In einigen Trachtenvereinen und Volkstanzgruppen werden heute Trachten getragen, die sich im Grunde nur noch rein optisch grob an die tatsächlichen Trageweisen der vergangenen Zeiten anlehnen, da gerade für den Volkstanz die originalen Trachten oft zu schwer und unhandlich sind. Leider werden so im Bewusstsein der Nachgeborenen völlig neue unhistorische Scheintrachten verankert. Mit diesem Essay wird der Versuch gemacht, für eine Tracht, die noch bis 2008 von lebenslangen Trachtenträgerinnen getragen wurde, ihre historischen Trageweisen der letzten zwei Jahrhunderte festzuhalten und dies anhand originaler Bilddokumente und Aussagen echter Trachtenträgerinnen zu belegen. Dazu werden auch Seitenblicke in die benachbarten Trachten des Amtes Biedenkopf, des Amtes Blankenstein, der Marburger evangelischen Dörfer, der Marburger/Amöneburger katholischen Dörfer, der Schwalm und hinüber an die Dill gewagt. Es geht um die Tracht Mittelhessens als kostümgeschichtliches Phänomen, diesmal beschrieben mit den Augen eines auf dem Land aufgewachsenen und doch an eine wissenschaftliche Argumentation gewöhnten Mittelhessen, der einen kritischen, nicht städtisch geprägten, Blick auf die bisherige Literatur wie auch auf die nur in kurzen Zeiträumen denkende lokale mündliche Tradition wirft und zwischen beidem zu vermitteln sucht.
Inhalt
1. Vorwort
2. Die Tracht in der heutigen Wahrnehmung
3. Die Tracht in der zu ihr zeitgenössischen Literatur
4. Die Tracht in der Wahrnehmung eigentlicher Trachtenträgerinnen
5. Die Bestandteile der Hinterländer Frauentrachten im Zeitenwandel
6. Die Farbenlehre der Tracht
Schwarz
Rot-Grün
Weiß
7. „Kleiderordnung“ für Frauen des Untergerichts des Breidenbacher Grundes
8. Die Männertracht
9. Die Kindertracht
10. Nachwort
Mein ganz herzlicher Dank gilt Elvis Benner für seine Mitarbeit, Kenntnis und Geduld sowie Herrn Bamberger und Frau Coburger vom Schlossmuseum Biedenkopf für ihre Mithilfe.
Ganz herzlichen bedanken möchte ich mich auch bei meinen „Models“, Jennifer Stoll und Marta Routa, die mit Elvis Benner und mir in Tracht Mittelhessen unsicher machen.
Meine Hochachtung allen Verfasserinnen und Verfassern der von mir benötigten Literatur, insbesondere aber Liesel und Franz Konrad für ihre präzise und unfassbar detaillierte Arbeit zur Geschichte des Dorfes Wallau an der Lahn.
1. Vorwort
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Alltägliches gerät unendlich schnell in Vergessenheit, sobald es nicht mehr alltäglich ist. Es ist erstaunlich, aber das Aussterben einer kompletten Tracht, die fast zwei Jahrhunderte die Straßen eines Teils Mittelhessens prägte, vollzog sich fast ohne alle Beachtung. Noch kurz nach dem Jahr 2000 waren die Straßen Wallaus, wohin ich damals erst kurz zuvor gezogen war, im Bewusstsein einiger Bewohner gefüllt mit alten Frauen in der Tracht des Untergerichts des Breidenbacher Grundes. Tatsächlich trug keine einzige Frau mehr diese einmalige Tracht im Alltag. Sie war unbemerkt wortwörtlich ausgestorben.
Mir blieben nur Bilder, die ich mit großer Aufmerksamkeit studierte, denn ich bedauerte es sehr, nicht bereits zu Anfang meines Studiums Anfang der 1990er Jahre ins Hinterland gefahren zu sein und die Trachtenträgerinnen noch „live“ erlebt zu haben, aber in Marburg sprachen meine Bekannten nie davon, für sie war es zu alltäglich, mir blieb es unbekannt. Also studierte ich diese Bilder einer inzwischen untergegangenen Welt und stellte fest, dass nicht alles, was man mir über die Tracht erzählt hatte oder was noch als Tracht zu Festen getragen wurde, mit den alten Bildern in Einklang zu bringen war. Aus dieser Beschäftigung entstand im Laufe mehrere Jahre diese kleine Schrift.
Sie versteht sich nicht als besserwisserische Neuordnung allen vorhandenen Wissens über die Tracht, sondern lediglich als Gedankenanstoß noch einmal zu überprüfen, was als erwiesen gilt, obwohl es nur allgemein wiederholt wird. Ich hoffe, ich konnte meine Gedankengänge so gut belegen, dass sie als Hypothesen zu gebrauchen sind.
Insbesondere möchte ich mich nicht als Besserwisser gegenüber den Kindern und Enkeln der echten Trachtenträgerinnen aufspielen, sondern nur meine Gedanken eines Außenseiters mitteilen. Manchmal sieht ein unbefangener Außenseiter die kleinen Fehler, die sich im Laufe der Zeit eingeschlichen haben, deutlicher, da er nicht bereist im Voraus ein fertiges Meinungsbild im Kopf hat, sondern alles erst selbst erschließen muss.
Zu guter letzt möchte ich der Untergerichtstracht ein weiteres kleines Denkmal setzen. Dieser kleine Text ist keine so genaue Beschreibung der Tracht wie das Buch von Ursula Ewig, oder so eine große Felduntersuchung wie „Der Tracht treu geblieben“; trotzdem hoffe ich doch noch ein paar Aspekte gefunden zu haben, die in der bisherigen Literatur über die hiesige Tracht nicht so gesehen oder herausgearbeitet wurden.
