In dieser Arbeit werden folgende Leitfragen beantwortet: Welche Rolle spielt der sakrale Komplex für das nachmetaphysische Denken? Was vermag der sakrale Komplex zu leisten? Warum spielen die Sakramente nach Habermas auch heute noch eine entscheidende Rolle? Und inwiefern kann die Theologie von Habermas hinsichtlich seines Religionsverständnisses lernen?
Jürgen Habermas hat 2019 sein letztes großes, aus zwei Bänden bestehendes Werk "Auch eine Geschichte der Philosophie" veröffentlicht. Die Relevanz und Reichweite des Werkes ist schon jetzt unbestritten. Habermas hat der Religion mit fortschreitendem Alter verstärkt seine intellektuelle Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei hat er stets betont, dass der sakrale Bezug der Religion respektive ihr Offenbarungsglaube für die Philosophie kognitiv unzumutbar bleibt. Dennoch hat Habermas in seinen jüngsten Werken emphatisch Bedeutung und Funktion des Christentums in der Gesellschaft betont.
Dass Habermas ausgerechnet den Sakramenten so viel Bedeutung zuschreibt, mag bei vielen Lesern Verblüffung und Irritation ausgelöst haben. Diese Irritation gab auch den Anlass für diese Arbeit, eine vertiefte Analyse und Interpretation der Genealogie des nachmetaphysischen Denkens zu wagen und dabei vor allem die Rolle respektive Bedeutung des sakralen Komplexes nach Habermas zu untersuchen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Projekt der Genealogie des Nachmetaphysischen Denkens
2.1 Das moderne Selbstverständnis der Philosophie
2.2 Die semantische Osmose zwischen Christentum und Philosophie
3. Lernschritte und Weichenstellungen des nachmetaphysi schen Denkens
3.1 Symbiose von Glauben und Wissen
3.2 Trennung von Glauben und Wissen
3.2.1 Luther und der performative Eigensinn des Glaubens
3.2.2 Subjektphilosophie
3.3 Kant und die vernünftige Freiheit
3.4 Hegel und der objektive Geist
3.5 Die junghegelianische Wende
4. Vom Weltbild zur Lebenswelt - Ein Zwischenfazit
5. Sakraler Komplex - Reformation - Sakrament
5.1 Die ambivalente Gattungserfahrung des vergesellschafteten Individuums
5.2 Die sakrale Macht und der Sinn ritueller Praktiken
5.3 Mythos und Ritus
5.4 Transformation des sakralen Komplexes - Die Zäsur der Achsenzeit
5.4.1 Sublimierung und Moralisierung des Heiligen
5.4.2 Transformation ritueller Praktiken
5.5 Reformation
5.5.1 Theologische Grundannahmen Luthers
5.5.2 Reformatorische Umwertung der kirchlichen Sakramente
6. Die fremd gewordene Praxis - Ein Zwischenfazit
7. Die Bedeutung des sakralen Komplexes in der postsäkularen Gesellschaft
8. Kritische Überlegungen
9. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Jürgen Habermas hat 2019 sein letztes großes aus zwei Bänden bestehendes Werk Auch eine Geschichte der Philosophie 1 veröffentlicht. Die Relevanz und Reichweite des Werkes unterstreicht Höhn mit folgender Bemerkung: „ Kein philosophisches Buch hat in den letzten Jahren bei seiner Veröffentlichung eine größere Aufmerksamkeit gefunden [.].“2
Der ursprüngliche Titel des Werkes sollte folgendermaßen lauten: Zur Genealogie nachmetaphysischen Denkens. Auch eine Geschichte der Philosophie, am Leitfaden des Diskurses über Glauben und Wissen. An diesem Titel wird deutlich, dass Habermas versuchen möchte zu zeigen, wie das, was ist - nämlich das nachmetaphysische Denken -, geworden ist. Dabei orientiert er sich am Leitfaden des Diskurses über Glauben und Wissen (vgl. I, 9). Die Idee bzw. der Ausdruck einer „Genealogie des nachmetaphysischen Denkens“ findet sich bereits im 2012 erschienen Werk Nachmetaphysisches Denken II.3
Graf hebt die bemerkenswerte Tatsache hervor, dass Habermas die Arbeit an Auch eine Geschichte der Philosophie mit seinem 80. Lebensjahr begonnen und mit 90 Jahren abgeschlossen hat. Nach einem zehnjährigen Arbeitsprozess rege das fertige Werk nun einen intellektuell produktiven Austausch verschiedenster Wissenschaftler4 an, der seinesgleichen sucht. Es werde viele Jahre dauern, bis sich die Wissenschaft an „Habermas' Großunternehmen“ abgearbeitet habe.5 „Hunderte von Experten zu dem einen oder anderen der von Habermas behandelten »Theologen-Philosophen« oder Philosophen können sich nun daran beflissen abarbeiten, ob er ihren jeweiligen Meister denn richtig verstanden habe.“6
Habermas hat der Religion mit fortschreitendem Alter verstärkt seine intellektuelle Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei hat er stets betont, dass der sakrale Bezug der Religion resp. ihr Offenbarungsglaube für die Philosophie kognitiv unzumutbar bleibt.7 Dennoch hat Habermas in seinen jüngsten Werken8 emphatisch Bedeutung und Funktion des Christentums in der Gesellschaft betont. Arens bemerkt:
Dass es ihm selbst um die Emanzipation der säkular gewordenen Philosophie von der Religion bis in die Gegenwart nachmetaphysischen Denkens geht, er aber gleichzeitig die bleibende Brisanz und Relevanz des Glaubens bedenkt, macht das Studium seines jüngsten Werkes zur anspruchsvollen Pflichtlektüre für Philosophinnen wie Theologen.9
Nach der ersten Lektüre der gewaltigen Genealogie Habermas' zeigt sich, dass auch in diesem Werk der Religion eine außerordentliche Rolle zukommt - das wird schon daran deutlich, dass Habermas seine Genealogie am Leitfaden des Diskurses über Glauben und Wissen entwickelt. Vor allem die emphatische Hervorhebung der religiösen Praxis als wesentlicher Bestandteil des „sakralen Komplexes“ sticht dabei ins Auge. Der sakrale Komplex stellt sich insgesamt für Habermas als das Zusammenspiel von Lehre und Praktiken der Religion dar (vgl. I, 189f). Das Thema des Sakralen ist bereits in seinen früheren Werken Theorie des kommunikativen Handelns und Nachmetaphysisches Denken zu beobachten. Thomas bemerkt:
Mit dieser Genealogie zum Verhältnis von Glauben und Wissen reiht sich Jürgen Habermas definitiv in die lange Reihe der Soziologen bzw. Sozialphilosophen ein, bei denen in ihrer Theorieentwicklung die Auseinandersetzung mit Religion eine überaus prom inente Stelle einnimmt: Émile Durkheim, Max Weber, Talcott Parsons und Niklas Luhmann.10
In der nun neu erschienenen Geschichte der Philosophie scheint die systematische Auseinandersetzung mit dem sakralen Komplex noch umfangreicher gestaltet worden zu sein. Diese Auseinandersetzung reicht so weit, dass Habermas neuere theologische Debatten zur Sakramentenlehre aufgreift. Habermas betont die unabdingbare Relevanz von Sakramenten und schreibt: „Auch seither sind jedoch Sakramente und Verhaltensvorschriften rituellen Ursprungs für das Überleben der Religionsgemeinschaften konstitutiv geblieben.“ (I, 200) Dass Habermas ausgerechnet den Sakramenten so viel Bedeutung zuschreibt, mag bei vielen Lesern Verblüffung und Irritation ausgelöst haben. Das Interesse am religiösen Ritual bemerkt auch Thomas: „Eine der überraschendsten Weiterentwicklungen in Habermas‘ Auseinandersetzung mit Religion ist seine im letzten Jahrzehnt gewachsene Faszination gegenüber dem religiösen Ritual.“11 Diese Irritation gab auch den Anlass für diese Arbeit, eine vertiefte Analyse und Interpretation der Genealogie des nachmetaphysischen Denkens zu wagen und dabei vor allem die Rolle resp. Bedeutung des sakralen Komplexes nach Habermas zu untersuchen. Deshalb stellen sich in dieser Arbeit folgende Leitfragen: Welche Rolle spielt der sakrale Komplex für das nachmetaphysische Denken? Was vermag der sakrale Komplex zu leisten? Warum spielen die Sakramente nach Habermas auch heute noch eine entscheidende Rolle? Und inwiefern kann die Theologie von Habermas hinsichtlich seines Religionsverständnisses lernen?
