Nationalismus, Imperialismus und zerplatzte Träume. Deutsch-georgische Beziehungen von 1911 bis 1921


Master's Thesis, 2021

69 Pages, Grade: 1,7


Excerpt


Inhalt

1. Einleitung
1.1. Der Untersuchungszeitraum und die Fragestellung der Arbeit
1.2. Methodik und Quellenüberblick
1.3. Forschungsstand
1.4. Hinweise zu Transkription und Gendering

2. Die Phänomene des Nationalismus und Imperialismus

3. Nationalismus und Imperialismus in Georgien und Deutschland um die Jahrhundertwende
3.1. Georgischer Nationalismus
3.1.1. Annexion Georgiens und ihre Folgen
3.1.2. Georgische Nationalbewegung und Alphabetisierungsgesellschaft
3.2 Deutscher (Radikal-)Nationalismus und (Neu-)Imperialismus
3.2.1. Förderer des deutschen Imperialismus
3.2.2. „Ethischer Imperialismus“

4. Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit zwischen Georgien und Deutschland
4.1. Georgische Interessen
4.1.1. Ziele der Menschewiki
4.1.2. Ziele der Exilgeorgier
4.1.3. Unabhängigkeitsfrage ab 1917
4.2. Deutsche Interessen
4.2.1. Die „Entdeckung“ Kaukasiens und Georgiens
4.2.2. Das deutsche Kapital in Georgien
4.2.3. Insurgierungs- und Revolutionierungspolitik

5. Zusammenarbeit zwischen Georgien und Deutschland
5.1. Revolutionierungspolitik und indirekte Propaganda
5.1.1. Die Liga der Fremdvölker Rußlands
5.1.2. Nachrichtenstelle für den Orient
5.1.3. Kriegsgefangenenpolitik
5.1.4. Die Georgische Legion
5.2. Revolutionierungspolitik und direkte Propaganda
5.2.1. Transkaukasische Demokratisch-Föderative Republik
5.2.2. Die deutschen Truppen in Tbilisi
5.3. Die Frage der Anerkennung der Staatsunabhängigkeit Georgiens
5.4. Politische und wirtschaftliche Verträge
5.5. Erweiterung der Brest-Litowsker Verträge

6. Zerplatzte Träume

7. Ein Fall des Imperialismus?

8. Fazit

Quellen

Wissenschaftliche Literatur

„Deutsche und Georgier sind seit Langem eng miteinander verbunden. [...]. Auch wenn manches heute noch weit in der Ferne erscheinen mag: Wir wissen, was uns verbindet. Wir wissen, dass wir zusammengehören.“1 Frank-Walter Steinmeier. Georgien, 7. Oktober 2019.

1. Einleitung

Nach 100 Jahren gedachte Georgien im Februar 2021 dem blutigen Einmarsch der Roten Armee in Tbilisi und der anschließenden Sowjetisierung Georgiens durch Russland im Jahr 1921. Dieses Ereignis stellte eine Zäsur für Georgiens Entwicklung dar, weil dadurch die Unabhängigkeit des jungen Staates beendet wurde, die erst nach 70 Jahren wieder erkämpft werden sollte. So feierte Georgien am 26. Mai ebenfalls im Jahr 2021 das dreißigjährige Jubiläum der Wiederherstellung der Souveränität Georgiens.

Geht es um das Thema Unabhängigkeit, so erinnern sich Georgier gerne an die freundschaftlichen Beziehungen mit Deutschland und an die deutschen Unterstützungsmaßnahmen bei der Loslösung Georgiens von Russland.

Noch heute ist Deutschland einer der größten Bildungs- und Kulturförderer des Südkaukasus und stellt einen wichtigen Handels- und entwicklungspolitischen Partner für Georgien dar.2 Diese „Zusammengehörigkeit“ sowie die „lange und enge Verbundenheit“, insbesondere nach dem Wiedererlangen der Autonomie im Jahr 1991, hob auch der Bundespräsident Walter Steinmeier bei seinem offiziellen Staatsbesuch in Georgien von 6. - 8. Oktober hervor.3

Wirft man einen Blick auf die Geschichte wird deutlich, dass die deutsch-georgischen Beziehungen erst durch das Fortschreiten der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und mit dem Aufkommen des Nationalismus und Imperialismus richtig Fahrt aufnahmen. Die Zeit des Zusammenwirkens zwischen Georgien und Deutschland wies jedoch die höchste Intensivität während des Ersten Weltkriegs auf.

Während in der Sowjetzeit die Welt mit Moskau verhandelte, wurden die Beziehungen der beiden Länder nach der Wiederherstellung der Staatsunabhängigkeit Georgiens in den 90ern des vergangenen Jahrhunderts wieder aufgenommen. Daraus lässt sich schließen, dass der Einmarsch der Roten Armee in Georgien am 21. Februar 1921 auch für deutsch-georgische Beziehungen eine Zäsur darstellen sollte.

Dem Aufkommen der markantesten Phänomene des 19. Jahrhunderts, dem Nationalismus und Imperialismus, folgten auch die weltweiten nationalen Staatsunabhängigkeits- und Sezessionsbewegungen, sodass sich die unter Imperialismus und Kolonialismus lebenden Völker vermehrt von der Fremdbestimmung zu befreien versuchten.4 Die Historiker, die sich mit der deutschen Außenpolitik allgemein und mit der Georgienpolitik im Besonderen auseinandergesetzt haben, diskutieren ebenfalls diese Phänomene in den deutsch-georgischen Beziehungen und hinterfragen die Motivgründe dieses Agierens. Dabei wird zum einen die Unterstützungspolitik Deutschlands hervorgehoben, in der das Deutsche Kaiserreich dem kleinen Volk bei seiner Sezessionsbestrebung half. Und zum anderen wird auf die klaren imperialistischen Ziele und auf eine offensive Außenpolitik Deutschlands hingewiesen. Der georgische Nationalismus wird dabei nur am Rande erwähnt.

Ausgehend vom dargelegten Kontext untersucht die vorliegende Arbeit deutsch-georgische Beziehungen vor dem blutigen Einmarsch der Roten Armee in Georgien und widmet sich dem 100-jährigen Gedenken der Okkupation durch Russland sowie dem dreißigjährigen Jubiläum zur Unabhängigkeit Georgiens.

1.1. Der Untersuchungszeitraum und die Fragestellung der Arbeit

Obwohl die Beziehungen zwischen Deutschland und Georgien insbesondere während des Ersten Weltkriegs intensiviert wurden, formierten sich die ersten Wünsche und Vorstellungen über eine Zusammenarbeit bereits vor dem Kriegsbeginn. Dabei spielten das deutsche Kapital und die deutschen Kriegsziele sowie der verstärkte georgische Nationalismus die wesentlichen Rollen.