Wallau an der Lahn, den 4.7.2008
2. Die Tracht in der heutigen Wahrnehmung
Das 20. Jahrhundert war das erklärte Jahrhundert der Individualisten. Zumindest flammte der Individualismus z.B. in Gestalt der Wandervogelbewegung immer wieder als Gegengewicht zu staatlicher Obrigkeit, Militarismus und Uniformität auf, seit dem Zweiten Weltkrieg noch politisch antifaschistisch motiviert, seit der 68er-Bewegung allgemein akzeptiert und in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung anerkannt. Dieses Experiment muss zu Beginn des 21. Jahrhunderts zumindest als zum Teil gescheitert betrachtet werden, besteht die Unangepasstheit und Individualität der meisten erklärten Individualisten doch in der Auswahl von Moden, Schuhen und sogar Möbelstücken aus einem fest umgrenzten Sortiment. Individualist ist dann, wer die „richtigen Klamotten“, trägt, oder seine uniform vorgefertigten Möbel selbst zusammengeschraubt hat.
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„Tracht“ im eigentlichen althergebrachten Sinn ist daher für viele Menschen ein nicht mehr sicher einzuordnender Begriff, nicht nur in den Städten, sondern sogar in Gebieten, die bis vor weniger als 10 Jahren noch selbst lebendiges Trachtengebiet waren. Nur noch selten ist tatsächlich ein Verständnis dafür anzutreffen, dass so genannte „Trachtenmode“ nichts mit echter Tracht zu tun hat und dass in Hessen tatsächlich nie Dirndl getragen wurden, weder solche aus echter Tracht noch aus der Trachtenmode, obwohl inzwischen selbst im Hessenpark zur Begrüßung Trachtenmoden ohne Tradition und Geschichte angeboten werden, aber kein einziges hessisches Trachtenstück. Dazu passt auch, dass selbst Ältere aus benachbarten Trachtengebieten heute kaum noch die Trachten der anderen Gebiete erkennen, wenn sie sie von jungen Frauen getragen sehen.
Zu diesen seltenen Gebieten mit einer noch in ihren überlieferten Regeln im Alltag bis vor kurzem lebendigen echten Tracht gehört neben der bekannteren Schwalm und den evangelischen sowie den katholischen Dörfern um Marburg, der Gegend um Hüttenberg in der Wetterau und dem Schlitzer Land ein Teil der oberen Lahn in Hessen, das so genannte Hinterland.
Seinen merkwürdigen Namen verdankt diese Region, die sich ursprünglich in einem schmalen Streifen von Battenberg bis nach Hermannstein bei Wetzlar hinzog, seiner früheren Zugehörigkeit zu Hessen-Darmstadt, die in der kirchlichen Zugehörigkeit bis heute abzulesen ist. Hier befindet sich heute das Dekanat Biedenkopf der Propstei Nord-Nassau in der Kirche von Hessen und Nassau, das sich noch immer wie ein Schlauch zwischen die Gebiete der Landeskirchen von Westfalen und Kurhessen-Waldeck drängt. Von der alten Hauptstadt Darmstadt aus gesehen also tatsächlich absolutes Hinterland.
In dieser Gegend erhielten sich noch bis in die letzten Jahre zwei der altertümlichsten Trachten Deutschlands, die Tracht des Amtes Biedenkopf, die so genannte "Dellmutschentracht", und die Tracht des Breidenbacher Grundes, die wiederum in die Tracht des ehemaligen Obergerichts und die des ehemaligen Untergerichts zerfällt. Eine dritte Tracht muss seit der Mitte des 20. Jahrhunderts als ausgestorben gelten, nämlich die Tracht des Amtes Blankenstein, nach ihrer auffälligen Haube auch „Schneppekappentracht“ genannt. Die ebenfalls im Hinterland vorhandene Tracht der evangelischen Marburger Dörfer wurde schon sehr oft behandelt und wird bei mir nur eine Nebenrolle spielen. Da ich selbst in Wallau wohne und mit der hiesigen Tracht, also der des Untergerichts des Breitenbacher Grundes, am besten vertraut bin, möchte ich mich in erster Linie der letztgenannten Form der Hinterländer Tracht zuwenden. Die letzte Trägerin der spätesten Form der Untergerichtstracht, die mir bisher begegnete, eine Frau aus Kleingladenbach, kaufte noch in der jüngsten Form der Tracht des Untergerichts im Frühjahr 2008 im Supermarkt in Biedenkopf ein. Dieses Bild wird aber leider in wenigen Jahren endgültig Vergangenheit geworden sein.
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Viele Kinder der letzten Trachtenträgerinnen haben ein eigentümliches Verhältnis zur Kleidung ihrer Mütter und Großmütter. Viele von ihnen konnten nach dem Tod ihrer Verwandten es gar nicht abwarten, die "ahle Lumpe" zu entsorgen, sei es in der Mülltonne oder im Altkleidersack; letzteres ist natürlich durchaus eine interessante Idee, da man sich Hilfsorganisationen die in afrikanischen Notregionen hessische Tracht verteilen eigentlich nicht so recht vorstellen möchte. Oder man wunderte sich, dass eigentlich wohlhabende Familien im Dorf ihre Großmutter immer noch in "alten Lumpen" herumlaufen ließen. Noch heute ernten Händler, die Trachtenteile aufkaufen, oft ein Kopfschütteln, werden aber insgeheim durchaus dafür bewundert, dass sie doch tatsächliche „Dumme“ finden, die ihnen dafür sogar noch mehr Geld zahlen. Viele Enkel aber denken bereits anders, und insbesondere Zugezogene wie ich selbst bedauern den Verlust an alten Originaltrachten außerordentlich.
Allerdings ist die Haltung der Älteren durchaus nachzuvollziehen. Für sie war alles Alte, das von ihren Eltern auf sie kam, eben einfach alt. Für jemanden, dessen Mutter oder Großmutter eine altertümliche Kleidung trägt, die um Jahrhunderte hinter der Mode herhinkt, unmodisch und zudem kaum sauber zu halten ist, trägt die alte Frau keine kulturhistorisch interessante Tracht, sondern schlicht die alte Wäsche "von der Oma". Die Nachkriegsgeneration riss ja auch bedenkenlos alte Häuser straßenweise ab und versteht oft bis heute nicht, warum eine angebliche Bruchbude nicht weg soll. In manchen Dörfern macht man sich bis heute Feinde, wenn man ein ererbtes altes Haus nicht sofort wegreißt, obwohl alle Nachbarn nur auf den Tod der alten Leute darin gewartet haben, damit der "Schandfleck" endlich verschwindet. Welcher unersetzliche kulturelle Schaden allerdings durch diesen Umgang mit verhasstem Altem inzwischen entstanden ist, braucht nicht weiter erläutert zu werden.
