Cancel Culture ist eines der am kontroversesten diskutierten Themen unserer Zeit. Ihren Ursprung hat sie in den USA, wo sie anfangs vorrangig in queeren, schwarzen Communities auf Twitter, die auch als „Black Twitter“ bezeichnet werden, polarisierte (Clark 2020: 89). Doch spätestens seit der #MeToo Bewegung, ist die "Kultur des Boykottierens" auch in Deutschland bekannt. Seitdem folgten unzählige Vorfälle, bei denen sich eine Person des öffentlichen Lebens zum Beispiel rassistisch, sexistisch oder transfeindlich geäußert oder diskriminierend gehandelt hat, woraufhin viele Menschen online dazu aufriefen diese Person zu canceln. Cancel Culture kann emanzipatorisch sein, doch der negative Einfluss, den sie auf den gesellschaftlichen Diskurs ausübt, ist immens.
Cancel Culture – Emanzipatorisches Instrument für marginalisierte Gruppen?
Cancel Culture ist eines der am kontroversesten diskutierten Themen unserer Zeit. Ihren Ursprung hat sie in den USA, wo sie anfangs vorrangig in queeren, schwarzen Communities auf Twitter, die auch als „Black Twitter“ bezeichnet werden, polarisierte (Clark 2020: 89). Doch spätestens seit der #MeToo Bewegung, ist die ‚Kultur des Boykottierens‘ auch in Deutschland bekannt. Seitdem folgten unzählige Vorfälle, bei denen sich eine Person des öffentlichen Lebens zum Beispiel rassistisch, sexistisch oder transfeindlich geäußert oder diskriminierend gehandelt hat, woraufhin viele Menschen online dazu aufriefen diese Person zu canceln.
Cancel Culture kann emanzipatorisch sein, doch der negative Einfluss, den sie auf den gesellschaftlichen Diskurs ausübt, ist immens.
Um die Argumentation intersubjektiv nachvollziehbar zu gestalten, bedarf es einiger begrifflicher Definitionen, die ihr vorausgehen. Anschließend beschreibt das Essay, die grundlegenden Möglichkeiten beziehungsweise Grenzen der Cancel Culture für marginalisierte Gruppen und diskutiert ihre Sinnhaftigkeit.
Cancel Culture ist ein neues Phänomen, was eine eindeutige Definition erschwert.1 Eve Ng definiert Cancel Culture als withdrawal of any kind of support (viewership, social media follows, purchases of products endorsed by the person, etc.) for those who are assessed to have said or done something unacceptable or highly problematic, generally from a social justice perspective especially alert to sexism, heterosexism, homophobia, racism, bullying, and related issues. (Ng 2020: 623)
Als emanzipatorisches Instrument bezeichnet man Mittel oder Maßnahmen, die auf Emanzipation, also auf die „Befreiung aus Abhängigkeit und Unmündigkeit sowie der Verwirklichung der Selbstbestimmung“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2020) gerichtet sind. Oft wird dieser Begriff im Zusammenhang mit marginalisierten Gruppen verwendet. Marginalisierung meint sowohl einen Prozess als auch einen Zustand, bei dem einzelne Individuen oder Gruppen, zum Beispiel aufgrund ihres Alters oder ihrer Herkunft, an den ‚Rand der Gesellschaft‘ gedrängt werden. Marginalisierte Menschen leben – abgegrenzt von der dominierenden Mehrheit – eine ‚Randexistenz‘, die durch wenig gesellschaftliche Teilhabe, Machtlosigkeit, Stigmatisierung und Diskriminierung geprägt ist (McIntosh 2006: 46-47). In der Cancel Culture stellen marginalisierte Gruppen meistens das auslösende Moment dar.
Cancel Culture gibt weniger privilegierten, marginalisierten Menschen eine Stimme. Die analogen Vorgänger des Cancelns sind „limited both in scope and effectiveness by factors of structural power, time, and access to resources“ (Clark 2020: 89). Deshalb ist „die Macht zu sprechen, zu schreiben, gehört, gesehen und publiziert zu werden, ungleich verteilt“ (Thiele 2021: 74), sodass marginalisierte Menschen nicht zu Wort kommen. Doch in den sozialen Medien und der Cancel Culture finden sie eigene Kommunikationsräume und schaffen ihre eigene Öffentlichkeit (Thiele 2021: 75). Dies ermöglicht es ihnen sich gegen Menschen mit viel Einfluss und Personen in Machtpositionen auszusprechen. Doch die Voraussetzung dafür, soziale Medien nutzen zu können, ist der Zugang zum Internet. Wie die Forschung zur digital divide zeigt, ist der physische Zugang zum Internet ebenfalls abhängig von mehreren Faktoren, wie zum Beispiel dem Geschlecht oder dem Alter (vgl. Dijk 2012). „Schaut man sich […] den Anteil der Bevölkerung mit Zugang zum Internet an, so liegt Afrika mit rund 40 Prozent abgeschlagen hinter allen anderen Weltregionen“ (Kamp 2020: 19; vgl. International Telecommunication Union 2020). Durch die mangelnde Infrastruktur sind die Menschen vor Ort nicht in der Lage die sozialen Netzwerke zu nutzen und sind somit vom Rest der Welt abgegrenzt (Kamp 2020: 19). Diese Unterschiede bestehen nicht nur zwischen weniger entwickelten und entwickelten Ländern, sondern finden sich auch zwischen Männern und Frauen (vgl. International Telecommunication Union 2020). Demnach ist die Teilnahme an den sozialen Medien nicht für alle Menschen selbstverständlich und nicht alle Menschen können sich in sozialen Medien Gehör verschaffen.
