Es ist eine bemerkenswerte Ambiguität in der (Möglichkeit zur) Begegnung mit „dem“ Fremden, denn an den Kontakt mit ihm knüpfen sich widersprechende Emotionen wie etwa Miss-trauen, Neid und auch Angst auf der einen sowie Neugier, Erwartung und Faszination auf der anderen Seite. Letztere Konnotationen betonen die Anziehungskraft des Unvertrauten, dem die verlockende Fähigkeit zu Eigen zu sein scheint, „alte und belastende Gewohnheiten oder Routinen aufzubrechen, zu bereichern oder anzuregen“ (Reuter 2002: 63). Damit wird dem Fremden potenziell die integrale Kraft zur Veränderung, Ergänzung und sogar Metamorphose unterstellt. Die Kehrseite des Fremden aber kann sehr schnell zu Tage treten, wenn er nämlich durch seine Nähe und sein Bleiben die alte Ordnung nicht mehr bereichert oder verändert, sondern bedroht und die Angst schürt, „daß die ‚übersichtlichen Verhältnisse’, die wir in Wahrheit natürlich nie haben, durch das Fremde unübersichtlich werden; daß wir die Gebor-genheit in unserer Identität verlieren könnten“ (Kast 1994: 224). Dabei zeigt sich das Problem mit Fremdheit oftmals als akutes Verstehensproblem, das eine Situation der Handlungsungewissheit oder auch -irritation nach sich zieht. Da man diese nicht einfach ignorieren kann, erhält es praktische Relevanz, denn mit diesem Verstehensproblem sind Störungen von Routineabläufen sowie eine Art von Krisenkommunikation verbunden. Verschärft wird dieses problemhafte Fremderleben dadurch, dass die klassischen Fremdenrollen heute keine ausrei-chende soziale Regelung mehr bieten und prinzipiell nicht mehr festlegen, was als fremd gilt. Denn immer mehr stoßen im Alltag getrennte Sinnwelten aufeinander, die durch eine Pluralisierung von Sonderrollen gekennzeichnet sind, in denen der Rückgriff auf universale klärende Modi misslingen muss (vgl. Schäffter 1991: 13).
Wenn in dieser Arbeit von Fremdheitserfahrungen gesprochen wird, so bezieht sich dieser Begriff nicht auf die Fremdheitserlebnisse von Migranten oder allgemeiner auf die Fremdheit, die ein Mensch durchlebt, der sich im Zuge transnationaler Wanderungs- oder Flüchtlings-ströme und mithin aus Gründen eines spezifischen Zwanges einer unvertrauten Lebenswelt aussetzen und in ihr zurechtfinden muss. Vielmehr sollen im Folgenden die Fremdheitserfahrungen so genannter „KosmopolitInnen“ im Mittelpunkt stehen, also von Menschen, die das Privileg zum Reisen haben und es auch nutzen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Theoretische Fundierung
I.1 Grundsätzliche Merkmale von „Fremdheit“
I.2 Relevanz: Zur Unterscheidung des „Fremden“ vom „Anderen“
I.3 Grade der Fremdheit
I.4 Soziale und Kulturelle Fremdheit
Fazit
II. Datenerhebung
II.1 Methodische Konzeption
II.2 Auswahl der Intervieworte
II.3 Interviewführung
II.4 Grundsätzliche Überlegungen
III. Auswertung der Interviews
III.1 Die Interviewten – Distinktion und Kennerschaft
III.2 „Heimische Inseln“ – Zur Vertrautheit der beiden Hospize
III.3 Steuerungsmechanismen von Fremdheitserfahrungen
III.3.1) Räumlicher Rückzug
III.3.2) Retardation
III.3.2.1) Retardation durch eine kulturell nahe Gemeinschaft
III.3.2.2 Retardation innerhalb kulturell „sicherer“ Räume
III.4 Fremdheitserfahrungen
III.4.1 Allgemeine Charakteristika der beobachteten Fremdheitserfahrungen
III.4.2 Fremdheitserfahrungen im Modus von Rollenausrichtungen und Nichtzugehörigkeit
III.4.3 Fremdheitserfahrungen im Modus der Unvertrautheit
Zusammenfassung
Anhang
1. Leitfaden für VolontärInnen im Österreichischen Hospiz und im Paulushaus
2. Leitfaden für VolontärInnen im Österreichischen Hospiz und im Paulushaus
1. Leitfaden für Zivildienstleistende im Österreichischen Hospiz und im Paulushaus
2. Leitfaden für Zivildienstleistende im Österreichischen Hospiz und im Paulushaus
Literaturverzeichnis
Einleitung
Es ist eine bemerkenswerte Ambiguität in der (Möglichkeit zur) Begegnung mit „dem“ Fremden, denn an den Kontakt mit ihm knüpfen sich widersprechende Emotionen wie etwa Misstrauen, Neid und auch Angst auf der einen sowie Neugier, Erwartung und Faszination auf der anderen Seite. Letztere Konnotationen betonen die Anziehungskraft des Unvertrauten, dem die verlockende Fähigkeit zu Eigen zu sein scheint, „alte und belastende Gewohnheiten oder Routinen aufzubrechen, zu bereichern oder anzuregen“ (Reuter 2002: 63). Damit wird dem Fremden potenziell die integrale Kraft zur Veränderung, Ergänzung und sogar Metamorphose unterstellt. Die Kehrseite des Fremden aber kann sehr schnell zu Tage treten, wenn er nämlich durch seine Nähe und sein Bleiben die alte Ordnung nicht mehr bereichert oder verändert, sondern bedroht und die Angst schürt, „daß die ‚übersichtlichen Verhältnisse’, die wir in Wahrheit natürlich nie haben, durch das Fremde unübersichtlich werden; daß wir die Geborgenheit in unserer Identität verlieren könnten“ (Kast 1994: 224). Dabei zeigt sich das Problem mit Fremdheit oftmals als akutes Verstehensproblem, das eine Situation der Handlungsungewissheit oder auch -irritation nach sich zieht. Da man diese nicht einfach ignorieren kann, erhält es praktische Relevanz, denn mit diesem Verstehensproblem sind Störungen von Routineabläufen sowie eine Art von Krisenkommunikation verbunden. Verschärft wird dieses problemhafte Fremderleben dadurch, dass die klassischen Fremdenrollen heute keine ausreichende soziale Regelung mehr bieten und prinzipiell nicht mehr festlegen, was als fremd gilt. Denn immer mehr stoßen im Alltag getrennte Sinnwelten aufeinander, die durch eine Pluralisierung von Sonderrollen gekennzeichnet sind, in denen der Rückgriff auf universale klärende Modi misslingen muss (vgl. Schäffter 1991: 13).