Um diesen Leitfragen gerecht zu werden, soll in einem ersten Schritt das eigentliche Anliegen des monumentalen Werkes hinterfragt werden. Dann soll im dritten Kapitel der Versuch unternommen werden, wesentliche Grundlinien der Genealogie des nachmetaphysischen Denkens nachzuzeichnen. Hierbei werden folgende Weichenstellungen berücksichtigt: Die Symbiose zwischen Christentum und Platonismus hinsichtlich der Innovationen Augustins, die Trennung zwischen Glauben und Wissen hinsichtlich der Reformation und der Subjektphilosophie, Kants Konzeption der vernünftigen Freiheit, Hegels Konzeption des objektiven Geistes und die junghegelianische Wende. Von diesem Unternehmen wird sich erhofft, dass für den späteren Hauptteil wesentliche Zusammenhänge hergestellt werden können. Ziel dieser Arbeit ist es hierbei nicht, auf Lücken oder Fehlinterpretationen in Habermas' Analysen der von ihm behandelten Denker hinzuweisen, sondern vielmehr die Entwicklung des nachmetaphysischen Denkens nach Habermas zu rekonstruieren. Die erzielten Ergebnisse sollen dann direkt in einem ersten Zwischenfazit resümiert werden.
Im fünften Kapitel widmet sich diese Arbeit dem zu untersuchenden Hauptgegenstand: dem sakralen Komplex. Dieser soll hinsichtlich seines Ursprungs und seiner Transformation beleuchtet werden. Zwei entscheidende Transformationsstationen werden hierfür herausgegriffen: Die Achsenzeit12 und dann im christlichen Kontext die Reformation. Insgesamt wird das Augenmerk verstärkt auf den rituellen Praktiken der Religion liegen, um am Ende dieser Analyse Habermas' Interpretation der Sakramentenlehre Luthers anzuführen. Danach soll ein zweites Zwischenfazit die erzielten Ergebnisse sichern und aufeinander beziehen. Das siebte Kapitel widmet sich der Rolle des sakralen Komplexes resp. des Christentums in der heutigen Zeit. Daran anschließend sollen in Kap. 8 kritische Anfragen, die an Habermas' Konzeption gestellt werden können, diskutiert werden. Vor allem aus theologischer Perspektive soll dann ein potentieller Mehrwert der Gedanken Habermas' herausgestellt werden. Am Ende wird ein Fazit die Diskussion und die Ergebnisse der Arbeit resümieren und reflektieren.
2. Das Projekt der Genealogie des Nachmetaphysischen Denkens
Das Verfassen einer Geschichte der Philosophie bezeichnet Habermas im Vorwort selbst als „[.] waghalsiges, eigentlich unseriöses Unternehmen [.].“ (I, 9) Denn Habermas reflektiert, dass er unmöglich jedem relevanten Werk resp. jedem relevanten Denker bei diesem Unterfangen gerecht werden kann. Er weist deshalb daraufhin, dass es ihm um die metatheoretische Frage geht, was heute als angemessenes Verständnis der Aufgaben der Philosophie gelten kann (vgl. ebd.). Hampe weißt in seiner Rezension zurecht darauf hin, dass es zwei Arten von Philosophiegeschichten gibt: „[.] solche von Philosophen und solche von His- torikern.“13 Folgt man dieser dichotomischen Einteilung bemerkt man relativ schnell, dass es sich bei Habermas' Genealogie definitiv um eine Philosophiegeschichte eines Philosophen handelt, der sein eigenes Denken an die Geschichte der Philosophie zurückbindet, um dieses zu plausibilisieren. Indem Philosophen „[.] ihr eigenes Denken an die Philosophiegeschichte zurückbinden, schließen sie gleichsam ihr Werk, gehen selbst den ersten Schritt zu seiner Einordnung in die Geistesgeschichte.“14 Historiker-Philosophiegeschichten würden hingegen kein systematisches Interesse daran haben, eine eigene Philosophie zu imple- mentieren.15 Habermas selbst betont, dass es ihm um das richtige Selbstverständnis der Philosophie geht, da er Tendenzen beobachtet, die dieses Selbstverständnis untergraben. Dies soll im folgenden Kapitel genauer ausgeführt werden.
2.1 Das moderne Selbstverständnis der Philosophie
Habermas stellt fest, dass er sich unsicher geworden ist, ob die Philosophie heute noch über die paradigmatischen Grundfragen Kants - „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen?“ und „Was ist der Mensch?“ - nachdenkt resp. nachdenken kann, da sie wie die meisten Wissenschaften eine kontinuierliche Spezialisierung verfolgt, die den Blick auf größere Fragen verwehren könnte (vgl. I, 10f.). Er erläutert, dass sich die Philosophie seit dem Aufklärungszeitalter im 18 Jh. und dem damit beginnenden nachmetaphysischen Denken nach und nach in zwei Stränge resp. Strömungen aufgeteilt hat, die entweder in der Tradition Kants oder der Tradition Humes stehen. Während sich der in der Nachfolge Humes stehende Strang zu einer immer wissenschaftlicher werdenden Philosophie entwickelt habe, sich also einem szientistischen Weltbild zugewendet hat, sei der Strang, der in der Nachfolge Kants steht, dem Denken von Kant, aber auch Hegel nahe geblieben. Im 20 Jh. kristallisiere sich immer trennschärfer ein unterschiedliches Selbstverständnis dieser Stränge heraus (vgl. I, 26). Diesen Unterschied verdeutlicht Habermas mit folgender Fragestellung:
Versteht sie [die Philosophie - Anm. M.P.] sich als eine wissenschaftliche Disziplin unter anderen, als Fach unter Fächern, gar als Dienstleistung für die Kognitionswissenschaften, oder will und soll sie bei fortschreitender Spezialisierung weiterhin einen komprehensiven Anspruch auf die Beförderung des rationalen Welt- und Selbstverständnisses der zeitgenössischen Generation verfolgen? (Ebd.)
Während die Spezialisierung für andere Disziplinen einen Fortschritt bedeutet, registriert Habermas, dass der Philosophie droht, den Bezug auf das große Ganze zu verlieren (vgl. I, 11). Diesen Bezug dürfe sie jedoch nicht verlieren, wenn sie weiterhin „[.] zur rationalen Klärung des Selbst- und Weltverständnisses [.]“ (I, 12) beitragen möchte. Philosophie müsse erklären, was die wissenschaftlichen Kenntnisse der Welt für den Menschen bedeuten - gerade der praktische Bezug auf die menschliche Lebensführung sei ihr eigen, wie die Grundfragen Kants illustrieren (vgl. I, 13). Die Philosophie würde nach seiner Auffassung ihr eigenes „Proprium“ - ihre „Aufklärungsrolle“ - verraten, wenn sie „[.] den holistischen Bezug auf unser Orientierungsbedürfnis preisgäbe.“ (Ebd.) Habermas fasst diesen Punkt wie folgt zusammen: „Aufklärung ist nicht selber wissenschaftliche Erkenntnis; sie erklärt vielmehr, was eine jeweils neue Erkenntnis »für uns«, das »Selbst« unserer Selbstverständigung bedeutet.“ (I, 190) Dies zeige sich in der „synthetischen Kraft“ der Philosophie, an zwei „epistemisch relevanten Bezügen“16 gleichzeitig festzuhalten, die im weiteren Verlauf noch weiter thematisiert werden. Habermas spricht diesbezüglich einerseits von einem „Bezug zur Welt im Ganzen“ und andererseits von einer „[.] systematische[n] Selbstreferenz der Forscher zu sich als Menschen, sowohl als Individuen wie als Personen überhaupt, sodann zu sich als Angehörigen einer sozialen Gemeinschaft und schließlich als Zeitgenossen einer geschichtlichen Epoche.“ (I, 27f.)
