Wieso kann ein Mensch ertragen, was den anderen verstört oder zerstört? Wie wirken sich schwierige, teils aussichtslose Lebenslagen und Lebenssituationen auf Kinder aus? Welchen Schutz erfahren Eltern und Kinder aus benachteiligten Verhältnissen durch staatliche Institutionen? Mit diesen Fragen werde ich mich in der vorliegenden Arbeit beschäftigen. Seit den 1990er Jahren wird die Armut von Kindern und Jugendlichen im Kontext von Armuts- und Sozialberichterstattung in der Fachöffentlichkeit zunehmend zur Kenntnis genommen. Auch aktuell wird das Thema Kinderarmut in den Medien diskutiert. Anlass ist das vermehrte Bekanntwerden von Vernachlässigungsfällen und Gewalt gegen Kinder. Als Ursachen werden elterliche Überforderung, mangelnde elterliche Anteilnahme und Unterstützungsfähigkeit deklariert.
Inhaltsverzeichnis
I. EINLEITUNG
II. KONZEPTUELLER RAHMEN
II. 1 Kindheit
II. 1. 1. gesellschaftstheoretische Ansätze
II. 1. 2 sozialisationstheoretische Ansätze und das Kind als sozialer Akteur
II. 1. 3. strukturelle Ansätze
Kindheit in der Generationenbeziehung (Leena Alanen)
Kinder als ökonomische Generation (Jens Qvortrup)
II. 1. 4 biographietheoretischer Ansatz und Kindheit als Teil des Lebenslaufes
II. 2 Familie
II. 2. 1 Begriff
II. 2. 2 Familie als Sozialisationsinstanz
II. 2. 3 Familie als Schutz- und Schonraum
II. 3 Armut
II. 3. 1 Ressourcenansatz
Absolute Armut
Relative Einkommensarmut
II. 3. 2 Lebenslagenansatz
II. 3. 3 Lebenslagen von Kindern/Kinderarmut
II. 4. Resilienz
II. 4. 1 Was ist Resilienz?
II. 4. 2 Forschungsstand
II. 4. 3 Charakteristika
II. 4. 4 Konzepte von Resilienz
Konzept der Bewältigung von Krisen (Oevermann)
Das Moderatorkonzept/Puffer-Modell (Rutter)
Konzept der Resilienz von Familien (Walsh)
Rahmenmodell von Resilienz (Kumpfer)
II. 4. 5 Kritik an den Konzepten von Resilienz
II. 4. 6 Schlussfolgerungen
III. DAS KINDER- UND JUGENDPROJEKT: DIE ARCHE
III. 1 Das Projekt
III. 2 Intentionen und Ziele
III. 3 Visionen
III. 4 Das Kinder- und Jugendwerk „Die Arche“ e.V. in Hellersdorf
IV. DIE FELDSTUDIE: DESIGN UND METHODISCHES VORGEHEN
IV. 1 Qualitative Sozialforschung als Ansatz
IV. 2 Grounded Theory (Glaser/Strauss)
IV. 3 Objektive Hermeneutik (Oevermann)
IV. 4 Dokumentarische Methode (Bohnsack)
IV. 5 Interview
IV. 5. 1 biographische Methode
IV. 5. 2 Das narrativ-biographische Interview
IV. 5. 3 Interviews mit Kindern
IV. 6 Fallauswahl
IV. 7 Datenerhebung
IV. 7. 1 Vorgehensweise
IV. 7. 2 Leitfadeninterview
IV. 7. 3 Memos
IV. 8 Transkription
IV. 9 Datenauswertung
IV. 9. 1 Datenanalyse im Rahmen der Grounded Theory
IV. 9. 2 Kodierparadigma
IV. 9. 3 Objektive Hermeneutik
IV. 9. 4 Analyse narrativer Interviews
IV. 9. 5 Dokumentarische Textinterpretation
IV. 10 Fallrekonstruktion/Fallkontrastierung
V. ERGEBNISSE
V. 1 Fall 1 – Annika
V. 1. 1 Interviewsituation
Hintergrund
Das Interview – Melanie und Christian
Das Interview – Annika
V. 1. 2 Biographie der Familie
Melanie
Christian
Elternbeziehung
Eltern-Kind-Beziehung
V. 1. 3 Portrait Annika
Persönliche Merkmale
Lebensumwelt
V. 1. 4 Deutungsmuster
Melanie
Christian
Annika
V. 1. 5 Hypothese zum Fall Annika: Krise als Möglichkeit zur Entwicklung
V. 2 Fall 2 – Anna
V. 2. 1 Interviewsituation
Hintergrund
Das Interview - Jens
Das Interview - Anna
V. 2. 2 Biographie der Familie
Jens
Marion
Elternbeziehung
Eltern-Kind-Beziehung
V. 2. 3 Portrait Anna
Persönliche Merkmale
Lebensumwelt
V. 2. 4 Deutungsmuster
Jens
Anna
V. 2. 5 Hypothese zum Fall Anna: Krise als Gefahr für die Entwicklung
V. 3 Fall 3 – Daniel
V. 3. 1 Interviewsituation
Hintergrund
Das Interview – Andre und Kerstin
Das Interview - Daniel
V. 3. 2 Biographie der Familie
Andre
Kerstin
Elternbeziehung
Eltern-Kind-Beziehung
V. 3. 3 Portrait Daniel
Persönliche Merkmale
Lebensumwelt
V. 3. 4 Deutungsmuster
Andre und Kerstin
Daniel
V. 3. 5 Hypothese zum Fall Daniel: Krisen als Chance
VI. FALLVERGLEICH UND FALLKONTRASTIERUNG
VI. 1 Krisen und Wendepunkte
VI. 2 Potenziale der Kinder an Resilienz
VI. 3 Typenbildung
VII. SCHLUSS
LITERATURVERZEICHNIS
VERZEICHNIS DER INTERNETADRESSEN
ANHANG
Anhang I - Interview mit Bernd Siggelkow vom 06.12.2004
Anhang II
Anhang II/1 Leitfaden für Interviews mit Kindern
Anhang II/2 Leitfaden für Interviews mit Eltern
Anhang II/3 Leitfaden für Interviews mit Betreuern
Anhang II/4 Transkriptionsregeln
Anhang III
Anhang III/1 – exemplarisches Interview mit einem Kind
Anhang III/2 – exemplarisches Interview mit Eltern
Anhang IV – exemplarisches Memo
Anhang V – exemplarisches Interview mit einem Betreuer
„Dazu kommt noch, dass ich außerordentlich viel Lebensmut habe, ich fühle mich immer so stark und im Stande, viel auszuhalten, so frei und so jung! Als ich das zum ersten Mal merkte, war ich froh, denn ich glaube nicht, dass ich mich schnell unter den Schlägen beuge, die jeder aushalten muss.“
(Tagebuch der Anne Frank, S. 306)
I. Einleitung
Wieso kann ein Mensch ertragen, was den anderen verstört oder zerstört? Wie wirken sich schwierige, teils aussichtslose Lebenslagen und Lebenssituationen auf Kinder aus? Welchen Schutz erfahren Eltern und Kinder aus benachteiligten Verhältnissen durch staatliche Institutionen? Mit diesen Fragen werde ich mich in der vorliegenden Arbeit beschäftigen.
Seit den 1990er Jahren wird die Armut von Kindern und Jugendlichen im Kontext von Armuts- und Sozialberichterstattung in der Fachöffentlichkeit zunehmend zur Kenntnis genommen. Auch aktuell wird das Thema Kinderarmut in den Medien diskutiert. Anlass ist das vermehrte Bekanntwerden von Vernachlässigungsfällen und Gewalt gegen Kinder. Als Ursachen werden elterliche Überforderung, mangelnde elterliche Anteilnahme und Unterstützungsfähigkeit deklariert.
Bereits im Jahre 2003 lebten 1,1 Millionen Kinder von Sozialhilfe. Die entsprechende Sozialhilfequote ist mit 7,2 % mehr als doppelt so hoch wie die der Gesamtbevölkerung. Nach der Studie des paritätischen Wohlfahrtsverbandes lag im August 2005 die Zahl der Kinder unter 15 Jahren, die nach Inkrafttreten der Hartz IV-Regelungen Anfang 2005 in Bedarfsgemeinschaften auf Sozialhilfeniveau lebten, bei 1,5 Millionen. In Berlin lag die so gemessene Kinderarmutsquote bei 29,9 % (448.500 Kinder). Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit weist im März 2006 einen diesbezüglichen Anstieg um weitere 290.000 aus. Rechnet man die Jahrgänge der 15- bis 18-Jährigen (nach UN-Konvention über die Rechte von Kinder gehören sie zu den Kindern) und diejenigen, die Leistungen nach SGB XII und dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, hinzu, so leben heute in Deutschland 2,2 Millionen Kinder auf Sozialhilfeniveau (vgl. Deutscher Kinderschutzbund – Bundesverband e.V., 2006, S. 27). Armut führt zu sozialer Ausgrenzung. Sie schränkt die Chancen der Betroffenen ein, am sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Leben der Gesellschaft teilzuhaben. Sie können sich nicht so verwirklichen, wie es ihren individuellen Fähigkeiten und Lebensentwürfen entspricht. Angesichts des immer größer werdenden Anteils der von Armut betroffenen Kinder, stellt sich die Frage, ob diese noch der Mehrheitsgesellschaft angehören oder ob sich hier eine Subgesellschaft entwickelt, deren Tragweite und Einfluss bislang nicht abschätzbar ist.
Mit Gewalt gegen Kinder ist jedoch nicht nur die physische Misshandlung von Kindern gemeint. Vielmehr ist dieser Begriff weiter zu fassen. Er schließt entsprechend dem Gewaltbegriff von Johan Galtung neben Vernachlässigung auch strukturelle Gewalt ein. Viele Kinder sind in ihren sozialen Verhältnissen gefangen. Diese hemmen sie in ihrer Entwicklung, schränken sie ein und enthalten ihnen Chancen vor. Im schlimmsten Fall unterliegen Kinder einer materiellen, sozialen und mentalen Benachteiligung. Hier erfahren sie das ganze Ausmaß an Gewalt. Diese Art der Gewalt wird von Individuen oft nicht wahrgenommen, da die eingeschränkten Lebensnormen bereits internalisiert sind. Kinder sind in diesem Fall durch Armut stark bedroht. Die Bedrohung wirkt auf ihre konkrete Lebenslage. Sie sind ihrem Selbstverständnis und in ihrer Persönlichkeit betroffen. Ihre Armut drückt sich vor allem darin aus, dass sie ihre potentiellen Formen der Kommunikation, des Lernens und des gesellschaftlichen Lebensstils der Allgemeinheit nicht verstehen und anwenden können.
Wie nun gerade diesen Kindern eine altersgerechte Entwicklung gelingen kann, zeige ich in dieser Arbeit auf. Die dafür erforderlichen Widerstandskräfte von Familien wurden bislang wenig untersucht. Genauso wie Kinder Armut von ihren Eltern „sozial erben“ können, sind sie in der Lage, Widerstandskräfte von ihnen zu übernehmen. Sind Familien bzw. Eltern nicht in der Lage, ihren Kindern den Erwerb von Bewältigungskompetenzen und Widerstandskräften zu vermitteln und einen kindgerechten Schutz- und Vorbereitungsraum zur Verfügung zu stellen, sollten diese Aufgaben von sozialen Einrichtungen übernommen werden. Damit können die Einflüsse von materieller Armut verringert und die soziale Reduktion relativiert werden. Den Kindern kann die Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlich-kulturellen Leben und Entfaltungschancen eingeräumt werden.
