Ein flüchtiger Zwischenfall. Gerhart Hauptmann und der Breslauer Sozialistenprozess 1887


Fachbuch, 2022

198 Seiten


Leseprobe


Inhalt:

Vorbemerkung

Gerhard Hauptmann und der Breslauer Sozialistenprozess
1. Erkner - ein wohlhabender Rentier
2. Die Nachwirkungen des flüchtigen Zwischenfalls'
3. Der Breslauer Sozialistenprozess
4. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang:

1. ,Vor Sonnenaufgang' - Aufführungsliste
2. ,Der Reichsbote' v. 12.11., 16.11., 17.11., 27.11.1889: Besprechung der Uraufführung, Vor Sonnenaufgang'
3. Heinrich Lux: Der Breslauer-Sozialistenprozess Eine Hauptmann-Erinnerung.
4. Gerhart Hauptmann über den Breslauer Sozialistenprozess in Selbstzeugnissen
5. Aus: Theodor Müller: Die Geschichte der Breslauer Sozialdemokratie
6. Liste ausgewählter Zeitungsmeldungen zum Breslauer Sozialistenprozess
7. Meldung der ,Schlesische Volkszeitung' v. 26.5 zu den Durchschnittsverdiensten der Arbeiter

Vorbemerkung:

Dieser Aufsatz versteht sich als Anmerkungen zu: Walter Requardt, Martin Machatzke: Gerhart Hauptmann und Erkner. Studien zum Berliner Frühwerk. Berlin 1980 (= Veröffentlichungen der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft e.V. Bd.1). Der Autor verdankt Prof. Machatzke 1976 einige Hinweise zu seiner aus einem Forschungsprojekt des (damaligen) Fachbereichs Germanistik der FU Berlin(West) zum Naturalismus hervorgegangenen Magisterarbeit 'Die Herausbildung und Wandlung der sozialen Frage im Frühwerk Gerhart Hauptmanns'. Allerdings musste er nach Studienabschluss das Angebot Prof. Machatzkes, ihm bei der Recherche zu Gerhart Hauptmanns Verwicklung in den Breslauer Sozialistenprozess zu helfen, nach wenigen Monaten kurzfristig beenden, da er eine gutdotierte Stelle im pädagogischen Bereich im damaligen - von Berlin(West) aus gesehen - Westdeutschland' annahm, von wo aus die damals ohnehin schwierigen Recherchen in der damaligen DDR und in Polen nicht mehr zu erledigen waren. Da nur wenige Jahre später diese Stelle den Autor gänzlich vom akademischen Bereich wegführte, bekam er erst Ende der 90-er Jahre Kenntnis von Requardts/Machatzkes 'Erkner'-Studien, und entdeckte darin den als Fußnote vermerkten offenen Arbeitsauftrag. Die erste Fassung dieses vorliegenden Aufsatzes ist zwar auch schon einige Jahre alt, soll aber den Arbeitsauftrag doch - vorläufig - erledigen; vorläufig deswegen, weil bei der Wiederaufnahme nach einigen zeitbedingt halbherzigen Anfängen, die eine oder andere Wertung in Frage gestellt werden muss.

Der Titel bezieht sich auf die bekannte Passage in Gerhart Hauptmanns ,Abenteuer meiner Jugend':

"Ein Zwischenfall soll noch flüchtig erwähnt werden: eine gerichtliche Vorladung. Ich wurde vom Untersuchungsrichter über allerlei Umstände vernommen, die sich in Bres­lauer politischen Zirkeln zugetragen hatten. In der Tat waren einige alte Bekannte dabei kompromittiert. Ich wusste nicht das geringste davon. Trotzdem hatte ich in dem späteren großen Sozialisationsprozess nochmals als Zeuge aufzutreten. Dabei habe ich zum ersten­mal Geld verdient, das heißt Zeugendiäten eingesteckt. Bei dieser Gelegenheit sah ich ebenfalls zum erstenmal die meisten Häupter der Sozialdemokratie, wie denn überhaupt das Ganze dieser Monstreverhandlung höchst eindrucksvoll und belehrend war." (Gerhart Hauptmann: Abenteuer meiner Jugend)1

Für den vorliegenden Aufsatz wird angenommen, dass die Geschichte der Sozialistengesetze', soweit als allgemeiner Hintergrund nicht bekannt, aus den in der Literaturliste angeführten Büchern leicht erschlossen werden kann. Was insbesondere die Breslauer Besonderheiten betrifft, so bietet die beiden Werke von Theodor Müller: ,Die Geschichte der Breslauer Sozialdemokratie. Teil I und II.' (Breslau 1925) und ,45 Führer aus den Anfängen und dem Heldenzeitalter der Breslauer Sozialdemokratie' (Breslau 1925) immer noch den besten Einstieg. Viele der in der Literaturliste angeführten Werke zu den ,Sozialistenprozessen' sind nur antiquarisch erhältlich.

Für weitere und genauere Details würden wir zwar gerne auf Online-Angebote hinweisen, aber die Breslauer Presse ist wie die gesamte niederschlesische und oberschlesische Presse bisher erst in Ansätzen digitalisiert, sondern liegt zum allergrößten Teil noch nur körperlich oder in Mikrofilmen und auf diverse Standorte verteilt vor; zahlreiche Mikrofilme sind auch über Fernleihe nicht erreichbar; zudem ist das technische Equipment an fast allen Standorten in grausam schlechten Zustand; dass ich bei der Recherche mit Gerätschaften arbeiten musste, an denen ich schon während des Studiums Ende der 1970-er Jahre arbeitete, ist nicht lustig. Trotzdem haben wir in dem vorliegenden Aufsatz keine umfangreichen Materialien angefügt. Wir verweisen jedoch auf unsere Materialsammlung in: Michel, Hans-G.: ,Gerhart Hauptmann und der Breslauer Sozialistenprozess - Der Breslauer Sozialistenprozess im November 1887 - Materialband‘ (erschienen 2016) mit umfangreichem, auch Müllers Werk ergänzenden Hintergrundmaterial, einer ausgiebigen Zeitungsartikel-Liste vor allem Breslauer und Berliner Zeitungen, sowie Zeitungsartikel, die einen direkten Bezug zu Gerhart Hauptmann haben.

Insgesamt wird vorausgesetzt, dass Hauptmann die Nachrichten über die Anbahnung und die Durchführung des Breslauer Prozesses in den Berliner Zeitungen ebenso wenig unbekannt geblieben sein können wie die Prozesse in Posen, Chemnitz, Magdeburg und vor allem an- und ausdauernden Berliner ,Sozialistenprozesse' (zuletzt vor dem Berliner Landgericht ein Prozess gegen mehrere Personen, denen vorgeworfen wird, Mitglied des Berliner Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Partei zu sein - Meldung im Berliner ,Volksblatt' am 13.11.1887) und die die Fortexistenz des sog. ,kleinen Belagerungszustandes' über die Stadt Berlin, die Stadtkreise Potsdam, Charlottenburg und die Landkreise Oberhavelland, Teltow; zumindest auf den „Kleinen Belagerungszustand' geht er in seiner Beschreibung der Erkner-Jahre mehrmals ein.

Trotzdem bleibt eines der Hauptprobleme bestehen:

Aus Gerhart Hauptmanns Hand kennen wir zu dem Gesamtgeschehen nur die kurzen Passagen aus seiner ansonsten von Detailerinnerungen geradezu strotzenden Autobiografie ,Das Abenteuer meiner Jugend', wobei zwischen der Manuskriptfassung von 1930 und der Buchausgabe von 1937 erhebliche Differenzen der Darstellung bestehen. Hauptmanns Sekretärs Behl (vgl. Anhang IV) hat in seinen Erinnerungen ebenfalls einige Gesprächsnotizen mit Hauptmann festgehalten. Die umfangreichste Darstellung hat bisher Heinrich Lux' „Hauptmann-Erinnerung' ,Der Breslauer Sozialistenprozess.' (siehe Anhang III) gegeben, allerdings mit Schwerpunkt auf dem Breslauer studentischen ,Ikarier'-Klub. Auf diesen der Sozialdemokratie nahestehenden Klub geht auch Müller ein (vgl. Anhang V); der Ikarier-Klub spielt allerdings - verständlicherweise - in Müllers Werk, das die Geschichte der Breslauer Sozialdemokratie darstellen soll, nur eine Nebenrolle. Daneben existiert nur noch ein weiterer deutlicher Hinweis auf Hauptmanns Ikarier-Mitgliedschaft und den Breslauer Prozess, nämlich in einer umfangreichen Besprechung der Uraufführung von ,Vor Sonnenaufgang' in der Berliner Tageszeitung ,Der Reichsbote' (vgl. Anhang II). Neuerdings haben sich zwei Romane mit dem ,Ikarier-Hauptmann'-Thema beschäftigt: Einmal Uwe Timm in ,Ikarien' mit dem Schwerpunkt auf der Darstellung des frühen Hauptmann-Freundes Alfred Ploetz und dessen späterer Rassentheorie. Und zum zweiten Hans Pleschinski in ,Wiesenstein' mit dem Schwerpunkt der Darstellung Gerhart Hauptmanns im Frühjahr 1945.

Ansonsten bleibt Hauptmanns Verstrickung in den Prozess im Ungefähren.

Dem Aufsatztext hinzugefügt ist außerdem eine Aufführungsstatistik zu ,Vor Sonnenauf­gang‘, sowie eine kurze Würdigung von Aufführungen nach 1945, wobei insbesondere auf die Figur des Loth eingegangen wird. Zur Würdigung der frühen Aufführungen von ,Vor Sonnenaufgang' verweisen wir auf Hartmut Baseler: ,Gerhart Hauptmanns Soziales Drama ,Vor Sonnenaufgang' im Spiegel der zeitgenössischen Kritik', auch wenn wir wissen, dass die überwiegende Mehrzahl der weit über 300 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel (eine Auswahl Anhang VI) online nicht einzusehen sind und ebenso ein großer Teil der dort vermerkten wissenschaftlichen Darstellungen nur in ein oder zwei Universitätsbibliotheken vorhanden und in der Regel Fernleihe-Restriktionen unterliegen.

Inhaltlich gilt es, der Frage nachzugehen, warum der Autor der ,Weber' und des ,Biberpelz' seine sozialdemokratischen Neigungen abgelegt hat. Dabei ist natürlich die immer noch be­rechtigte Frage zu stellen, ob von Gerhart Hauptmann verlangt werden durfte, sich vor 1900 deutlich auf Seiten der Sozialdemokratie zu positionieren, auch wenn sich die Mehrzahl der naturalistischen Dichtergeneration mehr oder weniger deutlich von der Sozialdemokratie ab­setzte. Und natürlich ist danach zu fragen, ob das unmissverständliche politische wie künst­lerische Bekenntnis zur Sozialdemokratie angesichts der Tatsache, dass der über Dreissigjäh­rige eine mehrköpfige Familie zu versorgen hatte, eine reale Option darstellte. Und natürlich ist zu fragen, was von dem nichtemigrierten Siebzigjährigen in der Veröffentlichung seiner Autobiografie im faschistischen Deutschland noch erwartet werden durfte. Und natürlich wird man auch einen Gegenwartsbezug herstellen dürfen angesichts der gegenwärtigen bun­desdeutschen literarischen Intelligenz, die sich zuletzt in den 1970-ern manchmal sehr direkt, manchmal halbherzig zur DKP und zu einer sozialdemokratischen Politik bekannt hatte, ge­genwärtig aber politisch eher feige sich aus politischen Auseinandersetzungen heraushält an­statt sich deutlich und öffentlich politisch zu den Grünen oder der Linken zu bekennen, und man wird deshalb fragen müssen, warum man dem Literaten des wilhelminischen Deutschen Reiches mehr politisches Engagement abverlangen durfte. Machen wir uns nichts vor, zu den letzten (west-) bundesdeutschen Literaten, die sich öffentlich politisch gegen den Mainstream positioniert hatten und dafür im Feuilleton und auf der Bühne abgestraft wurden, gehörten Rauter, Engelmann, Krötz oder Hochhuth. Die genannten und andere wie Grass, Walser, Gi­sela Elsner und einige wenige mehr waren/sind die letzten einer Tradition, in der sich Litera­ten als ,öffentlich politisch' auffassten. Die überwiegende Mehrzahl der gegenwärtigen Lite­raten, weiblich, männlich oder queer übt sich bestenfalls in besserwisserischem Gehabe, Selbstbeschauung und einem lauwarmen Abseitsstehen und Politikekel, die zusammen zu­letzt bei der Bundestagswahl 2021 noch nicht einmal einen halbwegs anständigen, nämlich genaugenommen gar keinen, Aufruf zur Wahl der Grünen oder der Linken oder einen klaren Aufruf zu sozialpolitischen, außenpolitischen, bildungspolitischen, wirtschaftspolitischen Veränderungen zustande brachte oder klare und unzweideutige verkehrs-, energie- und kli­mapolitische Positionen öffentlich vertrat. Ästhetische Artistik ist keine politische Zukunfts­perspektive.

Der freie' literarische Markt, am Ende des 19. Jahrhunderts noch im Entstehen gegriffen, und die Abhängigkeit von den gewinnorientierten Theaterbesitzern haben Gerhart Hauptmanns Entscheidungen geprägt; insofern ist der Vergleich mit der Gegenwart zu relativieren: In der Gegenwart werden die meisten Theater nicht mehr von Marktgesetzen bestimmt, sondern vor allem von eitlen Intendanten. Auf dem literarischen Markt der Gegenwart mag es zwar Markt- und Medienmonopole geben, die politisch unerwünschte Positionen verbieten wollen oder zumindest nicht veröffentlich sehen wollen, aber der „Markt' und die, z.T. auch nicht­marktorientierte, ,Gegenöffentlichkeit‘ sind zu offen, als dass das tatsächlich passieren könnte. Ein Verriss im Feuilleton einer der vielen provinziell-engstirnigen Großstadtzeitun­gen oder in der Literaturbeilage der ,Zeit' oder in einem der elitär-geschwätzigen Fernseh­Foren ist keine Existenzgefährdung.

Insofern gilt selbstverständlich: Ja, es gibt genügend Gründe aufzuführen, warum Gerhart Hauptmann die Ängste, die zusammenhängen mit der Aufforderung, in Breslau vor Gericht erscheinen zu müssen, nie überwunden hat. Aber auch Ja: Der Dichter der ,Weber' hatte die­ses Duckmäusertum nicht nötig; es war seine Entscheidung, diese Episode als flüchtigen Zwischenfall' zu behandeln, und nicht zuletzt mit ,Hanneles Himmelfahrt' sich in einer Ver­sion ,Weber 2.0' an die Berliner Oberschicht anzubiedern. Insofern auch Ja: Der Dichter Hauptmann hat mit den ,Webern' und dem ,Biberpelz' seine sozialreformerische Position verschossen und dann ängstlich Pistolen, Pulver und Kugeln sorgfältig weggelegt, um sie ab und zu, etwa als er sich dem allgemeinen, von öffentlichen Personen wie Sudermann, Wilden­bruch und Fulda initiierten Protest gegen die ,Lex Heinze' anschloss oder etwa in dem Stück ,Die Ratten', noch einmal zu betrachten.

Und schließlich Ja: Wir wissen nicht, ob wir ,historisch korrekt' urteilen; vor allem urteilen wir gegenwärtig.

Obwohl, war da 1913 nicht noch ein vom Breslauer Magistrat bestelltes „Festspiel in deutschen Reimen' zur Ruhme der Hohenzollern anlässlich der Jahrhundertfeier der Befreiung von der napoleonischen Herrschaft der Stadt Breslau, das die Hohenzollerndynastie, insbesondere den Protektor der Jahrhundertausstellung, Kronprinz Wilhelm von Preußen, wegen des Lo­bes der Freiheitsbewegung des deutschen Bürgertums derart verärgerte, dass der derart miss­achtete Kronprinz den Magistrat der Stadt Breslau dazu zwang, das Festspiel vom Spielplan zu nehmen? Und das nur, weil Hauptmann das letzte Wort der ,Athene Deutschland' lässt, die mit einem Friedenszug von Deutschen über die Bühne zieht und die das Festspiel leitende Figur des Bühnendirektors den auf die Bühne stürzenden kriegslüsternen Blücher in die Kiste der historischen „Puppen' verweist.

Allerdings hielt dieser kurze helle Moment auch Hauptmann nicht davon ab, im August 1914 Kriegsbegeisterung zu zeigen.

Zur Zitierweise:

Für die Centenar-Ausgabe wird die übliche Notation >CA Band Seite< verwendet.

Für einige Werke G. Hauptmanns wird zusätzlich auf außerhalb der Centenar-Ausgabe verfügbare Texte (z.B. Einzelausgaben des Ullstein-Verlages) verwiesen. Das betrifft vor allem 'Vor Sonnenaufgang', 'Die Weber', 'Das Abenteuer meiner Jugend'.

Zitate aus den Gerhart-Hauptmann-Handschriften werden in der üblichen Notation >GH Hs Nr Seite> angegeben.

Zitatnachweise oder Verweise auf zeitgenössische Tageszeitungen erfolgen in der Regel nur mit dem Tagesdatum ohne die weitere Differenzierung nach Morgen- oder Abendausgabe. Die Rechtschreibung in den zitierten Quellentexten wurde weitgehend modernisiert.

Danksagung:

Mein Dank gilt an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Friedrich-Ebert- Stiftung in Bonn, der Zeitschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin, der Berliner Zentral- und Landesbibliothek, der Bayerischen Staatsbibliothek in München, der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, dort insbesondere den studentischen Mitarbeitern der Arbeitsstelle für Historische Publizistik am Historischen Institut. Alle kamen meinen manchmal spontanen, manchmal nur aufwendig zu erfüllenden Wünschen nach mikroverfilmten historischen Zeitungen und nach Hilfe beim Bedienen der vielfach veralteten Lesegeräte immer freundlich nach. Mein Dank gilt ebenfalls den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Handschriftenabteilung der Berliner Staatsbibliothek. Mein besonderer Dank gilt den Mitarbeiterinnen des Kölner FrauenMediaTurms, die mir ermöglichten einige seltene von studierenden Frauen herausgegebene Universitätszeitungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu sichten, in denen über universitäre Ehrungen Gerhart Hauptmanns berichtet wird.

Swisttal, November 2020

Gerhart Hauptmann und der Breslauer Sozialistenprozess

1. Erkner - ein wohlhabender Rentier

In einem bei Requardt/Machatzke wiedergegebenen Brief an die Gemeinde Erkner bezeichnet Gerhart Hauptmann seine vier Erkner-Jahre als die 'vier Ecksteine' für den Bau seines Werkes; an anderer Stelle als ‘Lebenswende'2.

Als sich Gerhart Hauptmann 1885 in Erkner - krankheitsbedingt - niederlässt, abends "bei klarer Luft den Widerschein der Riesin Berlin blutrot am Himmel"3, darf man ihn, ohne despektierlich zu sein, als wohlhabenden Rentier ohne irgendwelche schulische oder berufliche Qualifikation bezeichnen; die Verlagswerbung in der aktuellen Ullstein-Ausgabe von "Vor Sonnenaufgang" beschönigt das mit:

"Nach Studien der bildenden Kunst, der Naturwissenschaften und der Philosophie in Breslau, Jena, Rom und Dresden"4.

Realistischer beschreibt Seyppel das 1993:

"Autodidaktik, die Hauptmann für Bildung und Wissen hielt, die durch den wenig erfolgreichen Schulbesuch, durch unregelmäßige und ungeleitete Lektüre, durch das sporadische Universitätsstudium, . Mangel an geistiger Führung"5.

Die finanziellen Ressourcen der Familie Hauptmann resultieren allerdings nicht aus Aktien­oder Immobilienvermögen, sondern lediglich aus dem vorzeitig ausgezahlten Erbe der Ehefrau Marie Thienemann. Requardt/Machatzke geben den auf einer brieflichen Angabe Arno Holz' beruhenden Betrag von etwa 150.000 Mark an6, der unverzehrt - was bei Hauptmanns Lebensführung allerdings nicht zutraf - bei einer guten Rendite von 5% ein jährliches Einkommen von 7500 Mark garantiert hätte.7

Die monatlichen Ausgaben des Hauptmann‘schen Haushaltes sind unbekannt, aber für die wirtschaftliche Situation des Haushaltes darf man sicher die Textstellen, die Requardt/Machatzke aus den 'Venezianer'-Fragmenten zitieren, wiedergeben:

"Ich verdiente nichts. . So sah [Marie8 ] den Tag immer näher drohn, wo unser Vermögen zu Ende war. Sie machte mir nicht direkt Vorwürfe, aber sie konnte nicht anders, als diejenigen hohen Forderungen an das Leben zu stellen, auf die sie durch eine gesicherte Jugend Anspruch zu haben vermeinte. So war ihr ganzes Wesen fortwährender stummer Vorwurf für mich."9

Und weiter: Hauptmann sah sich in "unterjocht", in "schmachvoller Abhängigkeit", sie "(verdarb) mein bestes Leben"10.