Jene Variante des nachmetaphysischen Denkens, die als szientistischer oder empiristischer Strang bezeichnet werden kann, vergesse hingegen den Unterschied zwischen philosophischen und wissenschaftlichen Problemen. Habermas positioniert sich eindeutig und möchte die Philosophie vor der Verwissenschaftlichung bewahren - bemerkenswert ist, dass es sich dabei um einen Wandel seines Denkens handelt, denn 1971 hatte Habermas die szientistische Strömung der Philosophie noch begrüßt (vgl. ebd.).
Jener andere Strang, der im Folgenden als Strang der vernünftigen Freiheit 17 bezeichnet wird, sei sich dieses Unterschiedes bewusst und operiere deshalb mit einem komprehensiven Vernunftbegriff, also einem Vernunftbegriff, der sich zutraut, auf die Grundfragen Kants zu antworten. Dieses Verständnis zehre von einer „[.] rätselhaften Initiative zum Gebrauch unserer vernünftigen Freiheit [.]“ (I, 13), die im Verlauf der Genealogie plausibilisiert werden soll. Habermas beschreibt sein Vorhaben wie folgt: „Mein Versuch einer Genealogie nachmetaphysischen Denkens soll dazu ermutigen, den Menschen nach wie vor als das »Vernunft habende« Tier zu begreifen und dabei an einem komprehensiven Begriff der Vernunft festzuhalten.“ (I, 173) Dieser komprehensive Begriff der Vernunft sei dadurch charakterisiert, dass er nicht nur empirische, also auf Beobachtungen in der Welt gestützte Gründe gelten lasse, sondern ebenso ethische, moralische, existentielle etc. (vgl. ebd.).
Es geht also um die Frage, „[.] ob wir einen komprehensiven, das Welt- und Selbstverständnis einbeziehenden Begriff der Vernunft im Zuge einer szientistisch verkürzten Verwissenschaftlichung der Philosophie verabschieden müssen oder beibehalten können - und sollen [...].“ (I, 145) Dies zeigt sich Habermas' Auffassung nach „[...] deutlicher im Lichte einer Genealogie des nachmetaphysischen Denkens, die bis in die soziale Evolution der achsenzeitlichen Kulturen zurückgeht.“ (Ebd.) Eine solche Rekonstruktion müsse das religiöse Erbe miteinschließen, von dem sich die nachmetaphysische Gestalt der Philosophie gelöst hat, um zu verstehen, was sie heute bedeutet (vgl. I, 13f.).
2.2 Die semantische Osmose zwischen Christentum und Philosophie
Habermas' Genealogie des nachmetaphysischen Denkens soll nachzeichnen, inwiefern religiöse Gehalte von der Philosophie übernommen und in „begründungsfähiges Wissen“ transformiert wurden, denn es seien immer wieder „[.] semantische Gehalte biblischen Ursprungs in die Grundbegriffe des nachmetaphysischen Denkens überführt worden.“ (I, 15) Dieser „semantischen Osmose“ verdanke der an Kant und Hegel anschließende philosophische Strang das Thema der „vernünftigen Freiheit“. An diesem Erbe der Religion, womit vornehmlich das Christentum gemeint ist, entscheide sich die Frage, was sich die Philosophie heute noch zutrauen könne. Dieses Erbe sei jedoch nur in einen der beiden philosophischen Stränge eingegangen. Für den empiristischen Strang handle es sich nicht um ein Erbe, sondern um eine lästige Redundanz (vgl. I, 15). Kant und somit auch der Strang der vernünftigen Freiheit stehen Habermas zufolge der Religion lern- und dialogbereit gegenüber. Dabei geht es um die „[...] Aneignung der in philosophischer Übersetzung vernünftigen Gehalte der religiösen Überlieferung [...].“ (I, 30)
Ursprünglich - so Habermas -stand die griechische Philosophie, die zunächst noch selbst zu den metaphysischen und religiösen Weltbildern der Achsenzeit zählte, in enger Symbiose mit den monotheistischen Weltreligionen. Im Westen sei Philosophie über ein Jahrtausend hinweg unter dem Einfluss der katholischen Kirche von Theologen betrieben worden. Während dieser Zeit wurden Dogmatiken mithilfe philosophischer Begrifflichkeiten verfasst und umgekehrt theologische Gehalte in das philosophische Denken überführt - Habermas spricht diesbezüglich von der bereits erwähnten „Osmose“, die heute im säkularen Denken fortgeführt wird (vgl. I, 38). Dem Diskurs über Glauben und Wissen komme seit jeher eine konstitutive Rolle in der Philosophie zu (vgl. I, 14).
Habermas bemerkt, dass die Philosophie im Verlauf des 17 Jh. ein zunehmend säkulareres Selbstverständnis entwickelt hat, und spricht von einer vollständigen „Abkoppelung“ von der Religion resp. vom sakralen Komplex. Dies habe zwei Konsequenzen verursacht, welche die Philosophie auch heute noch beschäftigen. Zum einen falle die bisher bestehende „normative Rückendeckung“ der Autorität einer rettenden Gerechtigkeit weg, sodass die Vernunft gezwungen sei, aus sich selbst heraus Recht zu legitimieren resp. ein säkulares Äquivalent zu finden. Zum anderen stelle sich die Frage, was die besagte Trennung für die „gesellschaftliche Integration“18 bedeutet. Denn die Philosophie habe sich vom Ritus resp. der „sozialintegrativen Quelle der liturgischen Gemeindepraxis“ gelöst und somit eine wichtige Solidarität stiftende Quelle verloren (vgl. I, 75). Diese vermeintliche Quelle soll im Hauptteil dieser Arbeit genauer untersucht werden.
Die Säkularisierung habe also das Selbst- und Weltverständnis dahingehend verändert, dass nicht mehr die Ereignisse in der Welt von einem rettenden Gott abhängig gemacht werden, sondern von den „kommunikativ vergesellschafteten Subjekten“ selbst, die ihre vernünftige Freiheit gebrauchen. Damit gehen nach Habermas zwei „Ernüchterungen“ einher: Zum einen die Zumutung, akzeptieren zu müssen, dass es keine Instanz mehr gibt, die das, was auf der Welt moralisch misslungen ist, im Letzten wieder ausgleicht. Zum anderen das immens hohe, aber erforderliche Maß an „Verständigungs- und Kooperationsbereitschaft“, das konstitutiv für eine gelingende Gesellschaft ist (vgl. I, 72). Habermas schreibt:
Erst das Verständnis der Gründe, die seit der Reformation die Subjektphilosophie zur anthropozentrischen Blickwendung, vor allem zur nachmetaphysischen Verabschiedung des Glaubens an eine restituierende oder »rettende« Gerechtigkeit genötigt haben, öffnet die Augen für das Maß an Kooperationsbereitschaft, das kommunikativ vergesellschaftete19 Subjekte dem Gebrauch ihrer vernünftigen Freiheit zumuten müssen. (I, 14)
Die Herausforderung, diese Abkopplung zu kompensieren, bedeutet für Habermas jedoch nicht, wieder in religiöse Denkmuster verfallen zu müssen. Im 20 Jh. seien Vertreter des Stranges der vernünftigen Freiheit mit großen philosophischen Entwürfen - die Theorien von Heidegger, Löwith, Schmitt und Strauss werden diesbezüglich von Habermas thematisiert - daran gescheitert, Antworten auf jene Problemfeld er zu finden, indem versucht wurde, den Krisenphänomenen der Moderne durch Ausflüchte in metaphysisches oder mittelalterlich theologisches Denken zu begegnen (vgl. I, 37f., 75). Habermas' Intention ist es jedoch, Lösungen zu finden, die nicht hinter den bereits vollzogenen Lernschritten des nachmetaphysischen Denkens zurückfallen.
Die Philosophie teile sich „[.] das Autonomiebewusstsein einer Moderne, die sich ganz aus eigenen normativen Ressourcen begründet.“ (I, 77) Ebenso begründe sich das nachmetaphysische Denken aus eigenen Prämissen. Die Philosophie lehne den umfassenden Wahrheitsanspruch der Religion zwar ab, schließe aber zugleich die Möglichkeit nicht aus, den Religionen weiterhin Wahrheitsgehalte abgewinnen resp. lernen zu können. Auch wenn das nachmetaphysische Denken frei von religiösen oder metaphysischen Prämissen sein muss, kann die Philosophie also nach Habermas auch heute mit der Religion in einen Verständigungsprozess treten, in dem sich über das Wissen über die Welt und den Menschen ausgetauscht wird (vgl. I, 76f.).