Spätestens ab 1911 war in Deutschland nach Fischer5 ein völkischer Neuimperialismus feststellbar. Dieser erreichte auch den Kaukasus. Die ersten deutsche Revolutionierungsversuche im Kaukasusgebiet und in Georgien begannen nach Thörner mit dem Einsetzten des Grafen von Schulenburg als kaiserlichen Konsul in Tbilisi, ebenfalls im Jahr 1911.6

Zur gleichen Zeit begannen die Exilgeorgier, die nach dem sog. Blutsonntag von 1905 und nach den russischen Repressionen Zuflucht in Europa suchten, sich entschieden für die nationale Unabhängigkeit Georgiens einzusetzen. Dieses Ziel wurde, wie erwähnt, am 26. Mai 1918 durch die Proklamierung der Unabhängigkeit Georgiens unter deutschem Protektorat umgesetzt und fand mit der russischen Okkupation und Sowjetisierung sein Ende im Februar 1921.

Somit wird das Untersuchungsfeld der Arbeit auf die Jahre 1911-1921 gelegt.

In der Arbeit wird die Zusammenarbeit zwischen Georgien unter russischer Herrschaft und dem zur Weltmacht aufstrebenden deutschen Nationalstaat erforscht und die Rolle des Nationalismus und Imperialismus in diesem Zusammenwirken untersucht. Dazu werden die folgenden Leitfragen aufgestellt:

- Was waren die Ursachen und Folgen des georgischen und deutschen Nationalismus?
- Was waren die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit zwischen Georgien und Deutschland?
- Wie gestaltete sich das Zusammenwirken der beiden Länder?
- Welche Rolle übernahmen Nationalismus und Imperialismus in diesem Zusammenwirken?

Aufgrund dessen, dass Georgien nicht das einzige Ziel der deutschen Außenpolitik war und die Untersuchungen der deutschen Georgienpolitik nicht unabhängig, sondern - je nach Historiker - als Orient-, Ost- oder Kaukasuspolitik vorgenommen wird, scheint es ambitiös, die Frage nach direktem Georgien-Imperialismus zu stellen. Dennoch versucht diese Arbeit, bei der Ausarbeitung deutsch-georgischer Beziehungen diesen Aspekt nicht außer Acht zu lassen und stellt zudem die folgende Frage:

- War die deutsche Georgienpolitik ein Ausdruck des Imperialismus oder der Unterstützungspolitik bei der Sezessionsbewegung georgischer Nationalisten?

Wie sich zeigt, ist diese Frage nur in Zusammenhang mit dem georgischen Nationalismus und unter Berücksichtigung der Merkmale des Neuimperialismus zu beantworten.

1.2. Methodik und Quellenüberblick

Um fokussiert auf die festgelegten Schwerpunkte zu bleiben wird in der vorliegenden Arbeit auf die deutsche Ost-, Orient- oder Kaukasuspolitik nur in dem Maße eingegangen, wie sie zum Verständnis der Handlungen deutscher und georgischer Akteure von Belang ist.

Da die Ereignisse und demnach die Kapitel der Arbeit ineinandergreifen, wird auf eine chronologische Untersuchung verzichtet. Dagegen wird eine systematische Analyse vorgezogen und es werden die politisch-militärischen und wirtschaftlichen Aspekte der Zusammenarbeit zwischen Georgien und Deutschland analysiert. Diese Analyse soll dazu beitragen, die Schnittstellen zwischen den deutschen und georgischen Nationalinteressen herauszufinden und die wirtschaftlich-politischen Motivgründe der beiden Länder in diesem Zusammenwirken auszuarbeiten.

Die systematische Analyse der Arbeit soll zeigen, wie eng die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Bereiche in beiden Ländern miteinander verzahnt waren und dass diese Aspekte bei der Untersuchung immer zusammen betrachtet werden müssen.

Für das Hinterfragen der Rolle des Nationalismus und Imperialismus in der Zusammenarbeit der beiden so ungleichen Staaten Georgien und Deutschland werden zunächst im 2. Kapitel kurz die Ursachen und Folgen der Entstehung sowie die Formen dieser Phänomene skizziert, um im 3. Kapitel anhand dieser Darlegung die Grundlagen, Folgen und Arten des einsetzenden Nationalismus in Georgien sowie des radikalen Nationalismus bis zum Neuimperialismus in Deutschland aufzeigen zu können.

Das 4. Kapitel widmet sich den Voraussetzungen des deutsch-georgischen Zusammenwirkens. Hier werden die Ziele georgischer Nationalisten aufgezeigt und erläutert, mit welchen Erwartungen sie sich der deutschen Politik zuwandten. Umgekehrt sollen die deutschen Kriegs- und Wirtschaftsziele im Kaukasus und in Georgien beleuchtet werden. Anhand des Dargelegten soll im Anschluss die gemeinsame Basis der Zusammenarbeit verdeutlicht werden.

Das Zusammenwirken zwischen Georgien und Deutschland wird im 5. Kapitel dargestellt. Es wird erläutert, durch welche Unternehmungen die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern umgesetzt wird. Hierbei wird die Aufmerksamkeit auf die Revolutionierungspolitik gerichtet und es werden die zum Großteil gemeinsam konzipierten Maßnahmen der indirekten und direkten Propaganda aufgezeigt.

Welchen Ausgang die Zusammenarbeit zwischen Georgien und Deutschland fand und welche Rolle der verlorene Erste Weltkrieg und die russische Okkupation und Sowjetisierung Georgiens im Februar 1921 in den gemeinsamen „deutsch-georgischen Träumen“ einnahmen, zeigt das 6. Kapitel auf.

Für die Beantwortung der Frage, ob Deutschland einen Georgien-Imperialismus umsetzte oder aber Unterstützung bei der Unabhängigkeitsbestrebung Georgiens leistete, werden im 7. Kapitel die verschiedenen Betrachtungsweisen der beiden Historiker Zürrer und Fischer gegenübergestellt. Die Entscheidung fiel auf diese Historiker, weil sich Zürrer und Fischer zwar kurz, aber explizit der aufgeworfenen Frage widmen. Während Zürrers Auffassung eher gesondert dasteht, kann Fischers Position als stellenvertretend für Baumgart, Bihl oder Thörner gelten.

Ein Fazit im 8. Kapitel schließt die Arbeit ab.