An anderer Stelle jedoch auch:

"Meine Frau sah meine Kraft, glaubte an sie, ."11

So sind sich Requardt/Machatzke darin einig, dass die Auseinandersetzung zwischen Frau Käthe und Johannes in 'Einsame Menschen' nahe an der Wahrheit gelegen haben dürfte:

"Johannes: . Immer die Geldsachen, immer die Angst, als ob wir morgen schon am Verhungern wären. Das ist ja schrecklich.. [.]

Frau Käthe: . Und du sagst doch selbst, dass du auf Verdienst nicht rechnen kannst. Da muss man's doch zusammenhalten."12

Und weiter:

"Frau Käthe: . (Sie hält ihm einen Brief hin.) Er fragt, ob er verkaufen soll.

Johannes: Welche Papiere?

Frau Käthe: Die Spinnereiaktien.

Johannes: Langen denn die Zinsen nicht?

Frau Käthe: Wo denkst du hin. Wir haben diesen Monat wieder über tausend Mark verbraucht."13

Die Annahme, dass die Ausgaben des Haushaltes der Hauptmanns in dieser Höhe gelegen haben dürften, ist durchaus nachvollziehbar. Das lässt sich z.B. unter Zuhilfenahme der 'Sozialen Briefe aus Berlin' von Otto v. Leixner verifizieren. Leixner stellt u.a. die Ausgaben eines wohlhabenden Rentierhaushaltes (rd. 23.000.- Mark p.a.) und die Ausgaben eines Beamtenhaushaltes mit mittlerem Einkommen (rd. 5400.-Mark p.a.)14 dar. In dem Rentierhaushalt (zwei im Haus lebende erwachsene Töchter, ein studierender Sohn) werden rd. 1800.-Mark monatlich ausgegeben, in dem Beamtenhaushalt (zwei jugendliche Jungen und eine im Haushalt lebende erwachsene Tochter mit Lehrerinexamen) werden rd. 450.- Mark monatlich ausgegeben, davon entfallen alleine auf die Wohnung (Miete, Heizung, Beleuchtung, Renovierungen, etc.) über 200.-M/mtl. Für das Essen werden in dem Beamtenhaushalt mtl. ca. 170.-M veranschlagt, was Leixner verharmlosend und verschämt bewertet als "eine große Hausfrauenbegabung"15, denn mehr Geld steht angesichts der anderen Ausgaben (u.a. rd. 200.-M/p.a. für Bekleidung und Wäsche, weiterhin für Arzt, Arzneien, Schulmaterial, Dienstmädchen, etc.) nicht zur Verfügung; an eine 'Sommerreise' ist erst gar nicht zu denken und am 'gesellschaftlichen Leben' kann diese Familie kaum teilnehmen; auch für ernsthafte Erkrankungen stehen keine Reserven zur Verfügung. Dagegen werden alleine für 'Essen' in der Rentierfamilie (ein "auf gesundem Boden" stehender, aber „bei weitem nicht luxuriöser Haushalt“16 ), rd. 400.-M/mtl. ausgegeben, für Bekleidung und Wäsche weitere ca. 200.-M/mtl., ebenso für Bücher, Zeitungen, Musik- und Malstunden für die Tochter etc. rd. 200.-M/mtl., der studierende Sohn erhält ca. 1.950.-M/p.a., die Dienstboten werden einschließlich Weihnachtsgeld mit rd. 486.-M/p.a. veranschlagt. Für alle Familienmitglieder steht zudem noch ein üppiges 'Taschengeld' zur Verfügung; Sommerreise, Teilnahme am gesellschaftlichen Leben sind gesicherter Standard.

Selbst unter der Annahme, dass für die Miete der Hauptmanns, die in Erkner wahrscheinlich preiswertere Brennholzbeschaffung, Beleuchtung etc. eher nur rd. 150.-M/mtl. zu veranschlagen sind, so addieren sich dennoch die weiteren laufenden Ausgaben für den Haushalt einschließlich Kleidung, Wäsche, Arzneien, Dienstboten, Kindermädchen(!) etc. auf sicherlich weitere 500.-M oder mehr monatlich. Wahrscheinlich dürften die monatlichen Ausgaben der Hauptmanns tatsächlich in der genannten Höhe von rd. 1000.-M/mtl. gelegen haben, möglicherweise können sie sogar noch höher gewesen sein, da Gerhart Hauptmann häufig unterwegs war. Requardt/Machatzke geben für die Erkner Jahre nicht nur die in dem Fragment gebliebenen zweiten Teil der Autobiografie ('Zweites Vierteljahrhundert') vermerkten Besuche in Berlin an - "wöchentlich mehrmals"17, dabei nächtigte Hauptmann "des Öfteren in einem neu erbauten Hotel am Alexanderplatz"18 -, sondern auch den langen Aufenthalt in Zürich (mit Familie), die Reisen nach Putbus/Rügen, Hamburg (einmal allein, einmal mit Familie), ins Riesengebirge; insgesamt ist Hauptmann von den insgesamt 4 Erkner-Jahren mindestens 365 Tage nicht in Erkner19.

Bereits die Schiffsreise nach Malaga und weiter über Genua und Capri nach Neapel im Sommer 1883 hatte seine Braut Marie Thienemann finanziert, ebenso wie die den späteren Rom-Aufenthalt des "Scultore Gherardo Hauptmann" im Winter 1883/1884.

Auch für die Einrichtung der ersten bescheidenen Wohnung des jungen Ehepaares in Moabit einschließlich der im Voraus zu zahlenden Jahresmiete in Höhe von 725.-Mark, nach einer Aufstellung der 'Schlesischen Volkszeitung' vom 26.5.1887 entspricht das dem berufsgenossenschaftlich abgesicherten durchschnittlichen Jahreseinkommen eines Breslauer Facharbeiters, hatte das Vermögen der Gattin herhalten müssen.20

Zu den Vorstellungen der Thienemann-Eltern über ein standesgemäßes, auskömmliches Einkommen ihrer zukünftigen Schwiegersöhne gibt Sprengel jenen Brief wieder, in dem Georg Hauptmann am 29.9.1880 seiner Mutter die Bedingungen für eine Heirat mit Adele Thienemann mitteilt:

"Papa Thienemann sagte: Verloben mögt Ihr Euch, aber heiraten erst, wenn Georg sich 6000 M/p.a. verdient".21

Auch wenn die Lebenshaltungskosten (im Gegensatz zu den Mieten) in den 80er Jahren sinken22, so stellen sich Papa Thienemanns Vorstellungen dennoch - auch unter großzügiger Anrechnung allgemeiner Einkommenssteigerungen im unternehmerischen Bereich - angesichts der oben wiedergegebenen Aufstellung Leixners als eher 'kleinstädtisch bescheiden' dar, denn selbst das Doppelte des Geforderten garantierte in Hamburg oder Berlin nur einen bescheidenen Wohlstand. Trotzdem muss man solche Zahlen in Relation zu den damaligen wie heutigen Facharbeiter-Durchschnittslöhnen setzen:

Papa Thienemann fordert von seinem zukünftigen Schwiegersohn monatlich mehr als das Fünf- bis Sechsfache, das ein Facharbeiter verdient; nach heutigen (zurückhaltenden) Maßstäben stellt sich Papa Thienemann also ein mtl. Brutto-Einkommen des Gatten von 15.000.-€ aufwärts als angemessene Lebensbasis für seine Tochter vor. Georgs Bruder Gerhart hat ein jährliches Einkommen in der von Papa Thienemann geforderten Höhe erst nach der Mitte der Neunziger Jahre erreicht; allerdings nur für kurze Zeit, bevor ihn Spekulationen in den Bankrott trieben und er auf finanzielle Hilfen der beiden jüngeren Brüder angewiesen war. Setzt man die Vorstellungen von Papa Thienemann von einem standesgemäßen Einkommen in Relation zu den Arbeiterlöhnen, so wird auch die Differenz deutlich, die letztlich Gerhart Hauptmann von der sozialen Realität trennt.

Die bei Requardt/Machatzke wiedergegebene Auflistung der Wochenlöhne von 188823 entspricht gemäß dem die Auflistung erklärenden Text zudem nur bedingt der Höhe der tatsächlich gezahlten realen Wochenlöhne, denn die lagen nicht nur in den preußischen Provinzen, sondern z.T. auch in Berlin erheblich niedriger; ein nach dieser Auflistung zu errechnendes Jahreseinkommen von über 1000 Mark war auch in Berlin nur bestimmten Facharbeitergruppen (z.B. Maurer, Zimmerer, Drucker, Arbeiter der Verkehrsbetriebe) vergönnt. In einem Artikel der ‘Norddeutsche Allgemeine Zeitung' v. 18.11.1887 über die Auswanderungen nach Nordamerika wird von rund 400 Mark 'Volkseinkommen' pro Einwohner im Deutschen Reich ausgegangen. Generell ist für die zweite Hälfte der 80er Jahre von stagnierenden Lohn- bzw. Gehalt-Einkommen auszugehen. Über die heimliche, verbotene oder unstandesgemäße Arbeit von Beamten- und Offiziersfrauen (egal, ob Heimarbeit oder Arbeit in einem Geschäft oder Büro) wird vielfach berichtet.24

Das 'Berliner Volksblatt' berichtet am 9.7.1887, dass der durchschnittliche Jahreslohn eines Arbeiters im oberschlesischen Steinkohlebergbau 1886 bei 543 Mark gelegen hat. Eine Auflistung der Berufsgenossenschaften für Unfallversicherungen gibt für das Jahr 1887 einen durchschnittlichen, für einzelne Berufsgruppen regional durchaus um ein Drittel nach oben wie unten vom Durchschnitt abweichenden Jahreslohn von 632 Mark an; den höchsten durchschnittlichen Jahreslohn beziehen demnach die über die Berufsgenossenschaft der Gas- und Wasserwerke versicherten Arbeiter mit 988 Mark, während der durchschnittliche Jahreslohn bei den in den verschiedenen Berufsgenossenschaften für die Hütten-, Stahl-, Eisen-, Walz- und Bergwerk-Industrie schon nur noch zwischen 876 und 882 Mark liegt; generell im unteren Drittel (zwischen 660 und 308 Mark) liegen die in den Berufsgenossenschaften des Holz-, Bau-, und Steinbruchgewerbes und den diversen Textilgewerben Versicherten.25

Unabhängig davon, inwieweit Leixners Angaben eines jährlichen Einkommens eines qualifizierten Facharbeiters in Berlin mit ca. 1.700.- Mark26 repräsentativ sind oder nicht, so sind die Ausgaben für eine übliche kleine Wohnung (Küche plus ein Zimmer) mit rd. 300.­Mark jährlich anzusetzen, die Ausgaben für die Ernährung mit rd. 930.- Mark jährlich (also rd. 80.- M/mtl.) oder bei niedrigerem Einkommen entsprechend weniger, d.h. bei einem jährl. Einkommen von rd. 1000.- Mark bleiben nach Abzug der Wohnungskosten höchstens 60.-M oder weniger je Monat zum Leben übrig.

Der Erknersche Haushalt galt als spendabel. Entsprechend erinnert sich Wilhelm Bölsche an einen seiner Besuche in Erkner27:

"Du musst einen jungen Menschen kennenlernen, der draußen in Erkner wohnt. Er ist wohlhabend und unabhängig und kann seinen Passionen leben; aber es sind im echten Sinn noble Passionen, er ist selber dichterisch tätig und versammelt sonntags Freunde in seinem hübschen Hause am Wald, um gute ästhetische Gespräche zu führen. Man isst gut dort, trinkt dagegen schlecht, denn er ist, ich weiß in was für einer gottverlassenen Stunde, Temperenzler geworden. Komm doch mal mit, es lohnt sich. Hauptmann heißt er."

Requardt/Machatzke geben im Kapitel 'Zum Leben Hauptmanns 1885-1889' die immer wieder zitierte Protokoll-Passage des Vereins 'Durch' wieder: die Vereinsmitglieder besuchten im Anschluss an die Feier des einjährigen Vereinsbestehens am 8.5.1887 die Familien Hauptmann in Erkner, wo sie "Bacchantische Freuden" genossen28:

"Als Nachfeier Ausflug nach Erkner und Umgebung am 8. Mai. . Besuch bei Hauptmann, welcher in seinem Heim ein lukullisches Mal und eine hochfeine Bowle hergerichtet hatte. Bacchantische Freuden."

Hauptmann selbst erwähnt ebenso in seinem Fragment 'Zweites Vierteljahrhundert' die überaus aufwändigen Besuche von Alexander Hessler und Adalbert von Hanstein29 ; auch andere Besucher haben in der Hauptmann'schen Küche sicherlich ebenfalls keinen Schmalhans beheimatet erlebt.

Genaueres enthüllt ein von Sprengel wiedergegebener Brief Marthas, die die Nachbetreuung ihrer am 27.4.1887 von einem Jungen (Marie und Gerharts zweiter Sohn Eckhard) entbundenen Schwester Marie Hilfestellung leistete:

"Neulich machte der literar. Verein aus Berlin eine Partie hier in die Umgegend, abends lud sie Gerh. zu einem kalten Abendbrot ein, worauf wir uns vorbereitet hatten. Für die 14 Herren, 11 od. 12 kamen schließlich nur, hatten wir als Grundlage einen großen Kartoffelsalat gemacht, da aber zum Mengen eine entsprechende Schüssel fehlte musste das 'große blaue Waschbecken' von Papa dazu dienen, Ihr könnt Euch die Fuhre denken. Schüsseln angerichtet davon, Brühwürstchen, ein kaltes Roastbeef und als Knalleffekt eine Hummer-Mayonnaise, (die Hamburger hatten gerade einige Dosen an Mimi [d.i. Marie] geschickt gehabt) es war sehr effektvoll, gehoben natürlich durch die brennenden Girandolen, den geschmückten Saal, die mit Blumen und Epheukränzen geschmückte Tafel. Man schien auch höchst angenehm überrascht. Unter den Mitgliedern allerdings scheinbar wenig Größen, aber ganz gute nette Menschen. Einigermaßen bekannt ist hauptsächlich wohl Julius Hart, dann der Redakteur der Universitätszeitung Leo Berg. Um 10 circa kehrten die Herren übrigens schon nach Berlin zurück."30

Man nutzte den wohlhabenden jungen Mann gerne aus, und der junge wohlhabende Familienvater ließ sich um Anerkennung in der Berliner Boheme bemüht wohl auch eine Zeitlang gerne ausnutzen, schließlich sah er sich - eher spätpubertär - als etwas 'Besonderes' an:

"Ich glaube, ich bin ein Genie. . Mit den Namen Genie bezeichne ich Mitglieder einer Klasse von Menschen, die dazu berufen zu sein scheinen in der ersten Reihe für die Wahrheit zu kämpfen. der sie dienen und nachfolgen . Der Genius ist der Knappe der Wahrheit."31

Die Unsicherheiten des auch von Intrigen, Eifersüchteleien und Tratsch unter- und gegeneinander geprägten Umgehens mit und in dieser Boheme belegen indirekt die wenigen erhaltenen Briefe des Kontaktes mit Max Kretzer.32

Auch die Passage im 'Abenteuer meiner Jugend' über die kurze Zeitspanne, die das junge Ehepaar Marie und Gerhart Hauptmann kurz nach der Hochzeit in Berlin-Moabit lebte, darf man durchaus so interpretieren, dass Gerhart Hauptmann beim Ausgeben des Ehevermögens sich nicht zurückhielt:

"Ich mochte mein Leben als Junggeselle nicht aufgeben. Noch waren Simon und Schmidt in Berlin. So wurde die arme Mary denn die vierte in unserer Kumpanei. Ich stand nicht an, ihr das zuzumuten."33

Hauptmann hatte also trotzdem ihn sein Arzt ein halbes Jahr vor der Hochzeit mit Marie eindringlich gewarnt hatte: "Wenn Sie auch nur ein halbes Jahr so fortsetzen, sind Sie nicht mehr ein junger, sondern ein toter Mann." - das kostspielige "unverantwortliche Bummelleben"34 noch nicht aufgegeben, bevor ihn seine Krankheit nach Erkner zwang.

Und schon im Spätsommer 1889 - also noch vor dem - unabsehbaren - literarischen Durchbruch und damit einhergehend - möglicherweise - steigendem Einkommen - zieht die Familie in eine große 6-Zimmer-Wohnung im dritten Stock in der Charlottenburg, was angesichts der immensen Mietpreissteigerungen die monatlichen Ausgaben (einschließlich des zusätzlichen Dienstmädchens neben Ida Heinze aus Erkner) noch einmal in die Höhe getrieben haben dürfte.

Darüber hinaus gab Hauptmann Freunden gerne Kredit, durchaus auch größere Summen. So unterstützte er das Medizinstudium des Sohnes seines Erkner Nachbarn Anshelm.35 Von einer größeren Unterstützung, die er Max Kretzer gewährte, konnte dieser nach dem Zerbrechen ihrer kurzen Freundschaft später nur etwas über 1000.- Mark zurückzahlen.36 Das monatliche Einkommen Gerhart Hauptmanns, der in Erkner immer noch an einem Roman unbekannten Ausmaßes arbeitete, betrug zu dieser Zeit immer noch: Null Mark.37

Im 'Abenteuer meiner Jugend' geht Hauptmann zwar eher nonchalant über die Tatsache hinweg, "dass der ehemalige Vormund der Schwester Thienemann . ihre Depots veruntreut habe. Das hieß soviel als: wir waren von Stund an mittellos, waren arm."

Aber diese Verharmlosung dürfte eher eine späte Verklärung eines existentiellen Schreckens gewesen sein, denn die

"Nachricht vom Hinscheiden der Augsburger Großmama, deren Nachlass . das Verlorene reichlich ersetzte"38, kam doch erst einige Tage später.

Das heißt genauer: die Nachricht über die Veruntreuung kam zu einem Zeitpunkt, an dem Hauptmann schon als Zeuge im Breslauer Sozialistenprozess vorgeladen war, und die Nachricht vom erneuten Reichtum kam entweder zu dem Zeitpunkt, als Hauptmann in Breslau weilte oder unmittelbar danach. Man darf sicher sein, dass diese Tage alles andere waren, nur nicht derartig harmlos, wie Hauptmann es im Nachhinein hinstellt. Ein als Zeuge vor einen 'Geheimbund'-Prozess vorgeladener und vor dem finanziellen Ruin stehender Gerhart Hauptmann wird sicher nicht so 'cool' reagiert haben. Und ein Gerhart Hauptmann, der vom Zeilenhonorar des journalistischen Tagesgeschäftes oder von den kleinen Honoraren veröffentlichter, in einer Dachstube produzierter kleiner Prosaarbeiten leben will, ist schlechterdings nicht vorstellbar. Hier wie anderswo auch irrt der Autobiograf gewaltig in seiner Wertung.

Auch wenn es sich im ländlichen Erkner sicherlich billiger leben ließ als in Berlin oder den direkt angrenzenden expandierenden Stadtgemeinden, auch mögen die Lebensmittelpreise in Erkner kaum unter den Berliner Marktpreisen gelegen haben - über die Preise von Grundnahrungsmittel, 'Kolonialwaren' und 'Genusswaren' kann man sich über die bei Requardt/Machatzke wiedergegebene Aufstellung hinaus mittlerweile in den ausführlichen Handels- und Werbeseiten der mittlerweile digitalisierten Tageszeitungen ausgiebig informieren -, so blieben immer noch die 'fixen' Kosten wie die monatliche Miete, das Hausmädchen, diverse Haushaltsleistungen, die beglichen werden mussten. Die Kosten der Zeitungen und Zeitschriften, die Hauptmann im Abonnement möglicherweise bezogen hatte, bildeten den geringsten Teil der monatlichen Ausgaben.39. Zeitungen waren extrem billig; die Höhe der Vierteljahresabonnements betrug zwischen 4,50 und 8.- Markt. Selbst wenn Gerhart Hauptmann also wirklich gleich sechs Tageszeitungen bezogen haben sollte, dann hätte das zwar rd. 30 Mark pro Vierteljahr gekostet - gemessen am Wochenlohn eines Arbeiters zwar immer noch ein erheblicher Betrag -, aber die Haushaltskasse der Hauptmanns hätte dieser Betrag nicht ernsthaft belastet.40 Wobei allerdings die von Hilscher aus der Existenz der Zeitungsausschnitte in den Notizkalendern implizierte Annahme, dass Gerhart Hauptmann neben der 'Neuen Zeit' die Tageszeitungen "Berliner Volkstribüne", "Berliner Volksblatt", die "Vossische Zeitung", die "Norddeutsche Allgemeine Zeitung", die "Frankfurter Zeitung" und die (Berliner) "Volkszeitung" bezogen hatte, in Frage zu stellen ist; das Bewältigen einer derartigen täglichen Informationsmenge dürfte auch den lesefreudigsten Rentier überfordern. Kräftiger als die Buch- und Zeitungslektüren schlug da schon das dichterische 'Boheme'-Leben des jungen Familienvaters zu Buche. Marie hatte also durchaus Grund für ihre Sorgen um finanzielle Belastbarkeit ihres Haushaltes.