Diesen Gedanken folgend werde ich in der vorliegenden Diplomarbeit aufzeigen, was das Konzept der Resilienz zum Verständnis der Lebenssituation von benachteiligten Kindern in dem christlichen Kinder- und Jugendwerk „Die Arche“ e.V. in Berlin-Hellersdorf1 beitragen kann. Fraglich ist, inwieweit das Konzept der Resilienz die Arbeit der Betreuer in der Arche beeinflusst. Ich wende eine mehrdimensionale Analyse der Lebenslagen der Kinder und ihrer Eltern an. So erscheint ein ganzheitliches Bild von Armut. Ausgehend von der Analyse der jeweiligen persönlichen Eigenschaften und Merkmale sowie der Lebensumwelt, soll herausgearbeitet werden, welche Faktoren schützend oder risikoträchtig für die kindliche Entwicklung sind. Zugleich soll der interne Zusammenhang zwischen Risiko- und Schutzfaktoren aufgedeckt werden. Mit der Diplomarbeit zeige ich, in welchem Ausmaß die Kinder über Potenziale und Widerstandskraft verfügen und welcher Stellenwert diesen Fähigkeiten durch die Mitarbeiter der Arche eingeräumt wird. Der Schwerpunkt meiner Diplomarbeit wird auf dem Konzept der Resilienz von Familien und dem Rahmenmodell für die Entwicklung von Resilienz liegen. Besondere Bedeutung wird den von Eltern sozial erworbenen Merkmalen der Kinder sowie der kindlichen Selbsteinschätzung, ihren Verhaltensmustern und Adaptionen, sozialen Fertigkeiten und Formen der Problem- bewältigung beigemessen. Zu fragen ist, welche Rolle die Arche bei der Verbesserung kindlicher Chancen und beim Erlernen der vorgenannten Fertigkeiten spielen kann. Es wird sich herausstellen, ob die dauerhafte Begleitung der Kinder durch die Archemitarbeiter dazu geeignet ist, den Kindern Selbstwertgefühl, soziale Kompetenzen und Widerstandskraft zu vermitteln. Die Sichtweise der Kinder wird dabei im Zentrum meiner Aufmerksamkeit stehen und den Blickwinkel vorgeben.
Die vorliegende Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Im theoretischen Teil lege ich mein Vorverständnis von relevanten Begriffen wie Kindheit, Familie, Armut und Resilienz dar und setze mich detailliert mit ihnen auseinander. Ansätze wie der symbolische Interaktionismus und die Phänomenologie fließen in die Darstellung ein. Bezüglich der Kindheit (Kap. II. 1) stelle ich sozialisationstheoretische, strukturelle und biographietheoretische Ansätze vor und gehe auf Kindheit in Generationenbeziehungen ein. Ausschlaggebend ist in diesem Zusammenhang die gesellschaftliche Wahrnehmung des Kindes als sozialer Akteur, der sein Leben im Generationengefüge aktiv gestaltet. Meiner Betrachtungsweise liegt ein biographietheoretischer Ansatz von Kindheit zugrunde.
Die Aufgaben der Familie (Kap. II. 2) als Sozialisationsinstanz und ihre Zuständigkeit bei der Bereitstellung eines kindlichen Schutz- und Schonraumes führe ich im Anschluss aus.
Nachfolgend stelle ich theoretische Ansätze von Armut (Kap. II. 3) vor, wobei für meine Arbeit der Lebenslagenansatz ausschlaggebend ist. Zur Erfassung kindlicher Lebenslagen werden die Kriterien zur Erfassung der Erwachsenenlebenslagen auf die von Kindern übertragen, abgeändert und angepasst. Im Weiteren setze ich mich mit verschiedenen Konzepten von Resilienz (Kap. II. 4) auseinander. Ich gehe hierbei auf vier Ansätze ein, die mich in meiner Arbeit beeinflussen werden. Es handelt sich um das Konzept zur Bewältigung von Krisen nach Oevermann, das Moderatorenkonzept von Rutter, das Konzept der Resilienz von Familien nach Walsh und das neuere Rahmenmodell von Kumpfer. Maßgeblich ist, welche Krisen Wendepunkte in den Biographien der Familien auslösen und welche Mechanismen und Handlungen zur Entwicklung von Potenzialen gegenüber Resilienz bei Kindern und Eltern führen. Der zu entwickelnde Ansatz soll ganzheitlich konstruiert sein. Resilienz wird hier nicht als spezifische Eigenschaft eines Kindes gesehen, sondern als ein Potenzial, welches sich bei Eltern und Kindern zeigen und von Eltern auf Kinder (und umgekehrt) übertragen werden kann. Zusätzlich kann eine soziale Hilfseinrichtung die Entwicklung entsprechender Potenziale begünstigen, in dem sie den Kindern und Eltern Handlungsspielraum und Entfaltungsmöglichkeiten bereitstellt.
Im Anschluss stelle ich das Kinder- und Jugendhilfsprojekt „Die Arche“ e.V. vor (Kap. III). Ich gehe hierbei besonders auf dessen Arbeitsweise und Ziele ein. Meine Diplomarbeit führte ich in der im Jahre 1995 gegründeten Arche in Berlin-Hellersdorf durch, welche ich ebenfalls vorstellen werde. Anschließend erläutere ich die eingesetzten methodischen Ansätze, mein Forschungskonzept und die methodischen Ansprüche an die Datenerhebung und Datenanalyse (Kap. IV). Die hauptsächlich angewandten Methoden bestehen in der Grounded Theory, der objektiven Hermeneutik und der dokumentarischen Textinterpretation. Der dokumentarischen Textinterpretation nach Bohnsack kommt in der Datenanalyse besondere Bedeutung zu. Bohnsack schlägt die Rekonstruktion des Falles und die Kontrastierung aller Fälle vor. Hierauf greife ich in der Auswertung und Darstellung meiner Fälle zurück. Zuvor erhob ich Daten im Rahmen biographisch-narrativer und Leitfadeninterviews. Es schloss sich die Transkription und das Fertigen von Memos an. Bei der Auswertung gab ich der Interpretation des Datenmaterials durch schrittweise Vorgehens- weise nach der Grounded Theory und nach sinnverstehenden Ansätzen wie objektiver Hermeneutik den Vorzug. Diesen umfassenden Methoden kann ich aus Gründen des mir gesetzten Rahmens für die Diplomarbeit nicht in Gänze folgen.
Am Ende eines jeden Kapitels befinden sich Hinweise auf meine konkrete Vorgehensweise und meine Schlussfolgerungen. Ich erkläre ausdrücklich, dass die im theoretischen Teil auf- geführten Begrifflichkeiten nicht theoretisches Vorwissen, sondern lediglich den Rahmen für meine Diplomarbeit bilden.
Eine umfassende Darstellung der Fälle (Kap. V) erfolgt dann im empirischen Teil der Arbeit. Hier beschreibe ich anfangs für jeden Fall separat die Interviewsituation, das Verhalten und das Auftreten der Befragten. Ich gehe auf Probleme während des Interviewens ein und stelle die Reaktionen und Interaktionen zwischen den Interviewpartnern dar. Des Weiteren wird besonders auf die Biographie der Familie, die Elternbeziehung, die Eltern-Kind-Beziehung sowie die persönlichen Ressourcen der Kinder eingegangen. Ich erläutere, inwieweit ihre Lebensumwelt einen risikohaften Einfluss auf ihre Lebenssituation darstellt. Es werden explizit die Risiko- und Schutzfaktoren der Kinder, ihrer Eltern und der Lebensumwelt herausgearbeitet, ihre Wirkungsweisen analysiert und in Zusammenhang gebracht. Daraus ergibt sich ein Deutungsmuster für den Fall. Jeder Fall schließt mit einer ersten Hypothese ab. Die Falldarstellungen münden in einem Fallvergleich und einer Fallkontrastierung (Kap. VI). Es werden verschiedene Typen von Potenzialen an Resilienz und Entwicklungs- möglichkeiten der Kinder herausgearbeitet. Abschließend werden die Ergebnisse meiner Diplomarbeit kurz umrissen und komprimiert dargestellt (Kap. VII). Es werden die wichtigsten Argumente zusammengefasst und die wesentlichen Aspekte meiner Fragestellungen beantwortet.
II. Konzeptueller Rahmen
Ich möchte im folgenden Kapitel ausführen, welche Begriffe der Fragestellung und dem Thema meiner Arbeit zugrunde liegen und von welchem Verständnis von Kindheit, Familie, Armut und Resilienz ich ausgehe.
II. 1 Kindheit
Das heutige Leitmotiv der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung ist die Forderung, Kinder als Personen aus eigenem Recht zu betrachten. Kinder sollen nicht länger als Werdende, sondern als Seiende verstanden werden, die für sich selbst sprechen. Diese Perspektive auf Kinder ist jedoch keine Selbstverständlichkeit, wie die bisherige Literatur zur Kindheitsforschung zeigt. Deren grundlegende Ansätze sollen im Folgenden dargestellt werden.
II. 1. 1. gesellschaftstheoretische Ansätze
Philippe Ariés und Lloyd deMause beschäftigten sich in den 1960er und 1970er Jahren mit der Genese und dem Wandel von Kindheit seit dem Mittelalter. Die mittelalterliche Gesellschaft hatte ein Verhältnis zur Kindheit, welches darauf gründete, Kinder als integrierten Bestandteil der Gesellschaft zu sehen. Die kindliche Besonderheit wurde nicht bewusst wahrgenommen. Kinder galten als in der Größe reduzierte Erwachsene. Sie gehörten der Erwachsenenwelt an, sobald sie der Fürsorge ihrer Mutter nicht mehr bedurften (vgl. Ariès, P., 1977, S. 209). Erst seit dem 14. Jahrhundert ist eine Tendenz zu verzeichnen, dem Kind eine eigene Persönlichkeit zu verleihen. Kindheit wurde nunmehr als gesellschaftliche Konstruktion angesehen, welche Wandlungsprozessen und damit stetigen Veränderungen unterliegt.
In den 1980er Jahren wurde vor allem von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim Kindheit unter dem Aspekt von Individualisierungs-, Enttraditionalisierungs- und Modernisierungstendenzen untersucht. Alle Individuen sind in erster Linie “mit den Vorgaben gesellschaftlicher Institutionen konfrontiert und unterliegen den Gegebenheiten des Arbeitsmarktes, des Bildungssystems und des Sozialstaates“ (Grunert, C./Krüger, H.-H., 2006, S. 29). Die Gestaltung der Lebensführung ist damit den gesellschaftlichen Strukturbedingungen untergeordnet, ebenso die kindliche Lebenswelt. Kinder haben zwar die Möglichkeit selbst zu entscheiden, welche Elemente der Lebensführung sie nutzen, stehen aber unter dem Zwang, durch eigenes Handeln die alltägliche Lebensführung zu bestimmen. Zum Beispiel schlägt ein Kind nicht automatisch den von seinen Eltern beschrittenen Bildungsweg ein, sondern Eltern und Kinder überlegen gemeinschaftlich, welcher Schultyp am zweckdienlichsten ist. Damit erhöhen sich die Ansprüche an das selbstständige Handeln von Kindern. Ihnen wird eine hohe Eigen- und Selbstständigkeit eingeräumt und somit einem subjektiven Individualitätsanspruch Vorschub geleistet. Hier wird eine Annäherung der Kinderwelt an die Erwachsenenwelt deutlich (vgl. dies., a.a.O., S. 31).