Für die Untersuchung der Schwerpunkte der Arbeit werden verschiedene Primärquellen untersucht. Für die Klärung der deutschen Interessen bezüglich der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Ziele werden die gedruckten Akten des deutschen Auswärtigen- sowie des Kriegsamtes ausgewertet. Darüber hinaus werden Wirts „Kaukasien“ und Wachs՚ „Die politische und militärische Bedeutung des Kaukasus“ herangezogen.

Für die Klärung georgischer Interessen werden die in der Zeitschrift „Der neue Orient“ erschienenen Artikel von Altdorffer und von Fürst Matschabeli sowie Micheil Tseretelis „Das neue Georgien“ analysiert.

Dagegen werden die „Denkschrift“ von August Thyssen, das Schriftstück über den „ethischen Imperialismus“ von Prinz Max von Baden sowie ein Artikel aus der Tageszeitung „Berliner Börsen-Courier“ für die Erläuterung der deutschen imperialistischen Ziele untersucht.

Für die Analyse der Zusammenarbeit der beiden Länder bezüglich der Revolutionierungspolitik wird die Propagandaschrift der „Antirussischen Liga“ mit dem Titel „Kennen Sie Rußland?“ herangezogen.

Das Analysieren der Protokolle und Urkunden des Auswertigen Amtes und der Obersten Heeresleitung sowie der Reden der Reichstagsabgeordneten klärt die Haltung der deutschen politischen und militärischen Führungspersönlichkeiten bezüglich der Frage nach der rechtlichen Anerkennung der Unabhängigkeit Georgiens.

Darüber hinaus werden Heinrichs „Kurze Geschichte des Prinzen Heraclius“, die Güldenstädts Forschungsreiseberichte und das Gutachten von Liszt „Die völkerrechtliche Stellung der Republik Georgiens“ ausgewertet.

Aufgrund der Pandemielage waren einige wenige Quellen nicht zugänglich. Diese Lücke wird durch das Heranziehen von Sekundärquellen aus den Untersuchungen von Bihl, Baumgart, Zürrer, Fischer und Gelaschwili geschlossen.

1.3. Forschungsstand

Im Jahr 1997 zeigte Jürgen Gerber in seiner Untersuchung „Georgien: Nationale Opposition und kommunistische Herrschaft seit 1956“ v. a. auf, welche Ereignisse die Entstehung des georgischen Nationalismus förderten und wie der ungebrochene Wunsch nach Loslösung von Russland und die Unabhängigkeitsbestrebungen Georgiens zu erklären sind.

Im Jahr 2004 legte Oliver Reisner im Rahmen seiner Kaukasusstudien eine umfassende Untersuchung über die Entstehung des georgischen Nationalismus in den Jahren 1850 - 1917 dar. Dabei untersuchte der Autor den Anlass der Entstehung des Nationalismus sowie die Ziele und Aktivitäten der georgischen nationalen Aufklärer in der „Gesellschaft zur Verbreitung der Lese- und Schreibkunde unter den Georgiern“ sowie über diese Gesellschaft hinaus.

Im Rahmen finanzwissenschaftlicher Diskussionsbeiträge veröffentlichte Simon Gelaschwili das Manuskript „Deutsches Finanzkapital in Georgien am Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts“ im Jahr 2010 und legte ausführlich die Erforschungen über die Ziele des deutschen Kapitals und die wirtschaftlichen Tätigkeiten des größten deutschen Unternehmers, Industriellen und Bankiers in Georgien sowie den positiven, aber auch den negativen Einfluss dieser Unternehmungen auf das georgische Kapital dar. Gelaschwili zeigt die enge Verzahnung des deutschen Kapitals mit der deutschen Politik und dem Militär auf und diskutiert in diesem Zusammenhang u. a. die im Jahr 1918 geschlossenen politischen und wirtschaftliche Verträge zwischen Georgien und Deutschland.

Für die Ausarbeitung der Forschungslücke bezüglich der deutschen nationalen Interessen an Georgien ab 1992 befasste sich Micheil Sarjveladze in seiner Dissertation „Deutschland und der Südkaukasus. Georgien im Fokus deutscher Außenpolitik 1992 bis 2012“ im Jahr 2019 mit der Außenpolitik Deutschlands. Dabei fokussiert sich der Autor auf die wirtschaftspolitischen, bildungs- und kulturpolitischen sowie auf die entwicklungs- und sicherheitspolitischen Beziehungen zwischen Georgien und Deutschland. Sarjveladze zeigt u. a. auf, dass diese Art von Beziehungen eine Weiterführung von bereits während des Ersten Weltkrieges entstandenen Beziehungen zwischen Georgien und Deutschland darstellen.

Im Rahmen der Außenpolitik Deutschlands bzw. des Vierbunds, der sich aus Deutschland, Österreich-Ungarn, dem Osmanischen Reich (Türkei) und Bulgarien zusammensetzte, untersuchten die deutschen Historiker Fritz Fischer (1964, 1969), Winfried Baumgart (1966, 1970), Werner Zürrer (1978) und der österreichische Historiker Wolfdieter Bihl (1975, 1992) die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Interessen im Gesamtkaukasus und in Georgien insbesondere während des Ersten Weltkriegs. Die Untersuchungen wurden im Rahmen der Orientpolitik (Bihl), Ostpolitik (Fischer, Baumgart) und Kaukasuspolitik (Zürrer) vollzogen. Es wurde aufgezeigt, welche Kriegsziele Deutschland v. a. in Georgien umsetzte und welche Mittel und Ressourcen für die Umsetzung der Kriegsziele seitens der deutschen politischen Führer eingesetzt wurden.

Eine überzeugende Zusammenfassung der Kaukasus- und Georgienpolitik des Auswärtigen- und Kriegsamtes sowie des Deutschen Kapitals bietet Klaus Thörner in seinem Werk „Deutscher Kaukasusimperialismus“ aus dem Jahr 1996 an. Thörner zeigt ebenfalls auf, welche Art der Interessen Deutschland gegenüber dem Kaukasus und Georgien in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelte und welche Maßnahmen für die Umsetzung dieser Ziele eingeleitet wurden.

Dem Zusammenwirken zwischen Georgien und Deutschland aus dem Blinkwinkeln des Zusammenspiels zwischen georgischem Nationalismus und deutschem Neuimperialismus wurde bislang keine systematische Untersuchung gewidmet. Nach dem Forschungsstand wurden entweder georgischer Nationalismus und dessen Entstehungsursachen und -formen erforscht, oder die deutsche Außenpolitik im Zusammenhang mit den Kriegszielen und wirtschaftlichen Interessen im Rahmen der Orientpolitik, Ostpolitik oder Kaukasuspolitik untersucht. Die letzteren Untersuchungen erwähnen georgische Nationalisten als Akteure, die bei den deutschen Zeil- und Maßnahmenumsetzungen als Freunde und Helfer fungierten. Der Nationalismus-Faktor bei den Gegenerwartungen der georgischen Akteure wird weniger stark gewichtet.