Auch Sprengel deutet in der ausführlichen Würdigung des Züricher Bildungsaufenthaltes im Frühjahr 1888 in seiner Hauptmann-Biographie an, dass Hauptmann in finanziellen Dingen eher in großen Beträgen dachte:

"So hatte man sich von Maries Bruder . noch ein Reisegeld in Höhe von 4500 Mark besorgt"41,

um (einschließlich Dienstmädchen) ein "Studentenleben" zu führen, einschließlich diverser Reisen in der Schweiz (dokumentiert ist die ausführliche Gotthard-Reise).

In Bezug auf das Rentier-Leben Hauptmanns muss Requardt/Machatzke allerdings in einem Punkt widersprochen werden: Es mag stimmen, dass "dichterische Leistungen in dieser Epoche . zum großen Teil die Arbeiten junger bürgerlicher Rentiers (sind)"42, aber zumindest bis in die Erkner-Jahre war weder abzusehen, dass die immer noch in klassischen epigonalen Kategorien verfangenen ästhetischen Anschauungen Gerhart Hauptmanns einmal zu großen 'dichterischen Leistungen', sprich: zu Bühnen- oder Romanerfolgen, führen würden, noch dass er davon würde leben können, noch dass er trotz des vorhandenen Fleißes beim Arbeiten an einem Roman den notwendigen literarischen Durchbruch würde erreichen können. Erst mit dem Anknüpfen an die ästhetischen Ideen der literarischen 'Moderne' bestand überhaupt die Möglichkeit abzusehen, dass er als Dichter bekannt werden könnte.

'Geld' stand Hauptmann nur für absehbare Zeit zur Verfügung. Das Vermögen der Hauptmanns bestand aus auf Dauer verbrauchtem, 'verzehrtem' Geldvermögen, nicht aber aus Zinsen, Gewinnen, Renditen aus Aktien oder Unternehmensanteilen. Aus der rückwirkenden Betrachtung schließen zu wollen, dass es so hat eintreten müssen, ist immer problematisch. Auch die von Requardt/Machatzke zitierte Passage aus einem Brief Arno Holz' vom 12.11.1897, der rückblickend feststellt, dass Hauptmann ein Vermögen von "150.000 Mark bar" besessen habe, woraus sich "als notwendig (ergab): Hauptmann musste durchkommen, ganz gleich wann, er konnte es ja aushalten"43, erhält nur rückblickend eine Bedeutung, nicht aber aktuell.

Schon Haenisch hat das 1922 erkannt: Das Vermögen seiner jungen Frau "(enthob) ihn dauernd der quälenden Notwendigkeit ., für Tagelohn literarisch scharwerken zu müssen"44. 1886 war an ein 'Durchkommen' bei weitem noch nicht zu denken. Hauptmann selbst hat in der seinem 'Abenteuer' typischen Selbstdarstellung erwähnt, dass er erst nach Kenntnisnahme der neuen Lyrik bildlich gesprochen 'Boden unter die Füße' bekam:

"Aber nun merkte ich plötzlich, ich war nicht allein"45.

Der noch völlig Überforderte, dem der Zufall eine vermögende Lebensgefährtin zugeführt hatte, hatte im Sommer 1886 mit der Kenntnisnahme der Gedichtsammlung "Jung­Deutschland", die die zweite Ausgabe der "Dichtercharaktere" darstellt, bzw. im Oktober 1886 zwar gedanklichen Anschluss an eine gleichaltrige Dichtergeneration gefunden (Brief an Leo Berg: "Überaus gern würde ich Ihren Verein 'Durch' besuchen resp. ihm beitreten."46 ); aber für die knapp 17 Monate des Vereinsbestehens sind nur vier Teilnahmen Hauptmanns an 'Durch'- Diskussionen wirklich belegt, darunter neben dem eigenen 'Büchner'-Referat auch die Sitzung vom 28.5.1887, die 'unergiebige' Diskussion über Ibsens 'Rosmersholm', Aufführung erstmals am 5.5.1887 im Residenz-Theater. Und die aus diesem Anschluss folgende ästhetisch-handwerkliche Bewältigung, d.i. die "Eroberung des neuen naturalistischen Stoffgebietes" und die "Technik des Naturalismus"47, war noch nicht abzusehen; der eher zufällige literarischen Durchbruch - der weniger mit eigener 'Zivilcourage' oder eigenem 'Bekennermut' zu tun hat, sondern vielmehr mit glücklichen Umständen, die Hauptmann in den Entwürfen zum 'Zweiten Vierteljahrhundert' ja selbst anerkennt:

"Die führenden Geister des Berliner Journalismus hatten meine Sache zu der ihren gemacht .. Fast ohne mein Zutun war ich - ich begriff das durchaus - in eine sowohl maßgebende als in jeder Hinsicht gehobene Gesellschaftsschicht hineingeraten."48 - dauerte dann auch noch zwei Jahre. An die exorbitanten Einkommen der zweiten Hälfte der 90er Jahre war dabei noch nicht ansatzweise zu denken.

Kurzum jedoch: Gerhart Hauptmann hatte zu diesem Zeitpunkt einfach kein Verhältnis zu 'Geld' noch zu 'Verdienstmöglichkeiten'. Er wollte angesichts der Jugenderfahrungen und der Erfahrung des finanziellen Niederganges der Eltern vor allem angenehm leben; die existentielle Bedeutung von 'geringem Einkommen' darf auch für den jungen Hauptmann sicher nicht unterschätzt werden. Man könnte seinen Umgang mit dem Vermögen der Gattin auch als 'verantwortungslos' bezeichnen. Wahrscheinlich hatte er noch nicht einmal Sorge, dass er dauerhaft verarmen könne, denn bisher war ja, von der kurzen Kunststudentenphase in Breslau abgesehen, immer wieder jemand finanziell zur Hilfe gekommen.

Gerade für dieses wichtige Problem gibt die Autobiographie 'Abenteuer meiner Jugend' wenig her, es sei denn man versucht, das Nichterwähnte wie das Erwähnte (etwa die Armut des Breslauer Studiosus49 ) zu interpretieren. Überhaupt hat die im 'Abenteuer' erzählte Zeit keinen Eigenwert, sondern nur einen Wert als Erklärung einer Vorherbestimmung des erfolgreichen dichterfürstlichen 'Zweiten Vierteljahrhunderts'. Die Lücken und Verschleifungen sind auch schon vor den immer wieder behaupteten wichtigen Erkner Jahren unübersehbar. Bernhardt bezeichnet das 'Abenteuer meiner Jugend' in seiner Hauptmann­Biographie als "Wunschbiographie, die oft wenig mit dem Erlebten zu tun hat". Und weiter:

"Grundsätzliche Auslassungen und Veränderungen drängen zur Meinung, dass Hauptmann sich selbst und den Leser oder zumindest diesen über wesentliche Tatsachen und Zusammenhänge zu täuschen versucht."50

Unfreiwillig deutet Hauptmann diese Einschränkung selbst an:

"Es ist selbstverständlich, dass ein Verfolgen des Lebens über fünfundzwanzig Jahre, wie hier, Stückwerk bleiben muss"51 ; allerdings wird die Leser-Erwartung, der Autor würde dieses "Stückwerk" näher reflektieren, auf gerade eine halbe Seite unbedeutender floskelhafter Formulierungen zurückgeworfen. Und nimmt man gar den Umfang, den die wichtigen 'Erkner'-Jahre im 'Abenteuer' einnehmen zum Maßstab, dann wird noch deutlicher, dass es sich vielfach eher um einen 'Jugendroman' mit einer Hauptperson 'Gerhart Hauptmann' handelt, die gewisse Ähnlichkeiten mit der realen Person Gerhart Hauptmann hat. Die 'Erkner'-Jahre umfassen die Kapitel 36 bis 41; auf gerademal 54 (von 638) Seiten werden vier entscheidende Lebensjahre abgehandelt ("Ich will nun summarisch zusammenfassen, ..."52 ), und allein zehn Seiten davon sind Zitaten aus den 'Dichtercharakteren' gewidmet und etwa 25 Seiten dem zum Bildungsurlaub reduzierten Aufenthalt in Zürich. 'Politische Themen' sind dabei nahezu komplett ausgeklammert, es sei denn, man geht sehr wohlwollend und großmütig mit diversen kleinen Textteilen um; die Reichstagswahlen 1887 sind ebenso wie die (von immer wieder in den Zeitungsnachrichten erwähnten Verhaftungen Einzelner abgesehen) Verhaftungen Berliner Sozialdemokraten wegen 'Geheimbündelei' im Juli desselben Jahres, die Anarchismus-Diskussion oder der St. Gallener Parteitag der SPD, der in den Tageszeitungen hohe Wellen schlug, ignoriert.

War Hauptmann wirklich so unpolitisch?

Angesichts der schon (oder noch?) bei Haenisch erwähnten Freundschaft mit Bruno Wille, Wilhelm Bölsche und dem Schauspieler Julius Türk, die - so Harnisch - "ihn schließlich auf die sozialistische Arbeiterbewegung Berlins, die damals besonders hohe Wellen warf, lebendig nahe"53 brachten, ist eine 'Nichtwahrnehmung' nicht wirklich anzunehmen; es sei denn, man konstruiert einen von Beginn an 'unpolitischen Künstler'; oder man konstatiert - wahrscheinlich richtigerweise -, dass dem alternden und erfolgreichen 'Dichter' und Autobiographen Gerhart Hauptmann der junge, ansatzweise 'politische' Gerhart Hauptmann unverständlich geworden ist.

Gab es wirklich keine literarischen Diskussionen bzw. Auseinandersetzungen, die es wert gewesen wären, im 'Abenteuer' erwähnt zu werden, anstelle der zahlreichen Hinweise auf die "Einzigartigkeit meines Wesens“, „Wie ich damals schon erkannte" oder "Eigenes Denken hatte mich damals schon erkennen lassen"54 ?

Wahrscheinlich hat Hauptmann während seiner Erkner Jahre auch kaum eine Vorstellung über die literarischen Verdienstmöglichkeiten, obwohl ihm doch z.B. neben den gewiss dauerhaft geführten Gesprächen mit Gleichgesinnten über die Schwierigkeiten am Berliner Theater zu reüssieren, u.a. auch die Aufsätze Lafarques in der 'Neuen Zeit' über den 'Gebildeten-Überschuss' zur Verfügung gestanden haben sollten.55

Wenn aber die in der oben schon herangezogenen Textpassage aus dem 'Zweiten Vierteljahrhundert' enthaltene Aussage

"Ich wusste bis dahin wenig vom Wesen des Theaterbetriebes."56 stimmte, dann bleibt natürlich zwingend die Frage: Ein Erknerer Rentier, der explizit bei einem ehemaligen Theaterdirektor Schauspielunterricht genommen hat, bzw. ein durchaus 'vernetzter' Berliner Literat, der den Erneuerungsanspruch vor sich herträgt, und der eingestandenermaßen keine Ahnung vom Theaterbetrieb hat - passt das wirklich zusammen, oder umgangssprachlich: geht das? Was hat Hauptmann in den Zeitungen und Zeitschriften gelesen? Eine interessante Fragestellung.

Auch auf diesen Punkt soll hier näher eingegangen werden.

Der 'Theaterbetrieb' war in der Tagespresse ein normales fortlaufendes Thema. Die Feuilletons der Tageszeitungen beschäftigten sich ausdauernd mit Fragen des 'Engagement', der 'Ausstattung', der 'Erfolge' der Theater und deren Aufführungen. Und über den 'Gebildeten-Überschusses' und den 'Künstler-Überschusses' wurde immer wieder berichtet. Die 'Norddeutsche Allgemeinen Zeitung' vom 12.7.1887 schlussfolgert, dass die Ursache der "erschreckende(n) Zunahme des Gebildeten- und Gelehrtenproletariat[s]" vor allem der überzogene Ehrgeiz der Eltern der "wenig Bemittelten" sei, die "ohne Rücksicht auf die Befähigung" ihren "Söhnen eine gelehrte Bildung . geben" wollen. Das 'Berliner Tageblatt' vom 19.4.188757 hatte als Ursache des 'Gelehrten-Proletariats' eher die Berechtigung zum 'einjährigen, freiwilligen Militärdienstes‘ gesehen. Und in dem 'Berliner Tageblatt' vom 24.9.1887 wird die Meinung vertreten, dass das 'Gelehrtenproletariat' eher eine Folge der mangelnden 'praktischen' und 'realen' Bildung der Gymnasien sei. Am 22.9.1887 schlägt die 'Berliner Börsen-Zeitung' vor, den Zugang zur Höheren Bildung zu begrenzen:

"Da indessen dem Staate eine Gefahr darin droht, dass diejenigen, welche eine zu langsame bzw. gar keine Karriere, trotzdem sie die vorgeschriebenen Examina bestanden haben, sich zu den Partien gesellen können, welche die bestehende Ordnung umzustürzen wünschen, so kann neu endlich nur darum gehen, den Andrang zum Studium durch Verminderung der Aussichten zu wehren. . die Regierung würde nicht mehr mit den vielen Überzähligen zu rechnen haben."

Annemarie Lange gibt in 'Berlin zur Zeit Bismarcks und Bebels' eine Textpassage aus Leixners 'Sozialen Briefen aus Berlin' wieder:

"Unter denen, die von der Berliner Armenverwaltung regelmäßig Unterstützungen empfangen, befinden sich Rechtsanwälte, Ärzte und Doktoren der Philosophie. Das Elend in dieser Beziehung steigt von Jahr zu Jahr. Jemand, der durch ungefähr 15 Jahre für die höhere Bildung gearbeitet hat, sucht vielleicht durch Unterrichtsstunden, durch Abschreiben, durch Mitarbeit an Zeitungen sich zu halten. Aber auch bei diesem Bestreben gerät er in eine Schar, die das gleiche erstrebt und wo jeder den andern unterbietet, um nur das elende Leben zu fristen."58

Zählt man die Veröffentlichungen aus den Erkner-Jahren vor 'Vor Sonnenaufgang' zusammen, so stehen bei Hauptmann mehrere durch Freunde vermittelte Gedicht­Veröffentlichungen zu Buche, außerdem zwei kleiner Aufsätze in der 'Allgemeinen deutschen Universitätszeitschrift'59 sowie die Erzählung 'Fasching' in der Klein-Zeitschrift 'Siegfried' eines 'Durch'-Mitgliedes. Auch die Veröffentlichung des 'Bahnwärter Thiel' in der 'Gesellschaft' erfolgt auf Fürsprache und zieht vermutlich ebenfalls kein Honorar nach sich. Insofern wird auch Hauptmanns Mitgliedschaft im Verein 'Durch' als eine Möglichkeit der ländlichen und schriftstellerischen Isolierung zu entkommen, zu interpretieren sein. Einkommen wird er aus diesen wenigen Veröffentlichungen wohl eher nicht erzielt haben. Die Lyrik-Sammlung 'Buntes Buch' will Hauptmann auf eigene Kosten herausgeben (was dann infolge der Pleite des Verlegers nicht gelingt)60, ebenso hat er vor einigen Jahren 'Promethidenlos' auf eigene Kosten drucken lassen.

Die Aussage, die Aufwandsentschädigung, die er im November 1887 als Zeuge beim Breslauer Sozialistenprozess erhalten habe, sei sein erstes selbstverdientes Geld gewesen, dürfte durchaus der Wahrheit entsprechen.61

Hartmut Baseler geht hat in seiner 1993 vorgelegten Dissertation "Gerhart Hauptmanns soziales Drama 'Vor Sonnenaufgang' im Spiegel der zeitgenössischen Kritik" ausführlich auf die schriftstellerischen Verdienstmöglichkeiten ein; auf sie sollen deshalb hier, um das finanzielle Umfeld Hauptmanns näher darzustellen, nur kurz eingegangen werden.

Hartmut Baseler listet auf, dass Hauptmann für die 1. Auflage von 'Vor Sonnenaufgang' 200 Mark erhalten hat, für die nach der Uraufführung erschienene 2. und 3. Auflage in Höhe von 2000 Exemplaren 300 Mark. Die weiteren Auflagen - lt. Requardt/Machatzke insgesamt 8 Auflagen ohne Angabe der Höhe der Gesamtauflage, lt. Sprengel 6 Auflagen mit zusammen 8000 Exemplaren - des Dramas sind von der Conradschen Buchhandlung mit 750 Mark insgesamt honoriert worden.62 Außerdem hat Hauptmann 985 Mark für die öffentliche (und zensierte) Aufführung des Belle-Alliance-Theaters am 30.11.1889 erhalten, weiterhin - so Requardt/Machatzke - für die Erstveröffentlichung von 'Das Friedensfest' in der Zeitschrift 'Freie Bühne' 231.- Mark und für die erste Buchauflage des S.Fischer-Verlages weitere 400.- Mark Einnahmen, so dass sich der 'wirtschaftliche Erfolg' der beiden Stücke zwischen August 1889 und März 1890 auf 2866.- Mark summierte63. Insgesamt beträgt damit das erste Gesamteinkommen für 'Vor Sonnenaufgang' wahrscheinlich 2235.- Mark, also ein Betrag, der bei Hauptmanns Lebensführung für zwei Monate ausreichte, ihm aber gezeigt haben dürfte, dass bei entsprechender Vermarktung mit Literatur ausreichend Geld zu verdienen war.

Verkauft wurden Baseler zufolge jedoch bis Ende Okt. 1891 wurden infolge des rasch nachlassenden Interesses an dem durch die Zensur ohnehin kastrierten Drama und keinen weiteren Aufführungen in der 'Provinz' insgesamt nur rd. 4000 Exemplare64. Der unverkaufte Rest (ca. 4000 Ex.) ging an den Samuel Fischer Verlag, der ab Ende 1891 die Verkaufsrechte für alle weiteren Hauptmann-Werke besaß. Insofern ist auch die immer wieder zitierte Aussage Schlenthers, dass "je mehr davon bekannt ward, desto mehr ward es gelesen"65, eher als nachträgliche Lobhudelei zu werten. Selbst für 'Erfolgs-Dramen' gab es kein großes Lese- und Kaufpublikum.

In diesem Zusammenhang ist vorweg auch einer anderen für die Naturalismus-Forschung typischen Hauptmann-zentristische Aussage von Requardt/Machatzke zu widersprechen: Gerhart Hauptmanns "schriftstellerischen Arbeiten folgen dem Entwicklungsgesetz des literarischen Naturalismus in Deutschland, der auf dem Wege über die lyrische und die erzählerische Dichtgattung erst in einem dritten Schritt zum Drama gelangt"66.

Diese Aussage folgt freilich einem Versuch Mahals, den 'Naturalismus' als "epochale Bewegung" zu fassen67 ; in einen "historischen Rahmen" zwischen 1882/1883 und 1895 als maximalen Zeitrahmen schlägt Mahal zusätzlich zu einer Unterteilung der 11-jährigen Periode in "Frühnaturalismus" (bis 1889) und "Hochnaturalismus" die Festlegung einer signifikante Abfolge der literarischen Genres von Lyrik (Schwerpunkt "um 1885"), Epik ("bis 1889/90") und Dramatik ("schließlich, seit diesem Doppeljahr") vor68, stellt aber seine Festlegung selbst ausdrücklich infrage, indem er hervorhebt, dass die "Vorherrschaft" der Lyrik um 1885 "sehr schnell von der Bevorzugung der Prosa abgelöst wird" und "es . auch in der dramatischen Phase des Naturalismus noch Gedichte (ganz zu schweigen von der weiterhin wichtig bleibenden Prosa) (gibt), . und es gibt auch vereinzelte dramatische Versuche vor 1889".69 Angesichts der unbedeutenden Anzahl literarischer dramatischer, epischer und lyrischer Werke, die als ,naturalistisch‘ kanonisiert sind, bleibt das "vereinzelt" allerdings eine ziemlich problematische Feststellung; schließlich wird der ,Naturalismus‘ in einer maximal ein Dutzend Jahre währenden, auf zwei Städte (Berlin und München) konzentrierten und kaum mehr als zwei Dutzend etwa gleichaltriger Personen umfassenden Bewegung reduziert, deren Ziel, die Erneuerung einer einheitlichen nationalen Literatur70 im Grunde trotz des spektakulären Erfolges von 'Vor Sonnenaufgang' und der 'Weber' dann tatsächlich schon 1892 - politisch mit der Abwendung von der Sozialdemokratie und marktwirtschaftlich aufgrund der Abhängigkeit von den profitorientierten Theatern wie Buchverlagen - gescheitert war; u.E. eine nicht mehr statthafte Reduktion, da sie eine große Anzahl mit naturalistischen Themen und Stilmitteln agierende, wenn auch auf dem Theater oder auf dem Buchmarkt wenig erfolgreicher Dramen- und Prosa-Autoren und -Autorinnen (!) ignoriert.