Ein weiterer Ansatz auf gesellschaftstheoretischer Ebene, der in der Kindheitsforschung aufgegriffen wurde, ist der von Pierre Bourdieu. Er lenkt den Blick auf „Fragen der sozialen Ungleichheit in modernen Gesellschaften und weist auf unterschiedliche Positionen der Menschen im sozialen Raum hin.“ (ebd.). Für die Kindheitsforschung bedeutet das, dass kindliche Lebenslagen und die Aufwachsbedingungen grundlegend von der sozialen Lage und den sozialen Netzwerken der Herkunftsfamilie determiniert sind. Die soziale Herkunft spielt damit die entscheidende Rolle für die kindlichen Handlungsmöglichkeiten und Teilhabechancen an ökonomischen, kulturellem und sozialem Kapital (vgl. dies., a.a.O., S. 32). Neben diesen Ansätzen, die sich speziell auf das Verhältnis von Kindheit und Gesellschaft beziehen, beschäftigen sich sozialisationstheoretische Ansätze verstärkt mit dem Kind in aktiver Auseinandersetzung mit seiner Umwelt.
II. 1.2 sozialisationstheoretische Ansätze und das Kind als sozialer Akteur
Im Kontext der Entwicklungs- und Sozialisationsforschung wurde die Finalisierung von Entwicklung zu Gunsten eines Verständnisses von der Persönlichkeitsentwicklung als einem kontinuierlichen und produktiven Auseinandersetzungsprozess mit der Umwelt aufgegeben, welcher nicht auf die Kindheit beschränkt ist. Damit werden die „Eigenwelt des Kindes“ und „der Eigenwert des Kindseins im Hier-und-Jetzt“ anerkannt. Für Michael-Sebastian Honig, Andreas Lange und Hans Rudolf Leu steht die Perspektive der Kinder, das heißt der sozialstrukturelle und kulturelle Kontext des Kinderlebens im Vordergrund. Ebenso wichtig ist für sie die Frage nach den Bedingungen, unter denen Kinder an der Normierung und Strukturierung der Kindheit teilhaben. Eine Teilhabe kann in ihren Augen nur gewährleistet werden, wenn die Forschung offen ist für die individuelle und gesellschaftliche Besonderheit der Kinder. Forscher sollen Kinder in ihren Kompetenzen und der Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung ernst nehmen (vgl. Honig, M.-S./ Lange, A./Leu, H. R., 1999, S. 14 ff.). Dieser methodologischen Perspektive entspricht ein gegenstandstheoretisches Konzept des Kindes als sozialem Akteur (vgl. dies, a.a.O., S. 9). Kinder werden als aktive Subjekte ihrer Realitätsverarbeitung begriffen, deren persönliche Entwicklung sich im dynamischen Prozess der Sozialisation2, das heißt im Wechselspiel von Anlage- und Umweltfaktoren sowie individueller Selbsttätigkeit vollzieht. Sie setzen sich mit ihrer sozialen und materiellen Umwelt auseinander, bilden kognitive, sprachliche und soziale Handlungskompetenzen und haben kindspezifische Entwicklungsaufgaben zu bewältigen (vgl. Grunert, C./Krüger, H.-H., 2006, S. 21 f.). Das von Grunert und Krüger vorgeschlagene Konzept von Sozialisation beinhaltet damit psychologische und soziologische Theorieansätze. Gerade die in der Kindheit gemachten Sozialisationserfahrungen bilden das Grundgerüst der kindlichen Persönlichkeitsentwicklung, denn von ihnen werden alle weiteren Sozialisationsprozesse beeinflusst.
Die so genannte „Neue Kindheitsforschung“, deren Vertreter in den folgenden Kapiteln benannt werden, knüpft an George Herbert Meads theoretischen Ansatz an. Mead betont die zentrale Bedeutung von sozialen Kontakten und den damit verbundenen wechselseitigen Verhaltenserwartungen für die Persönlichkeitsentwicklung. Über das Symbol der Sprache und über Gesten lernt das Kind Absichten anderen Menschen kennen und kann die Bedeutung von Handlungen erkennen. Mead entwarf ein Modell des aktiven, seine Lebenswelt reflektierenden und interpretierenden Menschen, der damit soziale Wirklichkeit stetig neu erzeugt. Neben Erwachsenen wird auch Kindern diese aktive Rolle zugeschrieben (vgl. dies., a.a.O. S, 24 f.). Mead sieht Kinder als schöpferische Interpreten und Konstrukteure ihrer Lebenswelt, da sie durch Kommunikation die soziale Umwelt mit Bedeutung versehen und schrittweise ein reflexives Bild von der eigenen Persönlichkeit aufbauen. Eltern bilden für das Kind einen sinnstrukturierenden Rahmen, der die Voraussetzung für den Aufbau der Persönlichkeitsorganisation darstellt. Die sozialisatorische Interaktion in der Familie bildet damit den zentralen Ausgangspunkt der Subjektbildung. Die Theorie der sozialen Interaktion betont damit die aktiven Eigenleistungen und die Gestaltungsmöglichkeiten des Kindes bei der Entwicklung seiner Persönlichkeit (vgl. Hurrelmann, K./Bründel, H., 2003, S. 34 f.).
Im Mittelpunkt der Sozialisationstheorie steht damit die Beziehung zwischen Kind und seiner Umwelt. Sie bildet einen wechselseitigen Prozess der Einflussnahme und stellt damit ein integrierendes Rahmenkonzept für meine Diplomarbeit dar. Das Konzept vom Kind als sozialem Akteur werde ich in den Mittelpunkt meiner Untersuchung stellen.
II. 1. 3. strukturelle Ansätze
In Abgrenzung zur sozialisationstheoretischen Perspektive wird Kindheit in strukturellen Ansätzen nicht mehr lediglich als eine Altersphase oder eine Phase im institutionalisierten Lebenslauf, sondern als ein dauerhaftes Strukturelement der Gesellschaft gesehen (vgl. Honig, M.-S./Lange, A./Leu, H. R., S. 17). Zugleich stellt Kindheit für Kinder eine vorüber- gehende Lebensphase dar (vgl. Alanen, L., 2005, S. 69). Kindheit wird mit Phänomenen wie „Klasse“ bzw. „Gender“ parallelisiert und verglichen sowie als strukturierendes und strukturiertes Phänomen angesehen.
Die zentrale Aufgabe der strukturellen Kindheitssoziologie besteht darin, den von Kindern erlebten Alltag im gesamtgesellschaftlichen Kontext in Beziehung zu setzen. Durch die Identifizierung von makrosoziologischen Phänomenen und deren gemeinsamen, vereinheitlichenden Merkmale werden Kinder materiell, sozial und kulturell als eine generationale Gruppe konstruiert. Besonders Jens Qvortrup betont, dass die bloße Beschreibung von Situationen und Lebensweisen von Kindern nicht genügt, es seien vielmehr auch Merkmale wie Macht und Ressourcen zu berücksichtigen. Unterscheidungen innerhalb der Bevölkerungsgruppe der Kinder nach Geschlecht, Ethnie und Alter seien sekundär (vgl. Hengst, H./Zeiher, H., 2005, S. 19). Auf Qvortrups Darstellung der wechselseitigen ökonomischen Abhängigkeit der Generationen werde ich eingehen, nachdem ich das generationale Konzept der Kindheit von Leena Alanen dargestellt habe. Kindheit in der Generationenbeziehung (Leena Alanen) Leena Alanen fordert, Kinder als Akteure und Kindheit als Bestandteil der Gesellschaftsstruktur zu konzeptualisieren. Sie sieht Kinder als Wissende und als eigenständige Personen. Lebenswelten von Kindern und Erwachsenen unterscheiden sich für sie nicht in der methodischen Betrachtungsweise (vgl. Hurrelmann, K., Bründel, H., 2003, S. 56).
„Kindheit wird im Grunde durch das soziale ´Faktum´ Generation konstruiert …“ (Alanen, L., 2005, S. 65). Alanen greift hier auf den in der Kultursoziologie entstandenen Generationenbegriff von Karl Mannheim zurück und entwickelt dessen historisch-politischen Ansatz weiter.3 Bei ihrem Konzept des „generationing“ geht es um die internale generationale Abhängigkeit der Kategorien „Kinder“ und „Erwachsene“ voneinander. „Keine Kategorie kann ohne die andere existieren, und was eine jede von ihnen ist (ein Kind, ein Erwachsener oder irgendein Nicht-Kind), hängt von ihren Beziehungen untereinander ab.“ (ders., a.a.O., S. 79). Die generationale Struktur hängt vom kulturell determinierten Handlungsvermögen der Kinder und Erwachsenen ab. Hier bringt Alanen den Machtbegriff in ihr Konzept ein. Kindliches Handlungsvermögen ist untrennbar mit Macht verbunden. Kinder verfügen über die Fähigkeit, Ereignisse in ihrer Alltagswelt selbst zu gestalten und zu beherrschen. Eine Kindheitsforschung muss sich deshalb darauf konzentrieren, „die generationalen Strukturen zu identifizieren, aus denen die Macht der Kinder (oder deren Fehlen) hervorgeht.“ (ders., a.a.O., S. 80, herv. i. O.). Nur so kann Art und Umfang des Handlungsvermögens von Kindern aufgedeckt werden. Kinder als ökonomische Generation (Jens Qvortrup) Auch Jens Qvortrup bezieht in sein Konzept der generationalen Kindheit die Verteilung von Macht und Ressourcen ein. Kinder und Erwachsene sind für ihn, wie auch für Leena Alanen, keine entgegengesetzten Kategorien. Kinder bilden bei Qvortrup keine kulturelle, wohl aber eine ökonomische Generation (vgl. Alanen, L., 2005, S. 78), die wertvoll genug ist, um Ressourcen in sie zu investieren. „Kindheit ist eine integrale strukturelle Form der Gesellschaft …“ (Qvortrup, J., 2005, S. 46). Kindheit ist zugleich ein generationaler Status, welcher in ökonomische und kulturelle Interaktion mit anderen Teilen der Gesellschaft tritt.
Staat, Wirtschaft und andere Akteure haben ein Interesse an Kindheit als struktureller Form. Obwohl sich die gesellschaftlichen Pflichten der Kinder transformiert haben4, müssen Kinder doch systemimmanente Aktivitäten erbringen. Die Einbindung der Kinder in Schulen beispielsweise sichert letztendlich deren künftige Arbeitskraft. Genau wie Alanen stellt auch Qvortrup auf Kinder als gesellschaftlich Handelnde ab, die ihre Umwelt selbst gestalten, denn „Kinder [tragen] zu ihrer Aufzucht, Erziehung und Arbeitskrafterzeugung selbst [bei].“
(ders., a.a.O., S. 44).
Die Verteilung von Macht zwischen den Generationen werde ich in meiner Diplomarbeitbetrachten, denn so kann ich den Umfang des Handlungsvermögens der Kinder undgenerationale Abhängigkeiten zwischen den Familienmitgliedern darstellen. Es ist fraglich,ob die befragten Familien den Kindern eine eigenständige, aktive und gleichwertige Position(im Sinne des eigenständigen sozialen Akteurs, der seine Beziehungen und seinen Alltagselbst gestaltet) zugestehen oder ob sie in den traditionellen Rollen von Familie verharren.