Zu den Besonderheiten im Umgang mit der Tracht gehörte dabei, dass diese quasi gereinigt wurde. Dazu trägt bei, dass im breiten Bewusstsein gar keine Kenntnis mehr darüber vorhanden ist, dass es die eine einzige Tracht einer Region gar nicht gab. Eine Trachtenträgerin hatte nicht eine Tracht in der Truhe, sondern die Stücke für ihre Jugendjahre in gut und alltäglich, Sonntage, Kirchgang bei Abendmahl und in evangelischen Gegenden an normalen Sonntagen ohne Abendmahl, die Jahre nach der Hochzeit, die verschiedenen Stufen der Trauer und der Arbeit, so z.B. für weiße Arbeit im Sommer auf der Wiese und dem Getreidefeld und schmutzige Arbeit im Stall und im Matsch, außerdem für das Alter und die Kirmes, und all das ergab ihre Kleidung, also ihre eine Tracht. Im Bewusstsein blieben nur die besonderen Trachtenstücke in bunt, weiß und rot, die zur Kirmes, die zum Kirchgang und dem Abendmahl und die Hochzeitstrachten, wo sie vorhanden waren. Die Arbeitstrachten aber verschwanden in der Versenkung. Sie wurden nicht mehr bei Festumzügen getragen, sie wurden nicht dokumentiert und sie wanderten zuerst in Mülltonnen und Kleidersäcke. Das, was die Kinder, die selbst nicht mehr in Tracht gekleidet wurden, als alt, stinkend und dreckig empfanden, sollte getilgt werden. Tracht schien nur noch aus Kirmes und Sonntagen bestanden zu haben, und auch das war wiederum durchaus verständlich. Tatsächlich haben viele Trachtenteile den Nachteil, dass man sie so gut wie nicht waschen kann. Nur die weiße Wäsche, also die Unterhemden und, wo sie überhaupt Teil der Tracht waren, Unterhosen, konnten nach heutigen Maßstäben gereinigt werden. Da aber z.B. in den Hinterländer Trachtengebieten Unterhosen erst sehr spät, ab etwa 1940, von einem Teil der Frauen getragen wurden, waren viele alte Originalröcke schlichtweg nur noch als hygienischer Müll zu bezeichnen und mussten folgerichtig entsorgt werden. Für die jungen Leute, die als erste in ihren Familien nie in ihrem Leben Tracht trugen und modernen hygienischen Maßstäben folgen konnten, musste die Tracht als rückständig, unhygienisch und vergessenswert erscheinen. Heute mag man das bedauern; aus der Sicht eines Menschen, der aus einem dunklen engen Haus mit Mitbewohnern in Kleidern, die man nicht waschen konnte, umziehen konnte in ein modernes neues Haus mit Bewohnern in Kleidung aus Baumwolle und ausgestattet mit einer Waschmaschine, konnte er nicht der Meinung sein, er habe kulturelle Reichtümer hinter sich gelassen.
So wird in Trachtengruppen heute eine teils merkwürdige Zusammenstellung verschiedener Teile der alten Tracht getragen, die so niemals vor 1970 zu sehen gewesen wäre, z.B. fehlt heute das früher generell vorhandene Wamst, das den Trachtentänzerinnen wohl zu warm ist, ebenso wie die Unterröcke aus dem selben Grund. Das schöne weiß gestickte Halstuch, das vor 1900 verschwand, wird zusammen mit dem ärmellosen Kirmeswamst, das erst im 20. Jh. auftaucht, zusammen getragen. Zwar wurde zeitweise die Tracht hemdsärmelig getragen, aber nie das Halstuch, sondern das Hemd, und nur zur Ernte auf dem Feld, und dann nicht mit der bestickten Kirmesschürze. Im Grunde genommen ist also eine ganz eigenständige neue Festkleidung entstanden, die sich nur noch oberflächlich optisch an der alten Originaltracht orientiert, deren überlieferte Regeln aber bewusst außer Acht lässt.
Aus heutiger Sicht von Außenstehenden und Nachgeborenen stellt sich die Tracht wieder anders dar. Sie ist als so gut wie abgeschlossenes Kapitel der Kostümgeschichte Europas Thema zahlreicher Publikationen, des wissenschaftlichen und zunehmend auch des öffentlichen und privaten Interesses. In einer immer globaler werdenden Welt entdecken junge Menschen die Trachten ihrer Region, egal ob sie von ihren eigenen Vorfahren getragen wurden oder nicht, als Teil einer selbst definierten Identität. So erfinden gerade Städte, deren Einwohner sich früher damit brüsteten, nie bäuerlich gekleidet gewesen zu sein, heute ihre angeblich historischen Trachten, meist völlig unsinnig und ohne echte Beschäftigung aus bekannten Trachten zusammengestückelte Kostüme. Höhepunkt dessen ist wohl die „slowenische Nationaltracht“, die nach der Unabhängigkeit von der Regierung Sloweniens bei einer Modedesignerin in Auftrag gegeben wurde. Und hier eröffnet sich ein anderer, ganz neuer Konflikt: Wie darf mit der überlieferten Tracht umgegangen werden? Immerhin ist die heutige individuell gefärbte Kleidungsgewohnheit völlig verschieden von den geradezu lesbaren Trachten der ländlichen Bevölkerung vergangener Zeiten. Interessante Beispiele dafür finden sich bereits in der Literatur, so in dem Standartwerk "Der Tracht treu geblieben". Die hier angeführten Philomena Pautz aus Mainz und Gerhild Imhoff aus Wiesbaden tragen nach ihrem eigenen Verständnis ebenfalls eine Art "hessische" Tracht, eigentlich aber nur einzelne, ohne Rücksicht auf alle tradierten Regeln zusammengestellte Teile bevorzugt der bunten Marburger katholischen Tracht. Ob das ein neuer Abschnitt der bisherigen Trachtengeschichte sein kann, soll hier nicht diskutiert werden. Ich möchte nur versuchen, die eigentliche Tracht mit ihren eigenen Regeln so weit es mir möglich ist schriftlich zu fixieren, bevor sie völlig der Beliebigkeit anheim fällt. Dabei berücksichtige ich durchaus die bisher erschienen teilweise sehr grundlegenden Werke, die ich nicht ersetzen, sondern eher zusammenfassen möchte, besonders „Der Tracht treu geblieben“ und „Die Frauentracht des Breidenbacher Grundes“. Insbesondere die schneiderischen Details, die von den Autorinnen bereits mit viel Akribie und Sachverstand zusammen getragen und dokumentiert wurden, habe ich bewusst nicht noch einmal übernommen.