Auch Jürgen Schuttes Überinterpretation, eine "schon von Zeitgenossen" festgestellte "auffällige Verschiebung im System der literarischen Gattungen"71 sehen zu wollen, hält einer näheren Untersuchung nur bedingt stand, kann er doch einschließlich der Sammlung 'Moderne Dichter-Charaktere' (1885), Karl Henckell: 'Poetisches Skizzenbuch' (1885) und Arno Holz: 'Buch der Zeit' (1886) nur auf weitere vier Lyrik-Ausgaben 1885/1886 verweisen, aber weitere 19 zwischen 1887 und 1891, darunter alleine fünf Lyrik-Bände von Mackay und je vier von Henckell und Stern72. Zudem ist die Berufung auf "Zeitgenossen" problematisch, bezieht er sich doch höchstens auf Carl Bleibtreus Forderung: "Die Lyrik für sich als Dichterberuf sollte doch endlich überlebt sein."73 und ansonsten ausschließlich auf Eugen Wolff: "Zwölf Jahre im Litterarischen Kampf"74. Dort heißt es in einem ein Jahr später zu einem Aufsatz erweiterten 'Durch'-Vortrag aus dem Jahr 1886, nachdem ausführlich auf vorhandene Dramen und Erzählungen eingegangen worden ist:

"In all diesen Poeten75 zeigt sich die jüngste Literaturbewegung bereits auf der dritten Stufe der Entwicklung. Zuerst war die neue Strömung nur zerstörende und neue Bahnen brechende Kritik, dann wurde sie Lyrik, jetzt befindet sie sich bereits im Stadium der Novellistik, und schon offenbaren sich Ansätze zur Roman- und Dramendichtung"76, d.h. Epik und Dramatik sind 1886 'bereits' (!) vorhanden. Man kann über die 'moderne' Qualität der Mitte der 80er Jahre entstandenen dramatischen und epischen Werke streiten. Auch Haenisch setzt an den Beginn der naturalistischen Literatur gleichzeitig Max Kretzers soziale Romane und die "revolutionären Tendenzdramen der Jüngstdeutschen":

"Aber immer mehr fühlte man, dass . der neue Inhalt unwiderruflich nach neuen Formen dränge".77

In seinem Werk 'Das Jüngste Deutschland' widmet Adelbert v. Hanstein den vor 1889 entstandenen Dramen der neuen Bewegung gleich ein ganzes Kapitel: "Dramatiker ohne Bühne".78

Kniffler charakterisiert insbesondere die "Arbeiterdramen" als "mit Ausnahme der 'Weber' bürgerliche Dramen ., die ihre Motive in einer aktuellen Frage, dem 'sozialen' Problem suchen".79

Legt man den Schwerpunkt auf die inhaltliche Seite, so ist die 'soziale Frage' bereits Thema der naturalistischen Generation; legt man den Schwerpunkt jedoch auf die theoretische Frage, so ist die Epik und das Drama erst mit der Umsetzung der Holz‘schen Theorie, des Sekundenstils, der Milieutheorie, der naturwissenschaftlichen, sprich vor allem psychologisch-deterministischen Begründung des Handelns der dramatischen Personen entwickelt; - und dann natürlich 'konsequent' beispielhaft in 'Familie Selicke' und 'inkonsequent' u.a. in 'Vor Sonnenaufgang'.

Dagegen vermeiden Hamann/Hermand eine derartige Festlegung der Entwicklung des 'Naturalismus' auf die literarische Produktion und dort auf eine Aufeinanderfolge von poetischen Gattungen, indem sie in einem "quasi-anthropologischen"80 Ansatz "mit dem Schlagwort 'Naturalismus' ...eine ganz bestimmte Gruppe innerhalb der geistigen Welt jener Jahre" herausheben, "die in Kunst und Leben jene neue Haltung vertritt und dadurch einen stilbestimmenden Charakter bekommt'81.

Hamann/Hermand möchten schon die Milieustudien in Max Kretzers Roman 'Die beiden Genossen' (1880)82 als "gesellschaftskritische Durchdringung" der Wirklichkeit gelten lassen. Allerdings: "Die entscheidenden Leistungen liegen hier nicht am Anfang, sondern am Ende"83, ohne eine Bevorzugung von Drama oder Roman.

Die von Münchow84 vorgenommene sozialpolitisch orientierte Periodisierung des Naturalismus in "Frühnaturalismus" ("umfasst die programmatischen Ausführungen und Erklärungen seit Anfang der Achtziger Jahre und die ersten Lyrik-Bände"85 bis hin zu den frühen novellistischen Werken), "konsequenten Naturalismus" (der Versuch, individuelle und gesellschaftliche Wirklichkeit möglichst exakt nach vor allem naturwissenschaftlichen Kriterien wiederzugeben; außerdem existierte 1889 "der Naturalismus noch als Literaturströmung, gab es Gleichgesinnte und gemeinsam Schaffende"86 ) und "Zerfall des Naturalismus" ("eine Periode erneuter Vereinzelung der Schriftsteller" und eine "Entpolitisierung der modernen Literatur"87 ) vermeidet eine Fixierung auf eine gattungspoetische Einteilung.

Auch Klaus Scherpe stellt in seinem Arno-Holz-Aufsatz eher die inhaltliche Entwicklung der "Literaturrevolution" in den Vordergrund, "der dichterischen Tätigkeit gegen die kunstfeindlichen Tendenzen von Staat und Gesellschaft zu neuer Legitimation zu verhelfen"88, als eine Untersuchung der Gattungsentwicklung.

Schließlich sei noch auf die "Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 8: Von 1830 bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts" hingewiesen; dort heißt es u.a.: "Die naturalistische Bewegung in Deutschland artikulierte sich zuerst in erzählerischer Prosa. Vom Ende der siebziger Jahre an entstanden Romane und Erzählungen, bei denen sich in der Wahl von Gegenwartsstoffen naturalistische Tendenzen zeigten."89 Und an anderer Stelle: "Die mit der naturalistischen Bewegung verbundene Lyrik ordnet sich in die . ideologisch-ästhetische Neuorientierung ein".90 Zum Drama schließlich: "Zu der spürbaren Belebung" der Dramatik des deutsche Naturalismus hat der Bühnenerfolg (1887) von Ibsens 'Gespenster' beigetragen, in erster Linie hat dieser Erfolg die "größten Unsicherheiten" der dramatischen Gestaltungsmöglichkeiten beseitigt, auch wenn bis 1889 "die praktischen Versuche tastend" blieben91.

Folgt man der Untersuchung von Baseler, so gibt es für die zeitlich spätere prosaische und dramatische Produktion - so man denn diese zeitliche Abfolge gelten lassen will - neben der innerliterarischen auch eine ästhetikunabhängige Begründung:

Für 1889 gibt E. Wengraf in einem Aufsatz in der 'Neuen Zeit' die Anzahl von 16.000 "lebenden deutschen" Schriftsteller/innen an92 ; Leixner lässt nach Abzug von Lehrern, Rektoren und Fachwissenschaftlern nur noch 13.000 Namen gelten.

"Davon leben etwa 1.000 in Berlin, von diesen wieder dürften etwa 50 zu den 'bekannten', 10 zu den 'berühmten' Namen gehören."93

Baseler gibt für 1890 über 18.000 erschienene Buch-Titel94 an, davon wahrscheinlich mehr als 10% literarische Titel. Die Auflage von literarischen Produkten betrug in der Regel 800 - 1000 Exemplare; davon gingen 200 - 300 Exemplare direkt in "großen" Leihbibliotheken; ca. 80 Exemplare gingen an Rezensenten, ca. 200 - 300 Exemplare gingen direkt an in den Buchhandel. Bei guter Nachfrage wurde der Rest auch noch verkauft; ansonsten ging die unverkaufte Restauflage nach einiger Zeit zum halben Preis an kleinere Leihbibliotheken oder wieder zurück an den Verlag; bei unbekannten Autoren konnte die Anzahl der Remittenten u.U. auch 800 Exemplare betragen. Daraus folgte, dass "auf Seiten der Autoren das Bemühen erkennbar [war], den Publikumserwartungen möglichst zu entsprechen"95.

Das bedeutet real, dass es fast unmöglich war, in einen von einen bestehenden Buch- und Theatermarkt (beherrscht von u.a. Freytag, Heyse, Ebers, Scheffel, Kruse, Wilbrand, v. Wildenbruch und einer großen Anzahl zweit- und drittklassiger Vielschreiber96 ) mit etwas 'Neuem' einzubrechen. Im Roman wie im Drama dominierten zwar rückwärtsgerichteter Historismus und Familien- und Liebesgeschichten, aber mit einem Roman ließ sich schriftstellerisch eher reüssieren als mit einem Drama. Gerhart Hauptmanns frühe Roman­Versuche sind nicht nur als Versuche der Selbstverständigung, sondern auch in diesem Kontext zu sehen. Selbst angesichts der Tatsache, dass der steigenden literarischen Produktion ein begrenztes Lesepublikum gegenüberstand:

"Das Publikum ist derjenige Teil der wohlhabenden Klassen, der im Stand und geneigt ist, Bücher zu kaufen oder doch wenigstens die Leihbibliotheksgebühr zu zahlen, also ein nur sehr geringer Bruchteil des Volkes", und davon vor allem die "Frauen und Mädchen der gehobenen Klassen"97.

Das literarische Publikum, die käuferische Zielgruppe, war eher ein "Leihpublikum", weniger ein "Kaufpublikum"98.

"Rechne ich die zwei, drei ersten Namen ab, so verdanken die Schriftsteller in Deutschland die Möglichkeit, von dem Ertrag ihrer Arbeit leben zu können, nur den Zeitungen"99, bzw. Zeitschriften, bleibt zu ergänzen.

Allein in Berliner Verlagen wurden fast 500 Zeitungen bzw. Zeitschriften publiziert, davon 75 ausschließlich politischen und künstlerischen bzw. wissenschaftlichen Charakters. Tatsächlich nehmen Fortsetzungsromane in allen Tageszeitungen ein Viertel bis zu einer Drittel Seite ein, häufig auch auf der Titelseite. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Zeitungen mit Morgen- und Abendausgaben erschienen und eine erweiterte Wochenendausgabe (samstags, sonntags oder montags!) hatten, bot das durchaus die Möglichkeit des Publizierens eines umfangreicheren Romans. Allerdings, so ergänzt Sollmann in seinen Studien zur Ideologie und Geschichte der literarischen Intelligenz vor 1900, bekam die "arrivierte Phalanx" in der "Regel den Zuschlag. Nicht selten wurden junge Talente als gefürchtete Konkurrenz bewusst totgeschwiegen." Allgegenwärtig waren die

"Interessenverfilzung zwischen Presse-Berühmtheiten, Presse- und Verlagskapital", "verlegerischer Opportunismus . und eine Reihe besoldeter Auftragsschreiber betrieben das gegenseitig einträgliche Geschäft auf Gegenseitigkeit: positive Buchbesprechung gegen gewinnbringendes Verlagsinserat".100

Ohne diese auch auf Fürsprache basierenden Publikationsmöglichkeiten gab es für Neuankömmlinge auf dem literarischen Markt mehrere Alternativen:

Es gab den 'Verlagsvertrag' (d.h. der Autor erhält ein einmaliges Honorar), diverse Beteiligungsformen (die in der Regel nur eingeführten Autoren möglich waren), die Möglichkeit, dem "Herstellungsverleger" einen Kostenzuschuss zu geben (d.h. einen Teil der Kosten für die Veröffentlichung selbst zu übernehmen) und die Möglichkeit, alle Kosten zu übernehmen (d.h. der Verleger fungiert eigentlich nur als 'Kommissär'); unbekannte Autoren mussten in der Regel einen unterschiedlich großen Teil der Kosten (unter Umständen alle Kosten) übernehmen.

Ein unbekannter Autor, der sein Lyrikbuch oder ein Drama auf den Markt bringen wollte, musste dafür eigenes Geld aufwenden, ohne die Gewissheit, auch nur einen Teil des aufgewendeten Geldes je wiederzusehen, denn für Lyrik und Dramen gab es nur ein sehr geringes Kauf- und Leihpublikum. Lyrik und Dramen konnten ihre Produzenten selten ernähren.101 Die Produktion eines Lyrik-Buches oder eines Erst-Dramas eines neuen Autors, eines Anfängers, quasi im Selbstverlag geschah nur in der vagen Hoffnung, sich später auf dem Markt durchzusetzen.

Entsprechendes gilt selbstverständlich für die frühnaturalistischen, die 'jüngstdeutschen'102, literarischen Kampfschriften, z.B. die 'Kritischen Waffengänge' der Harts, ebenso wie für die wenigen frühnaturalistischen eher deklamatorisch und programmatisch orientierten Lyrik­Ausgaben, aber auch für Gerhart Hauptmanns Versuch, seine nur bedingt als 'naturalistisch' zu bezeichnende Lyrik-Sammlung 'Das bunte Buch' auf den Markt zu bringen; Es handelt sich bei Hauptmanns Versuch der Herausgabe eines Lyrik-Buches auf eigene Kosten eben nicht um die Eitelkeit des finanziell gutgestellten Autors, sondern Hauptmann wählt ein zeitübliches (und wie sich herausstellte, risikobehaftetes) Verfahren, in der Hoffnung, den einen oder anderen Bekannten zu einer positiven Rezension zu bewegen.103

Bereits in den 'Kritischen Waffengängen' hatten die Harts auf die Durchdringung des literarischen Lebens durch die Gesetze des (Literatur-) Marktes die markt- bzw. profitunabhängige materielle Absicherung der Literaten gefordert, u.a. die Entlassung des Theaters aus der Gewerbeordnung, die Bildung eines Staatstheaters, ein Reichsamt für Literatur, Theater, Kunst und Wissenschaften, finanzielle Förderung der Talente bis zur finanziellen Unabhängigkeit.104

"Es ist leicht zu sagen, erst müssen wir die Wirtschaft einrichten, dann können wir Ausgaben für den Luxus machen, dann können wir an Dekoration und Verzierung denken. Es ist leicht, aber nicht minder sinnlos. [...] die Literatur ist, oder kann es wenigstens sein, mehr als ein Genuss. Sie ist die geistige Lebensluft, ohne deren belebende Kraft der Mensch am Boden kriecht, wie das ungeistige Tier. ... Die Schuld aber an dieser Verkennung trägt die Nationalökonomie, die im Materialismus aufgeblüht und stecken geblieben ist, und infolge dessen keinen anderen Sinn des Produktiven kennt als den wirtschaftlichen. . Die Blütezeit eines Landes tritt also nicht dann ein, wenn sich der Staat der höchsten materiellen Wohlfahrt erfreut, sondern erst dann, wenn Kunst, Philosophie, Litteratur, Poesie und Religion die höchsten Stufen ihrer zeitgemäßen Entwicklung annehmen."105

Umso bedeutender ist das Wirken des Verlegers Wilhelm Friedrich zu bewerten, der zwischen 1879 und 1888 das 'Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes' und ab 1887 die Zeitschrift 'Die Gesellschaft' herausgab. Friedrich ist der eigentliche Förderer der "modernen Literatur", der "Kristallisationspunkt" des Frühnaturalismus, da die meisten frühnaturalistischen Werke in seinem Verlag publiziert wurden.106

Die programmatische Einleitung im ersten Heft der 'Gesellschaft' bekräftigt diesen Anspruch der "Emanzipation der periodischen schöngeistigen Literatur und Kritik von der Tyrannei der 'höheren Töchter' und der 'alten Weiber beiderlei Geschlechts'; des Kampfes gegen "den journalistischen Industrialismus, der nur auf Abonnentenfang ausgeht" und "gegen Parteien- und Cliquenwirtschaft auf allen Gebieten des modernen Lebens"107.

Erst als 1890 die Zeitschrift 'Freie Bühne' gegründet wurde und der Aufstieg des Fischer­Verlages begann, "verloren 'Die Gesellschaft' und der Verlag Wilhelm Friedrich an Bedeutung für die moderne Literatur".108

Es mag dahingestellt sein, ob dem gutsituierten Erkner Rentier wirklich bewusst war, dass er als 'Künstler' auf einem 'Markt' mit anderen Künstlern konkurrieren musste, also 'freischaffend' ein rentierliches Einkommen erwirtschaften musste; die oben notierte Textpassage aus dem 'Zweiten Vierteljahrhundert' lässt das erst einmal bezweifeln. Solange das Vermögen seiner Gattin noch ausreichte, war er erst einmal von diesem Zwang ebenso wie von dem Zwang des "Tagesjournalismus" als "Broterwerb"109 zu betreiben. Sicher hat das nicht wenig dazu beigetragen, sich als von Parteiinteressen unabhängiger Dichter zu sehen und diese Position nach seinem literarischen Durchbruch selbstbestätigend zu verabsolutieren. Dass für ihn soziales Prestige, die Anerkennung durch Andere wichtig war, belegt der gescheiterte römische Versuch eines 'monumentalen' Kunstwerkes; und dass für ihn 'sozialer Aufstieg' wichtig war, belegt der schnelle Umzug vom abgeschiedenen ländlichen Erkner in das berlinnahe bürgerliche aufstrebende Charlottenburg schon vor der Uraufführung seines 'Sozialen Dramas'.

Markt-Bedingungen - aus heutiger Sicht durchaus als 'brutal' zu bezeichnen - galten an den Berliner Theatern. Noch im Juni 1886 stellte das 'Berliner Tageblatt' die Frage, wie denn zwei weitere geplante Theater in Berlin überleben sollen.110 1890 verfügte Berlin über 16 mehr oder weniger angesehene öffentliche Bühnen, die zahlreichen Spezialitätenbühnen nicht mitgerechnet.111 Davon gaben das Königliche Opernhaus, das Kroll-Theater und das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater vorwiegend musikalische Darbietungen, das Königliche Schauspielhaus, das Deutsche Theater, das Lessing-Theater und das Berliner Theater vorwiegend "ernste Dramen", ohne allerdings "aus finanziellen Gründen" auf "populäre Zugpferde" zu verzichten. Das Residenz-Theater, das Wallner-Theater, das Adolf-Ernst­Theater, das Central-Theater, das Thomas-Theater, das Viktoria-Theater und das Belle- Alliance-Theater gaben vor allem Posse und Schwank, das Ostend Theater und das Königstädtische Theater ebenfalls Posse und Schwank, allerdings "auf allerniedrigstem Niveau". Insgesamt hatten diese 16 Bühnen insgesamt mehr als 17.000 Zuschauerplätze zur Verfügung, woraus sich unschwer, neben einer Konzentration auf ein bestimmtes Publikum, eine erhebliche gegenseitige Konkurrenz und eine zwingende betriebswirtschaftliche Orientierung ergeben musste. "Der flache Tagesgeschmack bestimmte das Repertoire, forderte große Ausstattungsrevuen, Posse und Schwank mit eingelegten Couplets und Witzen, allerhöchstens das seichte Salonstück und das französische Ehebruchdrama." Das Repertoire zeichnete sich durch Seichtigkeit und Banalität aus. Die besseren Theater, in denen auch klassische Stücke gespielt wurden, konnten ohnedies nur die wohlhabenden Bürger besuchen, vornehmlich Rentiers, Börsenspekulanten und Kritiker (mit Freibilletts). Den weniger Betuchten war z.B. der Besuch des Deutschen Theaters "unerschwinglich, denn ein halbwegs annehmbarer Platz kostet 2,50 bis 3 Mark, und das ist für den Bürgerstand und den Handwerker viel zu teuer"112, lediglich das Berliner Theater machte hier eine Ausnahme "und natürlich die Possenbühnen".113

Die Kapitalisierung des Theaterbetriebes führte zu einer Massenproduktion ungeahnten Ausmaßes. Alljährlich wurden um 1890 jeder der vier wichtigsten Bühnen Berlins (Königliches Schauspielhaus, Deutsches Theater, Lessing Theater, Berliner Theater) zwischen 270 und 450 Stücke zur Aufführung angeboten, die Breslauer Theater überfluteten jährlich sogar 1100 bis 1400 Theatermanuskripte. Von den insgesamt etwa 4000 jährlich eingesandten Novitäten erlebten ca. 120 eine Aufführung. (Ein paar Jahre früher hätte eine dieser Novitäten auch den Titel 'Das Erbe des Tiberius' tragen können, geschrieben von einem gewissen Gerhart Hauptmann, den niemand kannte; womit die Frage nach der Qualität und dem Schicksal des Dramas wahrscheinlich viel besser erklärt wird als jede andere Spekulation oder Erkenntnis um den Verbleib des nur in einer handschriftlichen und nicht in gedruckter Fassung versandten Textes.114 )

Die vier genannten Berliner Bühnen führten in der Saison 1890/91 lediglich 23 Neuheiten auf, die Breslauer Theater gerade einmal zwei. Wollten Autoren auf dem Markt bestehen, so mussten sie ihre Produktion dem Tagesgeschmack anpassen, d.h. die gängigen Erfolgsmuster reproduzieren. Indirekt gibt das die Begründung eines 'Aufnahmestopps' bekannt, den die Generalintendanz des Berliner Königlichen Schauspielhauses im November 1887 in den Tageszeitungen verkünden ließ, - sieht man von dem implizit darin enthaltenden Eingeständnis ab, dass die Mehrzahl der eingereichten Stücke entweder 'Schrott' ist oder inhaltlich der Intendanz nicht gefällt115:

"Über die dem Kgl. Schauspielhaus in Berlin eingereichten Bühnenstücke erfährt die 'Tägliche Rundschau' das Folgende: Trotzdem von maßgeblicher Seite veröffentlicht wurde, dass vorläufig kein neues Bühnenstück angenommen wird, dass vielmehr demnächst die bisher zur Aufführung erworbenen Stücke zur Darstellung gelangen sollen, sind der Berliner General-Intendanz von Neuem wieder mehr als 120 Schau-, Trauer- und Lustspiele zur Begutachtung übersandt worden, mit deren Prüfung bzw. Lesen neben dem 'Leserkomitee' in erster Linie Herr Dr. Emil Taubert betraut ist. So erheblich auf der einen Seite die Anzahl des Geschaffene ist, so unerheblich ist der künstlerische Wert derselben: unter allen eingereichten Bühnenwerken befinden sich kaum 15, welche eine nähere Berücksichtigung verdienen. Der Stoff eines ansehnlichen Teils er im ernsten Charakter gehaltenen Bühnenstücke ist der Geschichte entnommen oder entwickelt sich auf phantastischem oder märchenhaftem Hintergrund. Am zahlreichsten ist das moderne Lustspiel vertreten, allein gerade hier macht sich ein auffälliger Mangel an nur leidlich Gutem bemerkbar. Die eingereichten Lustspiele beruhen zum größten Teil entweder auf trivialer oder tendenziöser Grundlage, entbehren eines feineren Humors und verfallen in den Charakter des Schwanks; die letztere Eigenart ist ein Hauptfehler, welcher mit wenigen Ausnahmen fast allen der Berliner General-Intendanz eingereichten Lustspielen anhaftet. Vorläufig sind also die Aussichten für gute Schauspiel-Neuheiten für die nächste Spielzeit sehr geringe."