Somit stellt die vorliegende Arbeit den ersten Versuch dar, in der deutsch-georgischen Beziehungen neben dem deutschen Imperialismus auch den georgischen Nationalismus in den Fokus zu rücken und das Zusammenspiel der beiden Phänomene als Basis der Zusammenarbeit der beiden Länden zu hinterfragen.

1.4. Hinweise zu Transkription und Gendering

Für die bessere Lesbarkeit werden, die von verschiedenen Autoren unterschiedlich gehaltenen Schreibweisen von Namen vereinheitlicht. Dazu gehört auch die russifizierte Bezeichnung „Tiflis“ für die georgische Hauptstadt Tbilisi. Sofern es sich nicht um Zitate handelt, wird in der vorliegenden Arbeit die moderne und gängige Schreibweise der georgischen Orts- und Personalnamen in lateinischer Schrift bevorzugt.7

Der gleiche Vorgang wird bezüglich aller weiteren Bezeichnungen durchgeführt. So werden in der vorliegenden Arbeit Begriffe wie Aserbaidschaner statt Tataren oder Muslime statt Mohammedaner verwendet.

Soweit nicht anders vermerkt werden die Übersetzungen vom Georgischen ins Deutsche von der Verfasserin der Arbeit selbst vorgenommen.

Aus dem Grund, dass es in der vorliegenden Arbeit ausschließlich um männlichen Akteure geht, wird auf das Gendern, wie etwa „Politiker:innen“ oder „Nationalist:innen“ verzichtet. In Bezeichnungen wie „Bevölkerung“ o. ä. sind selbstverständlich alle Geschlechter mitgedacht.

2. Die Phänomene des Nationalismus und Imperialismus

Nach Jansen/Henning stellen Nation, Nationalismus und Nationalität jene politisch-kulturellen Phänomene dar, welche Europa ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts am stärksten prägten und mit dem Ende des Ersten Weltkrieges weltweit an Relevanz gewannen.8

Zusammenfassend definieren Autoren die Nation als eine Idee, die auf einer erdachten bzw. geglaubten Ordnung basiert. Ausgehend von gemeinsamer Sprache, Geschichte, Kultur, Tradition oder verbindenden Eigenschaften glauben Menschen an ihre Zugehörigkeit zu einer nationalen Einheit, in der diese kulturellen Eigenschaften zugleich wichtige Komponenten der Nationalität darstellen.9 Nationalität wiederum fördert nach Jansen/Borggräfe die Idee der national-territorialen Abgrenzung und somit die Bildung von Nationalstaaten.10

Über die Bildung des Nationalstaates hinaus fungieren die Aspekte der Nation und Nationalität zudem als Basis für den Nationalismus, der sich, namhaften Autoren zufolge, als Auslöser vieler Kriege, Konflikte und Auseinandersetzungen, aber auch im Widerstand „gegen Unterdrückung und Kolonialismus“11 als machtvolle Kraft bewährt und bestätigt hat.

Diese Form des Nationalismus bezeichnet der britische Historiker Bayly als Kulturnationalismus. Der Autor befasste sich u. a. mit wichtigen globalen Phänomenen des Zeitalters 1780 - 1914 wie dem Nationalismus und der Nationalstaatenbildung und zeigte auf, dass sich diese Phänomene je nach Fortschreiten von Industrialisierung, Urbanisierung, Kapitalisierung und Alphabetisierung weltweit in unterschiedlicher Form und Zeit wiederholten.12

Bayly unterscheidet zwischen zwei wichtigen Phasen der Bildung von Nationalismen und Nationalstaatsgründungen. Zum einen sind das die Jahre zwischen 1785 und 1815 und zum anderen jene zwischen 1848 und 1865.

Die erste Phase nach Bayly war eng mit den Napoleonischen Kriegen verknüpft, welche den Nationalismus in Deutschland, Italien und Russland vorantrieben. Die russischen und französischen Kriege gegen Osmanen, Türken und Nordafrikaner in der zweiten Phase dagegen beschleunigten die Ausbildung der nationalen Identität und Neuordnung dieser Völker.13

Zudem haben sich die Nationalismen nach Bayly in unterschiedlichen Formen entwickelt. In den Ländern, die „unter dem Druck von Kriegen, ökonomischen und kulturellem Wandel und der Entwicklung des Kommunikationsnetzes“14 standen, nahm der Nationalismus in dieser Zeit eine aggressive Form an. Denn die Bildung von Nationalstaaten erhöhte zugleich die Konkurrenz ebendieser. So erzeugte der Nationalismus unter im Konkurrenzkampf stehenden Nationalstaaten nach Bayly den „neuen Imperialismus“.15

Jene Völker, die aus den kulturellen Einheiten keine Nationalstaaten bilden konnten und in Vielvölkerstaaten wie dem Osmanischen und Russischen Reich lebten sowie weitere „unter Kolonialismus, europäischen Imperialismus und internationalen Kriege stehende Nationen“16 entwickelten dagegen eine andere Art des Nationalismus. Dort förderte der Imperialismus selbst das patriotische und nationale Gefühl unter den Eroberten und die separatistischen und nationalen Selbstbestimmungsbewegungen nahmen dort ihre Fahrt auf.17 So sind laut dem Autor der “Imperialismus und Nationalismus […] Facetten desselben Phänomens“,18 denn der Imperialismus ist „ebenso eine Konsequenz wie eine Ursache des Nationalismus.“19

Mit den Bildungen von Nationalstaaten veränderte sich nach Schöllgen auch der Typus des Imperialismus. Laut dem Autor setzten von da an neuen Formen des Imperialismus ein, die überwiegend einen informellen Charakter aufwiesen.20 Zu den Formen des informellen Imperialismus zählen die Freundschafts-, aber auch Freihandels- und Schutzverträge, die zum Ziel haben, Länder „wirtschaftlich und finanziell in einem Maße von den europäischen Staaten abhängig zu machen, das sich gelegentlich nur noch graduell von einer direkten politischen Kontrolle unterschied.“21 Die Merkmale des informellen Imperialismus sind zudem die indirekte politische Machtübernahme und friedliche wirtschaftliche Durchdringung eines Territoriums sowie die Einrichtung von Siedlungskolonien und strategischen Stützpunkten auf diesem Gebiet.22

Diese Form der informellen Herrschaft erwies sich nach dem Autor als eine der effektivsten Varianten der imperialistischen Expansion ab 1881.23 Als Auslöser für den Wunsch nach einer Erschließung der Welt fungierte vor allem die im Zuge der Industrialisierung steigende Nachfrage nach Rohstoffen.24

Der Konkurrenzkampf zwischen den europäischen Mittel- und Großmächten um die koloniale Betätigung und imperialistische Unternehmungen verstärkte zunehmend die Spannungen unter ihnen. Diese Spannungen mündeten nach Schöllgen zwangsläufig in den Erste Weltkrieg.25

Diese Vorgänge werden im Folgenden am Beispiel von georgischem und deutschem Nationalismus sowie deutschem Imperialismus aufgezeigt.