3. Die Tracht in der Wahrnehmung eigentlicher Trachtenträgerinnen
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Wie anders Trachtenträgerinnen sich selbst und ihre Tracht wahrnahmen, möchte ich zunächst anhand einer Trachtenträgerin aus Wallau, Frau Katharina Benner, geborene Donges, geboren 1910, verstorben 2004, deutlich machen. Frau Benner sagte über sich selbst als Trachtenträgerin, sie sei so angezogen wie ihre Mutter (Katharina Donges, 1882 – 1967) und Großmutter (Katharina Schneider, geboren 1861, gestorben 1928) und ihre Urgroßmutter (Anna Elisabeth Weber, geboren 1843, gestorben 1932) auch. Nun könnte man schnell daraus ableiten, dass die Tracht während dieser vier Generationen keinerlei wahrnehmbarer Veränderung unterworfen gewesen sei. Aber genau das trifft absolut nicht zu. Gerade in der benannten Zeit vollzogen sich deutlichste und von niemandem zu übersehende Veränderungen der gesamten Tracht des Untergerichts des Breidenbacher Grundes. Die Großmutter von Katharina Benner, Katharina Schneider, trug noch die volle Tracht des 19. Jahrhunderts, an Feiertagen mit Bruststecker, im Alltag immer mit Stilpchen. Nun wurden aber die Stilpchen aus hygienischen Gründen in Breidenbach bereits 1889, in Wallau 1898 von den Pfarrern für die Konfirmandinnen verboten, woraufhin die jüngeren Trachtenträgerinnen größtenteils die Stilpchen ablegten, nur die älteren Trägerinnen behielten sie bis zu ihrem Tode bei. Die Bruststecker verschwanden schon früher, gegen Ende des 19. Jhs., bei den jüngeren Trägerinnen. Letzte Bilder alter Frauen mit Bruststecker datieren alle aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Also bot sich Katharina Benner in ihrer Kindheit folgender Anblick: Ihre Großmutter trug noch Bruststecker und Stilpchen, ihre Mutter noch das Stilpchen, sie selbst aber weder Bruststecker noch Stilpchen. Diese drei trugen wohl bereits Büffel, also dicke Unterröcke aus einem „Büffel“ genannten geköperten Wollstoff, mit weißen Leinenträgern, die Urgroßmutter Anna Elisabeth Weber aber sicher noch den langen durchgehenden Büffel. Urgroßmutter und Großmutter werden noch grüne Wämster mit roten, grünen oder schwarzen Doppelreihen von Knöpfen getragen haben, die beiden jüngeren Frauen bereits die blauen des 20. Jahrhunderts mit einer Knopfreihe. Wie auch in „Der Tracht treu geblieben“ beschrieben, trugen schon in ganzen Dörfern keine der um 1910 geborenen Frauen mehr grüne Wämster, während zeitgleich ältere Jahrgänge im selben Dorf diese noch trugen (S. 141). Von einer optisch einheitlichen Tracht kann also beim besten Willen nicht gesprochen werden. Katharina verarbeitete sogar im Zweiten Weltkrieg die im Hause befindlichen Stilpchen, für die sie zeitlebens keine Verwendung hatte, zu Hausschuhen. Aber auch innerhalb ihres eigenen Lebens änderte sich die Tracht in Wallau. Katharina trug das Rosentuch als junge Frau noch gewickelt, auf Bildern ab etwa 1940 aber wie alle jungen Frauen herunterhängend oder mit den Zipfeln in den Schürzenbund gesteckt. Als junge Frau trug sie noch das geschnürte Mieder über dem Wamst, später das Wamst über dem Mieder und noch später an den Rock angenähte Jacken, die das Schnürmieder ersetzten. Offensichtlich war solcher Umgang mit der Tracht den Trägerinnen durchaus freigestellt. Tracht ist daher als zementierte Kleiderordnung gesehen falsch verstanden.
Dieses Beispiel zeigt überdeutlich, dass in der Wahrnehmung der eigentlichen Trachtenträgerinnen die Tracht als solches ganz anders gesehen wurde, als von den meisten heutigen Trachtenbegeisterten. Die ländliche Kleidung war modischen Neuerungen jeder Generation unterworfen wie die städtische Kleidung auch. Der Gegensatz hieß auch nicht "Tracht" und "Nicht-Tracht", sondern "kurze" und "lange" Kleidung, wobei aufgrund der Rocklängen "kurz" für die Tracht, "lang" für städtische Kleidung stand. Der Begriff „Tracht“ taucht im Vokabular der alten Trachtenträgerinnen nicht auf. „Tracht“ war schon immer ein Begriff der Außenstehenden. Im eigenen Dialekt waren die Trachtenträgerinnen in ihrer Selbstbezeichnung „Kiwwelcher“, eine dialektale Bezeichnung für das Stilpchen, auch in den Zeiten, als längst keine Kiwwelcher (Stilpchen) mehr getragen wurden. Man trug als Kiwwelche (Trachtenträgerin) eben die kurze Kleidung des eigenen Dorfes, war aber durchaus frei, in jeder Generation Anpassungen und Veränderungen daran durchzuführen, wie auch einzelne Trägerinnen die Kleidungsstücke ihren Bedürfnis anpassten und modifizierten, solange ein einheitlicher Eindruck gewahrt blieb. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung spielte auch Geld durchaus eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der persönlichen Ausformung der Tracht, was allerdings so sehr in Details versteckt wurde, dass ein Außenstehender diese Unterschiede niemals hätte bemerken können.
