha Muchows wieder auf und analysieren die besonderen Bedingungen der Kindheit mittels der Kategorie Raum. Im folgenden werde ich einige Ergebnisse dieser Forschungsrichtung zusammenfassen.
3.2.1 Kindheitsräume
Kommt Martha Muchow noch zu dem Schluß, daß sich die Räume der Kinder in quasi konzentrischen Kreisen um das Elternhaus erweitern, stellt Helga Zeiher (1989: 187f.) fest, daß die Räume der Kinder heute 'verinseln'. Der 'Aktionsradius' der Kinder sei immer seltener zusammenhängend, die einzelnen Orte seien weit verstreut und für die Kinder häufig nicht ohne die Hilfe der Erwachsenen zu erreichen. Im Gegensatz zu einer "traditionellen Straßenkindheit" (Pfeil 1965)[17] verliere der unmittelbare Nahbereich der elterlichen Wohnung an Bedeutung. Verantwortlich für diese Entwicklung seien die zunehmenden Funktionstrennungen und Spezialisierungen des städtischen Raums (Zeiher, Helga 1994: 355f). Die in den 60er und 70er Jahren entstandenen Wohngebiete außerhalb der Innenstädte, zeichneten sich durch ihre Monofunktionalität aus, und funktionsdiffuse Räume würden aus den Nahbereichen der Wohnungen vieler Familien verschwinden. Die Kinder werden in spezialisierte Räume verwiesen, "die weniges besonders gut ermöglichen und vieles verhindern." (Zeiher, Helga / Zeiher, Hartmut 1994:25). Die Verinselung der Kinderräume kann verschiedene Formen annehmen.
"Ein verinselter Lebensraum kann aus vielen Inseln bestehen, aber auch nur aus Wohnung und Kindertagesstätte." (ebd.: 27)
Jürgen Zinnecker (1990) beobachtet, daß die elterliche Wohnung als Kinderraum immer wichtiger wird, und bezeichnet diese Tendenz als "Verhäuslichung". Beiden Diagnosen gemeinsam ist die Feststellung, daß moderne Kindheit den Prozessen der Individualisierung und Pluralisierung unterliegt, die im soziologischen Diskurs als wesentliche Merkmale moderner Gegenwartsgesellschaften beschrieben werden.[18] Die Pluralisierung der Angebote für Kinder, wie Sportvereine, Musikschulen, private Tagesstätten und Spielgruppen, bedinge eine Partikularisierung der Lebensräume und in Folge dessen auch eine Partikularisierung der sozialen Beziehungen. So müssen Begegnungen mit Freunden und Freundinnen wegen der zunehmend verplanten Freizeit der Kinder gezielter vereinbart werden. Die Kindheitsräume werden immer individueller im Terminkalender 'zusammengestellt'.[19] Die traditionelle Kontrolle der Kinder durch die Erwachsenen werde teilweise ersetzt durch strukturelle Kontrollen mittels Verkehrsregeln, Überwachungsanlagen oder technischen Systemen, vor allem dort, wo Kinder in Binnenräume gedrängt werden.
Die angeführten soziologischen Untersuchungen, die häufig mit qualitativen Methoden arbeiten und die Kinder als Informanten ihrer eigenen Lebenssituation heranziehen, beziehen sich hauptsächlich auf die moderne Kindheit in den städtischen Räumen Westeuropas. Einen Hinweis darauf, daß die Ergebnisse aber auch auf ländliche Gegenden teilweise übertragbar sind, liefert die Arbeit von Manulea Du Bois Reymond (1994), die in ihren europäischen Vergleich auch die verschiedenen Bedingungen des Aufwachsens in der Stadt, der Kleinstadt und ländlichen Regionen miteinbezieht. Zur Analyse wurde von der Forschergruppe eine Klassifikation erstellt, die Kindheit in traditionale, teilmoderne und moderne Kindheit anhand des Beziehungsprofils (Merkmale: soziale Kompetenz, weitreichende Vernetzung) und des Aktivitätsprofils (Merkmal: Vielfältigkeit der Freizeitgesaltung) der Kinder einteilt (Du Bois Reymond u.a. 1994: 70). Die geschilderten Fälle zeigen häufig eine Mischung der Merkmale. Das Ergebnis ließ keine eindeutige Zuordnung einer traditionalen Kindheit zu den ländlichen Gegenden Ostdeutschlands bzw. einer hochmodernen Kindheit zu den westeuropäischen Städten (Frankfurt, Rotterdam) zu, wie sie auf den ersten Blick naheliegend scheint. Modernisierungstendenzen wie Verinselung, Verhäuslichung und Individualisierung wurden in allen Beispielen in unterschiedlicher Ausprägung festgestellt. Da diese Trends in der Entwicklung moderner Kindheit nicht nur auf die städtischen Räume beschränkt sind, werde ich meine in einem süditalienischen Dorf gesammelten Daten mit den genannten Ergebnissen vergleichen und am konkreten Beispiel problematisieren.
Als wichtige Bestandteile einer hochmodernen Kindheit werden in den erwähnten Studien die verschiedensten Medien (Fernsehen, Computer und Video) genannt. In der Kindheitsforschung werden die Auswirkungen der Konsumgüter- und Medienindustrie auf moderne Kindheit zum Thema gemacht.
[...]