Wenn in dieser Arbeit von Fremdheitserfahrungen gesprochen wird, so bezieht sich dieser Begriff nicht auf die Fremdheitserlebnisse von Migranten oder allgemeiner auf die Fremdheit, die ein Mensch durchlebt, der sich im Zuge transnationaler Wanderungs- oder Flüchtlingsströme und mithin aus Gründen eines spezifischen Zwanges einer unvertrauten Lebenswelt aussetzen und in ihr zurechtfinden muss. Vielmehr sollen im Folgenden die Fremdheitserfahrungen so genannter „KosmopolitInnen“ im Mittelpunkt stehen, also von Menschen, die das Privileg zum Reisen haben und es auch nutzen. Diesen Personen geht es nicht einfach um die Überwindung einer rein örtlich bemessenen Distanz oder um einen „massentouristischen“ Konsum von architektonischen Kulturgütern, sondern um einen „Habitus der Welterfahrenheit und der Offenheit gegenüber anderen Kulturen“ (Singer 1997: 119). Damit ist gemeint, dass sie bewusst lebensweltlich herausfordernde Erfahrungen machen wollen, um dadurch eine als Kompetenz ausgelegte Handhabung von Kulturunterschieden zu erreichen. Dabei versuchen sie natürlich, die mannigfaltigen Möglichkeiten zur Vertrautmachung mit den Lebensumständen anderer Völker und Nationen zu nutzen und in einem globalen Denken zu verdichten, das heutzutage zur intellektuellen Voraussetzung eines jeden gebildeten Menschen geworden zu sein scheint – freilich nicht jedes Menschen, denn der Großteil der globalen Weltgemeinschaft kann aus finanziellen, politischen und/oder strukturellen Gründen nicht zur elitären Schicht der „Gebildeten“ gerechnet werden (vgl. Eder 1991: 159). Aber auch für diese um kulturelle Kompetenz ringenden KosmopolitInnen ist der Zugang zur unvertrauten Lebenswelt und mithin das gewollte Sammeln grenzüberschreitender Fremdheitserfahrungen erheblich erschwert. Denn dadurch, dass sie innerhalb eines für sie zwar fremden Kulturkreises aber an Orten leben und arbeiten, welche die Möglichkeit zum Rückgriff auf größtenteils bekannte und vertraute Normen grundsätzlich bereitstellen, entfällt für sie von vornherein der Zwang zum Umgang mit „persönlichen oder kulturellen Reibungsflächen“ (Schäffter 1991: 12). Der potenziell lebbaren Bequemlichkeit des Rückzugs in vertraute Strukturen und Gemeinschaften steht oftmals allein die feste Willensbekundung gegenüber, sich der fremden Umwelt verstehend auszusetzen, woraus sich natürlich ein Spannungsverhältnis zwischen passivem Rückzug und aktivem Kontakt ergibt, das gehandhabt werden muss.
In der folgenden Arbeit nun wird sich diesem ambivalenten Zugang zu einer als fremd wahrgenommenen Lebenswelt gewidmet werden, wobei eine solche Beschäftigungsart mit „dem Fremden“ eine Hilfe für das Vertiefen von dem Verständnis sein soll, wie Menschen sich selbst und ihre Umwelt wahrnehmen und wie sie die Welt, in der sie leben, kategorisieren, organisieren und mithin strukturieren. Über die Analyse qualitativer Interviews, die mit deutschen und österreichischen VolontärInnen und Zivildienstleistenden in Jerusalem (Israel) geführt worden sind, werden also Erkenntnisse zum einen darüber erzielt, unter welchen grundsätzlichen Bedingungen Fremdheitserfahrungen entstanden sind. Dafür ist die israelische Hauptstadt mit ihrer ins Unüberschaubare gehenden multikonfessionellen und multiethnischen Vielfalt vor dem Hintergrund rigider, politisch und religiös motivierter Spannungen der perfekte Ort gewesen, wirkliche Erfahrungen mit dem Fremden - dem sowohl Unbekannten als auch Unvertrauten – zu beobachten. Gleichzeitig aber sollten auch Steuerungsmechanismen behandelt werden, welche den interviewten Personen zur Verfügung standen, wenn es darum ging, potenzielle Fremdheitserfahrungen (un)bewusst zu beeinflussen. Für dieses zweite Hauptziel der folgenden Arbeit konnte daher der Umstand berücksichtigt werden, dass die interviewten Freiwilligen während ihres Aufenthaltes in deutschen bzw. österreichischen Trägereinrichtungen lebten und arbeiteten und diese Orte aufgrund geteilter kultureller Sinngebung und der Möglichkeit zur Fortführung bekannter Handlungs-, Denk- und Orientierungsmuster als „heimische Inseln“ in der Fremde erleben konnten. Auf dieser Basis musste sich für die VolontärInnen und Zivildiener die Möglichkeit ergeben, über eine räumliche Segregation von der unvertrauten Umwelt und über eine Nutzbarmachung der ihnen seitens der beiden Hospize gebotenen vertrauten Strukturen potenzielle Fremdheitserfahrungen im vornherein zu steuern. Mithin erfüllt diese Abhandlung nicht nur das Ziel zu klären, ob und wie es zu Fremdheitserfahrungen gekommen ist und wie mit ihnen umgegangen wurde, sondern ermöglicht es auch, Steuerungsmechanismen kennen zu lernen und zu untersuchen, welche den interviewten Personen beim komplizierten Prozess der Vertrautmachung einer fremden Lebenswelt seitens der beiden christlichen Einrichtungen an die Hand gegeben worden sind.