II. 1. 4 biographietheoretischer Ansatz und Kindheit als Teil des Lebenslaufes
Ähnlich wie in sozialisations- und entwicklungspsychologischen Ansätzen werden Kinder inder biographietheoretischen Perspektive als aktive Subjekte ihrer Realitätsverarbeitung undLerntätigkeit dargestellt. Im Zentrum dieses Ansatzes steht es, die biographischen Wege desErwachsenwerdens zu rekonstruieren, den Wandel von Kindheit biographisch zu untersuchen„und die subjektiven, biographisch geformten Erfahrungen und Werte von typischenKindheiten herauszuarbeiten.“ (Grunert, C./Krüger, H.-H., 2006, S. 17).
Es wird davon ausgegangen, dass sich der Umgang zwischen Eltern und Kindern durchzunehmende Liberalität und Informalität geändert hat. Kinder sind heute früher selbstständig.Ihre Fremdzwänge werden im Alltag durch Selbstzwänge abgelöst. Sie verfügen über einhöheres Maß an verinnerlichter Selbstkontrolle und sind dadurch zeitiger in der Lage, ihrenWerdegang und ihren Lebenslauf mitzubestimmen. Zudem lernen sie früh, über sich selbstund ihr zukünftiges Leben zu reflektieren. Jedoch vollzieht sich dieser Entwicklungsprozessnicht bei allen Kindern einheitlich. Das ist das Ergebnis der Studie „Kindheit inOstdeutschland“ (1994) von Heinz-Hermann Krüger, Jutta Ecarius und Cathleen Grunert.Vielmehr ist es so, dass es unterschiedliche Varianten kindlicher Biographieverläufeexistieren5. Besonders die Umstrukturierungsprozesse in Familien, in der Schule und in derFreizeit im Zuge der deutsch-deutschen Vereinigung begünstigen in ostdeutschen Familieneinen sehr frühen Übergang von der Kindheit in eine lange Jugend. Problematisch ist die altersmäßige Festlegung des Übergangs. Die Autoren schlagen hierzu die Erfassung der subjektiven Selbst- und Fremdwahrnehmungen vor. Die Wahrnehmung der Eltern unterscheidet sich jedoch von der Selbstwahrnehmung der Kinder. Besonders konfliktträchtig stellt sich das 12. und 13. Lebensjahr der Kinder dar. Hier sehen die Kinder sich bereits als Jugendliche und fordern entsprechende Handlungsmöglichkeiten ein, während sie von den Eltern noch als Kinder gesehen werden (vgl. dies., a.a.O., S. 190 f.).
Im Rahmen meiner Diplomarbeit werde ich ostdeutsche Familien bzw. in Ostberlin lebende Familien befragen, die die deutsch-deutsche Vereinigung erlebt haben. Die soziale Herkunft spielt damit eine wichtige Rolle für die kindlichen Handlungsmöglichkeiten und den Zugang zu ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen. Interessant ist hier die Frage, wie sich die Individualisierung und die Änderung der Lebensbedingungen auf den Alltag der Eltern und Kinder niedergeschlagen haben und welche Ereignisse im Lebenslauf die Entwicklung von Resilienz ausgelöst haben6. Vor dem Hintergrund einer frühen Verselbstständigung und einer prekären Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation könnten sich bereits jetzt Risikobiographien bei den Kindern abzeichnen.
Die Verbindung von strukturellen, biographietheoretischen, sozialisationstheoretischen und gesellschaftstheoretischen Ansätzen erscheint mir sinnvoll, um Chancen und Handlungsmöglichkeiten der Kinder, den Zugang zum kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapital sowie die Prozesse kindlicher Biographieentwicklung im Kontext ökologischer und sozialer Lebensbedingungen analytisch fassen zu können. Die Kinder werden jeweils am Anfang und im Zentrum meiner Perspektive stehen. Von ihnen aus werde ich ihre Umwelt betrachten. Ich werde so in einer sich wechselseitig ergänzenden Innen- und Außenperspektive ein komplexes Bild von ihren Lebensläufen, ihren Entwicklungen (ggf. der Entwicklung von Resilienz), den Generationenbeziehungen in den Familien und deren Bedingungsfaktoren im Zusammenspiel und in Abhängigkeit von ihren Familien erhalten.
II. 2 Familie
Die Bedingungen des Aufwachsens für Kinder haben sich vor dem Hintergrund der Pluralisierung von Familienformen, von Individualisierungstendenzen und der Änderung von Erziehungsstilen von einem traditionellen Befehlshaushalt zu einem Verhandlungshaushalt stark verändert. Dennoch: „Kindheit ist heute immer noch in erster Linie Familienkindheit.“ (Grunert, C./Krüger, H.-H., 2006, S. 36). Liebe, Geborgenheit und die subjektive Gewissheit, sich jederzeit auf die Eltern verlassen zu können, sind heute die zentralen Voraussetzungen für die gesunde Entwicklung von Kindern.
II.2.1 Begriff
In den Sozialwissenschaften und der Psychologie gibt es keine einheitliche Definition von Familie. Froma Walsh, Mitbegründerin des Chicagoer Center for Family Health, konstatiert:
„The family as a whole is greater than the sum of its parts and cannot be described simply by summing up characteristics of individual members.“ (Walsh, F., 1982, S. 9).
Unter gesamtgesellschaftlicher Sicht wird die Familie als eine soziale Institution bezeichnet, die bestimmte Leistungen zu erbringen hat. Mikroperspektivisch gesehen ist die Familie ein durch eine bestimmte Rollenstruktur und spezifische Interaktionen gekennzeichnetes gesellschaftliches Teilsystem. Familie als „an interactional system (…) operate according to rules and principles that apply to all systems.” (Walsh, F., 1982, S. 9). Jede soziologische Definition beinhaltet, dass Familie eine Reproduktions- und Sozialisationsfunktion, eine Generationendifferenz und ein spezifisches Kooperations- und Solidaritätsverhältnis zwischen ihren Mitgliedern mit einschließt7.
In der Sozialphänomenologie wird die Familie als Verweisungszusammenhang von milieutypischen Selbstverständlichkeiten der Welt- und Selbstauffassung gesehen. Familien konstruieren ihre Welt als eine ihnen vertraute, weil sie diese in ihren typischen Aspekten selbst bestimmen. Der Zugang zur Familie eröffnet sich durch das kollektive Familiengedächtnis, welches Deutungsmuster sozialer Wirklichkeit bereithält.
Im Sinne der strukturalen Perspektive der objektiven Hermeneutik ist Familie ein Zusammenhang interagierender Personen, der durch zwei widersprüchliche, aber notwendig miteinander verschränkte Beziehungen gekennzeichnet ist: die Paarbeziehung der Eltern und die Eltern-Kind-Beziehung, ggf. erweitert um die Geschwisterbeziehung. Besondere (Struktur-) Merkmale sind die Nichtaustauschbarkeit der Personen, affektive Solidarität und die Unkündbarkeit der Personen. Auftauchende Krisen werden vor dem Hintergrund dieser milieutypischen Selbstverständlichkeiten bewältigt (vgl. Grunert, C./Krüger, H.-H., 2006, S. 36).
„Es wäre nun unsinnig, Familie entweder als Ort sozialisatorischer Interaktion oder als Milieu zu analysieren. Wenn wir Familie betrachten als den ´Punkt, von dem aus das Kind den Rest des Universums betrachtet´ (…), dann erscheint beides im Blickfeld: daß Identität sich in Interaktionen bildet und daß dieser Prozeß der Identitätsbildung auf einen vertrauten Rahmen eines Familienmilieus angewiesen ist." (Hildenbrand, B., 1999, S. 12, herv. i. O.). Hildenbrand schlägt damit eine Kombination von Perspektiven vor, die ich für meine Diplomarbeit nutzen werde.
II.2.2 Familie als Sozialisationsinstanz
Die Familie ist trotz Auslagerung von Erziehungsaufgaben (z. B. in die Schule) die zentrale Sozialisationsinstanz (vgl. Mansel, J./Rosenthal, G./Tölke, A., 1997, S. 10). Familienmit- glieder reflektieren ihre Position im gesellschaftlichen System im Hinblick auf die Verteilungsverhältnisse und ihre kulturelle und politische Partizipation. Sie erschaffen damit ein Familienbild, welches zum Selbstbild wird, wenn die Familie selbstgestaltend daran mitwirkt. Sie konstituiert dabei „ein Wir-Bewußtsein der Gruppe“ (vgl. Kirchhöfer, D., 1997 S. 161 f.). Das Wir-Bewusstsein in der Familie transportiert vor allem Wertorientierungen und formuliert normative Ansprüche an das Verhalten der einzelnen Angehörigen. Es bietet den Familienangehörigen Erklärungs- und Deutungshilfen gegen Anforderungen und Bedrohungen, die besonders von Kindern in Anspruch genommen werden8.
Familiale Generationen9 weisen eine sehr starke Solidarität auf. Sie leben nicht weit voneinander entfernt, helfen sich materiell, haben häufig Kontakt, sind einander eng verbunden und fühlen sich zur Solidarität verpflichtet. Innerhalb der familialen Generationenbeziehung erfolgt die Weitergabe von Verhaltensmustern, Einstellungen und Werten von Eltern und Kindern im Rahmen der Sozialisation nicht nur über Erziehung, sondern über die Gesamtheit der alltäglichen Interaktionen in der Familie. Die Familie gilt damit als Kommunikations- und Interaktionseinheit. Sie bringt ein Selbstbild und eine Form der Familienkohäsion hervor. Bezogen auf das Kind bedeutet das, dass es im Rahmen der Familienkommunikation und -interpretation die ersten Interpretations- und Verhaltensmuster erwirbt.
II.2.3 Familie als Schutz- und Schonraum
Die Familie stellt nicht nur die Weichen für das zukünftige Erwachsenenleben und die Übernahme sozialer Rollen und Positionen. Zugleich stellt sie auch einen Schutz- und Vorbereitungsraum dar, in dem das sich entwickelnde Kind spielen, lernen und sich entfalten kann (vgl. Joos, M., 2001, S. 215 f.). Als wichtigen Beitrag zum Schutzraum eines Kindes zählen auch Liebe, Geborgenheit und Verlässlichkeit in der Eltern-Kind-Beziehung. Ein Verlust an Geborgenheit und familialen Gemeinschaftserfahrungen kann für das Kind ein Risiko darstellen. Die Einbettung in die Zusammenhänge traditioneller Gemeinschaften und eine stabile emotionale Beziehung zu den Eltern fehlt. Das Kind kann in diesem Fall keine Verhaltensmuster und Strategien für die Bewältigung von Stress- bzw. Notsituationen erlernen. Auch die Fähigkeit, Selbstvertrauen zu haben, entwickeln Kinder nur in einem von Liebe und Verlässlichkeit geprägten Umfeld. Das Fehlen der von den vorgenannten drei Autoren aufgezählten Merkmale stellt somit ein Risiko für die Entwicklung eines Kindes dar.