Solche Veränderungen waren auch durchaus notwendig. So warf das Verbot der Stilpchen in den 1890er Jahren durch Pfarrer und Lehrer das gesamte feinabgestimmte Gefüge der einzelnen Trachtenteile durcheinander, die zusammen einen für die Einheimischen genau zu lesenden Dresscode, eine Übermittlung von Personeninformationen in der Kleidung, ergeben hatten. Ursula Ewig vermutet, dass das Verschwinden der Stilpchen und Bruststecker sogar zur Ausbildung neuer Trachtenteile führte, nämlich zu den, im 19. Jh. nicht belegten, ärmellosen Wämstern zur Kirmes- und zur Erntetracht, die unter der Schnürung des Mieders getragen, sowohl die Bruststecker ersetzten als auch in gewissen Grenzen Farbinformationen der Stilpchen wiedergaben. Denn Trachten waren immer mehr als pure Kleidung. In der Sicht heutiger Menschen, denen nichts über Selbstbestimmung und Individualismus geht, waren Trachten einengende vorgeschriebene Zwangsmoden, die den einzelnen in seiner freien Entfaltung hinderten. Tatsächlich trug man die Tracht, in die man geboren war; nur dass in der Wahrnehmung vergangener Zeiten daraus folgte, dass man eine bestimmte Tracht tragen durfte, nicht musste. So durften weder zugeheiratete Frauen, Pfarrers- oder Lehrersfrauen oder -töchter die Tracht ihres neuen Wohnortes tragen, Trachtenträgerinnen aus anderen Trachtengebieten trugen weiter ihre Heimattracht; auch durften Kinder in der Endphase der Tracht nicht bestimmen, ob sie lang oder kurz gekleidet sein wollten; wer von den Eltern kurz angezogen wurde, blieb oft dabei, wer lange Kleidung erhielt, trug niemals im Leben Tracht. Das galt sogar für Männer. So wurde noch in den 30er Jahren ein letzter Junge in Wallau aus Gründen der Armut in Kittel gekleidet und konnte sich erst zur Konfirmation umziehen zur modernen städtischen Kleidung.
Echte „Kiwwelcher“ hätten große Probleme damit gehabt, junge Frauen bei Trachtenumzügen zu sehen, die nicht als Kinder kurz angezogen worden waren, sondern nur zu bestimmten Anlässen, vielleicht sogar noch falsch kombinierte, Trachtenstücke trugen. Trachtenträgerinnen trugen im 20. Jh. ihre Tracht nur dann nicht, wenn sie ihren eigenen Lebensradius verließen. In Frankfurt z.B. oder bei Besuchen bei Verwandtschaft in der Wetterau hätte man niemals die eigene Tracht zur Schau getragen. Üblicherweise hatte jedes Kiwwelche dafür eigens ein modernes Kleid im Schrank. Erkennbar blieben sie trotzdem, gehörte zur Tracht doch entgegen allen Moden lange Haare, die zu sehr eigenen Haarmoden getragen wurde, seien es zwei Zöpfe oder zum Kranz gelegt.
Auch erfolgte das so genannte "Umziehen", also der endgültige Wechsel von der kurzen zur langen Kleidung, praktisch immer zu Zeitpunkten, zu denen man innerhalb der Tracht die Farbe gewechselt hätte, also zur Konfirmation oder Erstkommunion, zur Hochzeit, im Trauerfall oder wenn man aufs Altenteil ging. Ein solcher Wechsel war immer endgültig, eine "Umgezogene" hätte niemals wieder ein "kurzes" Kleidungsstück angelegt, erst recht nicht zu einem Festzug oder Trachtentag.
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Tracht war eben Teil der Identität. Man wollte sich abgrenzen. So übernahmen die Marburger Protestanten im Ebsdorfer Grund beginnend um 1800 die Tracht der benachbarten katholischen Amöneburger. Kennzeichen dafür sind die für den Grund typischen sehr alten grün eingefassten Stilpchen, die sowohl die Urform der Marburger Stilpchen als auch der Marburger Schleier wurden. Daraufhin veränderten die Katholiken ihre eigene Tracht nach modischen Einflüssen ihrer städtischen Vorbilder in Marburg. Deutlich wird das z.B. an dem katholischen Halstuch, das über der Brust gekreuzt und hinter dem Rücken gebunden wird, wie weiße Tücher aus Seide oder feinem Leinen zur Zeit Ludwigs XVI. und der Revolutionszeit in Frankreich, allerdings völlig unstädtisch gestrickt und bunt bestickt. (Die Trachten der bäuerlichen Bevölkerung gelten ja schon seit Hottenroth als ideales Beispiel für „gesunkenes Kulturgut“, also als quasi verwilderte städtische Kleidung, was aber nur bedingt richtig ist. Zwar erinnern z.B. die Haubenformen der Stilpchen im Untergericht durchaus an gotische Haubenformen oder an Renaissancehauben städtischer Damen, aber die Hemdschnitte, die ganz eigenständige Art der Verzierung und der völlig freie Umgang mit dem in der Stadt gesehenen machen überall Trachten zu einer ganz und gar eigenständigen Kulturleistung der ländlichen Bevölkerung.) Die Protestanten hatten zuvor beiderseits der Lahn bis an die Schwalm heran die so genannte "Dellmutschentracht", heute nur noch im östlichen Hinterland belegt, getragen, die fast vollständig schwarz war, eine Übernahme der Theologie der Reformationszeit. Noch Landau verzeichnet 1842 im Marburger Umland rechts der Lahn ganz überwiegend die, wie er schreibt, "schwarze Kleidung", also die Dellmutschentracht, die in seiner Beschreibung auch aufgrund der Erwähnung eines "eigenthümlich geformten, gleichsam zwiefachen Häubchens" genau identifiziert werden kann. (S. 368) Sie wurde also ursprünglich auch außerhalb des Hinterlandes getragen. Tracht war also nicht unbedingt an Landesgrenzen orientiert. Justi geht zwar davon aus, dass es sich hierbei um die Schneppekappentracht des Amtes Blankenstein handelte, allerdings kann die Schneppekapp nicht als zwiefaches Häubchen definiert werden, die Dellmutsche aber sehr wohl. Bilder aus dem frühen 19. Jahrhundert belegen beide Haubenformen, teilweise im gleichen Dorf, wie auf einem Bild von L. E. Grimm, für Gosfelden 1829 (Die Frauentracht des alten Amtes Biedenkopf, S. 48 gegenüber). Allerdings waren die Lutheraner in der Schwalm und im Breitenbacher Grund schon zu dieser Zeit bunt gekleidet. Wahrscheinlich trug das direkte Aufeinandertreffen der Konfessionen, noch dazu in einer Region, die für die Reformation so wichtig war, zu der langen farblichen Unterscheidung, wie sie eigentlich für das 16. und 17. Jahrhundert typisch war, ganz maßgeblich bei. Möglicherweise unterschieden sich auch die Lutheraner im Breidenbacher Grund und der Schwalm wiederum von den ihnen benachbarten schwarz gekleideten Reformierten im, dem Hinterland benachbarten, Wittgenstein und den Trägerinnen der schwarzen Spitzbetzeltracht der evangelischen Dörfer Hessen-Kassels nördlich der Schwalm. Die Lutheraner wollten sich sicherlich von den bei ihnen nicht gerade beliebten Reformierten absetzen, hatte doch z.B. die kurze reformierte Episode (ab 1604) in Wallau 1624 mit dem Aus-dem-Dorf-Prügeln des Pfarrers Celarius geendet.
