Was treibt China, aus Sicht der Theorie des Neorealismus, zu einem solch aggressiven Verhalten gegenüber Hongkong und seinen Bürgern? Seit der Übergabe Hongkongs von der britischen Krone an die Volksrepublik China sieht sich die Finanzmetropole, und jetzt nun auch Sonderverwaltungszone, mit der zunehmenden Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit durch die chinesische Regierung konfrontiert. Angriffe auf die Demokratie und den Rechtsstaat Hongkongs mündeten 2014 und in den Jahren 2019 und 2020 in eine Protestbewegung, die Millionen von Menschen auf die Straßen der Stadt trieb. Im Zuge dieser Proteste, die später als 'Regenschirm- Revolution' bekannt werden sollte, nahm die Hongkonger Polizei eine Vielzahl der Demonstranten fest.
Die Handlungsweise Chinas im Zuge der Proteste 2014 und 2019/2020 in Hongkong – eine neorealistische Analyse
Hongkong im Sommer 2019: Ein durch die Regierungschefin der Sonderverwaltungszone Hongkong vorgeschlagenes Gesetz sorgt für heftige Proteste. Eine Millionen Menschen gehen auf die Straße, um die daraus resultierende drohende Auslieferung von Häftlingen aus Hongkong an die Volksrepublik China zu verhindern. So befürchte man, dass die autoritäre Volksrepublik China die Unabhängigkeit Hongkongs aushebeln wolle und es nun möglich sein würde, „unter dem Deckmantel formrechtlicher Erwägungen Kritiker der [chinesischen] Zentralregierung […] auf Anweisung Beijings nach China auszuweisen“.1
1. Die Geschichte vom Verhältnis zwischen Hongkong und der Volksrepublik China
Als die Briten 1977 als damalige Kolonialmacht über Hongkong nach 155 Jahren der Besatzung, ihre „Kronkolonie“ der chinesischen Regierung zurück gaben2, verpflichtete sich diese vertraglich auf ein Abkommen, das heute unter dem verfassungsmäßigen Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ bekannt ist. Es schreibt fest, dass Hongkong zwar bis zum Jahr 2047 China angehört, garantiert jedoch ein von der Regierung in Peking unabhängiges politisches System. So ist Hongkong heute durch eine hohe innere Autonomie gegenüber der Volksrepublik China gekennzeichnet. Die vertraglichen Regelungen statuieren, neben einer demokratischen Sonderzone, die eigene Gerichtsbarkeit, unabhängige Presse und freie Wirtschaft.3
1.1. Die Bevölkerung Hongkongs wehrt sich gegen Chinas Eingriffe („Umbrella-Bewegung“)
Ein 2014 vorgebrachter Beschluss beinhaltete, dass die bei den Wahlen antretenden Kandidat:innen im Vorfeld durch ein nicht gewähltes, repräsentatives Wahlkomitee ausgewählt werden sollten4. Als Reaktion auf diesen Beschluss entstand die sogenannte „Umbrella- Bewegung“, ein Volksprotest, der sich später ins Leere verlief.5
In den darauffolgenden Jahren versuchte Peking mit verschiedensten Mittel weiter das politische System Hongkongs auszuhöhlen. Besonders hervorzuheben ist hierbei der Versuch Schulkinder, durch eine Reform des Schulsystems, zu chinesischen Traditionen und Patriotismus zu bewegen6 und die Steigerung des Drucks auf pro-demokratische sowie regimekritische Medien, um die Berichterstattung zu Gunsten der Regierung des chinesischen Festlandes zu verschieben.7
1.2. Erneut entsteht eine Protestbewegung (Proteste 2019/2020)
Aus der wachsenden Idee der Reform des Justizgesetzes im Jahr 2019 entwickelte sich innerhalb der Bevölkerung noch im selben Jahr die einleitend skizzierten Protestbewegungen. Nach Androhung von militärischer Gewalt seitens der Zentralregierung Peking eskalierten die friedlichen Proteste zu einem gewaltsamen Volksaufstand. Nach Angaben der Hongkonger Polizei wurden bis September 2019 etwa 1.100 Personen vorläufig festgenommen.8
2. Chinas Verhalten im Kontext des Neorealismus
2.1. Lässt sich Chinas Handlungsweise im Zuge der Proteste 2014 und 2019/2020 und die damit verbundene Kontrollübernahme der chinesischen Regierung, mit Hilfe der neorealistischen Theorie erklären?