Die Familienform, in der Kinder aufwachsen, wird in meiner Diplomarbeit zu untersuchen sein, denn das Aufwachsen in Ein-Eltern-Familien, in Scheidungs- und Multiproblemfamilien gilt als Risikofaktor im Sinne der Resilienzforschung. Zudem haben Studien ergeben, dass widerstandsfähige Jungen oft aus Haushalten mit klaren Strukturen und Regeln kommen, in denen ein männliches Familienmitglied als Identifikationsmodell dient und in denen Gefühle nicht unterdrückt werden. Widerstandsfähige Mädchen kommen oft aus Haushalten, in denen sich die Betonung von Unabhängigkeit mit der zuverlässigen Unterstützung einer weiblichen Fürsorgeperson verbindet (vgl. Werner, E., 1999, S. 29). Insofern ist nicht nur die Familienform maßgeblich, sondern auch die Art der Eltern-Kind-Beziehung, der praktizierte Erziehungsstil und das Geschlecht des Kindes. Als ein die kindliche Entwicklung unterstützender Faktor hat sich ein einfühlsamer und partizipativer Erziehungsstil erwiesen. Kinder benötigen heute in erster Linie Eltern, die sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung stärken. Hierzu suchen Eltern einen Erziehungsstil, der fördert und fordert, aber nicht diszipliniert und reglementiert. Kindern wird – ebenso wie Jugendlichen – zugetraut, dass sie ihre Umwelt selbst gestalten können. Sie werden als kindliche Persönlichkeiten angesehen, die im Hier und Jetzt leben und handeln möchten (vgl. Hurrelmann, K./Bründel, H., 2003, S. 93). Das Bild vom unfertigen Erwachsenen ist überholt, denn viele Bausteine für eine eigenständige Lebensführung sind bei Kindern bereits vorhanden.
II. 3 Armut
Armut und soziale Ausgrenzung sind in Deutschland nicht nur Randphänomene. Was Armut bedeutet, ist jedoch in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion nicht eindeutig definiert. Allgemein werden Personen oder Haushalte als arm bezeichnet, die am unteren Ende einer dimensionalen Verteilung liegen. Die Dimensionen können ein oder mehrere Merkmale umfassen. Dabei handelt es sich um Angaben wie Einkommen, Vermögen, Bildung, Wohnsituation, Freizeit usw. (vgl. Zimmermann, G. E., 2001, S. 38). Da es für Armut keine einheitlichen Maßstäbe oder eine einheitliche Definition gibt, sollen die gängigen Armutskonzepte, namentlich der Ressourcen- und der Lebenslagenansatz, im Folgenden dargestellt werden.
II.3.1 Ressourcenansatz
Bei dem eindimensionalen Ressourcenansatz wird Armut als eine Unterausstattung der Untersuchungseinheiten wie Personen, Haushalte und Familien an monetären bzw. nichtmonetären Ressourcen10 verstanden. Dieser Ansatz konzentriert sich ausschließlich auf eine einzige Ressource, das verfügbare Einkommen. Er kann daher das Phänomen Armut trotz eines engen Zusammenhanges zwischen Einkommen und Armut nur unzureichend erfassen (vgl. Zimmermann, G. E., 2001, S. 37). Denn Armut besteht auch in der Unterausstattung anderer relevanter Bereiche wie Bildungschancen, Gesundheit, Ernährung, Wohnraum und Freizeit. Dennoch werden in Deutschlands Sozialberichterstattung am häufigsten die eindimensionalen Armutsmaße verwendet, welche sich auf Einkommensarmut beziehen. Deshalb werde ich sie im Anschluss darstellen.
Absolute Armut
Absolute Armut ist jene, in der entweder der Person, der Familie oder dem Haushalt die Mittel und Ressourcen für die Lebenserhaltung (physisches Existenzminimum) und ein menschenwürdiges Dasein (sozio-kulturelles/konventionelles Existenzminimum) innerhalb einer Gesellschaft fehlen. Hier stellt der Sozialhilfebetrag die Armutsgrenze auf einer gesetzlich geregelten Basis dar. Sozialhilfe ist in Deutschland ein Instrument zur Armutsbekämpfung. Sie basiert auf einer gesellschaftlich festgelegten Grenzziehung und hat gemäß § 9 SGB I und § 1 SGB XII „die Aufgabe, einkommensschwachen Personen ein Leben zu ermöglichen, ´das der Würde des Menschen entspricht.´ (Sie) soll nicht nur die physische Existenz sichern, sondern auch die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben ermöglichen“ und zur Selbsthilfe befähigen (ders., a.a.O., S. 38). Gemäß § 2 SGB XII wird Sozialhilfe nachrangig gezahlt. Hier wird die Betonung des Vorrangs der Selbsthilfe deutlich.
Relative Einkommensarmut
Der zweite im Rahmen des Ressourcenansatzes häufig verwendete Begriff ist der Begriff der relativen Armut. Armut ist hier in Relation zu einem gesellschaftlichen Lebensstandard oder den durchschnittlichen Ausgaben eines Haushaltes zu sehen. Als zentraler Indikator gilt auch hier die Höhe des Einkommens. „Auch wenn Armut eine mehrdimensionale, also nicht nur finanzielle Benachteiligung darstellt, kann von den verfügbaren finanziellen Mitteln indirekt darauf geschlossen werden, welches Maß an gesellschaftlicher Teilhabe gelingt.“ (2. Armuts- und Reichtumsbericht, 2005, S. 19). Nach dem Prinzip der sozialen Ungleichheit wird diese Armut aus der Verteilung von Wohlstand in der Bevölkerung abgeleitet. Unterhalb einer bestimmten Grenze gilt man als arm (vgl. Zimmermann, G. E., 2001, S. 38). In den EU- Mitgliedstaaten gelten Personen als arm, deren bedarfsgewichtetes Nettoäquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Mittelwerts aller Personen beträgt. In Deutschland liegt die so ermittelte Armutsgrenze bei einem Einkommen von 938 Euro monatlich (vgl. 2. Armuts- und Reichtumsbericht, 2005, S. 6). Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht identifizierte im Jahre 2003 damit 13,5 % aller Personen in Deutschlands Privathaushalten als einkommensarm (vgl. ders., a.a.O., S. 19).
Das Phänomen Armut bzw. Unterversorgung ist jedoch nicht nur eindimensional. Es lässt sich nicht monokausal erklären und auf eine Ursache reduzieren. Armut kann nur mehrdimensional erklärt werden. Das Phänomen beinhaltet Ausprägungen, die in einer mehrdimensionalen Analyse besser hervortreten. Relevante Lebensbereiche und maßgebliche Dimensionen der Versorgungslagen sind zum Beispiel Bildung, Erwerbsstatus, Wohnen und Gesundheit. Diese werden von einem ressourcenorientierten Konzept von Armut nicht erfasst.
II.3.2 Lebenslagenansatz
In der Armutsforschung herrscht weitgehend Übereinstimmung, dass das Konzept der Lebenslage das Phänomen Armut am ehesten erfassen kann. „Der Terminus Lebenslage bezeichnet die Lebenssituation von Menschen in biologischer, psychischer und sozialer Hinsicht.“ (Holz, G., 2006, S. 4). Ingeborg Nahnsen versteht die Lebenslage eines Menschen als Lebensgesamtchance des Einzelnen. Die individuelle Interessenentfaltung und Interessen- realisierung wird durch die Ausgestaltung verschiedener Lebenslagebereiche (Versorgung, soziale Kontakte, Bildung, Partizipation) abgesteckt. Nahnsen geht davon aus, dass Menschen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse ungleiche Handlungsspielräume haben und schließt sich damit dem Lebenslagebegriff von Gerhard Weisser an. Für ihn ist Lebenslage ein Spielraum, den die äußeren Umstände dem Einzelnen nachhaltig zur Erfüllung von mittelbaren und unmittelbaren Interessen geben (vgl. ebd.). Dieses Spielraumkonzept haben Karl August Chassé, Margherita Zander und Konstanze Rasch weiterentwickelt, indem sie verschiedene Arten von Bedürfnissen unterscheiden und danach fragen, wer sie formuliert. Sie übertragen das Konzept der Lebenslage von den Erwachsenen auf Kinder (siehe Kap. II. 3. 3). Die Autoren stellen für Erwachsenenlebenslagen fest: Ist ein Mangel an monetärem Einkommen vorhanden, so treten zugleich weitere Notlagen bzw. Unterversorgungs- phänomene in zentralen Lebensbereichen auf. Subjektive Handlungsspielräume gehen verloren oder werden eingeschränkt, die Zufriedenheit und das subjektive Wohlbefinden nehmen ab (vgl. Chassé, K. A./Zander, M./Rasch, K., 2003, S. 18). In die Bewertung von Armut nach dem Lebenslagenansatz gehen die Lebenslagendimensionen materielle Grundversorgung, soziale, kulturelle und gesundheitliche Lage gewichtet ein.
Die Gewichtung der Lebensbereiche und Handlungsoptionen stellt für die Handhabung des Lebenslagenkonzeptes eine ungelöste Problematik dar. Die Vorteile des Konzeptes, seine Multidimensionalität und Heterogenität, machen die Lebenslagenarmut zu einem „nicht leicht handhabbaren Forschungsvorhaben“ (dies., a.a.O., S. 19).
Zwischen der materiellen Lage der Familien und der Lebenslage von Kindern besteht - erwartungsgemäß - ein deutlicher Zusammenhang. Dennoch ist es notwendig, familiäre Armut und kindliche Lebenslagen getrennt zu betrachten. Wichtig ist, dass die Dimensionen für Lebenslagen, die für Erwachsene eine Rolle spielen, auch für die Kinder von Bedeutung sind. Nur so werden Aussagen über die vielfältigen Auswirkungen in den einzelnen Lebensdimensionen der Kinder ermöglicht.
II.3 3 Lebenslagen von Kindern/Kinderarmut
Bereits in 1990er Jahren wurde von Richard Hauser der Begriff „Infantilisierung der Armut“ geprägt, weil junge Menschen die am stärksten und am häufigsten von Armut bedrohte Altersgruppe bildeten. Auch heute noch sind sie am stärksten von Armut betroffen. Es entspricht der Sichtweise vom Kind als eigenständigem und (neben dem Erwachsenen) gleichberechtigtem Akteur methodisch und theoretisch zwischen Kinder- und Erwachsenen- armut zu trennen und so das Forschungsinteresse direkt auf Kinder als Subjekte zu richten.
Kinderarmut äußert sich in einem Industrieland wie Deutschland anders als in einem Land der Dritten Welt. In Deutschland bestimmen Konsumchancen, z.B. das Tragen modischer Kleidung, der Besitz des neuesten Handys und teure Freizeitaktivitäten über die Möglichkeiten, die ein Kind im Freundeskreis hat. Besonders für Kinder ist die Lebenswelt durch eine zunehmende Ökonomisierung und Kommerzialisierung geprägt. Arm zu sein bedeutet, in mehreren Lebensbereichen (Einkommen, Beruf, Wohnen, Gesundheit, Bildung und Freizeit) Defizite aufzuweisen. Kinder sind zudem besonders stark von Veränderungen der innerfamilialen Beziehungen und deren Auswirkungen auf das Leben und das Wohlbefinden betroffen. Arme Kinder erhalten weniger Aufmerksamkeit seitens der Eltern. Diese interessieren sich weniger stark für die Belange und Bedürfnisse ihrer Kinder. Diese erfahren weniger Anteilnahme und liebevolle Fürsorge (vgl. dies., a.a.O., S. 25). Zugleich sammeln sie negative Erfahrungen mit Gleichaltrigen und stoßen auf Zurückweisung. Diese Defizite hindern die Kinder daran, sich gemäß ihren persönlichen Fähigkeiten optimal zu entwickeln und sie bedeuten somit soziale Ungleichheit und sozialen Ausschluss. Die Kinder erleben einen Mangel an Glück, Stabilität und sozialer Unterstützung (vgl. ebd.). Von Armut in Kindesalter kann deshalb vor allem dann gesprochen werden, wenn ein Kind in einer einkommensarmen Familie lebt, sich materielle, kulturelle, gesundheitliche oder soziale Unterversorgung zeigen und sowohl aktuelle Entwicklungsbedingungen als auch Zukunftsperspektiven beeinträchtigt sind (vgl. Reißlandt, C./Nollmann, G., 2006, S. 24; Chassé, K. A./Zander, M./Rasch, K., 2003, S. 25).