Das Buch „Der Tracht treu geblieben“ ist eine ungemein wichtige Quelle, da hier zum letzten möglichen Mal die Anstrengung unternommen wurde, noch lebende Trachtenträgerinnen zu interviewen und ihre individuellen Kleidungsgewohnheiten aufzuzeichnen. Liest man das Buch in seiner Summe, so stellt sich heraus, dass die einzelnen Trägerinnen durchaus ihren individuellen Stil hatten und durchaus selbstbewusst ihre Kleidung zusammenstellten. Da finden sich neue Stoffe und vereinfachte Arbeitsweisen, und häufig als Grund für Veränderungen das Bewusstsein, dass die alte Kleidung einfach im Alter zu schwer oder zu unpraktisch wurde, oder dass einfach ein neues erweitertes Stoffangebot genutzt wurde.
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Auch Bilder des 19. Jhs. zeigen bei genauer Betrachtung durchaus erkennbare Unterschiede in den einzelnen Kleidungsweisen, weshalb auch schon Justi die einzelnen Trägerinnen namentlich kenntlich machte. So zeigt das bereits erwähnte Bild von L. E. Grimm zwei Mädchen in aus heutiger Sicht „echter Tracht“, dazu aber ein Mädchen mit einer Schneppekapp, die eigentlich in ein modisches Biedermeierkleid gekleidet ist, aber wiederum mit über dem Kleid geschnürten Mieder und einer Schürze mit breitem Schürzenband. Aus heutiger Sicht wäre eine solche Mischung der Kleidungsweisen unmöglich. Andererseits wurden einige angebliche Unterscheidungsmerkmale wohl gar nicht als solche verwendet. So ist oft zu hören, die Zahl der Bommeln an den Strumpfbändern der Untergerichtstracht habe die Unterscheidung reicherer und ärmerer Heiratskandidatinnen ermöglicht. Das war den alten Trägerinnen so aber unbekannt, außerdem fehlen Strumpfbänder mit deutlich mehr oder weniger Bommeln als der Durchschnitt, 6 bzw. 8 pro Seite, völlig.
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3. Die Tracht in der zu ihr zeitgenössischen Literatur und Bildern
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Die Trachten des Hinterlandes waren schon im 19. Jh. im Zuge der Beschäftigung mit dem eigenen nationalen Erbe Gegenstand der Beschäftigung gebildeter Kreise, die aber naturgemäß völlig außenstehend über eine interessante, ihnen aber absolut fremd bleibende Kultur und ihre Kleidung schrieben und nicht selten urteilten. Van Embde schuf in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Genrebilder, die auch Trachten des Hinterlandes zeigten, aber nicht immer sicher als Quelle zu beurteilen sind, da sie durchaus künstlerisch frei behandelt wurden, wenn auch nicht so frei wie von Zeitgenossen van Embdes, wie Jakob Fürchtegott Dielmann, von dessen, in historischer Hinsicht nur als merkwürdig zu bezeichnenden, Bildern ein schönes Beispiel bei Ursula Ewig S. 81 zu finden ist. Die Literatur beschäftigt sich mit den Trachten des Hinterlandes seit 1842 in der Beschreibung des Herzogtums Nassau von Landau, in der eine gute Beschreibung der Tracht des Amtes Biedenkopf, der Dellmutschentracht enthalten ist, gefolgt 1847 von Dullers Werk über "Das deutsche Volk", in dem er auch den Zug der Hessen anlässlich der Errichtung der Ludwigssäule in Darmstadt und darin die Trachten des Breidenbacher Grundes und des Amtes Biedenkopf beschrieb. Zuvor berichteten nur Reisende von den, in ihren Augen unansehnlichen weil altmodischen, Trachten im Hinterland. Duller aber beschreibt die Festtagstrachten der vorbeidefilierenden Hinterländerinnen als farbenfroh und schön, als "origineller" als die übrigen Trachten des Ehrenzuges. Interessant ist noch, was genau er beschreibt (S. 274): Das Stilpchen der Tracht des Untergerichts beschreibt er als rot, das Halstuch als schwarz, ein langes buntes Bruststück mit Schleifen und gelbe Strümpfe. Dazu beschreibt er ebenso wie der Künstler Nebel, der die Trachten des Zuges auf einem Einzelblatt abbildete, an den Füßen der Breidenbacherinnen noch die barocken Schuhe mit hohem Absatz und Schnallen, die heute als ausschließlich typisch für die Schwalm gelten. Allerdings verschwanden diese im Hinterland schon bald und wurden ausgetauscht gegen hohe Schnürstiefeletten mit roten Laschen. Leider würde eine solche Tracht heute wohl von keinem Trachtenverein des Hinterlandes mehr als „echt“, also authentisch angesehen. Allerdings ist eine solche Beschreibung durchaus glaubwürdig und ausgesprochen wichtig, hat Duller doch kein Interesse an einer verfälschenden Darstellung. So weisen die schwarzen Halstücher deutlich hin auf eine im 20. Jh. nicht mehr verwendete Form, die aber in den sehr selten belegten Freude-Leid-Tüchern, die auch auf schwarzer Seide gestickt wurden, noch nachweisbar ist. Interessant sind auch die gelben Strümpfe, die offensichtlich gekauft waren, da Gelb eine sehr teure Stofffarbe war. Bleibt nur die Frage, in wie weit diese zu einem Festzug getragenen Trachten tatsächlich eine echte Alltagstracht wiedergeben. Man kann wohl annehmen, dass zu einem solchen Anlass nicht die bereits länger in Gebrauch befindlichen Kleider getragen wurden, vielleicht wurden sogar Trachtenteile wie die Strümpfe von der Staatskasse oder den lokalen Adelsfamilien zu Ehren des Festtages spendiert. Besonders auffällig ist das in Bezug auf die Kleidung der Männer. Sie sind auf dem Einzelblatt, das die wichtigsten Trachten des Umzuges wiedergibt, deutlich städtischer gekleidet als Männer auf viel späteren Photoaufnahmen aus den 30er Jahren des 20. Jh., die noch Kittel tragen, während zum Festzug 1844 lange Mäntel und runde Hüte, nur noch in einem Fall scheinbar ein Dreispitz, vorgeführt wurden.
