Das vorliegende Essay thematisiert die Bedeutung der Europawahlen im Allgemeinen sowie die Wahlergebnisse 2019 in Deutschland im Besonderen. Dabei wird auch auf die Wahlbeteiligung und die Wahlmotivation der Wahlberechtigten eingegangen.
„Wer nicht wählt, gefährdet Europa“ (Juncker 2019). Unter diesem Titel erschien wenige Tage vor den Wahlen zum Europäischen Parlament 2019-20241 auf der Website der Rheinischen Post ein Gastbeitrag von Jean-Claude Juncker. Darin rief der scheidende Kommissionspräsident die Unionsbürgerinnen und -bürger2 auf, wählen zu gehen, um für europäische Werte einzustehen und die Zukunft der EU in Abgrenzung zu (rechts-)populistischen Phantasien zu gestalten. Jede Stimme mache sehr wohl einen Unterschied (vgl. ebd.).
Nun mag man diesen Aufruf womöglich als Floskel der politischen Kommunikation abtun, als bloßen wie plumpen Versuch, der Europawahl zu mehr Gewicht und infolgedessen auch zu mehr Popularität zu verhelfen. Tatsächlich nahm die Wahlbeteiligung seit der ersten Direktwahl 1979 kontinuierlich ab (vgl. Europäisches Parlament/Kantar 2019a). 1999 fiel sie unter die 50-Prozent-Marke, 2014 sank sie auf 42,61 Prozent ab (vgl. ebd).
Diese Deutung von Junckers Gastbeitrag greift jedoch zu kurz. Schließlich gibt sie den zeithistorischen Kontext nur unzureichend wieder, indem sie sich allein auf die Wahlbeteiligung stützt. Junckers Aussagen werden daher im Folgenden in ein Wirkungsnetz aus vier weiteren Faktoren eingewebt:
- Erstens haben sowohl die EU im Ganzen als auch besonders das Europäische Parlament (EP) im Laufe ihrer Zeit an Kompetenzen und damit Gestaltungsmacht gewonnen (vgl. Phinnemore 2016; vgl. Burns 2016). Fernab von normativen Argumenten empfiehlt es sich daher für Unionsbürgerinnen und -bürger allein schon aus Eigeninteresse zunehmend, an Europawahlen teilzunehmen.
- Zweitens befindet sich die EU „in einer politischen Krise, einem Konflikt über die strategische Ausrichtung“ (Ondarza 2019a: 34). Diesem Zustand vorausgegangen war eine ganze Reihe verschiedener Krisen wie die Wirtschafts- und Finanzkrise, die sogenannte „Flüchtlingskrise“ oder der Brexit, die das politische System der EU strapaziert und seine strukturellen Schwächen entblößt haben (vgl. Tömmel 2017).
- Drittens sei die Europawahl 2014 angeführt. Diese fand unter den Eindrücken der eben erwähnten Wirtschafts- und Finanzkrise statt. Kaeding und Switek (2015: 17) verglichen die Wahlergebnisse mit einem „politischen Erdbeben“. Zusätzlich zur historisch niedrigen Wahlbeteiligung erstarkten Parteien am linken und rechten Rand, wohingegen die politische Mitte an Stimmen einbüßte (vgl. ebd.: 17f. ). In denjenigen Staaten, die im Zuge der Krise aus dem „Euro-Rettungsschirm“ Geld empfingen, wuchs das linke Spektrum. Dem gegenüber gedieh das rechte Spektrum in den Geberländern (vgl. ebd.: 18f.). Insgesamt entfielen knapp 30 Prozent der Sitze im EP auf euroskeptische Parteien (vgl. Schäfer 2019: 237). Der Grundtenor der Europawahl 2014 setzte sich in darauffolgenden nationalen Wahlen der EU-Mitgliedsstaaten fort - auf Kosten konservativer und sozialdemokratischer Parteien (vgl. Ondarza 2019a: 12). Auf europäischer Ebene gehören diese der Europäischen Volkspartei (EVP) und der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) an (vgl. ebd.: 5).
- Unter diesen Vorzeichen sind - viertens - die Voraussagen zur Europawahl 2019 zu betrachten. Ondarza (2019a) attestierte der europäischen Parteienlandschaft, sich inmitten wesentlicher Umwälzungen zu befinden. Als potenzielle Wahlverlierer identifizierte er die EVP und SPE (vgl. Ondarza 2019a: 12). Diesen stellte er das erstmalige Ende ihrer absoluten Mehrheit in Aussicht (vgl. ebd.: 32). Dem EP, so seine Schlussfolgerung, stünde eine Zeit der wechselnden Mehrheiten bevor (vgl. ebd.: 31f.). Als möglichen Profiteur dieses veränderten Machtgefüges benannte er das liberale Lager. Dies knüpfte er aber unter anderem an die Frage, ob sich die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) mit der Bewegung des französischen Präsidenten Macron (LREM) auf eine Zusammenarbeit würden verständigen können (vgl. ebd.: 32f.). Zudem zog er weitere Zugewinne für die eurokritischen bis -feindlichen Parteien in Betracht. Zerfiel
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1 Sofern durch den jeweiligen Kontext nicht anders ausgewiesen, wird in diesem Essay keine inhaltliche Unterscheidung zwischen dem Singular und dem Plural von „Wahl“ gemacht. Einfachheitshalber kann demnach sowohl von „Europawahl“ als auch „-wählen“ die Rede sein, ohne dadurch eine explizit wertende Aussage zu treffen. Aus Gründen der Vollständigkeit und Transparenz sei an dieser Stelle jedoch angemerkt, dass der konkrete Wahlvorgang „Wahlen“ nahelegt. So existierte für die Europawahl 2019 kein einheitlicher Wahlakt (vgl. Maurer 2019: 7). Bürgerinnen und Büiger wählten auf Basis nationaler Wahllisten an teilweise unterschiedlichen Tagen (vgl. ebd.: S.lf.). Europaparteien verfügen zudem über eine höchstens lose gemeinsame Programmatik (vgl. Ondarza 2019a: 7).
2 Im Sinne einer gendergerechten Sprache werden sowohl die weibliche als auch männliche Form genannt. Menschen, die sich in diesem Geschlechterspektrum nicht wiederfinden, sollen dadurch allerdings keineswegs ausgeschlossen werden.
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- Tim-Philipp Hödl (Author), 2019, Bedeutung der Europawahl 2019, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1170999
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