I. Theoretische Fundierung
I.1 Grundsätzliche Merkmale von „Fremdheit“
Am Anfang jeder Definition von Fremdheit muss stehen, dass Fremdheit als Zuschreibungsleistung eines Individuums bzw. einer Gruppe sozial konstruiert wird (Stenger 1997: 160) und somit keine Eigenschaft beschreibt, die einem „fremden“ Objekt oder Menschen wirklich zu Eigen sein muss (vgl. Frindte 1999: 35). Denn etwas als fremd zu bezeichnen meint entweder, etwas nicht zu kennen oder sich (in meist affektiver Weise) von etwas abzugrenzen. Als Kategorie des alltäglichen Lebens kennzeichnet Fremdheit diesbezüglich bestimmte Eigenschaften von Dingen, Menschen oder Sachverhalten, wobei von solchen Kategorisierungen nicht die natürliche Einteilung der Wirklichkeit berührt wird, denn sie stellen eine unterscheidende Konstruktion dar, mit deren Hilfe die Wirklichkeit geordnet und ihre Komplexität reduziert wird. „Denn der Fremde ist ein Konstrukt jener Gruppe, die ihn als fremd wahrnimmt und bezeichnet, und gewinnt erst in dieser Identifikation als Gegen-Bild, Fremd-Bild, als Ab-Norm oder Symbol des Wider-Sinns seine Bedeutung“ (Reuter 2002: 13). Daher korrespondieren diese Kategorisierungen im Sinne von Konstruktionen des Fremden nicht mit einer objektiven Qualität des als fremd Wahrgenommenen (vgl. Wierlacher 1993: 62), sondern verdeutlichen die „Qualifizierung ihrer Beziehung zum Eignen […], denn wer etwas als ‚fremd’ bezeichnet, hat die eigene Relation zum Eigenen bereits mitbedacht“ (Reuter 2002: 23). Deshalb ist „Fremdheit“ keine wissenschaftliche Kategorie, denn sie kann nicht aus einer objektivierenden Perspektive wahrgenommen oder konstruiert werden, da die Bedeutung des Begriffes in der sozialen Interaktion immer wieder ausgehandelt werden muss: „Fremdheit ‚gibt’ es nicht unabhängig von der sprachlichen Bezugnahme auf Fremdheit, nicht einmal als notwendige Unterstellung“ (Münkler/Ladwig 1997: 14). Was ihm/ihr oder ihnen fremd ist, muss Anderen nicht fremd sein. Somit ist Fremdheit kein objektiver Tatbestand der sozialen Wirklichkeit, sondern das Resultat einer Ordnung der Alltagswelt, mit der die Sphäre der Vertrautheit von der Sphäre der Unvertrautheit getrennt wird (vgl. Reuter 2002: 23). Das meint Bernhard Waldenfels, wenn er schreibt: „Eine Ordnung im Entstehen lebt von dem, was sie draußen läßt“ (1987: 169). „Fremdheit“ besitzt also einen relationalen Charakter und verweist mithin auf die „Definition einer Beziehung“ (Hahn 1994: 140), die der Zuschreibende zum Objekt der Zuschreibung hat. Mithin ist Fremdheit zunächst einmal „eine Frage der jeweiligen Konstellation“ (Albrecht 1997: 85). Eine Fremdheitszuschreibung spielt sich somit eindeutig auf der subjektivistischen Ebene ab und wird durch einen Akt der Ein- und Ausgrenzung vollzogen (vgl. Waldenfels 1995: 611-620). Sie gibt an, welche Beziehung[1] das Subjekt zum als fremd erfahrenen Objekt besitzt (vgl. Schäffter 1991: 12). Weil es außerdem von minimalen sozialen Situations- oder Kontextverschiebungen (bspw. Machtkonstellationen, Selbstdarstellungsmöglichkeiten, Argumentationschancen) abhängen kann, ob jemand als „fremd“ bezeichnet wird, sind diese Zuschreibungen variabel, zeitlich oft instabil und verwendungsrelativ (vgl. Stichweh 1997: 52). Wenn Fremdheit relational ist, wir also jemanden (oder etwas) erst in der Relation zum eigenen Bewusstsein und/oder Handeln als fremd erfahren, dann kann ihre inhaltliche Bedeutung erst in der Interaktion zu Tage treten. Somit ist weniger die tatsächliche Differenz, sondern vielmehr das aneinander orientierte Handeln im Sinne der Umgangspraxis die Grundlage für die Konstitution von Fremdheit (vgl. Reuter 2002: 27). Zu beachten ist aber auch, dass sich „Fremdheit“ nicht allein unter spezifischen Rahmenbedingungen einer sozialen Beziehung entwickelt, sondern aus einer bestimmten situativen Deutung von Ereignissen und Konstellationen resultiert (vgl. Stenger 1997: 217), also durch Gemeinsamkeits- und Ähnlichkeitszuschreibungen, die als In- und Exklusionsverhältnisse konstruiert werden. Dabei gilt als fremd dasjenige, was als nicht zugehörig kommuniziert wird (vgl. Stagl 1997: 86). Mithin wird Julia Reuters Kurzdefinition verständlich, nach der Fremdheitserfahrungen als kommunikative Behandlung von Differenzen zu verstehen sind (vgl. 2002: 14). Die kommunizierte fehlende Zugehörigkeit kann dabei mit der Referenz auf Verhältnis des Besitzes im weiteren Sinne (soziale Fremdheit) oder aber mit der Referenz auf kognitive Schwierigkeiten (kulturelle Fremdheit) kommuniziert werden. Dadurch aber, dass sich der Erzählkontext immer wieder anders gestalten kann, sind Fremdheitserfahrungen und –konstruktionen per se oft widersprüchlich.
Zu beachten ist weiterhin, dass nicht allein die Differenz, sondern erst die als relevant wahrgenommene, also Handlungsunsicherheiten und –irritationen auslösende Differenz das konstituiert, was man für gewöhnlich als fremd beschreibt. Dies hängt damit zusammen, dass Fremdheit als kommunikativ erzeugte Zuordnung (vgl. Scherr 1999: 51) eine Konstruktion ist, welche ihre volle Bedeutung (meist) immer erst dann offenbart, wenn sie in konkreten Interaktionskontexten in die Praxis umgesetzt wird (vgl. Hirschauer 1999: 240). Dabei können die divergierenden Sphären des Eigenen und des Fremden sehr mannigfaltige Formen und Bedeutungen annehmen, je nachdem, welche Grenzlinie für die Unterscheidung beider Sphären in der jeweiligen Interaktionssituation bedeutungsvoll erscheint. Das zeigt, dass die Fremdheitskonstruktion abhängig davon ist, welche Bedeutungs- und Erfahrungsebene die Zuschreibenden als Grundlage für die Bewertung des Beziehungsverhältnisses zwischen Eigenen und Fremden bemühen. Diese können sich u.a. in raumbezogenen, normativen, kognitiven, körperlichen oder auch kulturellen Deutungsmustern finden lassen, was beweist, welch immense Bedeutungsvielfalt im Begriff „fremd“ liegt. Diese Mannigfaltigkeit ergibt sich aus den vielen denkbaren unterschiedlichen sozialen Interaktionsstrukturen, in denen Fremdheit zum Thema werden kann. Es ist also schlichtweg unmöglich, von „dem Fremden“ zu sprechen. Vielmehr sollte eine Erklärung dafür angestrebt werden, in welche elementaren Beziehungsmuster und Integrationsmodi sowie Interpretations- bzw. Deutungsmuster die Erfahrung mit Fremdheit eingebunden ist (vgl. Reuter 2002 33f).