Die Trachten gezielt, nicht nur als kurzen Augenschein, beschreibende zeitgenössische Literatur insbesondere um 1900 hat zwei wesentliche Probleme: Keiner der Autoren im 19. Jh. kannte die Tracht wirklich aus eigener Anschauung, vor allem nicht über längere Zeit und als Alltagskleidung, da niemand, der sie beschrieb, aus den Trachtengebieten stammte. Lediglich Justi, der in den 1860er Jahren Professor für Orientalistik in Marburg wurde, kannte die Region, deren Trachten er 1905 im „Hessischen Trachtenbuch“ veröffentlichte, aus eigener mehrjähriger Anschauung. Gereist wurde aber im Hinterland viel. Selbst der eigentlich für Szenen aus dem bäuerlichen Bayern bekannte Maler Franz von Defregger kam 1867 durch Wallau, wie eine im Kunsthandel versteigerte Skizze der Wallauer Kirche beweist. Im 19. Jh. gehörte es für Maler zum guten Ton, in ihrer Ausbildung gereist und weit herum gekommen zu sein. Allerdings dienten die Reisen dem Sammeln von Skizzen und der Verbesserung der eigenen Maltechnik, längere Aufenthalte kamen kaum vor und ethnologische Untersuchungen waren nicht ihr eigentlicher Sinn; daher entstanden auch oft eher oberflächliche Bildthemen, nämlich Genreszenen. Lediglich die Künstlerkolonie in Willingshausen in der Schwalm konnte sich über eine längere Zeit mit einer einheitlichen vollständigen Tracht beschäftigen, was im Bewusstsein mancher heutiger Zeitgenossen die Schwalm als Repräsentant der hessischen Tracht schlechthin erscheinen lässt. So wurde ich schon belehrt, als Hesse müsse ich doch die „Schwälmertracht“ tragen, „schwälmer“ scheinbar als hessisches Adjektiv aus dem Dialekt missverstanden.
Zwar reisten Kretschmer und Hottenroth tatsächlich auch, aber sie blieben nie lange in einem Gebiet und waren in ihren Bildkompositionen Künstler ihrer Zeit, sie malten gestellte Szenen. Mehrfach tauchen Frauen in Sonntagstracht auf Feldern bei der Arbeit auf, was völlig unhistorisch ist und sicherlich bei den Dargestellten während die Skizzen entstanden für Amüsement gesorgt haben dürfte. Berühmt ist z.B. Tafel 47 bei Kretschmer, auf der eine Bäuerin im Schwarzwälder Gutachtal mit rotem Bollenhut, also absoluter Sonntagstracht, mit einem Rechen auf der gemähten Wiese herumläuft, während eine andere einen Heuballen schnürt, sichtbar bemüht, die gute Kleidung nicht schmutzig zu machen. Dasselbe gilt für ein Bild mit Untergerichtstrachten in den „Nassauischen Volkstrachten“ von Hottenroth, auf dem eine Frau in weißer Tracht und eine in grünem Sonntagswamst Heu machen.
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Allerdings existieren auch außergewöhnlich genaue Skizzen eines solchen reisenden Malers, nämlich von Rudolf Koch (* 19. Oktober 1856 in Pößneck, † 27. Oktober 1921 in Frankfurt/M.; nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Kalligraphen und Schriftkünstler * 20. November 1876 in Nürnberg, † 9. April 1934 in Offenbach). Dieser heute fast unbeachtete Künstler fertigte um 1897 auch im Biedenköpfer Umland und speziell in Wallau ganz bemerkenswert exakte Zeichnungen verschiedener Frauen in Orts- und Situationstracht an, die als Quellen der Tracht vor 1900 gar nicht zu überschätzen sind. Koch reiste viel, fertigte Skizzen an, die er nach dem Leben malte, wie er schrieb, um sie in Zeitschriften wie „Über Land und Meer“ oder „Kleine Presse“ zu veröffentlichen. Besonders wertvoll machen seine Zeichnungen die beigefügten Notizen. Da er oft nur in Bleistift skizzieren konnte, notierte er z.B. exakt die Farben, also sind keine Veränderungen der Information durch Alterung und Verbleichen zu befürchten. Interessant ist auch, dass offensichtlich bestimmte Frauen mehreren Malern als Model zur Verfügung standen, so z.B. eine Rosina 1897 bei Koch, die wahrscheinlich die Rosina Achenbach ist, die 1900 Justi mit rotem Bruststecker malte.