Für die Theaterautoren hieß das, sie mussten ihre Dramen auf die Wünsche der Theaterdirektoren noch gutem Umsatz und auf die jeweiligen Stars abfassen116, d.h. Glanz- und Hauptrollen, Effektszenen und gewünschte Auftrittssituationen für die gutverdienenden Stars der Ensembles. Für den Rest der Ensembles verblieben dann infolge des Überangebotes an Arbeitskräften bzw. Schauspielern häufig Monatsverdienste, die mit weniger als 50 Mark weit unter den Löhnen qualifizierter Facharbeiter lagen.117 Wie stark die Theaterdirektoren in die künstlerische Freiheit der Dramenschreiber eingreifen wollten, belegt nicht zuletzt - um das vorwegzunehmen - ein Brief Carl Rosenfelds, der am 30.11.1889 im 'Belle Alliance Theater' die erste öffentliche Aufführung von 'Vor Sonnenaufgang' inszenieren wollte - die Aufführung der 'Freien Bühne' war ja eine private Vereins-Aufführung -: Zusätzlich zu den für die Zensur gestrichenen Passagen sollte Hauptmann noch kleine Szenen einfügen, um dem Publikum das Stück schmackhaft zu machen.118

Dieser Aufnahmestopp macht auch deutlich, dass die nachträgliche Feststellung eines Arno Holz, Hauptmann "musste durchkommen", neben der tatsächlichen Realität lag, denn unabhängig davon, dass an das veruntreute Vermögen Maries sofort ein neues Geldvermögen getreten war, war auch dieses Geldvermögen dem 'Verzehr' ausgesetzt; es würde irgendwann zu Ende gehen, und Hauptmann sich als Bohemien oder schriftstellerischer Klein- und Zuarbeiter in die Berliner Künstlerszene einreihen müssen. Hauptmann war kein intellektueller Kopf wie Holz, der sich eine dramatische Poetik 'ausdenken' konnte, Hauptmann war darauf angewiesen, dass andere 'für ihn dachten'; nur in einem Diskussionszusammenhang mit anderen konnte er aktuelle gesellschaftspolitische wie ästhetische Diskussionen wahrnehmen. Hauptmann war eher Detailarbeiter; er war für den künstlerischen Durchbruch auf Hilfe 'von außen' angewiesen.

Auf diesem Theater-Warenmarkt hatten nicht nur nicht bühnenwirksame Massenstücke, erst recht nicht die von Bühnenneulingen, sondern mehr noch unangepasste und nach neuen Theorien konzipierte Stücke wenig bis keine Chancen.

"Es war deshalb nicht nur die Absicht, der Theaterzensur zu entgehen, als am 4.5.1889 die 'Freie Bühne' gegründet wurde, sondern ebenso das Bestreben, unabhängig von Profitorientierung, Zuschauerrücksichten und Virtuosentum das Theater künstlerisch zu erneuern. Der verlogenen epigonalen und kapitalisierten Kunst wurde der Kampf angesagt, und allein eine solche Bühne, die sich aus Mitgliederbeiträgen finanzierte und die neue Kunst programmatisch forderte, konnte das Risiko eingehen 'Vor Sonnenaufgang' zu spielen."119

Der Kampf um die modernen Dramen "war zugleich auch ein Kampf gegen die bestehenden Theater, die diese Autoren aus Ängstlichkeit oder Geschäftsspekulation bisher völlig leugneten".120

"Viele der besten Schauspieler Berlins wurden von den Intendanten der einzelnen Theater für Vorstellungen an der Freien Bühne kategorisch gesperrt."121

Ob jetzt die Fürsprache Theodor Fontanes den Ausschlag gegeben hatte zur Wahl des Hauptmann'schen Erstlings oder nicht, ist dabei eher unwichtig; viel wichtiger war, dass die Freie Bühne nach der erfolgreichen Aufführung der 'Gespenster' von H. Ibsen122 jetzt einen passenden deutschen Dramatiker zur Hand hatte, der den theoretischen Anspruch der Erneuerung mit einem vorzeigbaren Drama belegen konnte, und den Vereinsmitgliedern, die mit hohen Einlagen das Projekt auf die Beine gestellt hatten, in der Zukunft auch die Chance auf einen Gewinn eröffnete.

Natürlich benötigte man dazu auch einen kleinen 'Theaterskandal', um eine ausreichende Zeitungspräsenz, vulgo: Publicity, zu erzielen.123 Die Uraufführung fand statt vor dem

"alten Premierenpublikum Berlins, aus Börsianern, Rechtsanwälten, Assessoren, Lebemännern, Weibern der Bourgeoisie und der Halbwelt zusammengesetzt, das im Residenz-Theater zotige Possen und im Schauspielhause ehrwürdige Klassiker mit gleichem Vergnügen beklatscht. Es waren die Leute, die bei allem Neuen dabei sein müssen, weil es für gebildet gilt, alles Neue zu wissen und die 30 oder 50 Mark, soviel kostet auf den 'feineren Plätzen' der Mitgliedsbeitrag der 'Freien Bühne', ruhig auf einem Brett für solchen Spaß bezahlen können. Als fremdartiger Zusatz saßen unter oder richtiger über diesem Publikum im zweiten Rang junge Leute, Studenten, Schriftsteller, Maler und Schauspieler: Enthusiasten, verständige und unverständige, für die neue Kunstrichtung."124

Und den 'Skandal' lieferte das Premierenpublikum gerne: „Es war mehr ein dumpfes Gefühl, . dass ein Feind in der Nähe sei.“125 Den Skandalhöhepunkt bildete natürlich die im Zuschauersaal geschwenkte Geburtszange samt anschließendem Prozess der 'Freien Bühne' gegen den geburtszangenschwenkenden Arzt, ein Vereinsmitglied. In der Sekundärliteratur ist häufig die skandalträchtigere Meldung anzutreffen, die Geburtszange sei auf die Bühne geworfen worden; lt. Zeitungsmeldungen wurde die Geburtszange jedoch nur im Zuschauerraum geschwenkt. Über den daraus folgenden, wiederum publicityträchtigen Prozess der 'Freien Bühne' gegen ihr Vereinsmitglied Dr. Kastan vor der II. Zivilkammer des Landgerichtes I in Berlin berichtet ausführlich das 'Berliner Volksblatt' am 17.11.1889126.

Und nachdem sich die Freie Bühne mit Hauptmanns Erstlingsdrama de facto etabliert hatte127, bestand der "Aufgabenbereich, der Gerhart Hauptmann von der Freien Bühne zugedacht war, . allein darin, Dramen zu schreiben. Als die Verantwortlichen der Freien Bühne die Fähigkeiten des jungen Dramatikers einmal erkannt hatten, machten sie ihn zu ihrem Dichter."128

Die von Hauptmann am Schluss seines 'Abenteuers' getätigte Aussage, dass "damit in der Tat eine eigenartige, kräftige deutsche Literaturepoche eingeleitet"129 worden sei, darf man getrost als Selbstüberhöhung und als Selbsttäuschung, wenn nicht gar als bewusste Verfälschung werten, denn die 'Moderne' existierte schon einige Jahre. Ebenso deutlich neben dem tatsächlichen Geschehen steht auch die Aussage: "Ich fand den Gedanken absurd, . dass man 'Vor Sonnenaufgang' öffentlich aufführen könnte"130 ; - wozu sonst hätte er das Drama an mindestens 80 namentlich auf einer Liste säuberlich aufgeführte Personen geschickt, darunter zahlreiche Theaterdirektoren und nicht­naturalistische Dramatiker131, wenn nicht zum Zwecke der Aufführung? - erst recht mit der im 'Zweiten Vierteljahrhundert' zugefügten Betonung, dass das "Schicksal mich, den kleinen Salzbrunner Jungen . ausgewählt"132 hatte.

In einer offenbar vor einem Veröffentlichungsversuch wieder verworfenen Textpassage zum 'Zweiten Vierteljahrhundert' hat Hauptmann versucht, diese Erwartungshaltung halbwegs mutig zu beschreiben:

"Würde ich ihre Erwartungen erfüllen, ihre Hoffnungen rechtfertigen und ihre Furcht vernichten können? Eine Enttäuschung in diesem Betracht würde mich gewiss um ihr Interesse und somit um alles, was ich gewonnen hatte, gebracht haben.

Überdies war mein Ehrgeiz geweckt. Es gab für mich nunmehr keine Wahl: ich musste auf der betretenen Staffel emporsteigen. Wenn meine Kraft versagte, wenn ich mir das Theater, das Berliner und das allgemeine deutsche Theater, nicht in einem gewissen Sinne dienstbar machen konnte, so würde mein Wesen, wie ich erkannte, auf eine unheilbare Weise lädiert geblieben sein."133

Nachdem aber erst einmal mit Gerhart Hauptmanns 'Vor Sonnenaufgang' und mit Hermann Sudermanns konventionellem Stück 'Die Ehre' dem 'sozialen' Thema die Bühne geöffnet worden war, ließen es sich die Berliner Bühnen für eine kurze Zeitspanne nicht nehmen, auf eine profitable Welle 'sozialer Dramen' zu setzen. Die "Dramatiker ohne Bühne"134 hatten jetzt ihre Bühne.

In seiner Literaturgeschichte 'Das jüngste Deutschland' widmet v. Hanstein dem 'Wettkampf um das soziale Drama in Berlin' ein ganzes Kapitel.135 Darin schreibt er u.a.:

"Das 'soziale Drama' war mit einem Schlage Trumpf geworden in der Reichshauptstadt. Es ist geradezu verwunderlich, anzusehen, wie der Kriegslärm der 'Freien Bühne' und der wirkliche Erfolg von Sudermanns 'Ehre' alle, aber auch ausnahmslos alle Dramatiker - die alten wie die jungen - aus Dichtern in Kämpfer verwandelten. Wer sein Schwert nicht für die sozialen Neuerungen ziehen wollte, der zog es gegen solche, - aber sein Schwert zog jeder. Es war wirklich, als wenn ein Zankapfel unter die Dichterschar geworfen worden sei, - die jüngsten griffen gierig danach, und die ältesten wankten darauf zu. Dabei herrschte eine wahre Fieberstimmung in der Theaterwelt. Jetzt erst gewann das Wort 'Premiere' für Berlin eine wahre Bedeutung. Was war bis dahin den Berlinern an einer Erstaufführung gelegen? Jetzt hatte eine solche die Bedeutung einer zu schlagenden Geistesschlacht. Man zog hinein, gerüstet zum Kampf - entschlossen, gegen oder für die neue Richtung einzutreten; und wenn es sich um einen Neuling handelte, so schwebte über der Versammlung des nunmehrigen 'Premierenpublikums' die zitternde Vorahnung von der 'Entdeckung' eines 'neuen, großen Dichters'."136

Man muss diese euphorische Darstellung v. Hansteins nicht teilen; aber mehr als zwei Dutzend uraufgeführter, manchmal auch nur dem Titel nach, 'sozialer' Dramen, darunter Stücke von Fulda, Sudermann, Wildenbruch, Lindau, Heyse, sprechen sehr deutlich für den Versuch der Theater, eine 'Marktchance' nicht zu verpassen, und für ein sensationsgieriges Publikum, das den Hype des 'sozialen Dramas' offenbar vorübergehend zu tragen bereit war.

Es lohnt, in diesem Zusammenhang Eugen Wolffs Aufsatz über "Das Theaterjahr 1896" zu lesen, der nicht nur die "Mischung von Krähwinkelei und gernegroßer Exklusivität" der Theaterrezensenten der Berliner Zeitungen, sondern ebenso die "unkünstlerischen Beweggründe" der Macht der "Cliquen"-Wirtschaft des Berliner Premierenpublikums“ beklagt137 ; - im Übrigen, um das hier vorwegzunehmen, auch in Bezug auf Gerhart Hauptmann, dessen dauerhafte Aufnahme in das Repertoire des Deutschen Theaters nicht nur künstlerischer Qualität, sondern hauptsächlich den Gewinnerwartungen der Theaterleitung und zu verdanken gewesen sei138. Auch das 'moderne Theater' musste sich, weil politisch gescheitert, den kommerziellen Rahmenbedingungen beugen. Und Gerhart Hauptmann war jemand, der der sich diesen Rahmenbedingungen ziemlich unkritisch unterwarf.

"Wer noch zum Naturalismus hielt, geriet nach und nach in eine hoffnungslose Außenseiterposition, da die am steigenden Wohlstand dieser imperialistischen Epoche teilhabende Bourgeoisie die Beschäftigung mit dem Problem der sozialen Frage"[nach dem Fall des 'Sozialistengesetzes']"als etwas Veraltetes und Abgestandenes empfand."139

Gerhart Hauptmann war mit einem Male Teil dieser "Partei- und Cliquenwirtschaft", die die 'Kritischen Waffengänge' und die 'Gesellschaft' noch so heftig gescholten und vehement bekämpft hatten. Und Gerhart Hauptmann war nun jemand, der als Teil des Theaterbetriebes gutes Geld verdiente, der im Mittelpunkt stand und dessen soziale Anpassungsfähigkeit ausgeprägt genug war, um sich von der naturalistischen 'Bewegung' loszusagen. War der Umzug nach Charlottenburg sozusagen der 'praktische' Teil dieser Loslösung gewesen, so erfolgte spätestens auf der Italienreise Januar bis Mai 1897 der 'theoretische' Teil dieser Loslösung. Brescius hat das als 'Distanzierung vom Naturalismus'140 bereits anhand von Tagebucheinträgen dieser Reise ausgeführt.

Schon auf den Verriss "spottschlecht", den Maximilian Harden, immerhin einer der Begründer der 'Freien Bühne', Hauptmanns Stück 'Hanneles Himmelfahrt' zukommen ließ, hatte dieser überaus heftig reagiert141, stellte doch Harden anhand dieser Aufführung den Marktmechanismus bloß, dem sich Hauptmann mittlerweile unterworfen hatte von öffentlicher Vorstellung des Stückes, aufwendiger Werbung, Premierenpublikum, Claqueuren und wohlwollenden Rezensionen. Wenn Machatzke Hauptmanns "seelische Abwehrmaßnahme" nur auf die "außerordentliche Schärfe" und "verletzende Weise" zurückführt142, so ist das eben nur ein Teil der Wahrheit; Hauptmann verteidigte seine Stellung gegenüber der Konkurrenz. Auf die "enorme Bedeutung, die langfristige Bindung an ein Theater oder einen Verlag für den Autor der Jahrhundertwende hatte", weist auch Sprengel in 'Die Wirklichkeit der Mythen' hin143.

Und dass der theorieschwache, aber dennoch auf dem Theatermarkt prächtig reüssierende Hauptmann, sich gegen seine ehemaligen Mitkombattanten jetzt absetzt, scheint durchaus eine logische Konsequenz zu sein:

"Ihr, die ihr nach heldischer Art dürstet: Wohlan! hier ist Heldentum. Oder ist euch dieser Held zu alt geworden?

So schmerzlich liegen die Dinge, dass ihr auch nicht entfernt wisst, was ihr für Helden nehmen sollt, und noch schmerzlicher: ihr werdet vor den Titanen geführt, und der Blick eures Maulwurfsauges reicht ihm noch nicht bis zum Knie.

Da wäre der erste Schritt, dass ihr versuchtet, die Großen, deren tote Namen euren Zungen viel zu geläufig sind, zu erkennen und eure Seelen an ihren Seelen zu weiten, statt, dass ihr den Leichenfledderern auf die Finger seht, die ein kleinliches, ekelhaftes, diebisches Geschäft treiben, das sie Psychologie nennen.

Kommt zu den Quellen, sie sind nicht verschüttet!

Goethe und alle Großen tranken daraus. Da wird denn zunächst aller kleinbürgerlicher Schmutz und Geruch von euch verschwinden, wenn ihr nicht, wie ein armer Ungenannter unter meinen Berliner Kameraden, zu vollkommenen Schmutzfinken geworden seid.

Versteht mich nicht falsch! ich meine im Leben, nicht in der Kunst. Wer ein Lümpchen im Leben ist und nicht mindestens ein Lump, der wird keine Stufe der Scala d'Oro ersteigen. Aber nur Männer von vollkommenem Adel ersteigen sie ganz.

Es ist nun die Frage, wie hoch ihr zu gelangen wünscht.

Mancher weiß von der Scala d'Oro nichts und irrt umher, gepeinigt und gezogen, durch ein Gewirr von Treppchen, Gäßchen, Kämmerchen und Stiegen, ohne nur je über das Flachland hinauszukommen. Es liegt wohl daran, dass ihr die Gipfel nicht kennt. Kommt und trinkt aus den Quellen und seht die Gipfel.

Unsere Bewegung fing sich gesund an, aber sie hat eine Tendenz zur Breite gehabt. Sie muss die Tendenz zur Höhe bekommen.

Naturalismus! Realismus! Du lieber Gott! Das ist der Boden jeder Kunst. Der Baum, der wachsen will, muss seine Wurzeln wohl in die Erde senken. Je besser die Erde, je verzweigter und festergeklammert die Wurzeln, umso höher zum Himmel der Baum. Es ist zu viel Knieholz bei uns."(Tagebucheintrag vom 6.3.1897)

Er sieht er sich dann als Vertreter eines stärkeren, selbstherrlichen Geschlechtes, als Michelangeloscher Gigant, der aus dem Chaos die Ordnung bildet (Tagebucheintrag, 7.3.1897).