Einen Menschen zu canceln ist ein Ausdruck der eigenen Handlungsfähigkeit (Clark 2020: 88). Die Entscheidung eine Person nach einer problematischen Aussage oder Handlung nicht länger durch die eigene Aufmerksamkeit zu unterstützen und eventuell auch andere darauf aufmerksam zu machen oder sie dazu aufzurufen es einem gleich zu tun, ist eine starke Positionierung gegen die bestehenden Machtverhältnisse.
By unfollowing and ignoring someone whose opinions and morals do not align with your own, cancelling them and disassociating from their life may seem to be the simplest way to cut them off from any further contact or indignation they represent. Having the agency to banish a supposedly undeserving celebrity from their life in the spotlight or to cut someone out of your life is not only liberating but it is powerful in that it proves one’s unwillingness to associate with such behaviour. (Williams 2021: 48)
Im Fall von #MeToo brachen dutzende Frauen ihr Schweigen und berichteten von den sexuellen Übergriffen durch Harvey Weinstein. Dies initiierte einen umfangreichen öffentlichen Diskurs, der auf die Missstände von Frauen in der Filmindustrie aufmerksam machte und den Opfern sexueller Übergriffe eine hörbare Stimme verlieh (Williams 2021: 51). Nach den öffentlichen Vorwürfen gegen Harvey Weinstein wurde er als Vorstand seines Unternehmens entlassen und von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die für die Oscar-Verleihung zuständig ist, ausgeschlossen. Im vergangenen Jahr wurde er schließlich zu 23 Jahren Haft verurteilt (BBC News 2021).
Doch Cancel Culture ist in den wenigsten Fällen so erfolgreich und zweckerfüllend wie bei #MeToo. Die Ziele des Cancelns sind unterschiedlich „ranging from limiting access to public platforms, damaging reputations, and ending careers to instigating legal prosecutions“ (Norris 2020: 2). Wie das Beispiel von Kevin Hart, der wegen homofeindlichen Tweets und Stand-up-Material von 2009 bis 2011 im Jahr 2018 gecancelt wurde, zeigt, ist Cancel Culture begrenzt. Hart trat zwar als Moderator für die Oscars 2019 zurück, doch dies tat seiner Karriere keinen Abbruch. Im November 2020 erschien sein neues Comedy Special „Zero F**ks Given“ auf Netflix und es folgten zahlreiche Filme und Serien, wie zum Beispiel „Fatherhood“ und „Die Hart“ (Rottmann 2018). Der Versuch ihn zu canceln, blieb erfolglos – nicht nur insofern, als dass er weiterhin seine Karriere verfolgt, sondern auch insofern als dass er nicht aus dem Canceln gelernt hat (vgl. Netflix 2020).
„The cancelling strategy typically uses social media to shame individuals “ (Norris 2020: 2; Hervorhebung J.L.). Wie die bereits erwähnten Beispiele zeigen, geht es in der Cancel Culture meistens um einzelne Personen beziehungsweise um deren Äußerungen und Handlungen. Diese zu canceln, verändert nichts am gesellschaftlichen Machtgefälle und der Benachteiligung marginalisierter Gruppen. Karsten Schubert ermittelt den Erfolg der Cancel Culture dementgegen nicht am Bestehen gesellschaftlicher Hegemonien, sondern an der Verschiebung der Machtverhältnisse (2020). Dadurch, dass marginalisierte Menschen in den sozialen Netzwerken Zugang zum gesamtgesellschaftlichen Diskurs finden, werden bislang geltende, ungerechte, gesellschaftliche Normen kritisiert und emanzipative Normen werden introduziert (ebd.). Die Cancel Culture ist also eine „method of communicating evolving social norms“ (Bakher 2021: 5). Durch die Diversifizierung der Meinungen und Normen kommt es zu einer Demokratisierung des Diskurses (Schubert 2020).