In meiner Diplomarbeit werde ich eine mehrdimensionale Analyse der Lebenslagen der Kinder und ihrer Eltern durchführen, denn nur so werde ich ein ganzheitliches Bild von Armut erhalten. Kindliche Deprivationen bergen das Risiko einer biographischen Verfestigung von Armut, zum Beispiel in der Bildung. Je früher und länger Kinder einer Armutssituation ausgesetzt sind, desto rasanter fährt der Fahrstuhl nach unten11 und umso geringer werden die Chancen, eigene Potentiale herauszubilden und Zukunftschancen zu bewahren (vgl. Holz, G., 2006, S. 7). Für meine Diplomarbeit werden die kindliche Wahrnehmung benachteiligter Lebenslagen und ihre Gewichtung interessant sein. Zugleich kann festgestellt werden, welche Potentiale und Ressourcen in den Familien vorhanden sind und durch welche sport-, kultur-, erlebnis- und medienpädagogische Aktivitäten in der Arche welche Lebenslagen der Kinder mitversorgt werden und welche Potenziale der Kinder dadurch hervorgebracht und gestärkt werden.
II.4. Resilienz
II.4.1 Was ist Resilienz?
Der Begriff „Resilienz“ leitet sich vom englischen Wort „resilience“ bzw. vom lateinischen „resilere“ (abprallen) ab und bezeichnet in den Naturwissenschaften die Fähigkeit, sich unter Druck zu biegen ohne zu Brechen und anschließend die ursprüngliche Form wieder anzunehmen (Elastizität, Spannkraft).
In der Psychologie wird Resilienz als emotionale Gesundheit und als erzieherischer Prozess beschrieben. Die amerikanischen Psychologen und Kindertherapeuten Robert Brooks und Sam Goldstein beispielsweise konstruieren einen salutogenetischen Ansatz12 um die Wirkfaktoren für die Gesundheit. Sie bezeichnen mit Resilienz die Kompetenz, sich jeden Tag mit den Anforderungen und Notwendigkeiten des Lebens auseinanderzusetzen, mit ihnen fertig zu werden und diese zu bewältigen (vgl. Brooks, R./Goldstein, S., 2007, S. 21).
Die Sozialpädagogin Corinna Wustmann definiert Resilienz als „ eine psychische Widerstandsfähigkeit von Kindern gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken “ (Wustmann, C., 2005, S. 192, herv. i. O.). Resilienz ist jedoch kein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal, sondern eine Kapazität, „die im Verlauf der Entwicklung im Kontext der Kind-Umwelt-Interaktion erworben wird“ (Wustmann, C., 2006, S. 7). Die Forschung verneint damit eine angeborene Invulnerabilität (Unverletzlich- keit, Unverwundbarkeit) und nimmt ein hoch komplexes Zusammenspiel von biologischen, psychologischen und sozialen Risiko- und Schutzfaktoren an. Dieses führt dazu, dass Kinder zu einem Zeitpunkt hohe Kapazitäten an Resilienz haben, zu einem anderen Zeitpunkt aber auch verletzbar erscheinen. „Als Risikofaktor wird dabei ein Merkmal bezeichnet, das bei einer Gruppe von Individuen, die Träger des Merkmals sind, die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Störungen im Vergleich zu einer Gruppe von Nicht-Merkmalsträgern erhöht.“ (Laucht, M. u.a. in: Merten, R., 2004, S. 423, herv. i. O.). Protektive Faktoren dagegen „moderieren die schädliche Wirkung eines Risikofaktors…“ (ders., a.a.O., S. 426). Kinder mit Potenzial für Resilienz erholen sich von den nachteiligen Folgen belastender Erfahrungen und bewältigen ihre Lebensumstände erfolgreich durch Anpassung ohne dabei psychischen Schaden zu nehmen.
II. 4. 2 Forschungsstand
Die meisten deutschen und amerikanischen Forscher beschäftigen sich hinsichtlich Resilienz mit der Frage, wie sich Kinder trotz widrigster Lebensumstände so integrieren, dass es ihnen gelingt, ihren Aufgaben und Zielen gut nachzukommen.
Die so genannte Pionierstudie zur Erforschung von Resilienz von Emmy E. Werner und Ruth Smith auf der Hawaiianischen Insel Kauai ist hierfür ein Beispiel. Unter der Leitung der beiden Forscherinnen wurde auf Kauai der komplette Geburtsjahrgang 1955 (698 Kinder) in einer Längsschnittstudie über 40 Jahre hinweg begleitet und daraufhin untersucht, wie sich unterschiedliche biologische und psychosoziale Risikofaktoren, belastende Lebensereignisse und Schutzfaktoren auf die Probanden auswirkten. Interessant war hierbei das Drittel der Kinder, welches sich trotz Risikofaktoren wie Geburtskomplikationen, chronische Armut, instabilen Familienverhältnissen, Scheidung, elterlicher Psychopathologie und geringer Bildung der Eltern zu kompetenten, selbstbewussten und fürsorglichen Erwachsenen entwickelte (vgl. Werner, E., 2006, S. 30). Diese positive Entwicklung wurde an Schutzfaktoren im Kind, in der Familie und im Umfeld der Kinder festgemacht, welche die Wirkung der vorhandenen Risikofaktoren moderieren und so die Herausbildung von Störungen senken können. „Obwohl alle Kinder in dieser Studie erheblichem Stress, wenn auch in unterschiedlichen Formen, ausgesetzt waren, gelang es den resilienten Kindern, sich in ihren Lebenswelten zu behaupten.“ (Opp, G./Fingerle, M./Freytag, A., 1999, S. 15). Werner entwickelte auf Basis dieser Forschung das so genannte Wendeltreppenmodell. Es handelt sich hierbei um ein interaktives Modell zum Zusammenhang von Individuum und Umwelt. Die individuellen Dispositionen eines Kindes führen es dazu, „für sich günstige Umwelten zu wählen, also Umwelten, die es schützen, die seine Fähigkeiten fördern und sein Selbstbewusstsein stärken. In diesen Umwelten baut das Kind seine Dispositionen aus, und so bewältigt es Schritt für Schritt sein Leben erfolgreich.“ (Hildenbrand, B., 2006, S. 22).
Als bedeutsame Untersuchung im Rahmen der deutschen Forschung zur Resilienz möchte ich exemplarisch die Mannheimer Risikokinderstudie aufführen. Die Autoren der Studie befassen sich mit den Chancen und Risiken der Kinder, deren gesunde Entwicklung durch frühe, bei Geburt bestehende organische und psychosoziale Belastungen gefährdet ist. Dazu wurde eine Stichprobe von 362 Kindern herangezogen, die zwischen dem 01.02.1986 und dem 28.02.1988 in Mannheim, Ludwigshafen bzw. in sechs Kinderkliniken der Neckar- Rhein-Region geboren und neonatalogisch untersucht wurden. Die Kinder waren mit Risikofaktoren wie Ein-Eltern-Familie, unerwünschter Schwangerschaft der Mutter, psychischen Störungen der Eltern, beengten Wohnverhältnissen, niedrigen elterlichen Bildungsabschlüssen sowie disharmonischer Elternbeziehung belastet und wurden in Risikogruppen mit schwerer, leichter oder keiner Belastung unterteilt. (vgl. Laucht, M./Esser, G./Schmidt, M., 1999, S. 74 ff.) Das Gewicht diese Studie lag auf der Modellierung des Bedingungsgefüges von Risiko- und Schutzfaktoren und der Analyse der pathogenen und salutogenen Prozesse und Mechanismen, die den unterschiedlichen Entwicklungsverläufen im Hinblick auf die Mutter-Kind-Beziehung zugrunde liegen. Im Ergebnis wurde Folgendes festgestellt: „Schlechte Startbedingungen führen offenbar nicht notwendigerweise zu einem schlechten Entwicklungsresultat. Die Prognose von Risikokindern hängt vielmehr von einer Vielzahl weiterer Faktoren ab, die an der Vermittlung und Modifikation der Effekte früher Risiken wesentlich beteiligt sind (Rutter, 1990). Dazu gehören sowohl Merkmale der Familie, deren emotionale und soziale Ressourcen und Belastungen die Entwicklung von Risikokindern in starkem Maße mit beeinflussen, als auch Merkmale des Kindes selbst, das mit seiner Fähigkeit, auf die Umwelt einzuwirken, auch seine Entwicklung selbst zu steuern vermag.“ (dies., a.a.O., S. 90).
Ein weiteres Beispiel für die deutsche Forschung zu Resilienz ist die Arbeit von Kauffmann et al. von 1979, die überhaupt erst zur Entdeckung der so genannten Superkids13 führte. Zu Beginn der 1980er Jahre hatte das Konzept der vermeintlich unverwundbaren Kinder zunehmend an Popularität gewonnen. Die weitere Forschung ging dahin, die individuellen Entwicklungsverläufe der Kinder zu ergründen, besonders ihre personellen und sozialen Ressourcen zu untersuchen, die ihnen zu dieser Entwicklung verhalfen. So schloss sich dann im Jahre 1987 die Berliner Längsschnittuntersuchung zu Kleinkindern mit Down Syndrom (KIDS) mit insgesamt 35 Kleinkindern und im Jahre 1999 die Bielefelder Invulnerabilitätsstudie von Friedrich Lösel und Doris Bender14 an.
II. 4. 3 Charakteristika
Resilienz ist heute genauer untersucht und hat einen Paradigmenwechsel erfahren. Resilienz ist nicht nur die Fähigkeit, aus widrigen Umständen gestärkt hervorzugehen, sondern auch ein Konzept zur Beschreibung eines komplexen Zusammenspiels von mehreren Faktoren (hierzu Rutter, Kap. II. 4. 4). Das Konzept der Resilienz wendet sich gegen eine defizitorische Blickrichtung und richtet sich entsprechend den Grundsätzen der Salutogenese auf die Fähigkeiten und Ressourcen, die ein Kind hat, ohne dabei dessen Probleme oder mangelnde Kompetenzen zu vernachlässigen. Der Fokus liegt hierbei auf die Bewältigung von Risikosituationen und sieht schwierige Ereignisse und Bedingungen im Lebenslauf als Chance zu einer neuen und aktiven Lebensgestaltung und persönlichen Weiterentwicklung an. Das Kind entfaltet in diesen schwierigen Situationen seine Potentiale und beeinflusst seine Entwicklung positiv. Es ist aktiver Bewältiger und Mitgestalter seines Lebens und seiner Umwelt.