3. Nationalismus und Imperialismus in Georgien und Deutschland um die Jahrhundertwende

3.1. Georgischer Nationalismus

In der Sowjetunion zählte Georgien zu den eifrigsten Republiken, die radikal nach einer Loslösung von Russland strebten. So proklamierte Georgien als erste Sowjetrepublik am 26. Mai 1991 die Staatsunabhängigkeit und knüpfte programmatisch seine Rechte an das national-kulturelle Erbe der Unabhängigen Georgischen Republik von 1918-1921 an.26

Das Nationalbewusstsein Georgiens leitet sich aus einer langen geschichtlichen Tradition ab. Diese fußt zum einen auf dem Christentum, das seit dem 5. Jahrhundert bis heute die Staatsreligion stellt und zum anderen auf der Schriftlichkeit, die erwiesen bis ins 5. Jahrhundert n. Chr. zurückreicht. Neben der gemeinsamen Sprache und ausgebildeten Hochkultur kann Georgien auf die Staatlichkeit als Georgisches Königreich zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert zurückgreifen und dadurch das eigene nationale Bewusstsein stärken.27

Mit stetigen Unterbrechungen der georgischen Staatlichkeit durch die Überfälle verschiedener Feinde und Eroberungen u. a. durch Mongolen und Persern verlor das Georgische Königreich immer mehr an Territorium. Das christliche Georgien blieb alleine umgeben von muslimischen Ländern und die georgischen Könige mussten immer machtloser zusehen, wie sich die Lage Georgiens stetig verschlechterte.28 So suchte der König von Qartli und Kakhetien, Erekle II., einen Ausweg aus dieser Lage und fand den Weg zum christlichen Zarenreich. Die Entscheidung des Königs entpuppte sich allerdings nicht als der Ausweg, den sich die Georgier erhofft hatten. So ist diese königliche Entscheidung noch heute umstritten. Im Folgenden wird aufgezeigt, welche Folge die Schutzsuche beim Russischen Reich hatte und wie diese das Entstehen des georgischen Nationalismus förderte.

3.1.1. Annexion Georgiens und ihre Folgen

Im 18. Jahrhundert kämpften Perser und Türken um Georgien. Um das Land und das eigene Volk vor der Islamisierung zu retten, suchte - wie bereits erwähnt - König Erekle II. Schutz bei den ebenfalls christlichen Russen. So wurde am 24. April 1783 mit der Kaiserin Katharina II. der Vertrag von Georgijewsk als Protektoratsvertrag abgeschlossen.29 Demnach verpflichtete sich der georgische König, der Kaiserin seine Soldaten zur Verfügung zu stellen, während Russland den Georgiern die Unverletzlichkeit ihrer territorialen Grenzen und Unantastbarkeit der staatlichen Verwaltung sowie militärischen und politischen Schutz gegenüber den äußeren Feinden zusicherte. Zudem sollte der königliche Status von Bagrationis unanfechtbar bleiben.30

Dieser Vertrag machte die Türken und Perser noch wütender, weshalb sie ihre Angriffe auf Georgien intensivierten. So besetzten die Perser Tbilisi im Jahr 1795 und obwohl die russische Kaiserin Georgien Schutz zugesichert hatte, schickte sie keine Truppen dorthin und überließ das Land den Feinden. Das war der erste Vertragsbruch von Russlands Seite, dem weitere bezüglich der Unantastbarkeit von Verwaltung, Monarchie und Territorien folgen würden.

Nach dem Tod von Katharina II. weitete Paul I. seine Macht immer weiter auf die georgischen Territorien aus, bis schließlich mit Bewilligung von Alexandre I. die georgischen Königreiche der Ost- und Zentralregionen im Jahr 1801 durch Russland annektiert wurden. Dieser Annexion folgte die erzwungene Annektierung weiterer Regionen Georgiens sowie anderer kaukasischer Gebiete.31

Mit der administrativen Einteilung Georgiens in die zwei Protektorate Tbilisi und Kutaisi und der endgültigen Eingliederung in das Zarenreich wurde nach Zürrer das Land ab 1862 praktisch wie eine Kolonie Russlands verwaltet.32 Dadurch war nach Gerber auch „der Traum von der Wiederauferstehung eines vereinten georgischen Königreichs“33 geplatzt.

Bereits nach zehn Jahren der Annexion wurden die beiden Säulen der georgischen Gesellschaft - die Monarchie und die Autokephalie - vom Zarenreich angegriffen. Zunächst wurden die Bagrationis, die über 1000 Jahren in Georgien geherrscht hatten, unter Zwang nach Russland ausgesiedelt und deren Besitz der Kasse des Zarentums übergeben. Im Jahr 1811 wurde der Katholikos Antoni II. gewaltsam nach Petersburg gebracht, die georgische Autokephalie aufgehoben, das georgische Kirchenamt auf russische Kirchenfunktionäre übertragen und die russische Liturgie eingeführt. Die Kircheneigentümer wurden ebenfalls der russischen Staatskasse übertragen. Das hatte landesweite Aufstände zur Folge, die im Jahr 1822 durch die russische Armee brutal niedergeschlagen wurden.34

Im Jahr 1837 wurde die Militärverwaltung durch eine Zivilverwaltung ersetzt, der georgische Adel aus der Verwaltung ausgeschlossen und die russische Sprache als Amtssprache eingeführt. Darauffolgende Proteste und Aufstände wurden abermals niedergeschlagen und ein Staathalter mit unbegrenzter Macht - ebenfalls ein Russe - eingesetzt.35