Dass der Fremde als Fremder identifiziert wird zeigt, dass der Rede vom Fremden immer eine Zurechnungsstruktur zugrunde liegt, nach der das „fremd“, also unvertraut oder nicht-zugehörig ist, was als „fremd“ bezeichnet wird (vgl. Hahn 1994: 141). Somit stellt die Zuschreibung von Fremdheit eine Konstruktion dar, die sich über die Differenzen vertraut/unvertraut und/oder zugehörig/nicht-zugehörig vollzieht (vgl. Hahn 1994: 140). Dabei muss nicht alles Vertraute wirklich vertraut und nicht alles Zugehörige wirklich zugehörig sein und umgekehrt. Einzig bedeutsam ist, was kommunikativ als Vertrautes, Eigenes und Bekanntes behandelt wird. Diese Konstruktion von Fremdheit erfolgt zum Einen aus der Feststellung eines Unterschieds zwischen Zuschreibendem und als „fremd“ Identifiziertem sowie zum Anderen aus der Bewertung dieses Unterschieds, was häufig zu Etikettierungen führt (vgl. Wierlacher 1993: 66f), um das Problem des Nicht-Verstehens handhabbar zu machen. „In diesem Sinne qualifizieren sich Fremde zu jenen Menschen, die uns weder örtlich noch kulturell nahestehen, die nicht zugehörig und unvertraut, konträr und widersinnig erscheinen“ (Reuter 2002: 12). Da die Feststellung eines Unterschiedes willkürlich und das Ergebnis einer Auswahl ist (vgl. Janz 2001: 9), die auch hätte anders aussehen können, ist es für die Fremdheitskonstruktion zentral, ob eine Unterscheidung kommuniziert und ein Unterschied daraus abgeleitet wird oder nicht (vgl. Stenger 1997: 160). Dies korrespondiert mit der Innen-Außen-Unterscheidung, derzufolge das als „fremd“ gesehen wird, was als „außerhalb“ der eigenen Sphäre existierend empfunden wird (vgl. Radtke 1991: 79). „Der, die oder das Fremde sind also im Bezug auf einen stets variablen Kontext des ‚Eigenen’ (z.B. der Person, Weltanschauung, Familie, Nation) nicht zugehörig“ (Stenger 1997: 160). Diese dabei gezogenen Grenzen „trennen das Eigene vom Fremden und schützen Vertrautes vor der Bedrohung durch das Unbekannte“ (Hess/Wulf 1999: 9). Durch sie wird die Wirklichkeit geordnet und strukturiert, indem „Zugehörige von Nicht-Zugehörigen auf der Grundlage einer als bedeutsam wahrgenommenen und pointierten Unterschiedlichkeit von Kulturen, Sprachen, Lebenswelten, Lebensstilen oder Identitäten“ sondiert werden (Reuter 2002: 9). Erst durch diese durch die Grenzziehung erzeugten Differenzen wird die Begegnung mit dem Fremden so reizvoll, jedoch auch so schwierig: Denn während das Eigene Identität, Zugehörigkeit und Kontinuität bedeutet, löst das (oder der) Fremde eine Unruhe aus, die dadurch entsteht, dass Traditionen durchbrochen und die eigene Identität bedroht wird. „Es ist die jeweilige personale und soziale Identität, die erst die Fremdartigkeit des Anderen hervorruft“ (Schäffter 1991: 12). Dabei ist einerseits zu beachten, dass die (strikte) Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremden ontologisch wird und vielfach den Status der Selbstverständlichkeit trägt, weil diese Trennung auch eine „Trennung zwischen sozial verhandelten Bedeutungskategorien ist, die zum Großteil habitualisiert, institutionalisiert, durch Sozialisation und Typisierung zu einer ‚objektiven Tatsache’ der gesellschaftlichen Wirklichkeit geronnen sind“ (Reuter 2002: 10) und als „normal“ gedacht werden.
Der Vorgang dieser Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremden nun setzt aber erst einmal voraus, dass überhaupt etwas als fremd, also als unvertraut, erfahrbar wird, denn bevor eine eindeutige Zurechnung erfolgen kann, ist meist ein erster Kontakt nötig, der die Erfahrung einer Unvertrautheit des Fremden ermöglicht. Denn Fremde müssen präsent und sichtbar sein, bevor sie in einer spezifischen gesellschaftlichen Umgebung und Situation als fremd behandelt und gedeutet werden können (vgl. Reuter 2002: 31). Dieser für die Fremdheitskonstruktion nötige erste Kontakt muss zwar kein direkter sein, denn zunächst reicht ein minimaler Kenntnisstand (etwa aus Vorurteilen oder Wissen aus zweiter Hand) aus, um Fremdheit zu konstruieren (vgl. Hellmann 1998: 410). Dabei kann die Konstruktion sehr positiv (etwa in der Form des Exotismus) oder sehr negativ (etwa in Form des Ethnozentrismus) ausfallen, was einmal mehr die Ambivalenz des Umgangs mit Fremdheit belegt. Allerdings werden Fremdheitserfahrungen, die übrigens nicht immer Konfliktpotential in sich bergen müssen, überwiegend dann thematisiert und kommuniziert, wenn sie zum Problem werden (vgl. Hellmann 1998: 411). Dabei zeigt sich das Problem mit Fremdheit zumeist als akutes Verstehensproblem, das sich vor allem dann einstellt, wenn ein naher Kontakt mit einem „Fremden“ und dadurch eine Situation der Handlungsungewissheit entsteht, die man nicht einfach ignorieren kann. Hier kann Fremdheit sichtbar gemacht werden, weil das Verstehensproblem mit Störungen von Routineabläufen sowie einer Krisenkommunikation verbunden ist. Diese Störungen machen die Konstruktion von Fremdheit nämlich erst erforderlich und somit erkennbar. Man spricht hier in diesem Zusammenhang von Relevanz. Auf dieser Basis lässt sich die Vermutung aufstellen, dass sich mit zunehmendem Grad der Unstrukturiertheit einer Situation für ein Individuum auch der erlebte Fremdheitscharakter erhöht, woraus eine Tendenz entsteht, die verlorene Vertrautheit wieder zu erlangen und den als bedrohlich wahrgenommenen Zustand der Unstrukturiertheit und Orientierungslosigkeit zu überwinden. Dies geschieht bevorzugt durch soziales Anschlusshandeln, soziale Vergleiche, Stereotypisierungen oder Stigmata, welche so lange beibehalten werden, bis ein befriedigender Zustand der Vertrautheit wieder hergestellt worden ist (vgl. Thomas 1993: 260).