3. Lernschritte und Weichenstellungen des nachmetaphysischen Denkens
In diesem Kapitel soll Habermas' Genealogie des nachmetaphysischen Denkens vereinfacht in ihren groben Umrissen nachgezeichnet werden. Diese Darstellung kann selbstredend keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben und stellt sich deshalb zur Aufgabe, einige der bedeutendsten Weichenstellungen hervorzuheben, die nach Habermas das heutige nachmetaphysische Denken hervorgebracht haben. Es wird sich hierfür mehr auf die Innovationen des Denkens konzentriert als auf gesellschaftliche oder politische Umstände. Vor allem die von Habermas betonte semantische Osmose zwischen Theologie und Philosophie soll besondere Betrachtung finden. Des Weiteren soll diese Zusammenfassung wichtige Zusammenhänge für die darauffolgende Auseinandersetzung mit dem sakralen Komplex herstellen - das betrifft das Kap. 3.1, aber vor allem das Kap. 3.2, welches die Auseinandersetzung mit Luther und der Reformation umfasst.
Habermas lässt seine Genealogie bereits bei den Ursprüngen der Menschwerdung anfangen, um von da aus den Übergang von mythischen zu achsenzeitlichen Weltbildern nachzuzeichnen. Diese Stationen werden für die nun folgende Zusammenfassung übersprungen und erst später bei der Auseinandersetzung mit dem sakralen Komplex, dem Hauptgegenstand dieser Arbeit, aufgegriffen.
3.1 Symbiose von Glauben und Wissen
Von einem gemeinsamen Anfang der Weltbildentwicklung in der Achsenzeit ausgehend beschränkt sich Habermas auf den okzidentalen Pfad, der zum nachmetaphysischen Denken führen soll. Dieser setzt bei dem sich aus dem Jüdischen abspaltenden Urchristentum an, das dann im Kontext des römischen Weltreiches dem Platonismus und damit der griechischen Philosophie begegnet.20 Habermas spricht von einer daraus resultierenden Symbiose von Glauben und Wissen, die eine einzigartige Dynamik entfaltet hat (vgl. I, 483-491). Er schreibt: „Für die Genealogie des nachmetaphysischen Denkens ist jene Konstellation von »Athen«, »Jerusalem« und »Rom« entscheidend, die die westliche Kultur und das abendländische Denken bis auf den heutigen Tag prägt.“ (I, 483)
Die christliche Theologie musste sich nach Habermas einerseits mit ihrem jüdischen Ursprung auseinandersetzen und sah sich andererseits mit dem platonistischen Weltbild konfrontiert, das ein „kognitiv anspruchsvolles Niveau“ vorlegte. Zu diesem verhielt sie sich insgesamt - Habermas spricht einschränkend auch polemische Auseinandersetzungen an - „produktiv-aneignend“ (vgl. I, 537). Dabei habe es sich um einen „Prozess gegenseitiger Assimilation“ gehandelt (vgl. I, 522). Dieser Prozess stellt die bereits angesprochene semantische Osmose dar. Wichtig ist für Habermas, dass das Zusammenspiel von griechischer Philosophie und Christentum - einem kosmozentrischen und theozentrischen Weltbild - den Diskurs über Glauben und Wissen eröffnet und gleichzeitig die Entstehung der römischkatholischen Kirche bewirkt hat (vgl. I, 152).
Paradigmatisch für die christliche Synthese mit dem Platonismus ist nach Habermas das Werk des Kirchenvaters Augustins (354-430). Augustin, der zunächst den Neuplatonismus studiert habe und mit 33 Jahren zum Christentum konvertiert sei, stelle für die Genealogie des nachmetaphysischen Denkens eine Zäsur dar, da er der Philosophie neue Perspektiven und Erfahrungsbereiche erschlossen habe, die maßgeblich für ihre weitere Entwicklung gewesen seien. Augustin sei beim Versuch, die Begriffswelt des Platonismus mit dem Christentum zu versöhnen, eine folgenreiche philosophische Innovation gelungen. Durch seine Auseinandersetzung mit den Themen der Erbsündenlehre, der Gnadenwahl etc. habe er einen Perspektivenwechsel eingeleitet. Nicht mehr die Anschauung des Kosmos, sondern die Anschauung der Subjektivität rücke aufgrund dieses Wechsels in den Fokus (vgl. I, 154, 558).
Für Augustin sei der Glaube keine eigene Leistung, sondern in erster Linie von Gott empfangen resp. ins Innere des Menschen gesetzt. Der Mensch, angetrieben vom eigenen Sündenbewusstsein, der Suche nach Heil resp. Erlösung und der daraus resultierenden „existentiellen Unruhe“, stehe in einer kommunikativen Beziehung mit Gott. Ebendiese im Inneren des Menschen angesiedelte Erfahrung der Begegnung mit Gott müsse Gegenstand der Betrachtung sein, denn der Glaube sei nach Augustin „Schlüssel“ zur Gotteserkenntnis. Augustin richtet also nach Habermas seinen Blick auf die Erforschung der eigenen Subjektivität und erschließt der Philosophie damit einen neuen Erfahrungsbereich - es geht Augustin um die selbstreflexiven Erfahrungen, die der Mensch im Glauben performativ mit seinem göttlichen Gegenüber macht (vgl. I, 573-576). Habermas schreibt : „Das Ich begegnet sich nicht als Gegenstand der Selbstbeobachtung, sondern als Antwort heischendes Gegenüber einer unsichtbaren Macht, von deren undurchschaubarem Ratschluss das Worumwillen des eigenen Lebens abhängt.“ (II, 194) Damit entdecke Augustin die „epistemische Autorität der Teilnehmerperspektive“21 - Habermas bemerkt einschränkend, dass Augustin diese jedoch noch nicht explizit von der mit ontologischen Begrifflichkeiten operierenden Perspektive des Beobachters unterscheidet (vgl. I, 576). Habermas schreibt:
Indem sich Augustin an dem dogmatischen Kern der christlichen Lehre mit Mitteln dieser Philosophie abarbeitet, öffnet er die griechische Metaphysik für einen dieser Denktradition fremden Heilsweg und macht dabei implizit deutlich, dass die ontologischen, auf sinnliche und abstrakte Gegenstände gerichteten Grundbegriffe jenen selbstreflexiven Erfahrungen unangemessen sind, die gläubige Personen im Umgang mit Gott, mit anderen und mit sich selbst im geschichtlichen Horizont ihrer ungegenständlich, das heißt nur performativ gegenwärtigen Lebenswelt machen. (I, 571)
Die verwendeten ontologischen Grundbegriffe seien demnach ungeeignet, um jenen Erfahrungsbereich zu bestimmen. Habermas stellt fest: „Die Philosophie muss ihr Augenmerk fortan auf die Seele, nicht auf die Welt konzentrieren.“ (I, 573) Die philosophiegeschichtliche Relevanz der Erkenntnis Augustins formuliert Habermas wie folgt:
Für die weitere Entwicklung des philosophischen Denkens bedeutet die Umkehr der Blickrichtung vom Kosmos ins eigene Innere und die Erschließung der Subjektivität eine Weichenstellung, die von der ontologischen Fragestellung der Metaphysik weg in Bereiche performativ gegenwärtiger Erfahrungen hinein führt [sic!]. (Ebd.)
Der Gewinn des selbstreflexiven, performativen Erfahrungsbereiches eröffne neue Fragen und sei dafür verantwortlich, dass die Philosophie im weiteren Verlauf der Genealogie die Richtung der Subjekt- und Sprachphilosophie einschlägt (vgl. I, 571).