Das Demontieren der politischen Unabhängigkeit Georgiens und die Einführung der zarischen Herrschaft als zentralem Machtapparat nach der Aufhebung georgischer Monarchie widersprach dem Georgijewsker Vertrag, der v. a. dem Adel die Unantastbarkeit garantierte. Denn auch wenn die Adeligen im Gegenzug zu anderen Standesangehörigen privilegiert blieben, verloren sie ihre Stellung als Führer und Machthaber und wurden zu Untertanen des Zaren, ein Umstand, welchen sie im Jahr 1901 durch einen gezwungenen Treueid bekräftigen sollten.36

Der Verlust von Status und Privilegien weckte unter den Adeligen verstärkte Bestrebungen, die georgische Monarchie wiederherzustellen. Zu diesem Zweck gründeten diese eine Geheimgesellschaft, welche später zur Adelsbewegung gegen das Zarenreich ausgeweitet wurde.37

Die politische und soziale Umstrukturierung Georgiens durch Russland und die daraus resultierte Unzufriedenheit und das Mistrauen wurde durch die kulturelle und sprachliche Unterdrückung der georgischen Bevölkerung seitens der Russen weiter verstärkt. Die russischen Tschinowniki missachteten im Namen der „zivilisatorischen Mission“38 die lokalen Sprachen und Kulturen und betrachteten diese als rückständig. Die Bevölkerung war zudem der willkürlichen Gewalt, Repression, dem Mord und der Unterdrückung ausgesetzt.

Mit der steigenden Wertschätzung von Bildung wurden auch in Georgien Schulen, Gymnasien und Priesterseminare gefördert und standen allen Schichten offen. Dennoch blieb die Bildung eine Sache des Adels und der Oberschicht. Zum einen die dafür nötige Mobilität und zum anderen die Unterrichtssprache Russisch, die außer der Oberschicht niemand beherrschte, hinderten die Mittel- und Unterschichten daran, von den gegründeten Schulen Gebrauch zu machen.

Die jungen adligen Schüler dagegen hatten mit anderen Herausforderungen zu kämpfen. In den Schulen angekommen wurden sie von den russischen Lehrern verbal und körperlich misshandelt und mussten die Abwertung der georgischen Sprache und Kultur erdulden, wie die Restbevölkerung auch.

Die Gründung einer Universität blieb nach mehrfacher Forderung ebenfalls untersagt. So mussten junge Georgier zum Studieren überwiegend nach Petersburg gehen und auch nach dem Studium blieben ihre Karrierechancen allein aufgrund ihrer Herkunft gering.39 Diese Lage erweckte das Nationsbewusstsein unter den jungen Studenten und es formierte sich eine neue Bewegung, worüber im Folgenden berichtet wird.

Während die georgische Bevölkerung kulturell und politisch durch die Vereinnahmung durch Russland viele Nachteile erfuhr, verbesserte sich allerdings die wirtschaftliche Lage des Landes in den Zügen der Industrialisierung. Die Infrastruktur wurde aufgebaut beziehungsweise verbessert und durch den Bau der Bahnlinien Poti-Tbilisi (1871) und Tbilisi-Kars (1899) wurde eine Verbindung zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer und über Erevan bis nach Persien und in den Nordkaukasus geschaffen. Der Bau von Bahnlinien sicherte Georgien den Status eines strategisch wertvollen Durchgangslandes für wirtschaftliche und militärische Ziele. Zudem schaffte er auch Arbeitsplätze.40

3.1.2. Georgische Nationalbewegung und Alphabetisierungsgesellschaft

Die in Petersburg versammelten georgischen Studenten wurden, wie erwähnt, zu Förderern des georgischen Nationalismus.

Zunächst versammelten sich um den jungen Fürsten Ilia Tschavtschavadze etwa 30 Studenten in Petersburg und bildeten die Gruppe tergdaleulebi, 41 die zu der Begründerin eines modernen georgischen Nationalkonzepts wurde. Das Konzept basierte auf drei festgelegten „Heiligtümern“: Vaterland, Sprache und Glaube.42

Zunächst sammelten die georgischen Studenten alte georgische Schriften und Literatur, diskutierten über die georgische Kultur, die aktuelle Lage Georgiens sowie dessen mögliche Zukunft. Zunehmend eigneten sie sich die westlichen Ideen der nationalen und sozialen Befreiung an, woran Aktivitäten im kritisch-patriotischen Schriftwesen anschließen und sie im Jahr 1861 aktiv an der Studentenbewegung gegen die zarische Autokratie teilnahmen.

Während sich die ältere Generation der Adeligen für die Aufstiegschancen immer mehr freiwillig „russifizierte“, distanzierte sich die junge Generation davon und hielt an der eigenen, rückständig genannten Kultur fest. Durch die Einführung der Idee der nationalen Einheit und der kollektiven Identität, setzten sie die Grenzen zwischen „eigenem“ und „fremden“, um dadurch den Schutz der eigenen kulturellen Identität zu gewährleisten. Zum Symbol und Merkmal der kulturellen Identität wurde die georgische Sprache.43

Zurückgekehrt in die Heimat versuchten die tergdaleulebi, die sich als Aufklärer der Nation verstanden , das nationale Bewusstsein in der Bevölkerung vor allem durch die Publikationen von kritisch-nationalen Schriften zu wecken und leiteten dadurch eine neue nationale Bewegung ein. Sie forderten die Aufwertung der unterdrückten georgischen Sprache und Einführung des georgischen Lesens und Schreibens in den Schulen sowie die Aneignung der Kenntnisse über die georgische Kultur, Geschichte und Literatur.44

Dazu gründeten sie im März 1879 die „Gesellschaft zur Verbreitung der Lese- und Schreibkenntnisse unter den Georgiern“ (Alphabetisierungsgesellschaft), die als einzige nationale freie Assoziation eine maßgebende Rolle bei der Ausbildung von nationalem Bewusstsein unter Georgiern spielte.45

Als weitere wichtige Aktivitäten, neben Publikationen und Zeitschriften, sind zum einen die Bildung der privaten „Landbank des georgischen Adels“ und die Gründungen von Lesesälen und Bibliotheken zu nennen. Die erstere unterstützte den verarmten georgischen Adel mit günstigen Krediten, um vor allem den Verkauf georgischer Ländereien an Fremde zu verhindern.46

Die Lesesäle und Bibliotheken dienten der (Wieder-)Erweckung des nationalen Bewusstseins. Durch Sammlung und Verbreitung von alten georgischen Schriften, Herausgeben von Schul- und Kinderbüchern und Diskussionen über die georgische Geschichte und Kultur förderte die Alphabetisierungsgesellschaft das „nationale Gedächtnis“47 und somit die Nationalisierung der Bevölkerung.48