Und am 12.3.1897:

"Von Björnson, Zola (!), Ibsen etc. soll ich entlehnt haben. Von Zola und Björnson sicher nicht. Den letzten kenne ich zu wenig, was aber den ersten anlangt, so wünschte ich eine Idee zu sehen, die er mit einigem Recht sein eigen nennen könnte. Seine Methode ist ein Scharlatanshumbug, soweit sie eine Methode sein will, sonst hat man in ihr ein dünnes Restchen jener von Polybius über Winckelmann, Herder, Buckle, Taine fortwirkenden Anschauung, dass der Mensch ein Milieuprodukt etc. sei: er hat es - dieses dünne Restchen - wacker für sich ausgemünzt und ist der Stammvater jener mehr als zweifelhaften Schriftstellertypen geworden, die ihr löchriges Kunstingenium mit den geborgten Wissenschaftslappen zu- und ausstopfen, wozu sie noch Zopf und Gravität aus der Rumpelkammer der selig entschlafenen 'Gelahrtheit' hervorgesucht haben, um schicklich­unschicklich damit zu stolzieren. Meine ganze Natur bäumt sich gegen diesen ungeschlachten Verfertiger einer grob gekneteten, mit Pfeffer, Salz, Knoblauch und einem widerlichen Aphrodisiakum gewürzten Masse, die in gleichmäßiger Fülle von ihm geht." Und wiederum ein paar Tage später:

"Nachdem wir die [ d.i. den Realismus ] eine Weile getrieben, wuchsen wir in die höhere Linie hinein .". (Tagebucheintrag 16.3.1897)144

Man mag darüber streiten wollen, inwieweit der verspätet zur naturalistischen Literaturbewegung gestoßene Vorort-Rentier mit dem Beitritt zum Verein 'Durch' gezielt und nach Beziehungen suchend auf seinen literarischen und damit finanziellen Durchbruch hingearbeitet hat, man kann aber die dramatische Qualität des Erstlings ebenso wie inhaltlichen Mängel und - trotz aller 'Mängel' - die Anwendung der naturalistischen Theorie nicht bestreiten.

Man mag auch darüber streiten, ob die Dauer oder gar der Beginn der Beziehung zu Marie nicht doch vor allem auf deren Vermögen basierte, man kann dennoch nicht abstreiten, dass es ihm jetzt bei erreichter finanzieller Unabhängigkeit möglich war, die zuletzt unglückliche Ehe mit Marie Thienemann - wenn auch unter schweren Gewissensnöten - zu beenden. Dass der Zeitpunkt der Trennung nicht nur mit Margarethe Marschalk zu tun hatte, sondern auch mit den finanziellen Möglichkeiten Gerhart Hauptmanns, belegt auch ein Brief an seinen Bruder Carl vom 6.1.1894, in dem sich gegen Carls Vorwürfe verwehrt und sich quasi schon festlegt: Marie werde "ihr Vermögen wiedererhalten und die Kinder werden sich auf mich stützen können so lange ich selbst noch stehen kann."145

Machatzke führt im Nachwort zum 'Tagebuch 1892-1894' aus:

"Marie erhielt das in Ehe eingebrachte Gut zurück, das auf 180.000.- Mark festgesetzt wurde, und bei dem es sich nicht nur um das Erbe vom Vater, sondern auch von der Großmutter Magdalena März . und vom Bruder Gottlob Thienemann gehandelt haben dürfte. . Im Übrigen wurden als jährliche Unterhaltszahlungen 8000 Mark für die Frau und 3000 Mark für jeden Sohn vereinbart."146

Und man mag auch darüber streiten, inwieweit Hauptmanns 'Abkehr' von Naturalismus eben auch diesem finanziellen Erfolg folgte; schließlich hatten den Theaterdurchbruch nicht Arno Holz oder die von Mehring eingeforderten sozialdemokratischen Tendenzstücke erreicht, sondern in "dem unglaublich übertriebenen Geniekultus eines geschäftsmäßigen Cliquen- und Klaquenwesens"147 die 'theorielosen', parteipolitisch ungebundenen und politisch indifferenten Stücke Hauptmanns.

Dennoch sollte man Hauptmanns eigene Aussagen dazu durchaus in Betracht ziehen: Nach der erfolgreichen Premiere von 'Vor Sonnenaufgang' "verkehrte (ich) einige Zeit lang am Nachmittag im Café Metropol. In ein, zwei Tagen hatte sich um mich eine Gesellschaft von zwanzig, dreißig und mehr Personen zusammengefunden, so dass eine lange Tafel für uns aufgestellt werden musste. Das waren nun freilich nicht die arrivierten Literaten der Oberschicht, sondern überwiegend Boheme. Bald wuchs mir die Sache über den Kopf und ich beschloss, mich zurückzuziehen.

Im engeren Zirkel <von Schlenther und Brahm>, der sich bald in diesem, bald in jenem Weinlokal zusammenfand, saßen die Vorstandsmitglieder der 'Freien Bühne'. . Dieser Kreis war durch und durch literarische Energie und Unternehmungsgeist."148 Hauptmann wollte aufsteigen.

2. Die Nachwirkungen des flüchtigen Zwischenfalls'

Die Hinweise auf die Lebensumstände Gerhart Hauptmanns bilden sozusagen den Hintergrund für die folgenden Ausführungen. Es geht also zuerst einmal weniger um den Breslauer Prozess als vielmehr um Gerhart Hauptmann und um seine Reaktionen auf die Vernehmung vor dem zuständigen Amtsgericht in Altlandsberg im Juni 1887 (Ein Vorladungstermin vor dem 17.6.1887, also dem Tag des Referates über Büchner in 'Durch', scheidet wohl aus, denn ein komplett verängstigter Hauptmann und ein Vortrag über 'Büchner' sind nicht in Übereinstimmung zu bringen.) und die Vorladung als Zeuge zum Breslauer Prozess am (wahrscheinlich) 14.11.1887.

Gerhart Hauptmann war Mitglied jenes am 1.11.1883 in Breslau amtlich angemeldeten und vor allem aus Breslauer Studenten bestehenden Vereins 'Pacific' gewesen, der sich zum Ziel gesetzt hatte, nach dem Vorbild des ikarischen Kommunismus von Etienne Cabet eine autarke Genossenschaft Gleichgesinnter in Nordamerika zu gründen. Nachdem der Vorsitzende der Ikarier, Alfred Ploetz im Sommer 1884 in Nordamerika die ikarischen Kolonien nur noch im Zustand der Auflösung vorgefunden hatte, löste sich der Verein formlos auf. Ob diese Episode tatsächlich, wie das 'Abenteuer meiner Jugend' suggeriert, bei Hauptmann in Vergessenheit geriet bis Juni 1887, mag dahingestellt sein. Laut Haenisch hat Hauptmann die "Geschichte sozialistischer Kolonialgründungen . schon seit dem Jahre 1879 innerlich stark bewegt"149.

Allerdings weiß Hauptmann über die 'Ikarier'-Episode in seiner Autobiografie nur wenig zu berichten:

"Nach wie vor stand auch der in Breslau studierende Ploetz fest im Freundeskreis. Ganz absichtslos ward der Platonismus auch von seiner Seite gefördert. Er predigte brieflich eine platonische Staatsutopie, für die man sich eine Kolonie suchen solle. Bald wurde Vancouver-Island, bald irgendein südamerikanisches Orangen- und Zitronenparadies ins Auge gefasst, um sie zu verwirklichen, das heißt: zugleich in ihr die höchstmögliche irdische Glückseligkeit. Müller hörte auch hier nur gelassen zu und ohne die geringste Teilnahme. Im Ausbau dieser Kolonialutopie hat sich unser Freundschaftsbedürfnis und Freundschaftsglück ausgerast. Eigentlich wollten wir nur dieses Glück verewigen. Etienne Cabet mit seiner »Voyage en Icarie« war eine unserer Verlockungen. Wie dieser 1848 mit Freunden erst in Texas, hernach in Iowa Gemeinwesen nach seinen Grundsätzen gründete, sollten auch wir es tun, nachdem Ploetz sich in Iowa vom Stande der noch existierenden Kolonie überzeugt haben würde. Ikarien hieß die Kolonie, die Kolonisten also Ikarier. Der lichtbegierige Ikarus wollte mit Flügeln aus Wachs die Sonne erreichen. So verstanden, waren auch wir Ikarier."150

Diesen dürren Zeilen entgegen steht eher unmotiviert der Bericht Hauptmanns darüber, wie er die Schiffsbesatzung der 'Livorno' während der Überfahrt von Hamburg nach Malaga mit ikarischem Gedankengut 'volltextet' (um einen modernen Ausdruck zu benutzen):

"So sprach ich unserer schwimmenden Familie von der geplanten utopischen Kolonie. Ich kritisierte die deutschen Verhältnisse. In Europa ließe sich eine Idealgemeinschaft von Menschen nicht durchführen. Wir, sagte ich, meine Freunde und ich, litten an Kulturmüdigkeit; wir dächten nicht daran, uns in der seelenlosen Staatsmühle zermahlen und zermalmen zu lassen. Wollte man diese und andere leidenschaftliche Äußerungen etwa als unbedacht oder unvorsichtig auffassen, so würde man ihnen nicht gerecht werden. Ich war ein Rebell, sie bedeuteten schlichtweg Rebellion."151

Im Manuskript liest sich diese Passage allerdings erheblich rebellischer:

"In diesem Sinne"[d.i. von "großen Illusionen" beherrscht]"sprach ich unserer schwimmenden Familien von der geplanten Kolonie. Ich kritisierte die deutschen Verhältnisse: Hier im Land der beständigen Militärdiktatur ließe sich ein naturgemäßes, harmonisch freies glückliches Leben nicht ausführen. In Europa eine Idealgemeinschaft bilden zu wollen, sei hoffnungslos. Hier wäre alles von Grund auf verfahren und verdorben. Wir würden auf einem jungfräulichen Boden dagegen ein Genossenschaftswesen stiften, dessen Gliedern die höchstmöglichste Summe von Glückseligkeit sicher sei. Wir, sagte ich, meine Freunde und ich, wir litten an Kulturmüdigkeit; wir dächten nicht daran, uns in der seelenlosen Staatsmühle, inbegriffen seinen Militarismus, zermahlen und zermalmen zu lassen, auch passe das Kastenwesen uns nicht. Die Einteilung in Gottesmenschen und Tiermenschen könnten wir nicht mitmachen. Wir seien ja alle im Sinne Darwins Tiermenschen, nicht aber im Sinne eingebildeter Tiere, die sich selbst als Götter mit Kronen auf dem Kopf und Thronen als Sitz aufspielten. Das Uniform- und Ordensgepränge passe uns nicht, davor könnten wie und wollten wir nicht in die Knie sinken. Sklaverei wäre abgeschafft. Eine unbedingt schöne Sache sei das einige deutsche reich, wozu brauchte aber das kleine Land drei große und eine Unzahl kleiner Könige? Und diese Tyrannen sähen auf uns als auf Parias entmündigte Unmündige, kurz auf Untertanen herab, die, einer wie alle, sechzig auf ein Schock gingen. Wollte man meine leidenschaftlichen Äußerungen als unbedacht oder unvorsichtig bezeichnen, so würde man ihnen nicht gerecht werden. Ich war ein Rebell... "152

Über Gerhart Hauptmanns Mitwirkung bei den Ikariern schreibt Lux später:

"Bei Gerhart Hauptmann war der ikarische Plan wohl nie ganz tief in das Innere gedrungen. Die zu leistende praktische Arbeit, wohl gar Handarbeit, war ihm physisch unangenehm, und Sozialist im Sinne des Partei-Sozialdemokraten war er nie. Er hat deshalb wohl befriedigt aufgeatmet, als ich ihm von dem Scheitern unseres Planes berichten musste; er war aus dem Konflikte, zwischen Freundestreue und künstlerischer Betätigung wählen zu müssen, glücklich befreit, und er konnte sich ganz dem Glücke seiner jungen Ehe hingeben, die ihm künstlerische Freiheit gebracht hatte."152 153 Hauptmann selbst bekennt dazu an einer Stelle eher unbeabsichtigt:

"Das philosophische Wesen zog mich nicht in dem Maße wie Carl und Simon an."154

Diese (unfreiwillige) Selbsteinschätzung mangelhaften politischen Wissens mag auch begründen, warum dem Hinweis "Noch galt das Sozialistengesetz." zwar der Bericht der "Marotte" folgt, "das Hausmädchen an unserem Tisch essen zu lassen"155, aber kurz danach der unzweideutige Hinweis, "utopische Vorstellungen hielten sich nicht. Anstelle der Utopie, die über unserem Jugendbunde geschwebt hatte, an Stelle aller in ihr verwirklicht gedachten Ideale trat - das Kind."156 Und an anderer Stelle: ".der Zug zu einem ländlich unkomplizierten Leben".157

Man muss an dieser Stelle nicht nur noch einmal darauf hinweisen, dass die 'Ikarier'-Episode gerade einmal vier Jahre zurücklag, sondern es ist auch explizit daran zu erinnern, dass 1883 das Ausnahmegesetz zur Bekämpfung der Sozialdemokratie schon fünf Jahre bestand. Gerhart Hauptmann war zum Zeitpunkt des Hödel- und Nobiling-Attentates auf den Kaiser im Mai und im Juni 1878, die den Anlass zum 'Sozialistengesetz' gaben, 16-jähriger pubertierender Landwirtschaftsschüler bei Verwandten und zwei Jahre später Kunststudent in Breslau, also in einem Alter, in dem man die politischen Begebenheiten nicht mehr nicht registriert. Hauptmann ist mit dem Sozialistengesetz erwachsen geworden. Aber dennoch bleibt dieser Hintergrund im 'Abenteuer' seltsam unbedeutend, wird auch in den Berichten über die Erkner-Jahre eher nebenbei erwähnt.

Nachdem die sozialdemokratische Fraktion aus den Reichstagswahlen im Februar 1887 zwar trotz erheblicher Stimmengewinne gegenüber den Wahlen von 1884 (549.990 Stimmen 1884 gegenüber 763.128 Stimmen 1887 bei den Hauptwahlen158 ; die Stimmabgabe zugunsten freisinniger Kandidaten in den Stichwahlen sind nicht zählbar) nur noch 11 Mandate stark war (gegenüber 1884 mit 24 Mandaten), sollten ihre organisatorischen Strukturen mittels zahlreicher Verhaftungen und Prozesse in einer reichsweiten 'Geheimbund'-Prozess- Kampagne zerschlagen und die führenden Parteifunktionäre und zu Gefängnisstrafen verurteilt werden.159

In der Vorbereitung eines großen Breslauer 'Geheimbundprozesses' war Heinrich (Heinz) Lux bereits im März 1887 einer der ersten wegen sozialdemokratischer Agitation und des Besitzes und der Verbreitung sozialdemokratischer Druckschriften (darunter der in Zürich gedruckte und illegal ins Reich geschmuggelte 'Sozialdemokrat' und das verbotene Buch August Bebels 'Die Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft'160 ) Verhafteten. Bei der Hausdurchsuchung am 5. März 1887 waren auch die Namen der ehemaligen Ikarier festgestellt wurden.161

Da die Anklageschrift gegen Lux bei Müller, wie bei nahezu allen anderen Autoren, die sich mit dem Breslauer Prozess von 1887 beschäftigen, im Mittelpunkt steht - und zudem beispielhaft die Argumentation der Breslauer Sozialistenjäger wiedergibt, außerdem zudem den Alltag der knapp Zwanzigjährigen Rebellen näher beschreibt -, soll sie hier ausführlich zitiert werden162:

"Am 1. Nov. 1883 wurde ein Verein 'Pacific' durch einen Alfred Ploetz, Vorsitzender, und einen Karl Max Müller, Schriftführer, polizeilich angemeldet. In den der Anmeldung beigefügten Statuten heißt es:

'§1. Zweck des Vereins ist: Die Bedingungen des Gedeihens einer allgemeinen Wirtschaftsgenossenschaft in den Vereinigten Staaten von Nordamerika zu untersuchen und eventuell die Vorbereitung zu einer solchen in die Hand zu nehmen. Sitz des Vereins ist Breslau.
§2. Jede unbescholtene volljährige Person, für die ein Mitglied Bürgschaft leistet, kann auf eine schriftliche Meldung hin vom Vorstand als Mitglied aufgenommen werden.'

Seit einer Reihe von Jahren ist der hiesigen politischen Polizei der stud. med. Lux als sozialdemokratischer Agitator bekannt verdächtig. Bei einer infolgedessen bei ihm am 5. März 1887 vorgenommenen Durchsuchung ist eine umfangreiche Korrespondenz mit Beschlag belegt worden, durch welche der unwiderlegliche Beweis erbracht ist, dass sich in den letzten fünf Jahren eine Anzahl Studenten hiesiger Hochschule zu einer Verbindung zusammengetan haben, welche hinsichtlich ihres wahren Zweckes der Staatsregierung unbekannt geblieben, also eine geheime Verbindung im Sinne des §128 Str.G.B. gewesen ist. Denn es kann nach dem Inhalt jener Korrespondenzen nicht zweifelhaft sein, dass der Zweck dieser Verbindung lediglich die Förderung von auf den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen war. Der Verein 'Pacific' war offenbar nur das Mittel, um von den für den vorgeschobenen Zweck angeworbenen und über die wahren Ziele nicht unterrichteten Mitgliedern die nötigen Mittel zur Agitation zu erhalten.

Nach §11 der Statuten musste sich jedes Mitglied zu einem Beitrage bis zur Höhe von 200 Mark verpflichten. Als das Haupt der Verbindung ist der Mediziner Alfred Ploetz anzusehen. Er ist zurzeit in Zürich. Als Geschäftsführer ist der Angeklagte Lux anzusehen; beide haben gemeinschaftlich sogar Reisen nach Oberschlesien gemacht, um Mitglieder anzuwerben. Dieser geheimen Verbindung hat auch der stud. Marcuse, sowie der Schriftsteller Kasprowicz angehört, wie aus den gemeinschaftlichen Handeln dieser Personen leicht zu erkennen ist.

Die Durchsicht der beschlagnahmten Korrespondenz ergibt folgendes Resultat: Von den gesammelten Beiträgen, welche damals 3100 Mark betrugen, hat Ploetz im Jahre 1884 eine Reise nach Amerika unternommen, um sich dort über den Stand der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung an Ort und Stelle zu unterrichten. Am 1. April 1884 schreibt er an Lux aus Neuyork: 'Gestern suchte ich Jonas, den Redakteur der 'Neuyorker Volkszeitung' auf und fragte ihn wegen der Ikarier. Er war sehr freundlich und versprach, mir zu Morgen die Adresse eines französischen Kommunisten zu verschaffen. ... Übrigens werde ich von jetzt an alle Nachrichten von mir immer an Dich schicken, Du hast die meiste Zeit und kannst die anderen Leute (Simson und den Dicken) benachrichtigen.' In einem Brief de dato Chicago, den 28. April 1884, heißt es: 'Ich habe hier die sozialistischen und anarchistischen Kreise der Unterrichtung halber aufgesucht', und am 16. September 1884 schreibt er an Lux: 'Die Hauptidee, von der aus ich meinem Ziel verfolgte, war die, durch die Gründung und Ausbreitung sozialistischer Niederlassungen schneller und besser für die allgemeine Durchführung des Sozialismus zu arbeiten als durch Anschluss an die Partei.' Erläuternd bemerkte Lux in seiner verantwortlichen Vernehmung dazu. 'Ich und ein Teil meiner Freunde sind Anhänger der sozialistischen Ideen; unser Ziele ist die Verwirklichung des sozialistischen Staates, den ich mir als Republik denke, unter genossenschaftlicher Organisation der Arbeit.'

Und dass zur Erreichung dieses Zieles, des republikanischen Staates, weder Ploetz noch Lux vor keinem gewaltsamen Mittel zurückschrecken, ergibt deutlich der Brief vom 30. August 1886, in welchem es heißt: 'Liebster Heinz! In demselben Sinne wie Du mir schreibst, gedenke ich Deiner und drücke Dir im Geiste die Hand als einem treuen Genossen in dem Kampfe der Zukunft, der unser harrt. Der Gedanke daran ist Dir gerade so wie mir das, was Dich aufrecht erhält unter den unerquicklichen Verhältnissen, die uns gerade jetzt umgeben. Alles, was wir jetzt machen können, ist, arbeiten dafür, dass wir stark dastehen in dem Augenblick, wo die Sturmglocke ruft. Dann werde ich, trotzdem jetzt scheinbar die Stürmer zum Herde heimgehinkt sind, mit derselben unfehlbaren Sicherheit in die Arena steigen wie Du und hoffentlich nicht leicht, sondern schwer bewaffnet. Donner und Doria! Das wird eine Freude, wenn wir und die anderen unter uns, die noch kriegstüchtig sind, dann anfangen loszulegen. Der schönste Moment unseres sonst so öden Daseins.'