Habermas hebt in seiner zweiten Zwischenbetrachtung hervor, dass die Bearbeitung theologischer Themenfelder wie die der Prädestination, der Heilsgeschichte oder der Verantwortlichkeit des Menschen vor Gott aus der von Augustin entdeckten Teilnehmerperspektive resultieren und immense Bedeutung für die Entwicklung der praktischen Philosophie gewinnen. Im Kontext der Bearbeitung der paulinischen Gnadenlehre und der Prädestinationslehre bereite Augustin das Thema der vernünftigen Freiheit vor, weil er an den Willen des Menschen, zwischen göttlichen, also „moralisch verpflichtenden“ Geboten und eigenen, diesen Geboten widerstrebenden Interessen zu entscheiden, appelliere (vgl. II, 194-196). Eine weitere bedeutende Innovation Augustins sei die Überführung der biblischen Heilsgeschichte in eine Geschichtstheologie, indem er die Weltgeschichte thematisiert und in diese die Heilsgeschichte integriert resp. nach „heilsgeschichtlichen Spuren“ sucht (vgl. I, 608-610). Damit begründe Augustin eine Geschichtstheologie, die der Philosophie die teleologische Deutung der Geschichte erschließt. Ebenso bahnbrechend sei Augustins Nachdenken über die Verantwortlichkeit des Einzelnen vor Gott. Unter dem göttlichen Blick müsse jeder Mensch sein Leben vor Gott moralisch verantworten; dies habe eine individualisierende Kraft, da sich der Mensch unter diesem Blick erst seiner Identität vergewissere (vgl. II, 196-198). Habermas schreibt zusammenfassend:
Mit dem Blick auf die Existenzweise und das intuitive Vollzugswissen des Gläubigen im Angesicht Gottes haben sich also dem philosophischen Nachdenken neue Themen wie die an verpflichtende Gesetze gebundene Willensfreiheit, die Historizitä t des menschlichen Daseins und die Individualität der sich selbst ihrer Identität erst vergewissernden Person aufgedrängt. (II, 198)
3.2 Trennung von Glauben und Wissen
Die nächste hervorgehobene Weichenstellung der Genealogie des nachmetaphysischen Denkens betrifft die Trennung von Glauben und Wissen. Die gerade dargestellte Symbiose von Theologie und Philosophie hat - wie in Kap. 2.2 bereits angeklungen ist - über ein Jahrtausend hinweg das Denken geformt.22 Doch diese Symbiose findet von theologischer Seite aus im Zuge der Reformation ein Ende. Die damit vollzogene Wende wird auch die Philosophie maßgeblich verändern.
3.2.1 Luther und der performative Eigensinn des Glaubens
Habermas verdeutlicht, wie Martin Luthers (1483-1546) radikale Bestrebung, den perfor- mativen Modus des Glaubens vor dessen ontologischen Vergegenständlichung zu bewahren, zur Abkopplung des Glaubens vom Wissen führt (vgl. II, 13). Thomas bemerkt: „Den Übergang zur Neuzeit verortet Habermas [.] nicht, wie mancher erwarten würde, bei Descartes, sondern bei Martin Luther.“23 Habermas unterstreicht Luthers Bedeutung für die Genealogie, die allein anhand der Tatsache, dass die Auseinandersetzung mit Luther den Beginn des zweiten Bandes darstellt, hervorgehoben wird, wie folgt:
Im Verhältnis von Theologie und Philosophie breitet Luther gewissermaßen einen Stabwechsel vor. Indem er den Glauben vom Wissen entkoppelt, zerbricht die Theologie selbst den Rahmen, innerhalb dessen sich der Diskurs über Glauben und Wissen bewegt hatte. Sie beendet das Zeitalter des Weltbildes und verweist die Philosophie in die Schranken nachmetaphysischen Denkens. (I, 162)
Die scholastische Gelehrtenwelt des Mittelalters ist nach Habermas in der Zeit Luthers noch stark geprägt von der Rezeption des wiederentdeckten Aristoteles, dessen Metaphysik einen enormen Einfluss auf die christliche Lehre übte (vgl. I, 157). Die Aristotelesrezeption stellt eine wichtige Phase dar, die Habermas anhand der Theorien von Duns Scotus, Thomas von Aquin und Wilhelm von Ockham darstellt, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann. Habermas schreibt: „Eine philosophische Anverwandlung religiöser Gehalte und Fragestellungen ist zuerst im Zuge der Ausbildung des christlichen Platonismus aufgetreten.
Dieser zweischneidige Prozess wiederholt sich im Zuge der Aristotelesrezeption während des hohen Mittelalters.“ (I, 693)
Von diesem aristotelischen Wissenschaftsgeist, mithilfe dessen man versuchte, Gott, die Welt oder das „All-eine“ theoretisch zu erfassen resp. aus der Vernunft heraus zu begründen, habe sich Luther abgewendet (vgl. I, 157). Was für Habermas in Zusammenhang seiner Genealogie von Interesse ist, ist Luthers Versuch, den „[.] performativen Eigensinn christlicher Glaubenswahrheiten vor deren theoretischer Vergegenständlichung in metaphysische Grundbegriffe zu retten.“ (II, 13) Luther betont dafür den „[.] methodischen Vorrang des performativen Sinns der religiösen Erfahrung vor dessen propositionalem Gehalt [.].“ (Ebd.) Die Theologie habe zwar bereits mit Augustin die epistemische Dimension des Glaubens entdeckt, jedoch gehe Luther, der als Augustinermönch in der augustinischen Tradition stand und dessen Gedanken dementsprechend aufnahm und verarbeitete, einen Schritt weiter und verzichte auf die philosophisch-vernünftige Legitimation der Glaubensgehalte. Luther verfolge damit die vollständige Abkopplung des Glaubensaktes von philosophisch rationalen Erklärungsversuchen - ein wenig plakativ bezeichnet Habermas dies wie erwähnt als Trennung von Glauben und Wissen resp. Abkopplung des Glaubens von der Vernunft (vgl. I, 157 und II, 13f.).
Die Beendigung dieser „Arbeitsteilung“ zwischen Theologie und Philosophie sei Konsequenz Luthers Rechtfertigungslehre. Es sei nicht länger die Vernunft, die den Menschen eine Beziehung zu Gott ermögliche, da diese selbst in Sünde verstrickt sei (vgl. II, 13f.). Damit verbindet sich Luthers Überzeugung eines grundsätzlichen Fallibilismus der menschlichen Vernunft, die einen Grundzug des nachmetaphysischen Denkens darstellt (vgl. II, 37). „Der gefallene Mensch ist nicht länger Geist von Gottes Geist; es ist nicht länger die Vernunft, die den Menschen mit Gott verbindet.“ (II, 13)
Luther verficht eine „Theologia crucis“, die Habermas wie folgt umschreibt: „Der als Gegenstand ungreifbare Gott begegnet allein in der kommunikativen Zuwendung des gepeinigten, um sein Heil ringenden Sünders zum biblisch bezeugten und im Gebet aktualisierten Wort des gekreuzigten Gottessohnes.“ (II, 34) Habermas hebt hervor, dass der Glaube bei Luther eine Sache des Vertrauens sei und nicht der Erkenntnis. Der Einzelne sei angetrieben durch sein radikales Sündenbewusstsein und dem damit zusammenhängenden Wunsch nach Rechtfertigung, die er im Vollzug des Glaubens als Gnadenakt Gottes erfährt (vgl. II, 35). Deshalb entscheide nicht die propositionale Ebene „die Triftigkeit des Glaubens“, sondern der auf performativer Ebene vollzogene Glaube. Bei diesem handle es sich um die „[.] Anerkennung der Glaubwürdigkeit einer anderen Person - der Person des durch Jesus und in dessen überlieferten Worten bezeugten Gottes.“ (Ebd.)
Luther unterscheide zwischen zwei epistemischen Perspektiven coram Deo und coram mundo, die als theologische Äquivalente zur säkularen Teilnehmer- und Beobachterperspektive verstanden werden können. Die nur performativ zugängliche Gotteserfahrung müsse nach Luther als Perspektive coram Deo ernstgenommen werden. Er kritisiere, dass die aristotelische Substanzmetaphysik diese Erfahrungen coram Deo vergegenständlicht habe (vgl. II, 33). „ Aus dem coram mundo gesammelten Wissen lässt sich für die Glaubenserfahrungen coram Deo nichts lernen.“ (II, 35f.) Das Gottesverhältnis des Menschen gehöre zu einer inneren Sphäre, die von der äußeren Welt und dem Gesetz unterschieden ist. Nur innerhalb dieser inneren Sphäre erfahre der Mensch Heil in Form Gottes rechtfertigender Gnade. In der Unterscheidung zwischen jener inneren und der äußeren Sphäre liegt nach Habermas das philosophische Gewicht Luthers Rechtfertigungslehre, die in Kants Transzendentalphilosophie einfließen wird (vgl. II, 29). Die Unterscheidung der beiden epistemischen Einstellungen führe zudem zu Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die sich wiederum in den Grundbegriffen der gleich zu thematisierenden Subjektphilosophie resp. Bewusstseinsphilosophie24 spiegele (vgl. I, 163f.).