Nach jahrzehntelangen Bemühungen der georgischen Intelligenzija und Nationalisten bezüglich der Anerkennung ihrer Sprache, Herkunft und Kultur sowie die Erhöhung der Chancen auf die Anstellung im Staatsdienst, verloren die Georgier die letzte Hoffnung auf die Loyalität des Zaren oder Unterstützung seitens des Ministeriums. Insbesondere nach der Revolution von 1905 und allgemeinen Unruhen im gesamten Russischen Reich wurden unter dem georgischen Adel die Forderungen nach Selbstbestimmung und Autonomie und unter den Geistlichen die Forderungen nach Wiedergewinnung der georgischen Autokephalie immer lauter.49

In den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts und mit dem Voranschreiten der Industrialisierung und Urbanisierung setzte in Georgien, ähnlich wie in Europa, die Massenpolitisierung der Gesellschaft ein. Es wurden viele verschiedene nationale Parteien gegründet, die die nationale Unabhängigkeit und Loslösung vom Russland zum Ziel hatten. Die Mitglieder gehörten fast ausschließlich der Alphabetisierungsgesellschaft an und leiteten demnach ihre politischen Programme aus den drei Säulen des Nationalkonzeptes - Vaterland, Sprache und Glaube - ab. Dabei wichen die Konzepte der nationalen Unabhängigkeit voneinander ab.

Von den in Warschau studierten radikalen Studenten, die überwiegend von marxistischen Ideen überzeugt waren, wurde beispielsweise eine geheime „Freiheitsliga Georgiens“ gegründet, welche sich u. a. für die Ablösung vom Russland und einen föderativen Kaukasus aussprach.50 Die ebenfalls marxistisch orientierten Sozialdemokraten um Noe Zhordania51 plädierten eher für die Förderung der nationalen Wirtschaft und Aufrechterhaltung der Beziehungen mit Russland. Die Narodniki (georgischen Nationalisten) strebten dagegen, neben der Entwicklung einer eigenen Nationalwirtschaft und deren Schutz vor ausländischem Kapital, auch nach einer autonomen politischen Stellung im Bündnis mit Russland.52

Die sozialen und nationalen Konflikte Anfang des 19. Jahrhundert im Russischen Reich und darunter auch in Georgien, die sich in der Arbeiterbewegung, Bauernaufständen (in Gurien v. a.) und Räuberwesen äußerten, kulminierten im erwähnten Blutsonntag von St. Petersburg.53 Anstatt aber eine Lösung für die sozialen und nationalen Probleme zu suchen, führte der Zar daraufhin erneut Staathalter in Tbilisi ein, die - ähnlich wie in den 1880ern - Repression, Unterdrückung, Zäsur, Verhaftungen und Mord in Georgien und unter der georgischen Bevölkerung praktizierten.54 Dies hatte zur Folge, dass viele politische Aktivisten, insbesondere ab 1910 nach Europa und in die USA ins Exil gingen.55 Diese waren Angehörige verschiedener politischer Parteien sowie politisch aktive Einzelpersonen und erwiesen sich später als Hauptakteure der deutsch-georgischen Beziehungen.56

Nach der Proklamierung der Unabhängigkeit Georgiens am 26. Mai 1918 und „erfüllter Mission“ der Bildung eines nationalen Bewusstseins, widmete sich die Alphabetisierungsgesellschaft der wissenschaftlichen Ausarbeitung der georgischen Kultur, Symbolik und Geschichte, u. a. für die Herausgabe von Geschichtsbüchern. Im Jahr 1922 wurde der Name der Alphabetisierungsgesellschaft in „Gesellschaft der Georgier zur Verbreitung der Lese- und Schreibkunde unter den Georgiern“ umgeändert.57

Nach dem Einmarsch der Roten Armee und der Sowjetisierung Georgiens im Februar 1921 gingen viele politische Aktivisten und Regierungsvertreter ebenfalls ins Exil und kehrten im Jahr 1924 zurück, um im August einen Aufstand gegen die russischen Machthaber anzuführen. Auch dieser Aufstand wurde blutig niedergeschlagen und forderte tausende Todesopfer.58 Daraufhin stellte die Gesellschaft alle Aktivitäten ein59 und löste sich im Jahr 1927 offiziell auf.

3.2 Deutscher (Radikal-)Nationalismus und (Neu-)Imperialismus

Die Anfänge des organisierten deutschen Nationalismus waren in Deutschland dagegen bereits seit dem Jahr 1808 nach den Napoleonischen Kriegen feststellbar. Zunächst wurde die nationale Bewegung von Intellektuellen und Studenten getragen, die in nationalistischen Reden an das „deutsche Urvolk“60 das „zivilisierten Germanenvolk“61 als überlegen anderen gegenüber hervorhoben, den Krieg gegen Frankreich als „Kreuzzug oder als Heiliger Krieg“62 bezeichneten und die Kriegssoldaten als Helden des Vaterlandes darstellten. Zudem wurden alte Mythen und Legenden über das Germanentum wiedererweckt und popularisiert. Nach und nach wurden die Gesangs- und Turnvereine zu Trägern der Verbreitung von Nationalgedanken. Durch nationale Feste verbreiteten sie das Nationalbewusstsein und erreichten somit die Mitte der Gesellschaft.63

[...]


1 Frank-Walter Steinmeier. Ansprache beim Abendessen mit der Staatspräsidentin von Georgien, Tsinandali, Georgien, 7. Oktober 2019. www.bundespraesident.de: Der Bundespräsident / Reden / Abendessen mit der Staatspräsidentin von Georgien. [abgerufen: 02. April 2021].

2 Vgl. Sarjveladze, Mikheil (2019): Deutschland und der Südkaukasus. Georgien im Fokus deutscher Außenpolitik von 1992 bis 2012. Springer Fachmedien, Wiesbaden. S. 3.

3 Vgl. Frank-Walter Steinmeier. Ansprache beim Abendessen mit der Staatspräsidentin von Georgien, Tsinandali/Georgien, 7. Oktober 2019.

4 Vgl. Osterhammel, Jürgen/Jan C. Jansen (2012): Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. 7. Auflage. Beck Verlag, München. S. 52-56.

5 Vgl. Fischer, Fritz (1969): Griff nach Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914/18. 3. verbesserte Auflage. Droste Verlag, Düsseldorf. S. 324.

6 Vgl. Thörner, Klaus (1996): Deutscher Kaukasusimperialismus. In: Wider den Zeitgeist: Analysen zu Kolonialismus, Kapitalismus und Imperialismus. Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg, Oldenburg. S. 136.