Wenn Lux diese Ausdrucksweise bildlich und auf den geistigen Kampf um das Dasein bezogen wissen will, so ist nur daran zu erinnern, dass die Sprache in dem Briefe genau dieselbe ist, wie sie sich findet in den anarchistischen Zeitungen 'Freiheit', 'Taktik und Freiheit', 'Rebell'. So heißt es beispielsweise in Nr. 31 'Freiheit' vom 31. Juli 1880: 'Bereiten wir uns vor auf die Stunde des Kampfes, denn nimmermehr wird die erlösende Stunde schlagen, wenn wir nicht selbst die Sturmglocke schwingen.'

Lux und Markuse haben bei Beginn ihrer Universitätsstudien Anschluss an die hiesige Verbindung der Sozialdemokratischen Partei gesucht, und es ist dem Lux wenigstens nachzuweisen, dass er auch in der Verbindung eines der tüchtigsten Mitglieder dieser Vereinigung gewesen ist. Auf Veranlassung des Marcuse und mit ihm hat er in dem Zigarrenladen von Windhorst verkehrt, woselbst bis zu der im Jahre 1884 erfolgten Bestrafung des Windhorst der Sammelpunkt der Führer der Verbindung gewesen ist. Nachdem er bei seiner ersten verantwortlichen Vernehmung nur zugegeben hatte, dass er Versammlungen der Arbeiterfachvereine besucht und in einem solchen, dem Fachverein der Metallarbeiter, bis zu dessen polizeilicher Auflösung als Schriftführer gewirkt hat, hat er später gegenüber den Ergebnissen der Ermittlungen zugeben müssen, dass er auch bei den geheimen Versammlungen im 'Augarten' und bei Rösler gewesen ist; in die erstere ist er mit dem Angeschuldigten Schönwald, in die letztere mit Geiser gegangen, nachdem er an diesem Tage bereits seit den Mittagsstunden mit Kräcker, Hasenclever, Conrad und Geiser im 'Schweidnitzer Keller' in Beratung gestanden hatte. Allerdings hat er sich bei Rösler nicht aufgehalten, da ihm alsbald nach seinem Eintritt von Conrad gesagt wurde, dass die Polizei da sei und er sich als Student nicht kompromittieren und deshalb gehen solle.

In eine hier im Jahre 1884 bestandene studentische Vereinigung, welche sich frei wissenschaftliche Vereinigung nannte, ist er mit Marcuse gleichfalls eingetreten und haben beide in dieser Vereinigung, welche die freie Erörterung allgemein wissenschaftlicher Gegenstände zum Zwecke hatte, Anhänger für ihre sozialdemokratischen Ideen zu werben gesucht, wie Dr. Stein, ein ehemaliges Mitglied dieser Verbindung, ausdrücklich bekundet hat. Weiter hat auf Betreiben des Lux nach den Bekundungen des Stein eine Sammlung für den sozialdemokratischen Fonds stattgefunden, und glaubt sich Stein auch zu erinnern, dass er dazu selbst einmal den Lux auf dessen Ansuchen Geld gegeben hat. Nach Schluss der Vereinsabende haben dann noch, wie der Schriftsteller Baake bekundet, Zusammenkünfte zur Besprechung sozialdemokratischer Themata stattgefunden, an denen sich vornehmlich Lux, Marcuse, Kasprowicz und andere Studenten beteiligten.

Dass Lux bis zu dem Jahre 1887 Abonnent des 'Socialdemokrat' gewesen ist, hat er zugestanden, er hat sich aber nicht nur hierdurch der Anstiftung zur Verbreitung, sondern dieser selbst schuldig gemacht, da, soviel ermittelt, der Dr. Stein als auch der stud. Samuelson Exemplare von ihm zum Lesen erhalten haben. Auch das Buch von Bebel: 'Die Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft' hat er auf Bestellung erhalten und zwar nachdem dasselbe, wie ihm bekannt, durch Anordnung des Königlichen Polizei­Präsidiums zu Berlin vom 2. November 1883 auf Grund der §§11 und 12 des Sozialistengesetzes verboten und dieses Verbot in der Nr. 259, Jahrgang 1883 des 'Reichsanzeigers' vorschriftsgemäß veröffentlicht worden war. Auf dieses Buch bezieht sich übrigens auch die Empfehlung, es anzuschaffen, in dem Briefe des Ploetz an Lux de dato Chicago, den 28. April 1884, in welchem bewirkt wird, dass es von Zürich aus unter dem Titel 'Bericht der Fabrikinspektoren 1883' versandt werde.

Auch für die durch eine Frau Guillaume, geborene Schack, hervorgerufenen Lohnbewegung unter den Arbeiterinnen, auf welche die Sozialdemokratie vornehmlich infolge der Bemühungen von Singer und Kräcker in überraschend kurzer Zeit einen derartig maßgebenden Einfluss gewonnen hatte, dass dadurch zumeist die Schließung der meisten Arbeiterinnenvereine und das Verbot des von der verehelichten Guillaume herausgegebenen Parteiorgans 'Die Staatsbürgerin' herbeigeführt worden ist, hat sich Lux durch den Versuch praktisch interessiert, für die Offenbacher allgemeine Krankenkasse für Frauen und Mädchen Deutschlands in Breslau eine Zahlstelle zu begründen.

In dem Prospekte einer in dem Geiserischen Verlage erscheinenden Volksbibliothek ist Lux neben einer Anzahl bekannter Sozialdemokraten als engagierter Mitarbeiter aufgeführt.

Bei der Durchsuchung in der Behausung des Lux ist ein neun Personen darstellende Gruppenbild163 aufgefunden und beschlagnahmt worden. Die Personen sind von rechts nach links gesehen: Simon, Dr. Steinmetz, die Angeschuldigten Marcuse und Lux, Dr.med. Richard Kayser, der Angeschuldigte Conrad, Dr. Stein, stud. Samuelson und der Angeschuldigte Kasprowicz. In der Mitte befindet sich eine Büste von Lassalle. Ermittelt ist für die Entstehungsgeschichte des Bildes folgendes: Infolge Aufnahme eines die Vaterlandsliebe betonenden Paragraphen in die Statuten der freien wissenschaftlichen Vereinigung mussten Lux und die übrigen sozialdemokratischen Mitglieder, welche den vaterlandslosen Standpunkt betonten, aus der Verbindung austreten. Dieselben schlossen ich nun enger einander an, hielten während des Wintersemesters 1885/86 in den Privatwohnungen der einzelnen Teilnehmer regelmäßige Zusammenkünfte und ließen sich am Schlusse des Semesters, da mehrere die Universität Breslau verließen, auf Anregung des ebenfalls scheidenden Marcuse, in der angegebenen Weise abbilden. Bemerkenswert über den Charakter dieser Zusammenkünfte ist die Anteilnahme des sozialdemokratischen Agitators Maurer Conrad an diesen, angeblich wissenschaftlichen Zwecken dienenden Zusammenkünften."

Aufgrund der bei Lux gefundenen Korrespondenz gerieten auch die ehemaligen Ikarier Ploetz, Baake, Simon, Steinmetz, Carl und Gerhart Hauptmann ins Visier der eifrigen Geheimbundjäger.

Nimmt man die Aussagen Haenischs als Kriterium -

„Auch noch heute erzählt Hauptmann gern von den alten Ikarier-Tagen. Und wenn er gewiss auch manchen Überschwang dieser Zeiten still belächelt, so schämt er sich seiner Jugendeseleien' erstaunlicherweise durchaus nicht."164 -, so erscheint es nicht glaubhaft, dass der 25-jährigen Gerhart Hauptmann erst durch die Vernehmung auf dem Amtsgericht wieder an seine gerade einmal vier Jahre zurückliegende Breslauer 'Ikarier-Vergangenheit' erinnert wurde, erklärt aber auch nur unzureichend, dass diese Vorladung ihn so überrascht und verängstigt haben sollte, dass er als Folge davon panikartig die Briefe von Ploetz und ggf. weitere Manuskripte verbrannte. Diese panikartige Vernichtungsaktion ergibt einen Sinn entweder nur als 'dramatische' Überhöhung der Erzählung einer Lebensepisode oder wenn in den Manuskripten wirklich sog. 'Belastendes' gestanden hätte, also Sozialdemokratisches, das als 'Mitgliedschaft' oder 'Teilnahme' an einem sozialdemokratischen 'Geheimbund' zu werten gewesen wäre. Andererseits wird man sicher berücksichtigen müssen, dass der 25-Jährige immer noch an den Folgen einer Typhuserkrankung litt, künstlerisch voller Zweifel und inhaltlicher sowie technischer Orientierungslosigkeit herumwerkelte, aber auch Requardt/Machatzke schränken den "psychosomatischen Befund"165, der sich aus der immer wieder zitierten Textstelle des 'Abenteuers' ergibt - ("Alles an unserer Existenz schien uns unsicher, fraglich, zweifelhaft. Ich wollte kein größeres Werk beginnen, weil das Gespenst meines Bluthustens mir zuraunt, dass ich es nie beenden würde. Jeden Augenblick konnte es, fürchtete ich, mit mir zu Ende sein.") -, auf die beiden ersten Erkner-Jahre ein. Für 1887 scheint diese Einschränkung schon zweifelhaft zu sein, denn die Erweiterung des Lebensumfeldes spätestens mit der (zunächst passiven, später aktiven) Mitgliedschaft im Verein 'Durch' ist ein Hauptmann, dem 'Politik' fremd war, nicht mehr denkbar. Dass den 25-jährigen politisch unbedarften, aber wie zahlreiche Intellektuelle seiner Zeit von den offensichtlichen sozialen Problemen Erschreckten, mehrere Tageszeitungen Lesenden und künstlerisch vor sich hinwurstelnden Vorstadt-Rentier plötzlich die politische Wirklichkeit des 'Sozialistengesetzes', die sich nicht nur in Arbeiterkneipen abspielte und auf illegale Arbeiterversammlungen und Flugblätter beschränkte, bedrohte, muss wirklich einen Riesenschreck hervorgerufen haben. Sprengel fügte dem - auch zur Erklärung der späteren Zeugenaussage im Prozess selber - hinzu, dass Hauptmanns "eigene künstlerische Existenzform und ihre subjektiven Ziele" sich schon abseits der politischen Ambitionen seiner Freunde Ploetz und Lux wähnten, plötzlich aber in die politische Wirklichkeit zurückgerissen und gezwungen wurde, und unter dem Zwang stand sich zu bekennen166. Allerdings ist auch diese Argumentation widersprüchlich, denn erst die erlebte Bedrohung durch das 'Sozialistengesetz' ruft die Abkehr vom "organisierten politischen Apparat" hervor.

Die Tageszeitungen berichteten im Mai und Juni 1887 ständig von Verhaftungen von Sozialdemokraten und Prozessen gegen sozialdemokratische Geheimbünde. Zumindest in dieser Hinsicht hatte die Panikreaktion Hauptmanns, auch wenn er davon im 'Abenteuer meiner Jugend' nichts zu berichten weiß, resp. nichts berichten will, durchaus einen realen Hintergrund. Was seinen Roman und seine Jesus-Studien allerdings betrifft, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie als 'sozialdemokratische Propaganda' zu Wertendes enthielten, aber eher gering. Und da er noch am 5.1.1889 vermerkt: "Arbeit an der Jesusepisode im Roman"167, wird er von diesen Manuskripten wohl nichts vernichtet haben. Die Frage ist, was er damals wirklich außer den Briefen von Ploetz verbrannt hat.

Die zweite Frage ist auch, was er in den Folgemonaten unternommen hat, um sich von dem Schock der amtsrichterlichen Befragung zu erholen. Bekannt ist, dass er im August zusammen mit seinem Freund Hugo Schmitt eine Wanderung im Riesengebirge unternahm, während seine Gattin zu ihrer todkranken Schwester Frida nach Dresden fuhr. Nimmt man die Autobiografie ernst, dann haben sich Hauptmann und Schmitt während dieser Zeit nur über Landschaft, Hütten, Menschen und Malerei unterhalten168, jedoch nicht über Politik, geschweige denn über das polizeiliche Vorgehen gegen die Berliner Sozialdemokraten oder über den bevorstehenden Breslauer Prozess.

Als gesichert darf angenommen werden, dass er immer noch an seinem Roman arbeitete. Sprengel gibt aus einem Brief Maries im August 1887 an ihre Schwester Martha folgende Passage wieder:

"Mausel arbeitet weiter am Roman, einen Tag ist er sehr befriedigt, den anderen Tag kommt ein kleiner Kater, aber er schreibt unentwegt."169

Sprengel schließt aus einem gemeinsamen Appell Carl Hauptmanns und Ferdinand Simons, den Roman nicht zur Seite zu legen, dass Gerhart Hauptmann in Zürich sowohl an dem Roman weitergearbeitet als auch aus den fertigen Passagen vorgelesen hat.170

[...]


1 Aus: Gerhart Hauptmann: 'Abenteuer meiner Jugend'. In: G. Hauptmann: Sämtliche Werke. Hrsg. v. H.-E. Hass u. M. Machatzke, W. Bungies. Berlin 1996. Band VII, S. 1047.

2 Zit. nach Requardt, Walter; Machatzke, Martin: Gerhart Hauptmann und Erkner. Studien zum Berliner Frühwerk. Berlin(West) 1980 (= Veröffentlichungen der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft, Band 1). S. 11.

3 CA XI 1157. Andererseits: ,Lebenswende‘ bei einem Mitzwanziger?

4 Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang. Berlin 2013 (49. Aufl.) (= Ullstein TB 23564), letzte (unpaginierte) Seite.

5 Joachim Seyppel: Gerhart Hauptmann. Überarb. Neuaufl., Berlin 1993 (= Köpfe des 20. Jahrhunderts. Bd. 121), S. 15.

6 Vgl. Requardt/Machatzke, S. 29.

7 Im Anhang VII geben wir zum Vergleich eine Nachricht der ,Schlesischen Volkszeitung' vom 26.5.1887 über die „Durchschnittsgehälter der Arbeiter“ wieder.

8 Im Text: "Agathe".

9 CA X 125. Requardt/Machatzke zitieren hier (S.55) nicht den zweiten, mittleren Satz.

10 CA X 126. Ob man hieraus auch auf die Ehe Gerharts und Maries schließen darf, ist bis jetzt nicht beantwortbar; sicher ist, dass Hauptmann in vielen nachgelassenen Textfragmenten sehr nahe an seiner eigenen Lebenssituation formulierte, unabhängig davon ob das beschönigend oder wahrheitsgemäß erfolgte oder um die eigene Person zu überhöhen.

11 CA X 120.

12 G. Hauptmann: Einsame Menschen. CA I 210. (Siehe auch: Gerhart Hauptmann: Das dramatische Werk. Taschenbuchausgabe in 8 Bänden. Frankfurt a.M./Berlin/Wien Berlin 1977 (= Ullstein-Verlag). Hier Band 1: S. 340.)

13 Einsame Menschen, CA I 212 (auch: S.342).

14 Otto von Leixner: Soziale Briefe aus Berlin 1888 bis 1891. Berlin 1891. Vgl. vor allem Kap. 16 ('Ein reiches Haus', S. 163ff) und Kap. 17 ('Eine Beamtenfamilie', S.172ff).

15 Leixner, S. 178.

16 Leixner, S. 169.

17 CA XI 489.

18 CA XI 490

19 Vgl. Requardt/Machatzke, S. 48

20 Vgl. Peter Sprengel: Gerhart Hauptmann - Bürgerlichkeit und großer Traum. München 2012. Kap. II "Genie­Leben auf Kosten der Braut 1880 - 1885", S. 50ff, und Kap. III "Ein Familienvater entdeckt die Moderne 1885 - 1888", S. 113ff.

21 Vgl. Sprengel, S. 51, Anm. 3.

22 Ausführlicher zu den Berliner Durchschnittseinkommen: Jürgen Kuczynski: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Band 3. Berlin(DDR) 1962. S. 295ff (Löhne und Kaufkraft), S. 419ff (Löhne und Lebenshaltungskosten). Hier vgl. S.443ff: Anhang III - Lebenshaltungskosten.

23 Vgl. Requardt/Machatzke, S.30.

24 Vgl. Leixner, insb. Kapitel 13 ('Die Frau im gebildeten Mittelstand'), S. 130ff.

25 Vgl. 'Schlesische Volkszeitung' v. 26.5.1887, Ausgabe 233. Die Berechnungsmethode der Berufsgenossenschaften beruht unabhängig von den tatsächlichen Arbeitstagen auf den durchschnittlich gemeldeten Tageslöhnen der erwachsenen ausgebildeten Arbeiter multipliziert mit 300 Arbeitstagen oder bei mehr als 300 Arbeitstagen auf dem gemeldeten Jahreslohn.

26 Vgl. Leixner, insb. Kap. 18 ('Arbeiterhaushaltungen'), S. 181ff.

27 Wilhelm Bölsche: Natur und Kunst, 2 Bde, Dresden 1905. Hier Bd. 1: S.245ff: Friedrichshagen in der Literatur, insb. S. 248/249 eine wiedergegebene Aussage von Rudolf Lenz. (Das muss dann schon nach der 2. Versammlung des 'Internationalen Komitees gegen den Missbrauch alkoholischer Getränke' am 9./10.9.1887 in Berlin gewesen sein?)

28 Vgl. Requardt/Machatzke, S. 39.

29 Vgl. CA XI 490f.

30 Sprengel: Bürgerlichkeit, S.133/134: Brief Martha Hauptmanns an Frida und Olga Thienemann vom 17.5.1887.

31 Brief an Georg Brandes zusammen mit der Übersehendung eines Exemplars des 'Promethidenlos'' am 19.2.1885 an Georg Brandes. Hier zitiert nach: Gerhart Hauptmann. Briefwechsel mit 76 Künstlern und Autoren. Hrsg. H.D. Tschörtner. Dresden 2014, S.142.

32 Vgl. die beiden Briefe G.H.'s an Max Kretzer in: Heinz-Dieter Tschörtner: Ungeheures erhofft. Berlin(DDR) 1986 (S. 183ff). Neu abgedr. in: Tschörtner, Briefwechsel, S. 34ff. Die Briefe von Max Kretzer an G.H. in: GH Br NL A: Kretzer, Max.

33 Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend. CA VII 1021. (Auch: Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend. Buch der Leidenschaften. - Autobiographische Romane. Ullstein TB 2617, Berlin 2007. S. 577.)

34 CA VII 1919. (Abenteuer, S.575.)

35 Lt. Leixner war 'Wohltätigkeit' bei reichen Rentiers weit verbreitet. Vgl. Leixner, S. 163ff.

36 Vgl. Requardt/Machatzke, S. 29.

37 Vgl. Requardt/Machatzke, S. 56

38 CA VII 1015. (Abenteuer, S. 611.)

39 Vgl. Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann - Leben und Werk. Berlin(DDR) 1987, S. 78.

40 Vgl. Requardt/Machatzke, Aufstellung S. 30. Ergänzend zu der vorliegenden Auflistung ist hier u.a. hinzuzufügen, dass "1 Krug" (ca. 1,5 Ltr.) Appolinaris mit rd. 30 Pfennig (vgl. beliebige Reklameanzeigen) für einen qualifizierten Facharbeiter mit einem Wocheneinkommen von 25 Mark und weniger ein nahezu unerschwingliches Luxusgetränk war. Apfelsinen kosten je Stück zwischen 5 und 15 Pfg., für 1 Pfund Kaffee werden ca. 1,50 Mark aufwärts verlangt (d.i. vier und mehr Stundenlöhne),"Kinder-Hemden für jedes Alter" ("Auch das Billigste gut genäht") kosten ab 50 Pfg. das Stck., ein Meter Woll- oder Seidenstoffe einen Tageslohn und mehr. Das Geschäft 'Rudolph Hertzog' z.B. offeriert im Herbst 1887 in allen Berliner Tageszeitungen Haushaltswäsche; z.B. Kinder-Taschentücher ("rein Leinen, sorgfältig gesäumt") das Dutzend zu 2,50 bis 4 Mark. Und um diesen Punkt abzurunden, sei noch vermerkt, dass die 'Berliner Börsen-Zeitung' am 19.6.1887 (Nr. 280, Morgenausgabe) die um 50% ermäßigten "Extrapreise" für Feriensonderzüge auflistet; z.B. das Retourticket (45 Tage gültig) nach München II.Kl./Person 55,20 Mark, nach Basel II.Kl./Person 65,90 Mark.

41 Sprengel: Bürgerlichkeit, S. 141.

42 Requardt/Machatzke, S. 31.

43 Requardt/Machatzke, S. 29

44 Konrad Haenisch: Gerhart Hauptmann und das deutsche Volk. Berlin 1922. S. 44.

45 CA VII 1047. (Abenteuer, S. 603.)

46 Brief Gerhart Hauptmanns an Leo Berg. Abgedruckt in: Im Netzwerke der Moderne: Leo Berg. Briefwechsel 1884 - 1889. Kritiken und Essays zum Naturalismus. Hrsg. v. P. Sprengel, Bielefeld 2010. S. 89.