Die von Luther eingeleitete „fideistische“ Wendung bedeute soziologisch gesehen, dass der Glaube sich von allen äußeren Einmischungen abkapselt. Habermas spricht diesbezüglich von einer Selbstimmunisierung der Theologie resp. des Glaubens (vgl. II, 36f.). Er stellt fest, dass die Theologie damit gleichzeitig das Tor zur anthropozentrischen Wende der Philosophie aufgestoßen hat; diese Wende führt zur Subjektphilosophie des 17 Jh. und damit zur vollständigen - nun auch von philosophischer Seite aus vollzogenen - Trennung von Glauben und Wissen. Deshalb kann Habermas sagen, dass der Protestantismus das Zeitalter des Weltbildes „in gewisser Weise beendet“25, denn dieser führt zu ebenjener Subjektphilosophie, die zwar noch einen metaphysischen Anspruch auf ein System der Wissenschaft erhebt, aber an Stelle des Gottesbezuges den Menschen resp. das Subjekt setzt (vgl. II, 13f.).
3.2.2 Subjektphilosophie
Nach der Abkopplung des Glaubens öffne sich die Philosophie im 17. Jahrhundert „[.] systematisch der Denkungsart der modernen Wissenschaften und der kapitalistischen Dynamik der Gesellschaft.“ (II, 100) Habermas sieht darin einen weiteren Paradigmenwechsel, eine weitere Zäsur in der Genealogie des nachmetaphysischen Denkens (vgl. II, 191). Wichtige von Habermas in diesem Kontext behandelte Denker sind unter anderem Descartes, Spinoza, Locke und Hobbes (vgl. II, 98-188).
Habermas stellt fest, dass sich dieser Paradigmenwechsel länger angebahnt hat, aber mit der Angleichung der Philosophie an die Naturwissenschaften endgültig vollzogen wurde. Die Philosophie habe einen „Seitenwechsel“ von der Theologie zu den Naturwissenschaften vollzogen (vgl. I, 165). Sie habe nicht nur die methodische Einstellung der modernen Wissenschaften „etsi deus non daretur“ übernommen, sondern zugleich die naturwissenschaftliche Perspektive eines Beobachters, der die physikalisch messbaren Gegenstände der Welt untersucht (vgl. II, 119f, 192). Habermas erläutert, dass der neue epistemische Blick der objektivierenden Naturerkenntnis dazu führt, dass das Selbstverständnis des Menschen de- zentriert wird. Der Mensch sei nicht mehr Ziel oder Krone der Schöpfung; die Welt werde nun vielmehr als Phänomen wahrgenommen, dass dem Beobachter gegenüberstehe. Die Philosophen seien mit der Frage konfrontiert, was der Mensch - im Bewusstsein seiner Fallibi- lität - überhaupt von der ihm gegenüberstehenden Natur erkennen kann (vgl. II, 201f.). Habermas schreibt: „Die Welt steht als ein opakes Ganzes dem erkennenden Geist gegenüber, sodass dieser sich fragen muss, wie er aus dem allein über die Sinnesorgane vermittelten input ein richtiges Bild von der black box der Welt gewinnen kann.“ (II, 202) Daraus resultiere die philosophische Selbstreflexion des Erkenntnisvermögens bzw. die Selbstbefragung des Geistes, die ebenso mithilfe der von den Naturwissenschaften übernommenen epistemi- schen Einstellung eines Beobachters unternommen worden ist, welche jedoch den eigenen situativen, lebensweltlichen Standort der Betrachtung vergisst zu berücksichtigen (vgl. ebd.).
Die Philosophie habe sich mit diesem Vorgehen in einen Widerspruch verstrickt, denn dadurch sei eine „unüberbrückbare Kluft“ zwischen Subjekt und Objekt bzw. Welt entstanden (vgl. II, 119f.). Habermas schreibt: „Der Subjektivität des vorstellenden Denkens steht die Welt als Gesamtheit vorstellbarer Objekte gegenüber.“ (II, 120) Die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, Innen- und Außenwelt - welche im Übrigen nach Habermas die Zwei-Reiche-Lehre Luthers widerspiegelt - wird als epistemischer Dualismus bezeichnet (vgl. II, 119f.).
Der praktischen Philosophie sei der Seitenwechsel zur Naturwissenschaft zum Verhängnis geworden, denn das neue Paradigma sehe vor, dass zuverlässiges Wissen nur über den naturwissenschaftlichen Erkenntnisweg gewonnen werden kann. Diese Beobachterperspektive vermöge es jedoch nicht, normative Aussagen zu begründen resp. über das Gute oder das Gerechte vernünftig nachzudenken (vgl. I, 165). Mit der Abkopplung von der Theologie sei der praktischen Philosophie - wie eingangs bemerkt - der Boden einer gesetzgebend en Autorität Gottes entzogen worden, sodass sie vor der Frage stehe, wo „normative Dimension des Gerechten und des Guten“ zu finden seien (vgl. II, 120). Habermas schreibt: „Im Hinblick auf die Frage, wie sich für die normative Bindungskraft des göttlichen Wortes ein säkulares Äquivalent finden und begründen lässt, findet keiner der großen Philosophen des 17. Jahrhunderts eine überzeugende Antwort.“ (I, 165)
3.3 Kant und die vernünftige Freiheit
Die nächste hervorzuhebende Weichenstellung der Genealogie Habermas' ist im 18. Jahrhundert - also in der Zeit der Aufklärung - zu datieren. Von hier aus verfolgt das nachmetaphysische Denken entweder den bei Immanuel Kant (1724-1804) beginnenden Strang der vernünftigen Freiheit oder den empiristischen Strang, der auf David Hume (1711-1776) zurückzuführen ist. Auf den empiristischen Strang soll hier jedoch nur begrenzt eingegangen werden. Habermas unterstreicht die Relevanz der beiden Denker und betont, dass erst Hume und Kant den subjektphilosophischen Ansatz konsequent zu Ende geführt haben. Hume und Kant „[.] lassen sich als nachmetaphysische Denker begreifen, weil jeder auf seine Weise das Systemdenken des 17. Jahrhunderts hinter sich gelassen hatte.“ (II, 560)
Kant habe mit seiner Kritik der reinen Vernunft eine Grenzziehung der Vernunft unternommen, die transzendente, also die Erfahrung überschreitende und deshalb metaphysische Erkenntnis ausschließt (vgl. II, 317f.). Habermas zeigt auf, dass sich Kant mit seiner Philosophie konsequent von der Ontotheologie entfernen möchte, d.h. von der Annahme, dass sich die Notwendigkeit der Existenz Gottes aus der Vernunft bzw. aus deren Begriffe ableitet (vgl. II, 311).26 Von großer Bedeutung für Habermas' Genealogie bzw. für den Strang der vernünftigen Freiheit ist Kants „[.] religionskritische Aneignung und philosophische Übersetzung der auf Paulus und Augustin gestützten Rechtfertigungslehre Martin Luthers [.]“ (ebd.), welche die Tradition der semantischen Osmose weiterführt. Kant halte trotz der Grenzziehung der Vernunft an den Fragen fest, was der Mensch sei und was er hoffen dürfe, und zeige zumindest, dass die Vernunft „ermutigende“ Ideen entwickeln könne (vgl. II, 305). Davis trifft bezüglich der kritischen Aneignung religiöser Gehalte folgende Beobachtung: „Kant ist die Inspirationsquelle für Habermas' dialektisches Projekt einer Grenzziehung zwi- sehen religiösem Glauben und Wissen in Kombination mit einer rationalen >Aneignung< des religiösen Gehalts [.].“27