7 Besonders hervorzuheben hierbei sind die Namen der Exilgeorgier und der Publizisten Micheil Tsereteli und Giorgi Matschabeli. Diese Namen erscheinen je nach Quelle oder Autor als Tseretheli, Michael von Tseretheli, Mikhako Čereteli oder Čeretheli einerseits und Georg Matschabelli, Mačabelli oder Mačabeli anderseits. Soweit es nicht um ein Zitat oder um eine Quellenbezeichnung handelt, werden in der Vorliegenden Arbeit Micheil Tsereteli und Giorgi Matschabeli verwendet.

8 Vgl. Jansen/Borggräfe (2007): Nation-Nationalität-Nationalismus. Campus Verlag, Frankfurt am Main. S. 9.

9 Vgl. ebd. S. 14.

10 Vgl. ebd. S. 11-16

11 Ebd. S. 8.

12 Vgl. Bayly, Christopher A. (2006): Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780-1914. Campus Verlag, Frankfurt am Main. S. 249.

13 Vgl. ebd. S. 249-253.

14 Ebd. S. 269.

15 Ebd. S. 254.

16 Ebd. S. 269.

17 Vgl. ebd. S. 269-280.

18 Ebd. S. 283.

19 Vgl. ebd. S. 287.

20 Schöllgen, Gregor (2000): Das Zeitalter des Imperialismus. 4. Auflage. Oldenburg Grundriss der Geschichte. Bd. 15. Oldenburg Verlag, München. S. 2.

21 Ebd. S. 48.

22 Vgl. ebd. S. 46.

23 Vgl. ebd. S. 47.

24 Vgl. ebd. S. 2.

25 Vgl. ebd. S. 45.

26 Vgl. Gerber, Jürgen (1997): Georgien: Nationaler Opposition und kommunistische Herrschaft seit 1956. Schriftenreihe des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln. Bd. 32. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden. S. 1.

27 Vgl. ebd. S. 1-17.

28 Vgl. Zürrer, Werner (1978): Kaukasien 1918-1921. Der Kampf der Großmächte um die Landbrücke zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer. Droste Verlag, Düsseldorf. S. 4.

29 Vgl. ebd. S. 4.

30 Vgl. Gerber, Jürgen (1997). S. 18; Vgl. Mikaberidze, Alexander (2007): Historical Dictionary of Georgia. Scarecrow Press, Plymouth. S. 326.

31 Vgl. Gerber, Jürgen (1997). S. 19.; Vgl. Reisner, Oliver (2004): Die Schule der georgischen Nation. Eine sozialhistorische Untersuchung der nationalen Bewegung in Georgien am Beispiel der „Gesellschaft zur Verbreitung der Lese- und Schreibkunde unter den Georgiern“ (1850-1917). Kaukasienstudien. Bd. 6. Reichert Verlag, Wiesbaden. S. 31.

32 Vgl. Zürrer, Werner (1978). S. 18f.

33 Gerber, Jürgen (1997). S. 19.

34 Vgl. Reisner, Oliver (2004). S. 35f.

35 Vgl. ebd. S. 33-36.

36 Vgl. ebd. S. 36f.

37 Vgl. ebd. S. 41.

38 Ebd. S. 191.

39 Vgl. ebd. S. 74-79.

40 Vgl. Zürrer, Werner (1978). S. 5f.

41 Der Name leitet sich von der Bezeichnung des Flusses Tergi und dem Wort „daleuli“ („getrunken“) ab. Auf der Studienreise nach Petersburg mussten die Studenten den Tergi-Fluss überqueren (im übertragenen Sinne das „Tergi-Wasser trinken“) und somit wurden sie zum Tergdaleulebi.

42 Vgl. Reisner, Oliver (2004). S. 77f.

43 Vgl. ebd. S. 78-82.

44 Vgl. ebd. S. 96.

45 Vgl. ebd. S. 106.

46 Vgl. ebd. S. 108.

47 Ebd. S. 173.

48 Vgl. ebd. S. 168-173.

49 Vgl. ebd. S. 219.

50 Vgl. ebd. S. 190f.

51 Noe Zhordania (1868-1953) war ein Menschewiki und führender Aktivist zunächst in einer russischen und anschließend in einer georgischen sozial-demokratischen Bewegung. Er übernahm ab 24. Juli 1918 die Position des Regierungschefs der Ersten Georgischen Demokratischen Republik. 1921 kämpfte Zhordania gegen die Sowjetisierung Georgiens und lebte danach im Exil. 1924 kehrte er gemeinsam mit anderen Exilgeorgiern zurück nach Georgien, um dort einen Aufstand für die Unabhängigkeit Georgiens zu organisieren. Zhordania starb in Paris. In: Noe Zhordania, Georgier im Ausland. http://www.nplg.gov.ge/emigrants/ka/379/ [abgerufen: 22.05.2021].

52 Vgl. Reisner, Oliver (2004). S. 201ff.

53 Vgl. Zürrer, Werner (1978). S. 9.

54 Vgl. Reisner, Oliver. S. 225; Zürrer, Werner (1978). S. 9.

55 Vgl. ebd. S. 230.

56 Vgl. Fischer, Fritz (1964). S. 159.

57 Vgl. Reisner, Oliver (2004). S. 261.

58 Vgl. Gerber, Jürgen (1997). S. 24.

59 Vgl. Reisner, Oliver (2004). S. 260f.

60 Jansen/Borggräfe (2007). S. 48.

61 Ebd. S. 48.

62 Ebd. S. 48, 64.

63 Vgl. ebd. S. 43-53.

Excerpt out of 69 pages

Details

Title
Nationalismus, Imperialismus und zerplatzte Träume. Deutsch-georgische Beziehungen von 1911 bis 1921
College
University of Hagen
Grade
1,7
Author
Year
2021
Pages
69
Catalog Number
V1167188
ISBN (eBook)
9783346585370
ISBN (eBook)
9783346585370
ISBN (eBook)
9783346585370
ISBN (Book)
9783346585387
Language
German
Keywords
Nationalismus, Imperialismus, Georgien, Kaiserreich, Der Erste Weltkrieg, Kolonialismus, Zarenreich, Georgischer Nationalismus, Deutsch-georgische Beziehungen, Deutsche Außenpolitik, Georgische Nationalisten, Menschewiki, Ludendorff, Manganerze
Quote paper
Tamari Herding (Author), 2021, Nationalismus, Imperialismus und zerplatzte Träume. Deutsch-georgische Beziehungen von 1911 bis 1921, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1167188

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