Entgegen der Annahme der Unverwundbarkeit der Kinder, wie sie noch durch Kauffmann et al. (Kap. II. 4. 2) vertreten wurde, bedeutet Resilienz gerade nicht Unverwundbarkeit, sondern die Fähigkeit, Verwundungen zu bewältigen („vulnerable but invincible“). Resilienz ist eine Fähigkeit, die in einem dynamischen Anpassungs- und Entwicklungsprozess und durch Interaktion zwischen Kind und Umwelt gebildet wird. Sie kann zu jedem Zeitpunkt im Lebenszyklus gebildet werden. Die Fähigkeit kann über die Zeit und von Situation zu Situation variieren, das heißt Resilienz ist flexibel (vgl. Wustmann, C., 2005, S. 193). In Phasen erhöhter Verletzlichkeit, zum Beispiel in Stresssituationen und in Entwicklungsübergängen, sind Kinder besonders anfällig, da sie mit neuen Entwicklungsaufgaben konfrontiert sind (vgl. ders., a.a.O., S. 193 f.).
An Resilienz sind zwei Bedingungen geknüpft: „zum einen das Vorhandensein einer signifikanten Bedrohung für die kindliche Entwicklung und zum anderen die erfolgreiche Bewältigung dieser belastenden Lebensumstände“ (ders., a.a.O., S. 192). Resilienz ist als relationaler Begriff zu verstehen. Die Stärken der Kinder können ohne Belastungen weder entstehen noch sich entwickeln, kurz: ohne Krise keine Resilienz.
II. 4. 4 Konzepte von Resilienz
Konzept der Bewältigung von Krisen (Oevermann)
Richard Lazarus prägte in den 1960er Jahren den Begriff Coping für das Konzept der Bewältigung von Stresssituationen und Krisen. Krisen sind Ereignisse/Wendepunkte, die Ungewissheit bei den Beteiligten erzeugen, weil sie deren Werte und Ziele bedrohen. Die Beteiligten verfügen über ungenügende Informationen, mangelnde Alternativen und eingeschränkte Kontrolle, müssen aber in der Abfolge der Ereignisse und Handlungen, unter Zeitdruck und Spannung die Krise bewältigen (vgl. Hildenbrand, B., 2006, S. 208). Im Rahmen der soziologischen Sozialisationstheorie wird unterschieden zwischen normativen und nichtnormativen Krisen. „Normative Krisen beziehen sich auf lebenszyklisch erwartbare Übergänge […], nichtnormative Krisen sind, anders als die normativen Krisen, nicht erwartbar und treffen die Akteure entsprechend unvorbereitet.“ (Hildenbrand, B., 2006, S. 207 f.). Normative Krise ist zum Beispiel die Geburt eines Kindes oder der erwartbare Übergang vom Kindes- in das Jugendlichenalter. Nichtnormativ ist dagegen der plötzliche Tod eines Familienmitgliedes oder der Verlust des Arbeitsplatzes eines Elternteils.
Bei der Bewältigung normativer Krisen werden die Akteure über Handlungs- und Orientierungsmuster gesteuert, welche sie durch Erfahrungen im Familien- und Lebenszyklus gewonnen haben. Nach Ulrich Oevermann stellen diese Muster die Möglichkeiten zur Bewältigung nichtnormativer Krisen dar. Laut Oevermann ist die letzte große Krise im Sozialisationsprozess die Ablösung aus der Herkunftsfamilie. Hat man bis dahin sämtliche Krisen unbeschadet überstanden, „sind die Grundlagen gelegt für die Bewältigung von Krisen, die durch unvorhersehbare, überraschende Ereignisse erzeugt werden.“ (ders., a.a.O. S. 209). Gemäß den Vertretern des symbolischen Interaktionismus können jedoch im gesamten Lebenszyklus neue Muster der Bewältigung angelegt und frühere Muster korrigiert werden. Die früheren Muster haben zwar konstitutiven Charakter, ihre Korrektur ist jedoch nicht ausgeschlossen. (vgl. ders., a.a.O., S. 210). Resilienz bezieht sich in diesem von der Entwicklungspsychologie geprägten, auf das Individuum zentrierten Ansatz auf die spezifischen Handlungs- und Orientierungsmuster. Sie stellt keine Eigenschaft des Individuums dar. Jedoch machen bereits Lazarus und Oevermann deutlich, dass die Entwicklung von Resilienz sich im Lebensverlauf vollzieht und durch bestimmte biographische Übergänge ausgelöst oder beeinflusst wird.
Das Moderatorkonzept/Puffer-Modell (Rutter)
An den Ergebnissen der Kauai-Studie von Werner und Smith (Kap. II. 4. 2) hatte sich gezeigt, dass eine kumulative Erfassung signifikanter Entwicklungsrisiken keine lineare Prognose für Entwicklungsauffälligkeiten zulässt. Es müssen demnach protektive Faktoren in der Person und/oder Umwelt eines Kindes existieren, die die Wirkung vorhandener Risikofaktoren derart moderieren, dass sie die Wahrscheinlichkeit für die Herausbildung von Störungen senken können (vgl. Opp, G./Fingerle, F./Freytag, A., 1999, S. 15). Emmy Werner sieht personale und soziale Ressourcen, die dem Kind und Jugendlichen helfen, sich trotz hohem Risiko normal zu entwickeln, als protektive (schützende) Faktoren an. Resilienz ist das Ergebnis dieser schützenden Prozesse (vgl. Werner, E., 1999, S. 25; Laucht, M., 1999, S. 306).
Michael Rutters Konzept von protektiven Faktoren (1990) basiert auf den Ergebnissen von Werner und Smith. Rutter geht von einem Zusammenwirken von Risiko- und Schutzfaktoren aus. Unter protektiven (schützenden) Faktoren versteht er psychologische Merkmale oder Eigenschaften der sozialen Umwelt, die die Auftretenswahrscheinlichkeit psychischer Störungen herabsetzt, wie z. B. Temperamentsmerkmale, Intelligenz, positive Einschätzung der eigenen Fähigkeiten des Kindes. Schützende Faktoren moderieren die negative Wirkung eines Risikofaktors. Diese kommt nicht per se zum Tragen, sondern nur dann, wenn ein schützender Faktor fehlt, anderenfalls wird er durch ihn gemildert. Rutter vermutet eine Pufferwirkung dahingehend, dass protektive Faktoren ausschließlich dann wirksam werden, wenn eine Gefährdung vorliegt. Liegt keine Gefährdung vor, ist der protektive Faktor unbedeutsam (vgl. Laucht, M., 1999, S. 308). Für Rutter liegt Resilienz in der protektiven Wirksamkeit von Kompetenzen (vgl. ders., a.a.O., S. 310).
Aufgrund methodischer Schwierigkeiten bei der statistischen Prüfung von Interaktionseffekten bevorzugen viele Forscher eine einfachere Vorstellung über das Zusammenspiel von Risiko- und Schutzfaktoren (vgl. ders., a.a.O., S. 309). Sie basiert auf der Annahme, dass von jedem protektiven Faktor ein gesundheitsförderlicher Einfluss ausgeht. Dieser Einfluss erstreckt sich nicht nur auf die Risikogruppen, sondern auf jedes Individuum. Es handelt sich hierbei um einen allgemeinen, unspezifischen Fördereffekt. Auch bei fehlender Risikobelastung hat der Schutzfaktor eine förderliche Wirkung und zwar in gleichem Umfang wie bei vorhandenem Risiko15. Problematisch ist hier die eines Schutzeffektes, denn wenn kein Risiko da ist, bedarf es auch keines Schutzes (vgl. ders., a.a.O., S. 309 f.)
Konzept der Resilienz von Familien (Walsh)
Nur wenige Forscher, die Resilienz untersuchen, gehen über einen individuenzentrierten Ansatz hinaus und betrachten transaktionale, die Entwicklung von Resilienz fördernde Prozesse. Für Froma Walsh stehen in sozialisationstheoretischer Sicht die Eigenschaften von Familien, z. B. deren Überzeugungssysteme, organisatorische Muster und Kommunikations- prozesse im Zentrum des Interesses. Durch das Erforschen wachstumsfördernder Prozesse kann in Erfahrung gebracht werden, wie notleidende Familien es schaffen, trotz Krisen im Lebensverlauf ihr Leben erfolgreich zu gestalten und Hilfestellungen für Kinder und Jugend- liche zu geben. Zugleich macht Walsh Schlüsselfaktoren im Individuum selbst aus, z. B. im Temperament, in kognitiven Kompetenzen und im Selbstbewusstsein sowie in seiner Verwandtschaft, der Nachbarschaft und der Schule (vgl. Hildenbrand, B., 2006, S. 211). Ihr Ansatz begründet sich darauf, die Familie und das soziale Umfeld als Ressource zu betrachten. Sie macht auf der Ebene der Familie nicht nur Eigenschaften und Konzepte fördernder Prozesse für die Entwicklung von Resilienz aus, wie zum Beispiel den Prozess des Wagemuts und den Prozess des Wachsens als Antwort auf Krisen und deren Herausforderungen (vgl. Conen, M.-L., 2005, S. 46). Sie betont auch die Bedeutung von sich wiederholenden und dadurch verfestigenden Interaktionen für das Familiensystem.
„Relationship rules (…) organize family interaction and function to maintain a stable system by prescribing and limiting members behaviour.“ (Walsh, F., 1982, S. 10). Für Walsh umfasst Resilienz „die Fähigkeit (…), aus den widrigsten Lebensumständen gestärkt und mit größeren Ressourcen ausgestattet als zuvor herauszukommen, als dies ohne sie nicht der Fall gewesen wäre.“ (Conen, M.-L., 2005, S. 46). Rahmenmodell von Resilienz (Kumpfer) Es ist nach heutiger Ansicht „nicht ausreichend, die einzelnen risikoerhöhenden und -mildernden Bedingungen zu kennen, sondern entscheidend ist, die zugrunde liegenden dynamischen Prozesse und Mechanismen ihrer Wirkung zu erforschen“ (vgl. Luthar, C. in: Wustmann, C., 2005, S. 199). Resilienz lässt sich nicht auf eine bloße Aneinanderreihung von Faktoren reduzieren. Risiko- und Schutzeffekte müssen im sozialen Kontext und im Lebensverlauf betrachtet werden. Je nach Situation zeigen sich sehr unterschiedliche Wirkungen. „Was protektiv wirkt, hängt somit von den jeweiligen individuellen bzw. spezifischen Bedingungskonstellationen ab“ (vgl. Rutter, M. in: Wustmann, C., 2005, S. 200). Resilienz basiert nicht lediglich auf der Balance zwischen risikoerhöhenden und
-mildernden Faktoren. Hierzu hat Karol L. Kumpfer (1999) ein Rahmenmodell von Resilienz konzipiert, welches die besondere Komplexität des Phänomens zeigen soll. Darin berücksichtigt sie „die dynamischen Prozesse zwischen Merkmalen des Kindes, seiner Lebensumwelt und dem Entwicklungsergebnis.“ (Wustmann, C., 2005, S. 200). Ihrer Meinung nach sind für die Entwicklung von Resilienz sechs Dimensionen bedeutsam:
1. der akute Stressor, der den Resilienzprozess erst auslöst,
2. die Bedingungen der Lebensumwelt des Kindes,
3. personale Merkmale des Kindes,
4. das Entwicklungsergebnis, d. h. den Erhalt und Erwerb altersangemessener Fähigkeiten und Kompetenzen,
5. das Zusammenspiel von Person und Umwelt als Transaktionsprozess sowie
6. das Zusammenspiel von Person und Entwicklungsergebnis als Resilienzprozess (vgl. Kumpfer, K. L. in: Wustmann, C., 2005, S. 200 ff.).