I.2 Relevanz: Zur Unterscheidung des „Fremden“ vom „Anderen“
Die bisher geleistete Definition beschreibt „Fremdheit“ also als soziale Konstruktion eines Innen-Außen-Verhältnisses, demzufolge das als „fremd“ Identifizierte als nicht-zugehörig zur eigenen Sphäre und als unvertraut wahrgenommen und kommuniziert wird. Das verlangt natürlich, dass eine Vorstellung vom Eigenen existiert. Die weitere wichtige Voraussetzung einer wirklichen Fremdheitserfahrung ist die bereits behandelte Relevanz, welche an dieser Stelle indes noch einmal aufgegriffen und weiter verdeutlicht werden muss, weil sie für die Bestimmung einer (wirklichen) „Fremdheitserfahrung“ zentral ist und eine definitorische Verwechslung zwischen den Begriffen „des Anderen“ und „des Fremden“ verhindert.
Der Andere ist durch die „Segregation sozialer Beziehungen“ (Stichweh 1997: 57) in urbanisierten sowie funktional differenzierten Lebensräumen omnipräsent und begegnet uns u.a. als Straßenpassant oder Mitfahrender in öffentlichen Verkehrsmitteln. Obwohl diese Personen meist unbekannt bleiben, müssen sie vom „Fremden“ deshalb strikt unterschieden werden, da bei ihnen die Muster der In- und Exklusion nicht relevant werden. Bestenfalls werden sie „vertraute Fremde“ (Reuter 2002: 28) genannt. Das hängt damit zusammen, dass diese Form des „Fremdbleibens“ zur erwarteten Normalität gehört und keine Notwendigkeit zur Verarbeitung der Fremdheit entstehen lässt. Dem Anderen wird routinemäßig mit einer fern von Freund/Feind-Zuschreibungen liegenden Indifferenz begegnet (vgl. Stichweh 1997: 59), die Georg Simmel als „Nicht-Beziehung“ (1983: 512) und Erving Goffman als „höfliche Nicht-Beachtung“ (1971: 85) bezeichnen. Diese Reaktionsweise ist zu definieren als „Anwesenheit anderer Menschen bei Abwesenheit von Interaktion mit diesen Menschen“ und stellt eine Form dar, „Fremdheit latent zu halten“ (Münkler/Ladwig 1997: 29). „Erst wenn Grenzen zu Kontaktflächen werden, wird Fremdheit zu bedeutsamer Erfahrung“ (Schäffter 1991: 12). Das bedeutet, dass das dominante „Desinteresse bei allenfalls flüchtiger Beachtung des jeweils anderen“ so lange „ein tragender Teil des Erwartungsgerüsts von Indifferenz“ ist (Münkler/Ladwig 1997: 29), so lange die Situation nicht durch eine unvermittelte Annäherung verändert wird, was zeigen würde, wie brüchig die vorausgesetzte Ordnung des Sozialen ist. Erst bei einer solchen Entwicklung tritt die Fremdheit aus der Latenz hervor und erhält eine praktische Relevanz, die sich durch Irritationen von Erwartungen, Handlungen, Kommunikation oder Orientierungen (vgl. Stenger 1997: 171) manifestiert und im genauen Gegensatz zur Indifferenz steht. Erst jetzt wird also eine Fremdheitserfahrung markiert. Das hängt damit zusammen, dass Fremdheit nie nur Erlebnis schlichter Arrangements von alltäglicher Wirklichkeit ist, sondern deutliche Spuren auf der Ebene des Erlebens hinterlässt. „Immer scheinen daran bereits Emotionen und Bewertungen geknüpft zu sein, die den Umgang mit dem Fremden zu einer ‚Gesinnungsfrage’ machen“ (Albrecht 1997: 81). Diese Benennung von Fremdheit wird dann zur Möglichkeit zum Anzeigen von Relevanz. Fehlt diese Relevanz, hat es der Beobachter nicht mit Fremdheit im Sinne von Nichtzugehörigkeit zu tun, sondern mit einer Beziehung der Andersheit. Der Fremde ist also der Andere, dessen Nichtzugehörigkeit zur eigenen Sphäre pragmatische Relevanz gewinnt (vgl. Stenger 1997: 161). Dem Anderen kann man aber auch in seiner Eigenschaft als Rollenträger (Postbote, Lehrer, Ärztin etc.) begegnen, wobei man dann die Erwartungen nicht an Personen, sondern an Rollen ausgerichtet (vgl. Münkler/Ladwig 1997: 30). Auch hier aber kann der Andere für Fremdheitserfahrungen sorgen, wenn er aus seiner Rolle heraustritt und die rollenspezifische Distanz verletzt. Dies korrespondiert mit der bereits von Georg Simmel angesprochenen Nähe des Fremden als Voraussetzung jeder Fremdheitserfahrung, weil erst die physische Nähe die soziale und kulturelle Distanz enthülle und erst durch sie der Andere zum Fremden werden könne.[2] Simmel verwies so auf die Fremdheit als Form einer Beziehung, deren Hauptkennzeichnung die Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne sei, also von „Gegenüber und Außerhalb“ (1983: 509). Die Forderung nach der Nähe, die Stichweh als „kommunikative Erreichbarkeit“ definierte (1997: 47), hängt damit zusammen, dass erst diese Nähe die Fremdheit zu einer bedeutsamen Erfahrung (vgl. Schäffter 1991: 12) und die Unterscheidung, wer innen und wer außen ist, für den Sinn des (wechselseitig aufeinander bezogenen) Handelns relevant macht. „Die Wahrnehmung einer symbolischen Grenze macht den räumlich-leiblich Nahen zum Außenstehenden, der mir zwar ein Gegenüber ist, aber trotzdem nicht zu mir bzw. zur Sphäre des ‚Eigenen’ gehört“ (Stenger 1998: 306). Dabei fungiert die Nähe als Voraussetzung für die Konstruktion einer Grenze, die den kommunikativ Erreichbaren zum Außenstehenden erklärt und eine symbolische Trennung zwischen Eigenen und Nichtzugehörigem, also Fremden zulässt (vgl. Stenger 1998: 308). Diese Erkenntnis hat auch Jean Baudrillard in seiner Rassismusdefintion verarbeitet, die er im Bezug auf das Verhältnis von Rassismus und Fremde folgendermaßen darlegt: „Rassismus existiert nicht, solange der Fremde fremd bleibt. Seine Existenz beginnt, wenn der andere different wird, daß heißt, gefährlich nahe kommt. Da beginnt man aufzupassen, daß er auf Distanz bleibt“ (Baudrillard 1992: 148). Als Gegenstück zum Fremden fungiert die Konstruktion des Eigenen, das nach Max Weber als Bereich (der Erwartung) des Gemeinsamkeitsglaubens geteilter Sinnzusammenhänge über die Welt definiert werden kann, wie er für die Entstehung und Aufrechterhaltung „ethnischer“ und „nationaler“ Wir-Gruppen unabdingbar sei (vgl. 1985: 235ff). Fasst man Simmels und Webers Darlegungen zusammen, dann sind Fremde solche Personen bzw. Gruppen, die aus der Annahme eines Gemeinsamkeitsglaubens ausgeschlossen werden. Dieser Ausschluss korrespondiert stark mit der Überzeugung, dass das „fremde“ Gegenüber nicht über die (gemeinsamen) Merkmale und Eigenschaften verfüge, wie sie für die Mitglieder der eigenen Gruppe angenommen werden.
