Katharsis, als reinigende Entladung und Ausgangspunkt gesellschaftlichen Zusammenlebens? Kollektive Abreaktion von Gewalt durch Darbringung eines Opfers?
Dies sind Fragestellungen, die uns zurück zu den archaischen Wurzeln der Menschheit führen. Weit entfernt erscheint aus heutiger Sicht das Zusammenleben des Menschen in Jagdverbänden, ebenso wie blutige Menschenopfer. Die Strukturen solcher Urtriebe dagegen durchleuchten die heutige Postmoderne noch immer und vielleicht heute sogar wieder stärker, wenn man sich darüber bewusst wird, dass wir als Menschen in einer Traumafolgekultur leben, bedingt durch zahlreiche Kriege, in denen Menschen gnadenlos „geopfert“ wurden und werden. Man erschrickt über die Blutlastigkeit unserer Gesellschaft. Wie kann etwa die Todesstrafe, in einer ach so zivilisierten Welt, weiterhin bestehen? Wie kommt es dazu, dass Schüler ihre Schule betreten, um eiskalt auf jede sich bewegende Person zu schießen? Oder Fußballfans, die sich bei einem Spiel in Hooligans verwandeln um Schlägereien anzuzetteln, die nicht nur harmlose Provokation sind?
Eine Antwort findet sich, wenn man die Menschheit als Produkt der Evolution betrachtet: Wir verkörpern eine sehr junge Spezies, vergegenwärtigt man sich das Alter der Erde mit 4,43 Mrd. Jahren und jenes der Menschheit, das auf etwa 2 Mio. Jahre geschätzt wird. Durch diesen Vergleich ergibt sich eine frappante zeitliche Nähe des heutigen Menschen zu unseren archaischen Vorfahren, um so mehr zu den antiken Griechen, um welche es hier u.a. gehen wird. Diese zeitliche Nähe ist selbstverständlich als relativer Faktor der menschlichen Bewusstseinsevolution, im Vergleich zum Erdenalter, zu sehen. Woraus sich ergibt, dass der Mensch in Stresssituationen, z.B. in Folge von Traumatisierungen, sehr schnell mit seinen archaischen Wurzeln konfrontiert werden kann, da eben diese gar nicht all zu weit zurück liegen.
Ich werde im Folgenden darlegen, weshalb das Opferritual so wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist, ja für die Entstehung von Zivilisation schlechthin. Dabei schaue ich mir die Entwicklung vom Menschenopfer zum Tieropfer an und darüber hinaus die großartige Leistung der antiken Griechen, eine mimetische Form des Opfers zu begründen, wobei die Opfermetaphorik als Selbstreferentialität in der Tragödie anhand Aischylos Agamemnon exemplarische Beachtung finden soll. Dem folgt ein Einblick in die heutige Gesellschaft mit der Frage nach der Existenz moderner Katharsis oder Formen der Regression, die auf das ursprüngliche Opfer zurückzuführen sind.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- 1. Das Opferritual als Ausgangspunkt allen gesellschaftlichen Zusammenlebens
- 1.1 The Hunting Hypothesis
- 1.2 Das Sündenbockritual und la violence fondatrice
- 1.3 Ein literarisches Beispiel des Sündenbockmotivs
- 2. Die Griechische Tragödie als mimetisches Opferritual
- 2.1 Der Agamemnon des Aischylos
- 3. Stierkampf und andere zeitgenössische Formen des Opferrituals
- Ausblick
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht das Opferritual als grundlegendes Element der Menschheitsgeschichte und seine Bedeutung für die Entstehung von Gesellschaft und Kultur. Sie befasst sich mit der Entwicklung des Opferrituals von archaischen Formen bis hin zur griechischen Tragödie und zeigt auf, wie sich die Opfermetaphorik in modernen Gesellschaften manifestiert.
- Die Rolle des Opferrituals bei der Kanalisierung und Ableitung von Aggression
- Die Hunting Hypothesis und die Bedeutung der Jagd für die Entstehung menschlicher Gesellschaften
- Das Sündenbockritual als Form der kollektiven Schuldzuweisung und Gewaltentladung
- Die Griechische Tragödie als mimetisches Opferritual und ihre Bedeutung für die Katharsis
- Die Präsenz von Opferritualen in modernen Gesellschaften und ihre Auswirkungen auf das menschliche Verhalten
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die grundlegenden Fragen nach der Bedeutung des Opferrituals für das gesellschaftliche Zusammenleben und die Entwicklung der Menschheit. Sie beleuchtet die Rolle der Katharsis und die Präsenz von Gewalt in der modernen Gesellschaft.
Kapitel 1 befasst sich mit dem Opferritual als Ausgangspunkt allen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Es wird die Hunting Hypothesis vorgestellt, die die Jagd als Ursprung menschlicher Gesellschaften betrachtet. Außerdem wird das Sündenbockritual als Form der kollektiven Schuldzuweisung und Gewaltentladung analysiert.
Kapitel 2 untersucht die Griechische Tragödie als mimetisches Opferritual. Am Beispiel des Agamemnon des Aischylos wird die Opfermetaphorik und ihre Funktion in der Tragödie beleuchtet.
Kapitel 3 widmet sich zeitgenössischen Formen des Opferrituals, wie beispielsweise dem Stierkampf. Es werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen archaischen und modernen Ritualen aufgezeigt.
Der Ausblick fasst die wichtigsten Erkenntnisse der Arbeit zusammen und gibt einen Ausblick auf zukünftige Forschungsfelder.
Schlüsselwörter
Opferritual, Katharsis, Hunting Hypothesis, Sündenbockritual, Griechische Tragödie, mimetisches Opfer, Gewalt, Gesellschaft, Kultur, Evolution, Moderne.
- Citar trabajo
- Laura Gemsemer (Autor), 2008, Das Opferritual in der griechischen Tragödie und andere mimetische Formen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116478