Die Prozesse zu den vorgenannten Dimensionen sind hinsichtlich der obigen Nummern 5. und 6. noch ungenügend erforscht. Gerade die selektiven Wahrnehmungsprozesse, Attributierungsmuster, Umweltselektion sowie Bewältigungsprozesse und ihre internen Vorgänge bleiben gemäß Kumpfer Gegenstand weiterer Studien.
II. 4. 5 Kritik an den Konzepten von Resilienz
Die Deutungsmuster von Resilienz haben sowohl inhaltlich als auch methodisch viel Kritik erfahren. Kumpfer beklagt die fehlende einheitliche Terminologie in der Forschung sowie den nicht vorhandenen methodisch einheitlichen Zugang zur Erforschung von Resilienz (vgl. Wustmann, C., 2005, S. 202). Lösel und Bender z. B. halten eine a-priori-Unterscheidung zwischen Risiko- und Schutzfaktoren nicht für sinnvoll, da das Z S. 16). Positive und negative Faktoren bewirken Interaktionseffekte, die nur schwer zu sichern und darzustellen sind. Zudem müsse der Grad des Risikos und eine Kumulation mehrerer Faktoren und Effekte berücksichtigt werden.
Aber auch die Rede von protektiven Faktoren ist in der Forschung irreführend, da nur die positive Ausprägung der jeweiligen Merkmale protektiv wirkt. Die negative Ausprägung desselben Merkmals hat häufig eine Risikofunktion. Man kann nicht immer genau im Vornherein sagen, was Risiko- und was Schutzfaktor ist. „Rutter (1985), Werner (1989) und andere betonen, daß ein protektiver Effekt gerade dann vorliegt, wenn bei hohem Risiko die Wahrscheinlichkeit oder der Grad einer Störung vermindert wird, bei geringem Risiko aber kein derartiger Zusammenhang besteht.“ (Lösel, F./Bender, D., 1999, S. 43). Selbst die in ihrer Vorhersagekraft besten Risikofaktoren ziehen nicht unbedingt negative Entwicklungsresultate nach sich. Risikofaktoren erhöhen die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten negativer Entwicklungsresultate, garantieren dieses jedoch nicht. Schutzfaktoren senken die Möglichkeit, beseitigen sie aber nicht völlig. Auch die positive Ausprägung eines Merkmals kann einen negativen Effekt haben. Zum Beispiel kann das Merkmal Selbstvertrauen ein konstruktives Bewältigungsverhalten fördern, was im Sinne der Selbstorganisation zur Entwicklung von Resilienz beiträgt. Bei Problemen der Aggressivität und Antisozialität bewirken starkes Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen jedoch eine übersteigerte Selbsteinschätzung, die dazu führen kann, dass andere Personen abgewertet oder nicht angemessen respektiert werden. Diese kognitiven Schemata können sich zu einem aggressiven Verhalten verfestigen. Hier würde eine an sich positive Ausprägung einen negativen Effekt haben.
Eine weitere Kritik richtet sich gegen die Vorstellung über die Wirkungsweise eines Schutzfaktors. Ein protektiver Faktor sollte zeitlich vor einem Risikofaktor nachweisbar sein.
Anderenfalls könne man nicht sicher sein, dass es sich bei dem protektiven Merkmal, in dem sich Kinder mit hoch entwickelter Resilienz von Kindern mit niedrig entwickelter Resilienz unterscheiden, um die Ursache der Entwicklung oder um deren Folge handelt (vgl. Laucht, M., 1999, S. 310 f.).
II. 4. 6 Schlussfolgerungen
Für meine Arbeit kann ich nicht davon ausgehen, eine Patentlösung für eine Definition von Resilienz zu finden. Jedoch kann ich Entwicklungsverläufe beobachten bzw. berichten lassen und mit hypothetischen Entwicklungsverläufen der Kinder und Familien vergleichen, die sie genommen hätten, wären sie nicht in die Arche gekommen. Resilienz ist dann da zu erkennen, wo eigentlich aufgrund der Hintergründe ein anderes Entwicklungsbild zu erwarten war. Hierzu scheint mir der biographietheoretische Ansatz von Kindheit in Kombination mit dem Konzept der Resilienz von Familien und dem Rahmenmodell von Kumpfer besonders geeignet, denn so werden die Krisen der Familien und die Risiken für Kinder sowie deren Mechanismen zur Interaktion und Bewältigung sichtbar.
Bei der Betrachtung von Risiko- und Schutzfaktoren der Kinder ist die Verknüpfung von individuellen, mikrosozialen und ggf. genetischen Faktoren besonders wichtig. Die Bewertung der Faktoren muss auf den Fall bezogen sein. Kumulationen und Interaktionen müssen berücksichtigt werden, ebenso die individuellen Bedingungskonstellationen. Die hier vorgenommene Betrachtung der Faktoren wird sich insofern an dem Rahmenmodell von Kumpfer orientieren. Das Hauptaugenmerk wird auf den krisenhaften Ereignissen in der Biographie der Eltern und Kinder sowie der Weitergabe von schützenden Merkmalen und Mechanismen von Eltern an ihre Kinder und die Beeinflussung der Risikofaktoren durch die protektiven Faktoren im Sinne des Risiko- und Schutzfaktorenkonzeptes liegen. Das Konzept der Resilienz von Familien von Froma Walsh wird eine wichtige Rolle spielen, denn ich gehe davon aus, dass sich die Widerstandsfähigkeit der Eltern auf die Kinder überträgt.
[...]
1 Das christliche Kinder- und Jugendwerk „Die Arche e.V.“ in Berlin-Hellersdorf wird im Folgenden „Arche“ genannt.
2 Sozialisation ist der Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt. Die Entwicklung des Menschen zum gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt steht dabei im Mittelpunkt (vgl. Hurrelmann, K./Bründel, H., 2003, S. 12).
3 Mannheim hat ein besonderes Interesse an Generationen als kulturellen Phänomenen, an ihrem Auftauchen in der Geschichte und an der Rolle, die sie beim sozialen Wandel spielen. Für ihn sind Generationen „eine historisch gleichartig positionierte, ´gelagerte´, Gruppe von Geburtsjahrgängen, deren Mitglieder deshalb einen ähnlichen Sozialisationsprozeß durchmachen. Dieser läßt sie einen gemeinsamen Erfahrungs- und Handlungsrahmen ausbilden, der sie zu einer Einheit macht.“ (Alanen, L., S. 73, herv. i. O.).
4 Qvortrup nennt es „eine Bewegung von einer nützlichen Funktion zu einer anderen“. Kinder trugen in der vorindustriellen Gesellschaft zum Lebensunterhalt der Familien bei. In modernen Gesellschaften lässt sich die Nützlichkeit von Kindern weniger leicht fassen (vgl. Qvortrup, J., 2005, S. 43). denn „Kinder [tragen] zu ihrer Aufzucht, Erziehung und Arbeitskrafterzeugung selbst [bei].“ (ders., a.a.O., S. 44).
5 Die Autoren unterscheiden zwischen hochmoderner Variante (individualisierter Verselbstständigung),moderner Variante (moderne Verselbstständigung) und traditioneller Variante (traditionellerVerselbstständigung). Der beschleunigte, hochmodernisierte Weg in die Jugendphase ist jedoch die Ausnahme,so das Ergebnis der Studie (vgl. Grunert, C./Krüger, H.-H., S. 34 und 190).
6 Diese Ereignisse werden von Kumpfer Stressoren genannt (vgl. Kumpfer, K.L. in: Wustmann, C., 2005, S. 200 ff.). Zum Rahmenmodell von Resilienz nach Kumpfer komme ich in Kap. II. 4. 4.
7 Damit weist die Familie das Merkmal der „biologisch-sozialen Doppelnatur“ auf. Die sonstigen Funktionen der Familie sind kulturell variabel (vgl. Nave-Herz, R., 2001, S. 207).
8 Von Seiten der Eltern werden den Kindern Handlungsweisen erklärt bzw. sich für diese gerechtfertigt, die geforderten und/oder praktizierten Normen und Regeln werden begründet, sich von nicht erwünschtem Verhalten abgegrenzt, Familienidentität konstruiert und eine Unterscheidung zu anderen Familien geschaffen. Dadurch wird die gemeinsame Lebensführung legitimiert. Von der Seite des Kindes wird verlangt, dass es seine ausbleibenden geforderten Handlungen begründet und sein Verhalten legitimiert und eigene soziale Erfahrungen berichtet (vgl. Kirchhöfer, D., 1997, S. 162 ff.).
9 Familiale Generationen sind auf der Mikroebene angesiedelt und bezeichnen die Mitglieder der Abstimmungslinie: Enkel, Kinder, Eltern, Großeltern etc. Sie sind Generationen im ursprünglichen umgangssprachlichen Wortsinne (vgl. Kohli, M./Szydlik, M., 2000, S. 11), zum Generationenbegriff Kap. II. 1. 3 dieser Arbeit.
10 monetär: Einkommen aus Erwerbsarbeit, Vermögen, öffentliche und private Transferleistungen; nicht- monetär: Ergebnisse hauswirtschaftlicher Produktion usw. (vgl. Zimmermann, G.E., 2001, S. 37).
11 Der so genannte Fahrstuhleffekt: für arme Kinder geht der Fahrstuhl eher nach unten (Verschlechterung/Benachteiligung) oder bleibt in der untersten Etage (multiple Deprivation), während er für nicht arme Kinder eher nach oben fährt oder in der obersten Etage (Wohlbefinden) bleibt (vgl. Holz, G., 2006, S. 9).
12 Der amerikanisch-israelische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (1923-1994) führte den Begriff Salutogenese (lat. Salus = Unverletztheit; lat. Genese = Entstehung) in den 1970er Jahren während und aufgrund seiner Studien über den Gesundheitszustand von Überlebenden des Holocaust ein. Er richtete dabei den Fokus seiner Aufmerksamkeit auf die primär gesundheitserhaltenden Bedingungen (im Gegenteil zum pathogenetischen Ansatz, der sich vor allem auf die krankmachenden Faktoren konzentriert).
13 Studie, in der Kinder psychotischer Eltern, die aufgrund ihrer erstaunlichen Fähigkeiten als unverwüstbar und unbesiegbar galten, als Superkids bezeichnet wurden.
14 Untersuchung an einer Hochrisikogruppe von Jugendlichen in 27 Heimen der Wohlfahrtspflege, die aus hoch belasteten unterpriviligierten Multiproblemfamilien stammten, um die seelische Widerstandskraft der Jugendlichen und das Phänomen Resilienz auch außerhalb von Familien zu untersuchen. Hierzu wurde eine Gruppe Jugendlicher mit Potenzial hinsichtlich Resilienz mit einer Gruppe Jugendlicher ohne entsprechendes Potenzial verglichen. Ergebnis: Entscheidende Faktoren für Resilienz sind die Merkmale des Erziehungsklimas, wie Wärme, stabile Bezugspersonen, Strukturen, Regeln, Vorbilder.
15 „Ein Risiko ist eine Gefahr, die eintreten kann aber nicht eintreten muß.“ (Opp, G./Fingerle, M./Freytag, A., 1999, S. 11).
- Quote paper
- Dipl.-Soz. Jana Schubert (Author), 2008, Benachteiligte Kinder und ihre Resilienzpotenziale, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117534
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