I.3 Grade der Fremdheit
Die bereits geleisteten Darlegungen müssen weiterhin ergänzt werden durch den von Bernhard Waldenfels erarbeiteten starken Zusammenhang zwischen Ordnung und Fremdheit. Denn dadurch, dass jede soziale Ordnung „spezifischen Selektionen und Exklusionen unterliegt, schafft sie bestimmte Bedingungen der Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit, also auch der Eigenheit und Fremdheit“ (1995: 614). Dabei unterscheidet Waldenfels drei Grade der Unzugänglichkeit und somit des Fremdwerdens. Die alltägliche bzw. normale Fremdheit „umfaßt all das, was innerhalb der eigenen Ordnung fremd bleibt“ (1997: 72) und meint etwas Fremdes, das auf Unbekanntheit basiert und leicht in Bekanntheit aufgelöst werden könnte. Sie hängt mit dem bereits thematisierten „Anderen“ zusammen, dessen Anwesenheit wir mit gewohnter Indifferenz begegnen, da sein „Fremdbleiben“ Bestandteil einer funktionierenden Ordnung des Alltags ist. Dem Anderen wird also erst einmal mit der Grundannahme begegnet, Bestandteil der eigenen Wirklichkeitsordnung zu sein. „In dieser Zurechnung zur eigenen Ordnung erscheint das alltäglich Fremde als ein potentiell Eigenes, als etwas, das ich mir vertraut machen könnte, wenn ich nur wollte“ (Stenger 1998: 342). Der zweite Grad der Fremdheit ist laut Waldenfels die strukturelle Fremdheit, die im Gegensatz zur alltäglichen Fremdheit auf die Unüberschaubarkeit einer anderen Struktur abzielt, die meist auch nach einer teilweisen Aneignung eine nicht-eigene Ordnung bleiben wird und mithin „außerhalb einer bestimmten Ordnung anzutreffen ist“ (1995: 615) wie etwa ein fremdes Ritual. Dennoch wird das Vorhandensein einer (wenn auch unvertrauten) Ordnung angenommen, die durch Aneignung in Vertrautheit umgewandelt werden kann. Sie korreliert also „mit der Verarbeitungsleistung eines Subjekts. Je tiefer ich etwas verstehend durchdrungen habe, umso weniger fremd ist es mir“ (Münkler/Ladwig 1997: 31). Indes kann sich nach einer gewissen Zeit zeigen, dass der Grad des Verstehens und des Aneignens der fremden Ordnungsprinzipien geringer ausgefallen ist, als man selber angenommen hat. Man spricht an dieser Stelle von einer sekundären Fremdheit, einer Fremdheit also, die erst mit zunehmender Vertrautheit zutage tritt. Auch sie kann sich aber durch weiteres Lernen in etwas Vertrautes auflösen. Voraussetzung dafür ist aber die prinzipielle Verstehbarkeit, also die Existenz eines kohärenten Bezugssystems von Sprache, Raum und Orientierung (vgl. Thyen 1994: 5-17). Die strukturelle Fremdheit ließe sich durch Lernen und Gewohnheit prinzipiell auflösen, doch ist zu unterscheiden zwischen Verstehen (epistemisch), Anwenden (pragmatisch) und dem schlussendlichen Aneignen. Das Aneignen, also das grundsätzliche Verwandeln von Unvertrautheit in eine profunde Vertrautheit, ist hier unmöglich. So kann man sich zwar durch Verstehen und Pragmatik das Wissen um eine Sache und die Erfahrung mit ihr zu Eigen machen, nicht aber die (fremde) Sache selbst. Als bei Waldenfels letzter Fremdheitsgrad zeigt sich die radikale Fremdheit, bei der die Erwartung eines grundsätzlich intakten Ordnungsgefüges aufgelöst und die Voraussetzungen der Orientierungsfähigkeit selbst fragwürdig werden. Die bisher gültigen Regeln und „Relevanzstrukturen“ (Schütz 1982) verlieren ihre Verbindlichkeit und ihre Handlung leitende Funktion. Beispiele für eine solche radikale Fremdheit sind Umbruchsphänomene wie etwa Revolutionen (vgl. Waldenfels 1995: 615). Wenn Alois Hahn dabei etwas verworren von einem „Plausibilitätsverlust der kategorialen Ordnung unseres Daseinsverständnisses“ spricht (1994: 155), dann meint er, dass die Bezugspunkte alltagsweltlicher Orientierung aufgelöst werden. Mit Herfried Münkler und Bernd Ladwig muss indes der Vollständigkeit halber noch ein vierter Fremdheitsgrad berücksichtigt werden: die „definitive Fremdheit“, die „definitive Unverstehbarkeit“ (1997: 31). Während jedwedes Fremdverstehen auf eine gewisse Verwandtschaft oder Ähnlichkeit zwischen Verstehendem und zu Verstehendem angewiesen ist, stellt das definitiv Fremde ein Phänomen dar, das eine Möglichkeit zu einer hermeneutischen und kommunikativen Durchdringung prinzipiell nicht zulässt und mithin nur im Bezug auf nicht-menschliche Lebewesen anwendbar ist. Die beiden letzten Ebenen der Fremdheitserfahrung werden aber in der folgenden Arbeit nicht behandelt werden, da sie entweder jenseits sozialer Beziehungsverhältnisse liegen oder für das Konzept dieser Abhandlung nicht relevant sind.