Fraglich ist, inwiefern sich die Handlungsweise der chinesischen Regierung gegenüber den Protesten politisch erklären lässt. Genauer soll die Reaktion im Zuge der Proteste 2014 und 2019/2020 und die damit verbundene Kontrollübernahme im Lichte der neorealistischen Theorie ausgelegt, und somit die genannte Forschungsfrage beantwortet, werden.
Des Weiteren wird zuerst der Neorealismus als Theorie der internationalen Beziehungen erläutert und angewandt. Speziell ist dabei auf etwaige Machtressourcen, die China durch eine gänzliche Eingliederung Hongkongs in ihr politisches System gewinnen könnte, einzugehen.
Da der Neorealismus (anders als z.B. der Liberalismus) Akteure innerhalb des politischen Systems ausblendet, eignet er sich aus meiner Sicht besonders, um die oben genannte Fragestellung zu beantworten. Gerade in autoritären Staaten wie der Volksrepublik China, in denen die Außenpolitik nur von der Parteielite bestimmt wird, bietet es sich an, den Staat in seiner Gesamtheit zu betrachten, ohne dass Partikularinteressen anderer innerstaatlicher Akteure in die Analyse einfließen.
2.2. Der Neorealismus als Theorie der internationalen Beziehungen
Die Theorie des Neorealismus (auch struktureller Realismus) findet seinen Ursprung im Realismus der 1990er Jahre. Wohingegen der Realismus außenpolitische Entscheidungen auf die Grundannahme zurückführt, dass jeder Mensch nach Macht strebt, nimmt der Neorealismus an, dass sich das Verhalten einzelner Staaten durch die Architektur des internationalen Systems erklärt. Dabei werden politische Akteure im Staatsinnern vernachlässigt und der Staat einzig als Einheit betrachtet.
Zudem versteht der Neorealismus das internationale System, in dem sich Staaten bewegen, als anarchisch. Überdies gibt es keine zentrale höhere Autorität, die Fehlverhalten sanktioniert. Wenn es keine übergeordnete Kontrollinstanz gibt, versucht jeder Staat seine Macht innerhalb des Gefüges zu erweitern. Zentral für die politische Willensbildung ist für die Neorealisten die stetig ausgehende Gefahr von anderen, womöglich mächtigeren, Staaten.
Die Macht eines Staates lässt sich an sog. Machtressourcen erkennen. Kenneth Waltz, als Hauptvertreter der neorealistischen Theorie, nennt in diesem Zusammenhang die Folgenden: Bevölkerung, Territorium, Wirtschaftskraft, militärische Stärke, Kompetenz, Ausstattung mit Ressourcen und politische Stabilität . 9 Ausgehend vom Besitz dieser Machtressourcen können Rückschlüsse auf die allgemeine Macht eines Staates geschlossen werden.10
Wird ein Staat in einem bestimmten geografischen Umfeld der Mächtigste, wird dieser regionaler Hegemon genannt.
2.3. Chinas zu erlangende Machtressourcen durch eine vollumfängliche Kontrollübernahme in Hongkong
Nachstehend werden nur die Machtressourcen Bevölkerungszahl, Größe des Territoriums, Wirtschaftskraft und militärische Stärke betrachtet. Letztere ist im Zuge einer neorealistischen Analyse zwar zwingend anzusprechen, erübrigt sich aber schlussendlich (vgl. 2.3.4). Übrige Machtressourcen werden nicht angeführt, da sie entweder schwierig zu messen, nicht ausreichend definiert oder in Bezug auf die Sonderverwaltungszone irrelevant sind. Wird folgend vom Begriff der Kontrollübernahme gesprochen, ist die vollständige Eingliederung Honkongs in die Volksrepublik China gemeint. Mit dieser wäre die „Ein Land, zwei Systeme – Regelung“ vollständig aufgelöst.