47 Haenisch, S. 51.

48 CA XI 535. Vgl. Hans von Brescius: Gerhart Hauptmann. Zeitgeschehen und Bewusstsein in unbekannten Selbstzeugnissen. Eine politisch-biografische Studie. Bonn 1976, S. 25f.

49 Vgl. CA VII 801ff (Abenteuer, S. 357ff).

50 Rüdiger Bernhardt: Gerhart Hauptmann. Eine Biografie. Fischerhude 2007. S. 173.

51 CA VII 1060. (Abenteuer, S. 616).

52 CA VII 1045. (Abenteuer, S. 601).

53 Haenisch, S. 57.

54 CA VII 1047, 900, 945 als Beispiele. (Abenteuer, S. 603, S. 456, S.501.)

55 Paul Lafarque: Das Proletariat der Hand- und Kopfarbeit. In: 'Neue Zeit', 1887, Heft 8, 9, 10 und 1888, Heft 3; außerdem mehrere Erwiderungen auf Lafarques Aufsätze.

56 CA XI 353.

57 Artikel auf der Titelseite.

58 Leixner, S. 211, hier zit. nach: Annemarie Lange: Berlin zur Zeit Bebels und Bismarcks. Berlin(DDR) 1972. S. 548.

59 Vgl. die Briefe Hauptmanns an Leo Berg vom 30.10. und vom 23.11.1886. In: Leo Berg, S. 89, S. 90, S. 94.

60 Vgl. Requardt/Machatzke, S. 121 die Wiedergabe des Faksimiles des Rechnungsentwurfes in Höhe von 490.- Mark.

61 CA VII 1047: "Dabei habe ich zum ersten Mal Geld verdient, das heißt Zeugendiäten eingesteckt." (Abenteuer, S. 603.)

62 Hartmut Baseler: Gerhart Hauptmanns soziales Drama "Vor Sonnenaufgang" im Spiegel der zeitgenössischen Kritik. Eine rezeptionsgeschichtliche Modellanalyse: Karl Frenzel, Theodor Fontane, Karl Bleibtreu, Wilhelm Bölsche, Diss. Univ. Kiel 1993. Hier S. 90ff.

63 Vgl. Requardt/Machatzke, S.154.

64 Baseler, S. 94

65 Paul Schlenther: Gerhart Hauptmann - Leben und Werke. Berlin 1912 (= 2., "neue, gänzlich überarbeitete Auflage"), S. 63

66 Requardt/Machatzke, S.43.

67 Günther Mahal: Naturalismus. München 1975 (= UTB 363). Dort vor allem das Kapitel 'II.2. Epoche - Generation'.

68 Vgl. Mahal, S. 28f.

69 Mahal, S. 28/29.

70 Vgl. die Aufsätze in den von J. und H. Hart herausgegebenen 'Kritischen Waffengänge' 1882/1883.

71 Schutte, Jürgen: Lyrik des deutschen Naturalismus (1885 - 1893). Stuttgart 1976. S. 18.

72 Vgl. Schutte, S. 91: "Zeittafel der naturalistischen Lyrik".

73 Carl Bleibtreu: Revolution der Literatur. Leipzig 1886. S. 58.

74 Eugen Wolff: "Zwölf Jahre im Litterarischen Kampf". Oldenburg u. Leipzig 1901. Dort das Kapitel "Die Jüngste deutsche Literaturströmung und das Prinzip der Moderne - Vortrag in der Freien literarischen Vereinigung 'Durch'", S. 77ff.

75 Das sind vor allem: D. v. Liliencron, M. G. Conrad, K. Alberti, K, Bleibtreu, Max Kretzer, J. Hart. H. Hart. Arno Holz, A. v. Hanstein, J. H. Mackay, K. Henckell, J. Schlaf, Wolfgang Kirchbach, Heinrich Bulthaupt.

76 Wolff, S. 107.

77 Haenisch, S. 51.

78 Vgl. Adalbert v. Hanstein: Das jüngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte miterlebter Literaturgeschichte. Leipzig 1905 (3. Aufl.), vor allem das Kapitel: 'Die Dramatiker ohne Bühne', S. 128ff.

79 Carter Kniffler: Die 'Sozialen' Dramen der achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts und der Sozialismus. Phil. Diss. Wiesbaden 1929, S. 58 ('IX. Schlusskapitel'). Eine chronologische Auflistung der untersuchten Stücke. S. 61.

80 Schutte, S. 7.

81 Richard Hamann, Jost Hermand: Naturalismus. München 1976 (3. Aufl.). S. 8f.

82 Hamann/Hermand, S. 26

83 Hamann/Hermand, S. 279.

84 Ursula Münchow: Deutscher Naturalismus. Berlin(DDR) 1968.

85 Münchow, S. 58. Dort auch die Bestimmung der frühen Lyrik als 'deklamatorisch' und 'programmatisch'.

86 Münchow, S. 64.

87 Münchow, S. 69.

88 Klaus Scherpe: Der Fall Arno Holz. In: Gert Mattenklott, Klaus Scherpe (Hrsg.): Positionen der literarischen Intelligenz zwischen bürgerlicher Reaktion und Imperialismus. Kronberg/Ts. 1973 (= Literatur im historischen Prozess, Bd. 2), S. 121ff. Hier S. 123.

89 Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 8: Von 1830 bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Hrsg. H.G. Thalheim, G. Albrecht, et.al.. Berlin(DDR) 1975, vor allem das Kapitel 'Die naturalistische Bewegung', S. 1000ff. Hier: S. 1017.

90 Bd. 8, S. 1043.

91 Vgl. Bd. 8, S. 1067f.

92 Dr. Edmund Wengraf: Literatur und Gesellschaft. in: 'Die neue Zeit', Heft 7/1889, S. 245.

93 Leixner, S. 245.

94 Vgl. Baseler, S. 68f.

95 Baseler, S. 69. Baseler referiert hier u.a. Albert Last: Die Schäden der literarischen Produktion Deutschlands. Vortrag im Verein für Literaturfreunde Wien. Wien 1879.

96 Auch wenn man mit historischen Parallelen vorsichtig umgehen soll: Die Situation erinnert nicht nur zufällig an die aktuelle Buchmarktsituation, die beherrscht ist von größtenteils mittelmäßiger bis grottenschlechter Kriminal-, Fantasy-, 'Frauen'- und Historienliteratur, die von schriftstellerischen Vielschreibern und aggressiven Agenturen als Werbung in allen Medien und in zentraler Blickrichtung in den Buchhandlungen platziert werden. Allerdings besteht das Kauf- wie Lesepublikum zu einem großen Teil aus Frauen, weniger aus der 'wohlhabenden Oberschicht', sondern mehr aus der Mittel- und der Unterschicht.

97 Wengraf, S. 246.

98 Otto Glogau: Die Schriftsteller, die Leihbibliotheken und das Publikum. In: 'Der Kulturkämpfer', Heft 4/1883, S, 36ff. Zitiert nach Baseler, S. 68.

99 Emil Perschau: Die Zeitungen und die Literaten. In: 'Die Gesellschaft', Heft 26/1885, S. 59f. Baseler S. 70.

100 Kurt Sollmann: Literarische Intelligenz vor 1900. Studien zu ihrer Ideologie und Geschichte. Köln 1982. S. 49/50.

101 Baseler, S. 70.

102 Wir verwenden den Begriff 'Jüngstdeutsche' wie in der Forschung mittlerweile üblich als positive Bezugnahme auf das 'Junge Deutschland' (Heine, Gutzkow, Büchner, etc.), nicht als Gegensatz zum eher auf die 'Theorie' verweisenden Begriff 'Naturalismus' (auch: 'neuer Realismus', 'naturwissenschaftlicher Realismus').

103 Behl, Voigt: ,Chronik‘ stellen das kurz dar: „Während der Buchbinderarbeiten [im Herbst 1887] verhinderte der Konkurs des Verlegers . die Auslieferung des bereits gedruckten Buches.“ (S. 28). Den Betrag, den Hauptmann zum Erscheinen des Buches eingesetzt hat, beziffern Requardt/Machatzke, S. 121 anhand der Wiedergabe des Faksimiles des Rechnungsentwurfes in Höhe von 490.- Mark.

104 Vgl. 'Kritische Waffengänge', hrsg. v. Heinrich Hart, Julius Hart. Hier Heft 2, Leipzig 1882, Kapitel: Offener Brief an den Fürsten Bismarck. S. 3ff.

105 'Berliner Monatshefte für Litteratur Kritik und Theater', hrsg v. Heinrich Hart, Minden 1885. Hier: Fürst Bismarck und sein Verhältnis zur deutschen Litteratur. S. 60ff.

106 Baseler verweist S. 70 in diesem Zusammenhang auf: Manfred Hellge: Der Verleger Wilhelm Friedrich und das Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes. Frankfurt/Main 1977.

107 'Die Gesellschaft. Realistische Wochenschrift für Litteratur, Kunst und öffentliches Leben'. Hsrg. v. M. G. Conrad, München 1885ff. Hier: Heft 1 'Zur Einleitung'.

108 Baseler, S. 70.

109 Sollmann, S. 55.

110 Vgl. Otto Neumann-Hofer: Die Berliner Theater-Revolution. In: 'Deutsches Montags-Blatt'. Nr. 23/1887 v. 6.6.1887 (= Beilage zum 'Berliner Tageblatt und Handelszeitung').

111 Die folgenden Angaben, soweit nicht explizit ausgewiesen, vgl. Baseler S. 81ff. Baseler bezieht sich vorwiegend auf die geschäftlichen Teile der Ausgaben 1890 und 1891 des 'Neuen Theateralmanach. Theatergeschichtliches Jahr- und Adressenbuch'. Hrsg v. der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger. Berlin 1890ff.

112 Wilhelm Thal: Berlins Theater und die Freien Bühnen. Hagen 1890. Zit. nach Baseler, S. 81.

113 Baseler, S. 81. Wieder sei der Vergleich gestattet: Es handelt sich um Eintrittspreise, für die ein qualifizierter Facharbeiter lt. der Aufstellung bei Requardt/Machatzke sechs und mehr Stunden arbeiten musste (vgl. Requardt/Machatzke, S. 30).

114 Vgl. dazu Requardt/Machatzke, S. 42. Der Brief von Otto Devrient ist komplett abgedruckt in: Gerhart Hauptmann. Briefwechsel mit 76 Künstlern und Autoren. Hrsg. v. H.D. Tschörtner, Dresden 2014, S.150f.

115 Weil es der einzig nachweisbare veröffentlichte 'Aufnahmestopp' zu sein scheint, wird die Meldung der 'Berliner Börsen-Zeitung' v. 20.11.1887, Morgenausgabe, hier komplett wiedergegeben.

116 Vgl. Baseler S. 81/82. - Da Kino und Fernsehen noch nicht 'entdeckt' waren, ging man abends zur 'Zerstreuung' und zur 'Unterhaltung' ins Theater. Daher ist die Parallelität zur gegenwärtigen Kino- und Fernsehproduktion mehr als nur greifbar; wo Zuschauerquoten und damit Reklameeinkünfte regieren, da ist mehr als Seichtigkeit nicht zu erwarten.

117 Vgl. Baseler, S. 83. Baseler führt weiter aus, dass häufig Schminke, Stoffe etc. und die Dienste der Maskenbildner und Kostümschneider von den Schauspielern bezahlt werden mussten, was selbst bei nominal mittleren Einkommen eher zu Verelendungstendenzen führte. Vgl. hierzu auch die Meldung in der 'Berliner Börsen-Zeitung' v. 12.7.1887 unter der Rubrik 'Kunst und Wissenschaft' über die hohe Anzahl der Absolventen der Kunsthochschulen: "Wir halten es für eine Pflicht der Kritik, vor dem drohenden Anwachsen eines dramatischen Proletariats zu warnen."

118 Vgl. Brief von Carl J. Rosenfelder an Gerhart Hauptmann, in: Gerhart Hauptmann - Notiz-Kalender 1889 - 1891. Hrsg. Martin Machatzke, Berlin 1982, S. 192.

119 Baseler, S. 83.

120 Gernot Schley: Die Theaterleistung der Freien Bühne. Diss. Phil. Fakultät Freie Universität Berlin 1966, S. 28

121 Schley, S. 35. - Auf den Zensur-Aspekt hat auch Mahal, S. 37 (Kapitel: II.3. Zentren, Organe, Entfaltung) hingewiesen, ohne allerdings auf die wirtschaftlichen Bedingungen einzugehen.

122 Die Aufführung der 'Gespenster' in der Freien Bühne erfolgte eineinhalb Jahre nach der (auch von Hauptmann besuchten) Uraufführung am 7.1.1887 im Berliner Residenz-Theater.

123 Eine umfassende Dokumentation der Rezensionen fehlt bisher leider; sie ist eigentlich sinnvoll, da eine größere Anzahl der Zeitungs- und Zeitschriften-Rezensionen nur schwer erreichbar ist. Hinweise dazu vor allem im Literaturanhang von Baseler S. 336ff und in dem 'Findbuch' Viktor Ludwig: Gerhart Hauptmann - Werke von ihm und über ihn (1881 - 1931). Neustadt (Schlesien) 1932 (Privatdruck, 2.Aufl. - 1. Aufl. von Max Pinkus und Viktor Ludwig, wahrsch. 1922).

124 Rezension im 'Berliner Volksblatt' vom 22.10.1889. Vgl. auch Baseler, S. 85, der ausführlich über die Aufführungsbesprechungen der Feuilletons der Berliner Tageszeitungen referiert.

125 Edgar Steiger: 'Das Werden des neuen Dramas. Teil I: Henrik Ibsen und die dramatische Gesellschaftskritik. Teil II: Von Hauptmann bis Maeterlinck.', Berlin 1903, Teil II, S.5.

126 'Der Reichsbote' zieht am 27.11.1887 (im 4.Teil einer umfangreichen Rezension der Theateraufführung) aus dem Prozess den Schluss, "dass die, die das Wort Freiheit am meisten im Munde führen, es am wenigsten achten".

127 Was den kommerziellen Erfolg der Freien Bühne betrifft, so war die bereits am 19.11.1889 folgende nächste Uraufführung mit "Henriette Marechal" (1865) von Edmont und Jules de Goncourt ein grandioser Flop. Vgl. 'Berliner Volksblatt' v. 19.11.1889.

128 Schley, S.25.

129 CA VII 1082 (Abenteuer, S. 638). Vgl. dazu auch: Bernhardt, insb. S.8.

130 CA XI 533.

131 Vgl. Tagebuch 1889-1891, S. 383ff. Der Herausgeber Machatzke hat diese Liste, die dem Tagebuch 1889 lose beiliegt, mit ausführlichen biografischen Details versehen.

132 CA XI 487.

133 CA XI 540.

134 Vgl. dazu v. Hanstein, S. 128ff das Kap. 'Die Dramatiker ohne Bühne'.

135 Vgl. dazu v. Hanstein, S. 211ff das Kap. 'Der Wettkampf um das soziale Drama in Berlin'. An diesem Wettkampf beteiligten sich nicht nur die ,Jüngstdeutschen‘, bzw. ,Modernen' und die Dramenneulinge, sondern ebenso alteingesessene und bekannte Dramatiker wie Fulda und Wildenbruch und andere. ,Sozial war ,in‘.

136 v. Hanstein, S. 211.

137 Vgl. Wolff, S. 173ff.

138 Vgl. Wolff, S. 178f.

139 Hamann/Hermand, S. 281.

140 Vgl. Brescius, S. 29ff. Brescius zitiert noch aus GH Hs 1. Mittlerweile liegt eine Veröffentlichung des vollständigen Textes vor in: 'Gerhart Hauptmann. Italienische Reise 1897. Tagebuchaufzeichnungen', hrsg. von Martin Machatzke, Berlin 1976, und: 'Gerhart Hauptmann. Tagebücher 1897 - 1905', hrsg. von Martin Machatzke, Berlin 1987. Aus diesem beiden Ausgaben wird hier zitiert.

141 Maximilian Harden: Die Weber. In: 'Die Zukunft', Heft vom 11.3.1893, S. 380ff. - Zur Reaktion siehe weiter unten.

142 Vgl. Tagebuch 1892 - 1894, S. 208f.

143 Peter Sprengel: Die Wirklichkeit der Mythen - Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschriftlichen Nachlasses. Berlin 1982, S. 69.

144 Italienische Reise, S. 84/85, S. 85/86, S. 93/94, S. 103/104.

145 Staatsbibliothek Berlin, Handschriftenabteilung, Autogr. I/1160-1, Blatt 1-13

146 Martin Machatzke: Gerhart Hauptmann in Schreiberhau. In: Gerhart Hauptmann - Tagebuch 1892 - 1894. Hrsg. v. M. Machatzke, Berlin, Frankfurt/Main, Wien 1985, S. 234f.

147 Mehring am 6.2.1900 anlässlich der Uraufführung von 'Schluck und Jau' in: Die Neue Zeit'. Zit. nach Franz Mehring: Gesammelte Schriften, Bd. 11: Aufsätze zur deutschen Literatur von Hebbel bis Schweichel. Berlin(DDR) 1961, S. 324.

148 CA XI 538/539.

149 Haenisch, S. 29. Haenisch betont explizit: „wie er mir mitteilt“.

150 CA VII 896f (Abenteuer, S. 452f).

151 CA VII 914 (Abenteuer, S. 470).

152 Gerhart Hauptmann Manuskriptnachlass, Handschriften-abteilung der Staatsbibliothek Berlin, Handschrift 384, Manuskriptseiten 684f.

153 Heinz Lux: Der Breslauer Sozialistenprozess. In: Mit Gerhart Hauptmann - Erinnerungen und Bekenntnisse aus seinem Freundeskreis. Hrsg. Walter Heynen, Berlin 1922. S. 69ff. Hier S. 79.

154 CA VII 892 (Abenteuer, S. 448). Die im 'Anhang', S.314, der „Notizkalender 1889-1891" beigefügten zwei Blätter mit Notizen Hauptmanns aus einer Lektüre von Karl Marx' 'Kapital Band 1' belegen das zusätzlich: Der Text war für Hauptmann zu komplex um über mehr als ein paar Seiten hinauszukommen.

155 CA VII 1043 (Abenteuer, S. 599).

156 CA VII 1033 (Abenteuer, S. 589).

157 CA VII 1029 (Abenteuer, S. 585).

158 Vgl. Ignaz Auer: Nach zehn Jahren - Material und Glossen zur Geschichte des Sozialistengesetzes. Nürnberg 1913, S. 135ff. Vgl. auch: Wilhelm Matull: Ostdeutsche Arbeiterbewegung - Abriß ihrer Geschichte, Leistung und Opfer. (= Ostdeutsche Beiträge aus dem Göttinger Arbeitskreis, Band III) Würzburg 1973

159 Vgl. Paul Kampffmeyer: Unter dem Sozialistengesetz. Berlin 1928, S.221: "... wurden bis Ende Januar 1889 55 Geheimbundprozesse eingeleitet, von denen 33 mit Verurteilungen von 236 Personen endeten ...".

160 Späterer Titel: 'Die Frau und der Sozialismus'.

161 Theodor Müller: Die Geschichte der Breslauer Sozialdemokratie. Teil I und II. Breslau 1925. Bd. II, S. 212ff. Vgl. auch: Matull: Ostdeutsche Arbeiterbewegung, S. 43.

162 Müller, Bd. II, S. 212ff.

163 Von Müller als Beilage zur Anlageschrift wiedergegeben, Bd.II, S.217.

164 Haenisch, S. 33.

165 Vgl. Requardt/Machatzke, S. 31f. Dort auch die vielfach zitierte Textstelle aus CA VII 1029 (Abenteuer, S. 585).

166 Sprengel: Bürgerlichkeit, S. 137.

167 Notizkalender 1889 - 1891, S. 6.

168 Vgl. CA VII 1037/1038 (Abenteuer, S. 953/954).

169 Brief vom 14.8.1887. Zitiert nach Sprengel: Bürgerlichkeit, S. 139.

170 Sprengel: Bürgerlichkeit, S. 147. Lt. Sprengel ist der undatierte Brief wahrscheinlich Ende 1888/Anfang 1889 geschrieben worden.

Ende der Leseprobe aus 198 Seiten

Details

Titel
Ein flüchtiger Zwischenfall. Gerhart Hauptmann und der Breslauer Sozialistenprozess 1887
Autor
Jahr
2022
Seiten
198
Katalognummer
V1169440
ISBN (eBook)
9783346590527
ISBN (Buch)
9783346590534
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gerhart Hauptmann, Sozialistenprozess, Breslau, Vor Sonnenaufgang
Arbeit zitieren
Hans Michel (Autor:in), 2022, Ein flüchtiger Zwischenfall. Gerhart Hauptmann und der Breslauer Sozialistenprozess 1887, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1169440

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