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Koch zeichnete mit dem Auge des an der Tracht als Teil der Volkskunde interessierten Beobachters. Seine detailgenauen Zeichnungen geben oft mehr Einzelheiten wieder, als durchschnittliche Photographien zeigen könnten. So zeigt eine Zeichnung, wahrscheinlich auch der Rosina Achenbach, eine Variante, wie der Bruststecker auch getragen werden konnte, nämlich nicht unter der Schnürung des Mieders, sondern in den Schürzenbund gesteckt; unter der Schnürung hätte die aufgenähte Schleife sich auch nicht wirklich entfalten können. Offensichtlich wurden aus diesem Grund die Bruststecker des Breidenbacher Grundes Untergerichts nicht allzu alt, da die Pappe im Bruststecker nicht sehr lange ungeknickt blieben konnte und der Bruststecker damit unbrauchbar geworden war. Übrigens ist auch die Form des Bruststeckers bemerkenswert, entspricht seine Form doch nicht exakt der, die als typisch für das Untergericht gilt. Sein oberer Rand ist lediglich sanft geschweift und mit einer Art Borte besetzt.
Allerdings ist Koch doch ein Außenstehender, weshalb ihm in der Begrifflichkeit doch schwere Fehler unterlaufen. So verzeichnet er zu dem Blatt der Rosina. „Gewöhnlicher sommerlicher Kirmessen-Anzug, auch beim Tanz getragen nur fehlt dann das um den Hals geschlungene Tuch. Die weißen Hemdärmel, wiederum „Halstuch“ genannt, werden gesondert vom Hemd angezogen. Zu beachten die nur auf der Herzseite befindlichen Knöpfe auf dem „Büffel“, dessen Leibchen bis oben hinauf und dessen Achselbänder den schwarzen Rock tragen. Die Schuhe sind mit schmalen rothen Ledervorstoß versehen. Protestantisch.“ (Seim/Becker S. 80 Nr. 14) Allerdings hatte ein Büffel, der Unterrock, niemals Knöpfe, Rosina hätte wohl auch kaum in Unterwäsche Model gesessen. Koch verwechselt offensichtlich Büffel und Wamst.
Besonders problematisch ist die häufige Ungenauigkeit in der Darstellung hinsichtlich der Männerkleidung. Justi benennt die von ihm abgebildeten Personen mit Angabe ihres Ortes. Daraus entstand leider oft der Eindruck, die Männertrachten der einzelnen Orte seien ähnlich kleinteilig gegliedert gewesen wie die Trachten der Frauen, obwohl einfach verschiedene Männer zu verschiedenen Anlässen ihre Kleidung trugen, die in ganz Hessen üblich war. Ebenso missverständlich sind die häufigen Postkarten mit Trachtenmotiven, die von Malern in den Produktionsstätten, also fernab der Trachtenträgerinnen, das malten, was sie auf Bildern erkennen konnten. Kaum ein Kartenmaler verstand z.B. die Strumpfbänder der Hinterländerinnen.
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Andererseits existieren Bilddenkmäler von gar nicht überschätzbarer Bedeutung, wie das Einzelblatt mit den Darstellungen der 1844 zu sehenden Trachten bei dem Festzug zu Ehren der Einweihung des „Langen Ludwig“ in Darmstadt, den Duller beschreibt. Das Bildblatt „Der Bauernstand des Großherzogtums Hessen bei der Enthüllung des LUDEWIG MONUMENTES in Darmstadt am 25ten August 1844“ von Friedrich Joseph Adolph Nebel existiert zurzeit nur noch in zwei bekannten Exemplaren in Biedenkopf und Gießen, das Gießener davon koloriert. Dieses Blatt ist eine ganz ungewöhnliche Quelle gerade für die Tracht des Untergerichts. Bearbeitet wurde das Biedenköpfer Blatt im Band 8 der Sammlung zur Volkskunde in Hessen von Gerd J. Grein, das kolorierte in der, wenn auch teilweise zu persönliche argumentierenden, fachlich aber ausgesprochen guten Inauguraldissertation von Hans Deibel „Kleidung nach Landes-Brauch“. Auf der kolorierten Darstellung erkennt man die einzige Frau aus dem Untergericht bekleidet mit einem grünen Wamst, einem schwarzen Rock, einer blauen Schürze, schwarzen Schnallenschuhen, einem schwarzen Halstuch und anders als bei Duller beschrieben mit wahrscheinlich weißen Strümpfen. Die Strumpfbänder sind grün und rot wiedergegeben. Auf der Brust prangt ein überaus bunt hervorstechender Bruststecker mit einer Schleife.
Einige Details aber werden in dem nicht kolorierten Biedenköpfer Druck deutlicher. So ist das Tuch um den Hals noch recht klein und hinter dem Hals geknotet, der Rock entgegen der späteren Trageweise rundum plissiert, auch unter der Schürze; die Schürze selbst wird locker vorne durchhängend getragen und hinter dem Rücken geknotet. Die Schnürung des Mieders ist sehr tief angesetzt, deutlich tiefer als bei der Frau aus dem Obergericht die direkt daneben steht, und sie ist als besonderer Unterschied kreuzweise über dem Bruststecker geschnürt, nicht im Zickzack wie bei der Trägerin der Obergerichtstracht. Auch hat der Bruststecker noch nicht den halbrund ausgeschnittenen oberen Rand. Das rote mit schwarzem Band eingefasste Stilpchen hat noch einen sehr kleinen, kaum überstehenden Deckel.
Man könnte argumentieren, die Darstellung sei nicht allzu genau, allerdings sind die Trachten des Obergerichts und die schwer zu zeichnenden Schneppekappen und Dellmutschen sehr gut und treffend wiedergegeben. Es gibt also keinen Grund an der Darstellung ausgerechnet der Tracht aus dem Untergericht zu zweifeln.
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- Dipl. theol. Christoph Kaiser (Author), 2008, Die Tracht als veränderliche Kleidung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116707
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