I.4 Soziale und Kulturelle Fremdheit
Wie bereits herausgestellt, ist Fremdheit ein Beziehungsverhältnis, das durch In- und Exklusion bestimmt ist. Diese Abgrenzung nun kann sich zum einen auf irgendeine Form des Besitzes beziehen oder zum anderen auf aus Unvertrautheit resultierenden kognitiven Schwierigkeiten im Umgang mit der als fremd bezeichneten Person. Der ersten Bedeutungsdimension entspricht die „soziale Fremdheit“, der zweiten die „kulturelle“ oder auch „lebensweltliche Fremdheit“. Beide Ebenen sind trotz ihrer Unterscheidung Formen der Grenzziehung und der relativ deutlichen „dramatisierende[n] Möglichkeit des Anzeigens von Relevanz“ (Münkler/Ladwig 1998: 12). Da auf jene Formen bzw. Konzepte in dieser Arbeit eingegangen werden soll, ist es unerlässlich, beide zentrale Arten der Fremdheit kurz zu charakterisieren
Die soziale Fremdheit spielt sich auf der positionalen Ebene ab und markiert einen Erfahrungsmodus der Nichtzugehörigkeit. Dabei werden Objekte aus dem situativ variablen Kontext der eigenen Gruppe ausgeschlossen, was asymmetrisch geschieht, da sich die Konstruktion des Anderen als Fremder auf unterschiedliche Besonderheiten des Eigenen bezieht. An Georg Simmel (1983) anknüpfend ist die Erfahrung sozialer Fremdheit der Ausdruck einer spezifischen Konstellation von Nähe und Ferne, die Horst Stenger als „Status zugehöriger Nichtzugehörigkeit“ definiert (1998: 331): Damit ist gemeint, dass durch das Vorhandensein eines inkludierenden, gemeinsamen Horizontes der Zugehörigkeit (wie etwa Nationalität oder Beruf) Zugehörigkeit entsteht, durch das Kommunizieren von Fremdheit aber wiederum Nichtzugehörigkeit hervorgehoben wird. So entsteht die „Gleichzeitigkeit von Gegenüber und Außerhalb“ im Simmel’schen Sinne (1983: 509). Allerdings muss der Zuschreibung von Fremdheit keine objektive Nichtzugehörigkeit entsprechen (vgl. Münkler/Ladwig 1997: 15ff), wenn auch die selbst zugeschriebene Zugehörigkeit Bedingung für die Möglichkeit einer sozialen Entfaltung von Exklusion ist. Dadurch, dass diese Grenzziehung jedoch auch die eigene Fremdheit auf die Ausgeschlossen mitkonstruiert, zeigt sich wieder, dass Fremdheit als Definition einer Beziehung keine einseitige Angelegenheit ist, sondern durch den wechselseitigen Bezug aufeinander entwickelt wird (vgl. Stenger 1998: 314f). Durch die Fremdheitszuschreibung wird die Distanz zwischen (Angehörigen von) sozialen Einheiten akzentuiert, wobei die Wahrnehmung dieser Distanz räumlich, zeitlich, sozial, kulturell oder moralisch sein kann (vgl. Münkler/Ladwig 1997: 15ff). Die Realität muss mit dieser Wahrnehmung nicht identisch sein: Wichtig ist nur die Akzentuierung der Nichtzugehörigkeit. Eine Verschärfung dieser Fremdheitserfahrung ist die definitive soziale Fremdheit, die dann kommuniziert wird, wenn „die Nichtzugehörigkeit von keiner umfassenderen Zugehörigkeit gerahmt ist“ (Münkler/Ladwig 1997: 18) und das Vorhandensein einer Beziehung gemeinsamer Zugehörigkeit zwischen einem „Uns“ und „Ihnen“ geleugnet wird. Diese Form der sozialen Fremdheit steckt meist hinter dem Bild vom „Wilden“ und vom „Barbaren“ als Prototypen der Fremden (vgl. Kristeva 1990: 59).
Die In- und Exklusion als zentrales Merkmal der sozialen Fremdheit muss sich aber nicht ausschließlich als Fremd-Exklusion vollziehen, also als Ausgrenzung, die von anderen ausgeht, sondern kann als Selbst-Exklusion den umgekehrten Weg der Fremdheitszuschreibung gehen. In diesem Fall definieren die Fremden selber ihr Verhältnis zur formal eigenen Gruppe. Diese Form der Fremdheitszuschreibung ist meist weniger dramatisch als die Fremd-Exklusion, kann aber auch Ausdruck einer starken Erschütterung von Gleichheitserwartungen sein oder – um mit Stenger zu sprechen – eine Selbstzuschreibung „beschädigter Zugehörigkeit“ (1998: 312f). Wichtig sind auch hier die bereits angesprochenen Aspekte von Nähe und Relevanz, ohne die man nicht von einer Fremdheitserwartung sprechen kann.[3] Relevanz entsteht dadurch, dass der Ausgeschlossene zunächst eine Zugehörigkeit zur Gruppe und mithin eine Gleichwertigkeit erwartet, die Gleichwertigkeit aber in einem für den Ausschluss relevanten Aspekt von der Gruppe entzogen wird (Verweigerung von Akzeptanz etc.). Man kann also erst von sozialer Fremdheit sprechen, wenn eine (dauerhafte) Irritation von Gleichheits- und Ungleichheitserwartungen zu Tage tritt.