2.3.1 Bevölkerungszahl
Die Bevölkerungszahl eines Landes beschreibt der Neorealismus als potentielle Machtressource. Sie drückt aus wie viele Personen im Falle eines Angriffs durch einen anderen Staat als Soldaten oder Arbeitskräfte in Betracht kämen . 11
Als die „Umbrella-Bewegung“ im Jahr 2014 für freie und faire Wahlen protestierte, lebten 7.229.500 Menschen in Hongkong. Fünf Jahre später, als sich die Proteste gegen die Justizreform intensivierten, stieg diese Zahl auf 7.507.400.12 Auch wenn China als das bevölkerungsreichste Land im Jahr 2014 bereits 1.364.000.000 Einwohner zählte,13 ist der scheinbar geringen Bevölkerungsgröße Hongkongs Genüge zu leisten. Entscheidend ist schließlich, dass sich die Bevölkerungszahl der Volksrepublik, sollte China die vollumfängliche Kontrolle in Hongkong übernehmen, weiter erhöht. Gemäß der Idee der potentiellen Machtressource, erhöht sich mit zunehmender Bevölkerungsanzahl auch die Macht der Volksrepublik. Dass es sich dabei tatsächlich nur um einen Anstieg der Bevölkerungszahl von 0,53 % handelt, ist unbeachtlich.
2.3.2 Größe des Territoriums
Ähnlich zur Bevölkerungsgröße ist auch die Größe des Territoriums eine sogenannte potenzielle Machtressource. So bestimmt „Größe und Lage des Territoriums […] nicht nur die Schwierigkeit, mit der der eigene Staat erobert werden kann, sondern kann [auch] den eigenen Handlungsspielraum einschränken oder erweitern (z.B. indem Atomtests auf dem eigenen Territorium möglich sind)“.14 Hongkong umfasst eine Fläche von 1110 km2.15 Auch hier könnte man meinen, dass diese bei Eingliederung im Verhältnis zum Territorium Chinas (9.562.910 km²)16 einen unwesentlichen Anteil ausmachen würde. Dies ist jedoch zu verneinen, da im Sinne der Neorealisten jede Erweiterung der Machteinflüsse das entscheidende Ziel eines Staates ist.
[...]
1 (Schubert, Gunter (2020): Prekäre Autonomie, zunehmende „Lokalisierung“, S. 168)
2 (Vgl. Aufmkolk, Tobias (2021): Hongkong unter britischer Herrschaft)
3 (Görlach, Alexander 2020: Brennpunkt Hongkong, S.13)
4 (Vgl. Schucher, Günter und Holbig, Heike (2014): „Occupy“ in Hongkong, S.2)
5 Sie scheiterte unter anderem deshalb, weil sich die chinesische Regierung kompromisslos zeigte und die Behörden der Sonderverwaltungszone zu wenig politischen Spielraum besaßen, um den politischen Reformen in diesem Maße Gegenwehr zu leisten.
6 (Vgl. Kann, Karita (2012): Lessons in Patriotism, S. 64 ff.)
7 (Vgl. Lo, We (2014): Darkest year ‚in decades’ for Hong Kong Press)
8 (Vgl. bpb (2019: Massenproteste in Hongkong)
9 (Vgl. Waltz, Kenneth N. (2010): Theory of International Politics, S.131)
10 (Vgl. Baumann, Rainer und Rittberger, Volker und Wagner, Wolfgang (1998): Macht und Machtpolitik)
11 (Vgl. Baumann, Rainer und Rittberger, Volker und Wagner, Wolfgang (1998): Macht und Machtpolitik)
12 (Vgl. Worldbank: Population, total- Hong Kong SAR, China)
13 (Vgl. Worldbank: Population, total- Hong Kong SAR, China, China)
14 (Vgl. Baumann, Rainer und Rittberger, Volker und Wagner, Wolfgang (1998): Macht und Machtpolitik)
15 (Vgl. laenderdaten.info, Hongkong)
16 (Vgl. laenderdaten.info, China)
- Quote paper
- Moritz Schulze (Author), 2021, Chinas Handlungsweise im Zuge der Proteste 2014 und 2019/2020 in Hongkong. Eine neorealistische Analyse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1170056
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