Cancel Culture hat das Potenzial ein emanzipatorisches Instrument für marginalisierte Gruppen zu sein. Soziale Medien befähigen marginalisierte Menschen dazu, sich unabhängig von einflussreichen medialen Funktionär*innen zu äußern (Thiele 2021: 74-75). In ihnen finden sie Zugang zur öffentlichen Debatte, in der sie mithilfe der Cancel Culture neue Normen kommunizieren können (Bakher 2021: 5). Außerdem ermächtigt das Canceln sie dazu, Missetäter*innen in der Verantwortung zu halten und sie für ihre Vergehen zur Rechenschaft zu ziehen (Williams 2021:48). Diese Handlungsfähigkeit (Clark 2020: 88) ist ein weiterer Beitrag der Cancel Culture als Mittel zur Emanzipation.
Doch neben den Möglichkeiten, die Cancel Culture marginalisierten Menschen bietet, sollte man hinterfragen, welche gesellschaftlichen Konsequenzen die ‚Kultur des Verbannens‘ nach sich zieht. Jemanden zu canceln, geht meist über die bloße Entziehung der Aufmerksamkeit hinaus – es bedeutet einen Menschen aufgrund einer Aussage oder vielleicht nur aufgrund eines benutzten Wortes aus der Gesellschaft auszuschließen.
Diese Konsequenz resultiert aus verschiedenen toxischen Charakteristika. Maßgeblich ist die Unfähigkeit zu akzeptieren, dass andere Meinungen und moralische Ansichten existieren und die Neigung dazu, diese als irrational oder uninformiert zu denunzieren (Mölder/Simm 2020: 274). Doch das ist nicht das auslösende Moment für die Cancel Culture. Veranlasst wird sie durch die Annahme, dass eine Meinung – meistens die eigene – besser oder moralischer ist als eine andere (Williams 2021: 49). Dabei blendet man jedoch aus, dass es keine absolute moralische Wahrheit gibt und damit auch keinen „absolute standard to assess opposing values, moral convictions and conceptions of justice. Therefore, none of them can claim precedence and all reasonable ones have a claim to be respected and tolerated“ (Knoll 2020: 333). Die Tendenz zur Degradierung von Meinungen, die von der eigenen abweichen, entspringt aus dem Verlangen mehr respektiert zu werden als andere. Das Canceln und die damit verbundene Bloßstellung der als falsch aufgefassten Äußerungen eines Menschen, die mit dessen Herabwürdigung einhergeht, stellen eine bequeme Möglichkeit dar, sich selbst aufzuwerten, ohne etwas am eigenen Verhalten ändern zu müssen (Williams 2021: 50). Bestärkt werden die cancelnden Personen dadurch, dass sie sich im Internet ausschließlich in ihrer eigenen Filterblase bewegen, in der sie nicht mit anderen, sondern nur noch mit der eigenen Meinung konfrontiert werden (vgl. Zuiderveen Borgesius et al. 2016). Daraus entsteht ein Widerwille gegen die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen und die damit verbundenen Anstrengungen. Dieser ist der Grund dafür, dass beim Canceln ganze Debatten ausgelöscht beziehungsweise verhindert werden und dafür, dass einzelne Individuen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden (sollen). Obwohl sich die Cancel Culture gegen die Marginalisierung bislang diskriminierter Menschen richtet und somit als emanzipatorisches, also als Emanzipation anstrebendes Instrument fungiert, drängt das Canceln gleichzeitig andere Menschen an den ‚Rand der Gesellschaft‘. Emanzipativ ist Cancel Culture demnach nicht, da sie keine Emanzipation für marginalisierte Menschen erreicht und dazu tendiert wiederum andere Menschen zu marginalisieren.
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1 Der Begriff ‚Cancel Culture‘ und die Existenz einer solchen werden generaliter stark debattiert. Gegner*innen der Cancel Culture sehen in ihr eine Bedrohung für liberale Werte und die Einschränkung der akademischen Freiheit (Norris 2020: 12; vgl. Netzwerk Wissenschaftsfreiheit 2021). Karsten Schubert setzt dem entgegen, dass die Cancel Culture im Ausmaß der Einschränkung der Meinungsfreiheit gar nicht existiere und dass der Begriff nicht deskriptiv, sondern evaluativ benutzt werde. Andrea Geier argumentiert, dass Cancel Culture ein Kampfbegriff sei, der „impliziert, dass den Betroffenen tatsächliche Folgen drohen. So wird Kritik, die häufig aus ethischer Perspektive vorgetragen wird, diffamiert und als Angriff geframed“ (Fabienne Wehrle 2021).
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- Anonymous,, 2021, Cancel Culture. Emanzipatorisches Instrument für marginalisierte Gruppen?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1169274
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