Wie bereits festgehalten leitet die Subjektphilosophie einen Perspektivenwechsel von dem „[.] primär auf Seiendes gerichteten Blick der Metaphysik auf das erkennende Subjekt selbst [.]“ (I, 31) ein; im Fokus steht die Reflexion der Erkenntnisbedingungen des erkennenden Subjekts. Habermas erläutert, dass der Empirismus die Reflexion der eigenen Erkenntnisbedingungen als Beobachtung begreift resp. aus der Beobachterperspektive - die „[.] Perspektive einer dritten Person auf die eigene Subjektivität als Behälter von evidenten Gegebenheiten [.]“ (I, 32) — durchführt. Er spricht diesbezüglich kritisierend von einem „view from nowhere“, der den daraus resultierenden Objektivismus erklärt. Demgegenüber habe Kant die Reflexion der Erkenntnisbedingungen aus der „[.] Perspektive der ersten Person auf die eigene Subj ektivität als Ursprung spontaner Leistungen [.]“ (ebd.) vollzogen. Kant richte seinen Blick auf den performativen Charakter einer tätigen Subjektivität. Den Anreiz für diese Perspektive, die Subjektivität als Ort einer „handelnden“ Vernunft zu begreifen, habe Kant von der Theologie. Die Theologie von Augustin bis Luther hat - wie in den vorherigen Kapiteln gezeigt wurde - die epistemische Einstellung des inneren, nur performativ erfahrbaren Gottesverhältnisses (coram Deo) betont. Mithilfe dieser epistemi- schen Einstellung - freilich in säkular umgedeuteter Form - habe Kant die Akte der Vernunft als nachvollziehbare Operationen und nicht mehr als selbstevident gegebene Zustände betrachtet (vgl. I, 32f.). Kant übernehme damit das Luther'sche Prinzip der Zwei-Reiche-Lehre und übersetze es erkenntnistheoretisch als noumenale und phänomenale Welt (vgl. II, 324). Habermas zeigt auf, dass Kant damit die sogenannte kopernikanische resp. transzendentale Wende der Erkenntnistheorie eingeleitet hat. Kant habe die Theorie einer „leistenden Subjektivität“ entworfen, welche die durch Sinnesreize erfahrenden Erscheinungen der Umwelt mithilfe von transzendentalen, also vor aller Erfahrung liegenden Operatoren der Vernunft überhaupt in eine Ordnung bringt. Das Subjekt sei deshalb nicht mehr bloß reaktiv in Bezug auf die “einprasselnden“ Erfahrungen aus der Umwelt, sondern ordne diese aktiv mithilfe seiner transzendentalen, vor aller Erfahrung liegenden Verstandeskategorien, die sich vielleicht auch als Konstruktionsmechanismen betiteln lassen könnten (vgl. II, 313-318). Habermas schreibt:
Das Modell für das erkennende Subjekt ist das »handelnde Subjekt«, das zu wahren Erkenntnissen gelangt, indem es die Sinnesdaten nach allgemein verbindlichen Regeln organisiert. Dabei wird die nach allgemeinen Regeln operierende Vernunft selbst als subjektiv, als das Vermögen eines transzendentalen Ichs gedacht, mit dessen Spontaneität wiederum nur eine Selbstgesetzgebung der Vernunft vereinbar ist. (II, 315)
Habermas macht nun darauf aufmerksam, dass die systematische Absicht dieser Konzeption die Angliederung der praktischen Vernunft an die theoretische sei. Sowohl die theoretische als auch die praktische Vernunft bezögen sich auf dieselbe Vernunft, würden aber davon unterschiedlichen Gebrauch machen. Die Vernunftkonzeption, die von der „[.] vernünf- tige [n] Selbsttätigkeit eines handelnden Subjekts nach selbst gegebenen allgemeinen Gesetzen [.]“ (ebd.) ausgeht, sei daher die „Brücke“ zwischen theoretischer und praktischer Vernunft. Damit dehne Kant den Bereich des performativen Wissens auf die praktische Vernunft aus, also auf moralische Urteile und Handlungen (vgl. I, 32f.). Das erkennende Subjekt entwerfe Gesetze, mithilfe derer es die Sinneseindrücke als zusammenhängende Ordnung/Ein- heit verstehen kann; ebenso entwerfe es Gesetze, die das normative Handeln leiten sollen (vgl. II, 315f.). Der wohl bekannteste Entwurf eines solchen Gesetzes ist der kategorische Imperativ.
Nach Habermas ist das eigentliche revolutionäre Moment Kants die Einführung eines praktischen Begriffs der Subjektivität, die einen inneren Kampf zwischen Gut und Böse austrägt. Dieser Begriff zehre von einem weiteren theologischen Erbe, der Intuitionen der Lu- ther'schen Rechtfertigungslehre, die in Kap. 5.5 erneut Gegenstand der Betrachtung sein wird (vgl. II, 319f). Es geht Habermas um das Theologumenon der vom Sündenfall verdorbenen Natur des Menschen, welches Kant für seine Philosophie übernimmt (vgl. II, 326). Kant möchte „[.] den vernünftigen Gehalt des Kampfes der sündigen, aber reuigen Kreatur um den rechten Glauben und die Gnade Gottes im Lichte des allein aus Einsicht absolut verbindlichen Moralgesetzes [.] entziffern.“ (II, 320) Dieser Kampf werde von Kant in den inneren Kampf des Menschen zwischen seiner Natur, die ihn mit lasterhaften Bedürfnissen und Wünschen konfrontiert, und seiner Vernunft übersetzt. Der Mensch sehe sich mit der Herausforderung eines Moralgesetzes konfrontiert, das er sich selbst aufgrund seiner leistenden praktischen Vernunft geben konnte und nun befolgen soll (vgl. II, 323-325). Die Sollgeltung dieser sich dem Menschen quasi aufdrängenden Gesetze erkläre Kant mit einem transzendentalen Faktum eines Gefühls der Pflicht (vgl. II, 543). Dieses speist sich nach Habermas aus dem Selbstverständnis des Menschen als „autonomes Vernunftwesen“28, um das es Kant primär geht. Um sich als freier, vernünftiger Mensch zu verstehen, bedürfe es Gesetze, die allen Menschen ihr Frei-Sein ermöglichen. An diese Gesetze müsse sich der Mensch deshalb vernünftigerweise binden (vgl. II, 804).
Mit dem Faktum der Pflicht finde Kant ein säkulares Äquivalent für die gesuchte normative Bindungskraft eines göttlichen Wortes. Der Mensch könne mithilfe dieses Faktums seinen Willen resp. seine Willkür29 an Gesetze binden, also diese autonom resp. selbstbestimmt befolgen. Das ist nach Habermas die vernünftige Freiheit: Der Mensch bindet freiwillig resp. in Freiheit seinen Willen an aus der Vernunft generierte Gesetze. Dieses auf den Begriff der Autonomie aufbauende Konzept verdanke Kant seiner Auseinandersetzung mit Luthers Gnadenlehre und der dahinterstehenden augustinischen Tradition (vgl. II, 325-328). Habermas schreibt:
[.] [W]ie bei Luther die Gnade der Heilszusage den vom Strafgesetz gezüchtigten Sünder erst zu Nächstenliebe und sittlichem Handeln ermächtigt, so soll auch zu den als Vernunftanlage unserem Geist gnädig eingeschriebenen Pflichten noch ein Moment zur Verwirklichung dieser Gebote hinzutreten: Erst der Akt der Bindung der eigenen Willkür andie vernünftigen Gesetze macht den andernfalls von seinen natürlichen Impulsen getriebenen Menschen frei [.]. (II, 326)
So übersetze Kant den „göttlichen Gnadenakt“ in die „Selbstermächtigung der Autonomie“; die absolute Geltung göttlicher Gebote werde zur „Sollgeltung anonymer Gesetze der Vernunft“ transformiert (vgl. II, 328).