[1] Der italienische Titel der Forschung lautete: "Influenza dell' incontro di diverse culture sul patrimonio culturale in una regione turistica (Costiera Amalfitana). Analisi delle modificazioni nelle strutture e negli usi della famiglia e dell' infanzia, con referimento agli spazi abitativi."
[2] Der Titel der Ausstellung lautete:"Eine Geographie der Kindheit - Momentaufnahmen süditalienischer Kindheit".
[3] Ebenso van de Loo/Reinhard 1993.
[4] Der Begriff 'Lebensraum' steht bei Martha Muchow in keinem Zusammenhang mit dem nationalsozialistisch geprägten Begriff, der zur ideologischen Rechtfertigung der Überfälle auf Polen und die Sowjetunion benutzt wurde. Der Soziologe Jürgen Zinnecker (1998: 5), der die Studie Muchows 1978 und 1998 neu veröffentlichte, vermutet, daß der Begriff Lebensraum im Zusammenhang mit dem Ersterscheinungsjahr eine Auseinandersetzung mit der Studie über lange Zeit verhindert hat.
[5] Mitunter ist es aber nicht möglich, einen Raum genau zuzuordnen. Zum Beispiel ist es nicht zu entscheiden, ob es sich im familiären Umfeld, um Räume der Kinder oder um Räume für Kinder handelt, da die Grenzen hier fließend sind.
[6] Giddens (1996:11) spricht von einer radikalisierten Moderne und nicht von einer Phase der Postmoderne, da dieser Begriff eine tiefgreifende Zäsur impliziert. Für ihn besteht eine historische Kontinuität seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts bis heute. Die mit der Moderne einsetzenden Umstrukturierungen des sozialen Lebens würden sich nur immer radikaler auswirken.
[7] Als Beispiel hierfür sei die 'Theory of limited goods' genannt, die von George Foster (Foster 1961) entwickelt wurde. Verkürzt besagt diese Theorie, daß karge Landschaften, also die geographischen Begebenheiten, die von einer Bevölkerungsgruppe bearbeitet werden, deren Charakterstruktur beeinflussen, weil die geringe Ausbeute, die Begrenztheit der Güter, zu Neid und Mißgunst unter der Bevölkerung führen. Diese Theorie wurde noch bis in die achtziger Jahre hinein, zum Beispiel in einer Studie zum Emigrationsland Süditalien (Zimmermann 1982), zur Analyse der süditalienischen Bauerngesellschaft herangezogen
[8] Mit dieser Aussage folgt Haller einem Raumkonzept, das schon Georg Simmel (1903) in seinen Schriften zur Soziologie entwickelte. Für Simmel bilden bestimmte Fächenextensionen sich gegenseitig ausschließende Behälter, innerhalb derer wiederum soziale Verbindungstypen existieren können. Bestimmend für die Grenzziehungen zwischen den Flächen sind nicht die geographischen Gegebenheiten selbst, sondern die Subjekte, die ihren Handlungsraum formen.
"Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischer Wirkung, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt." (ebd. 229)
[9] In den kulturellen Repräsentationen werden die Landschaften und die Geschichte einer Nation verarbeitet. Der argentinische Ethnologe Eduardo P. Archetti beschreibt diesen Zusammenhang so: "National symbols often serve to reflect and strengthen the historical continuity associated wirh a particular landscape: its natural contour is explored, mapped, lived and transformed into a homeland." (Archetti 1998:189)
[10] Für die Auswirkungen der Migration auf die sozialen Räume der Kinder vgl. die entstehende Magisterarbeit von Jan C. Oberg.
[11] Einen Überblick über die historische Sozialforschung zum Thema Kindheit gibt Mathias Beer (1994).
[12] Einen Einblick in die Ansätze der psychoanalytischen Kinder- und Jugendforschung vermittelt Mario Erdheim (1993).
[13] Z. B.: Zeiher, Helga (1989, 1994, 1995), Zeiher, Helga/ Zeiher, Hartmut (1994), Zinnecker (1990, 1995).
[14] Eine weitere Vertreterin der 'CPS' ist Ruth Benedikt, die in ihrer Monographie über Japan (1946: The Chrysantemum and the Sword) ebenfalls die Themen Kindheit und Erziehungspraktiken in den Mittelpunkt rückt.
[15] Eine einflußreiche biologistisch - deterministische Auffassung von Kindheit und Jugend findet sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts bei Stanley Hall (1904).
[16] Heinz Hengst (1991:13) sieht als eine Ursache dieses wachsenden Forschungsinteresses in Deutschland das internationale Jahr des Kindes 1979, in dessen Folge es Förderprogramme für dieses Thema gab. Die oben angeführten Publikationen um diesem Zeitpunkt trugen sicher zu dem wachsenden Interesse bei (Ariès 1975, Muchow 1978, Postman 1982).
[17] In ihrer Studie " Das Großstadtkind" beschreibt Elisabeth Pfeil (1965: 17-20) in den 60er Jahren, noch eine starke Beheimatung der Kinder in ihrem 'Viertel', wichtigste Orte der Kindheit seien Wohnung, Schule und in der Freizeit die Straße.
[18] Zur Individualisierung von Lebenslagen und Pluralisierung der Lebensstile in der Moderne vgl: Beck (1986), Beck/ Beck-Gernsheim (1994).
[19] Helga Zeiher (1988) bezeichnet die zunehmende Strukturierung der zeitlichen Umwelt der Kinder als Verselbständigung der Zeit.
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