Das, was von Kant im weiteren Verlauf des nachmetaphysischen Denkens wichtig bleibe, sei die welterzeugende Eigenleistung eines gesetzgebenden Subjekts, das in diesem Vollzug seine Autonomie erfährt. Habermas betont: „Das gilt in praktischer Hinsicht für die Konzeption der vernünftigen Freiheit und in theoretischer Hinsicht für den konstruktiven Charakter der Erkenntnis.“ (II, 369) Mit seinem Konzept der Autonomie resp. der vernünftigen Freiheit habe Kant ein säkulares Äquivalent für die normative Bindungskraft eines göttlichen Gesetzes gefunden (vgl. II, 166f.). Habermas schreibt:
Nach einem mehr als anderthalb Jahrtausende währenden philosophischen Diskurs über Glauben und Wissen hatte Kant mit seiner transzendentalen Konzeption der Erkenntnis und der daran anschließenden deontologischen Konzeption der vernünftigen Freiheit die Substanz dieser Übersetzungsarbeit in die begründende Rede nachmetaphysischen Denkens eingeholt. (II, 749)
Dennoch wird Kants „Faktum der Vernunft“ berechtigter Kritik ausgesetzt: „Denn diese nimmt das Pflichtbewusstsein, das heißt die Empfindlichkeit für die Sollgeltung allgemeiner Normen als etwas Gegebenes hin, ohne die Herkunft des Faktums zu erklären.“ (II, 369) Ebenso seien Kants Nachfolger mit dem Problem konfrontiert, dass sich die Trennung der Reiche des Intelligiblen und der weltlichen Erscheinungen nicht länger plausibel begründen ließe (vgl. II, 372).
[...]
1 Habermas, Jürgen: Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1. Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen. Berlin: 32019. Habermas, Jürgen: Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 2. Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen. Berlin: 32019. Zitate aus diesem Werk werden im Folgenden im fortlaufenden Text mit Band- und Seitenangabe vermerkt. Kursive Hervorhebungen von Habermas werden in den Zitaten übernommen.
2 Vgl. Höhn, Hans-Joachim: [Rezension zu] Habermas, Jürgen: Auch eine Geschichte der Philosophie. ThPh 95 (2020), S. 286.
3 Vgl. Habermas, Jürgen: Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken. Berlin: 2012, S. 16.
4 In dieser Arbeit wird auf das Gendern verzichtet. Stattdessen sollen mithilfe des generischen Maskulinums der besseren Lesbarkeit halber alle Geschlechter repräsentiert werden.
5 Vgl. Graf, Friedrich Wilhelm: Aufklärung, alteuropäisch. Wie Jürgen Habermas der Religion begegnet. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 13 (2019), S. 116.
6 Ebd.
7 Vgl. Striet, Magnus: Grenzen der Übersetzbarkeit. Theologische Annäherung an Jürgen Habermas. In: Glauben und Wissen. Ein Symposium mit Jürgen Habermas. Hrsg. von Langthaler, Rudolf; Nagl-Docekal, Herta. Wien: 2007 (Wiener Reihe Bd. 13), S. 265.
8 Herausstechende Beispiele dafür sind folgende Werke: Nachmetaphysisches Denken II. Habermas, Jürgen: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main: 1992. Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 2001. URL: https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/sixcms/media.php/1290/2001_habermas.pdf [Zuletzt aufgerufen am 06.07.2021]; Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main: 2005.
9 Arens, Edmund: Von der rettenden Gerechtigkeit zur vernünftigen Freiheit: Jürgen Habermas rekonstruiert Konstellationen von Glauben und Wissen. In: Ethik und Gesellschaft. Ökumenische Zeitschrift für Sozia lethik 1 (2020), URL: https://www.ethik-und-gesellschaft.de/ojs/index.php/eug/article/download/1-2020-rez-4/718 Zuletzt aufgerufen am 04.06.2021, S. 23.
10 Thomas, Günter: Philosophen singen nicht. Die Tragik in Jürgen Habermas ' Interesse an der Religion. Cath(M) 75 (2021), S. 47.
11 Thomas: Philosophen singen nicht. S. 52.
12 Das auf Jaspers zurückgehende Konzept der Achsenzeit wird in Kap. 5.4 genauer erläutert. Hier sei folgende Definition vorausgeschickt: „Achsenzeit, bezeichnet in der Geschichtsphilosophie von Jaspers den weltgeschichtlichen Umbruch, der sich in der Zeit von 800-200 v. Chr. gleichzeitig in China, Indien, Iran, Palästina und Griechenland vollzieht. Er stellt einen Prozess geistiger Neuorientierung dar, der das Ende der frühen Hochkulturen anzeigt und den Übergang zu einer gemeinsamen Weltgeschichte einleitet.“ Burkard, Franz- Peter: Achsenzeit. In: Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen 3 (2008), S. 7.
13 Hampe, Michael: Jenseits des Glaubens. In: DIE ZEIT 46 (2019), S. 59.
14 Ebd.
15 Vgl. ebd.
16 Es geht um die „Teilnehmer- und Beobachterperspektive“.
17 Habermas bietet leider keine Titelentwürfe für die beiden Stränge an, sodass im Rahmen dieser Arbeit eigene Titelentwürfe unum gänglich waren.
18 Der soziologische Begriff „Integration“ nimmt eine zentrale Rolle im Denken Habermas' ein und meint in diesem Kontext vereinfacht ausgedrückt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Vgl. Epskamp, Heinz: Integration. In: Lexikon zur Soziologie6 (2020), S. 347.
19 Habermas definiert den Begriff wie folgt: „»Vergesellschaftung« heißt, dass die Subjekte zu Teilnehmern an Kommunikations- und zu Mitgliedern von Kooperationsgemeinschaften sozialisiert worden sind.“ (II, 373).
20 Sowohl das Judentum als auch der Platonismus werden in Habermas ' Genealogie als aus der Achsenzeit hervorgegangene Weltbilder thematisiert (vgl. I, 327-360, 406-460).
21 Die „Teilnehmerperspektive“ wird von Habermas auch als „Perspektive des Beteiligten“ umschrieben. Die Unterscheidung zwischen den beiden epistemischen Perspektiven eines Teilnehmers und eines Beobachters, die bereits in Kap. 2.1 angeklungen ist, wird im weiteren Verlauf eine zentrale Rolle spielen. An dieser Stelle sei zur Bestimmung an Folgendes erinnert: Die Teilnehmerperspektive reflektiert die subjektive Erfahrung des Vollzuges und den situativen Kontext, indem der Einzelne sein Handeln erfäh rt (vgl. II, 780-782). Im weiteren Verlauf wird diese Perspektive fortwährend beleuchtet werden.
22 Ein tragender von Habermas thematisierter Faktor hierfür ist die katholische Kirche. Folgendes Zitat soll noch einmal die Bedeutung der römisch-katholischen Kirche hervorheben, deren Entwicklung und Einflüsse in dieser Arbeit nun nicht weiter thematisiert werden können, aber von Habermas durchaus in einem eigenen Kapitel behandelt wurden: „Die westliche Moderne ist im Schoße des von der römisch-katholischen Kirche geprägten, ja wesentlich mitgeschaffenen christlichen Europas herangereift. Hier sind auch die Bedingungen für ein nachmetaphysisches Denken und ein anthropozentrisches Selbstverständnis ebenso vorbereitet wie die Bedingungen für die politische Kultur handeltreibender Städte, für die Entstehung des modernen Rechts- und Staatensystems und für die Ausdifferenzierung der kapitalistischen Wirtschaft aus einer umfassenden imperialen Herrschaftsordnung erfüllt worden.“ (I, 630)
23 Thomas: Philosophen singen nicht. S. 49.
24 Habermas verwendet beide Termini synonym. Auch wenn „Bewusstseinsphilosophie“ die gängigere Bezeichnung für jenes philosophische Paradigma in der Forschungsliteratur darstellt, wird der Terminus „Subjektphilosophie“ von Habermas bevorzugt verwendet.
25 Treffender wäre die Formulierung mit dem Begriff „eingeleitet“ gewählt, denn wenig später spricht Habermas vom „[.] subjektphilosophische [n] Abschied vom Zeitalter der Weltbilder [.].“ (II, 206).
26 Vgl. Theis, Robert: Gottesbeweise, Kritik der. In: Kant-Lexikon 3 (2015), S. 910-915.
27 Davis, Felmon: Monotheismus. In: Habermas Handbuch (2009), S. 128.
28 Man denke an den oft zitierten Leitspruch der Aufklärung Kants „Sapere aude!“. Vgl. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Immanuel Kant. Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften. Hrsg. von Horst D. Brandt. Hamburg 1999 (Philosophische Bibliothek Bd. 512), S. 20.
29 Vgl. Esser, Andreas: Wille. In: Kant-Lexikon 3 (2015), S. 2650-2653.
- Quote paper
- Micha Pante (Author), 2021, Sakraler Komplex, Reformation, Sakrament. Eine theologische Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas' Genealogie des nachmetaphysischen Denkens, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1172272
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