Im Gegensatz zur sozialen ist die kulturelle[4] bzw. lebensweltliche Fremdheit (vgl. Münkler/Ladwig 1998: 12) ein Aspekt der kognitiven Dimension und eine weitere Möglichkeit, die Nichtzugehörigkeit einer anderen Person oder Gruppe auszudrücken. Dabei wird auf den kulturellen Abstand zwischen Eigenem und Fremden referiert. Zentraler Modus bei dieser Form der Fremdheit ist die Erfahrung der Unvertrautheit, bei der die Begegnung mit einer anderen Wirklichkeitsordnung, die nicht zum Wissensvorrat des Eigenen gehört, im Mittelpunkt steht. Dabei kann die Unvertrautheit der anderen Wirklichkeitsordnung entweder unerwartet (= Fremdheit als Überraschung) eintreten oder aber auch erwartet (= Fremdheit als Bestätigung) sein (vgl. Stenger 1997: 196). Relevant wird diese Unvertrautheit, wenn eine Handlungsirritation entsteht, weil das vorhandene oder zugreifbare Wissen für die Bewältigung einer speziellen Situation nicht ausreicht (vgl. Schütz/Luckmann 1979: 178). Dadurch, dass solcherlei Erfahrungen das jeweilige Wissen von der Welt nicht nur erweitern, verändern oder ergänzen, sondern auch radikal in Frage stellen können, „ist die Erfahrung kultureller Fremdheit im Kern die Erfahrung der Infragestellung eigener Gewißheiten“ (Stenger 1997: 195). Die von einer kulturellen Fremdheitserfahrung ausgelöste Irritation entsteht, weil von einer unhinterfragten Grundlage der Alltagswelt als Gewissheit ausgegangen wird, d.h. dass der Andere die Welt genau so erlebt wie man selbst (vgl. Schütz/Luckmann 1979: 87ff). Dadurch aber, dass ein Gegenüber im Gegensatz zur eigenen Sphäre in zentralen Elementen eine andere Ordnung der Wirklichkeit zeigt und ihr eine andere Bedeutung verleiht, wird diese Gewissheit durch die Erfahrung kultureller Fremdheit abgelöst. Weil man nicht mehr routinemäßig davon ausgehen kann, mit dem Anderen die eigene Selbstverständlichkeit der Alltagswelt zu teilen, rechnet man ihn einer anderen Wirklichkeitsordnung zu, die aufgrund eben ihrer Unüberschaubarkeit fremd ist (vgl. Stenger 1997: 197). Aus dieser Zurechnung entsteht eine Grenzziehung, die das kulturell Eigene vom kulturell Fremden trennt. Gründet also die Zuschreibung kultureller Fremdheit an andere Personen auf der Überzeugung, diese teilen die eigenen Gewissheiten nicht, so ist darin die „Anerkennung der Eigenheit anderer Denkfiguren, Sinnzusammenhänge, Weltanschauungen und Seinsweisen“ enthalten (vgl. Stenger 1998: 318). Weil eine solche Anerkennung zugleich mit der Erfahrung einer Begrenzung der Gültigkeitsansprüche der eigenen Wirklichkeitsordnung und Wissensstrukturen verbunden ist, haben (tiefer gehende) Erfahrungen kultureller Fremdheit stets ein (erhebliches) Potential der Identitätsbedrohung. Die Begegnung mit einer anderen Wirklichkeitsordnung wird also (fast) immer auch die Erfahrung der Zerbrechlichkeit der eigenen Identität mit beinhalten, wie sie Alfred Schütz am Beispiel der Situation des Immigranten nachgezeichnet hat (vgl. 1972). Identitätsbedrohungen verursacht der als fremd Wahrgenommene meist dadurch, dass ihm eine „Unterschiedlichkeit der Relevanzstrukturen des Wissens“ (Stenger 1998: 308) zu Eigen ist, die bewirkt, dass er die Normalitätserwartungen seiner Umwelt verletzt, weil er bezüglich der nicht reflektierten Gewissheiten der aufnehmenden Gruppe ein abweichendes Verhalten zeigt. Mit diesen Abweichungen von den Normalitätserwartungen verletzt er die Grundannahme der Alltagswelt, welche besagt, dass sein Gegenüber die Welt im Zweifelsfall genau so erlebt wie er selbst (vgl. Schütz/Luckmann 1979: 87ff). Dadurch, dass er damit die „Verstehensfunktionen“ (Hahn 1994: 146) seiner (fremden) Umgebung (scheinbar) untergräbt, kann sein Gegenüber nicht wissen, was in seinem fremden Bewusstsein vorgeht. Die hier gemachte Erfahrung der Fremdheit resultiert also aus der Uneindeutigkeit und Unüberschaubarkeit einer anderen Ordnung, wobei sich dabei die Verhaltenssicherheit der eigenen und die Verhaltensunsicherheit bezüglich der anderen Ordnung gegenüberstehen. Durch diese Erfahrung der Unvertrautheit nimmt man die eigene Ordnung und Normalität als bedroht an und ordnet den Anderen als Repräsentant eines Außerhalb ein, also als Vertreter einer Wirklichkeitsordnung, die außerhalb der eigenen Ordnung angesiedelt ist. Aus dieser Unvertrautheit und der Unbestimmtheit des Fremden entstehen „hermeneutische Probleme“ sowie die „Unfähigkeit zur Einordnung“ (Baumann 1992: 26): „Ungelöste Verstehensprobleme bedeuten Unsicherheit darüber, wie eine Situation zu ‚lesen’ ist und welche Antwort vermutlich die gewünschten Resultate bringt. Eine solche Erfahrung ist grundsätzlich ambivalent, da sie mit Einstellungen zwischen Furcht und Faszination, Abwehr und Neugier angeordnet sein kann. Diese Ambivalenz resultiert aus einer anthropologischen Verankerung, sichert sie doch dem Menschen eine Orientierungs- und Handlungsfähigkeit (Münkler/Ladwig 1997: 26). Übertritt also die durch den Fremden hervorgerufene Verunsicherung eine gewisse Grenze, siegt das Sicherheitsbedürfnis über alle Neugier und mobilisiert Abwehrmaßnahmen. Diesbezüglich wird die Unsicherheit im Umgang mit dem Fremden bestenfalls als unangenehm erlebt, im schlimmsten Falle aber als bedrohlich, weil unsere gelebten Gewissheiten infragegestellt werden (vgl. Baumann 1992: 27). Die kulturelle Ferne des Fremden kann zu einer Lernverweigerung führen, denn es ist vielfach schwieriger, sich dem Fremden in verstehender Absicht zu nähern, als den „Kontakt mit ihm auf ein Mindestmaß zu reduzieren und ihn ansonsten zu exkludieren“ (Münkler/Ladwig 1997: 25). Auch wenn die Bewertung des fremden Gegenübers nicht immer negativ sein muss, so ist die feindliche(re) doch die wahrscheinlichere: Der Fremde „bringt die Art von Differenz und Andersheit in den inneren Kreis der Nähe, die nur in einer gewissen Entfernung erwartet und toleriert wird – wo sie entweder als irrelevant übergangen oder als feindlich vertrieben werden kann“ (Bauman 1995: 82). Beschäftigt man sich mit der Haltung, in der man dem Fremden begegnet, so ist indes nicht der objektive Abstand zwischen seinem und dem eigenen Bedeutungszusammenhang ausschlaggebend, sondern die eigene Einschätzung dieses Abstands, der etwa so kommuniziert wird, dass etwas für unverstehbar gehalten wird, das sich bei näherer Betrachtung als durchaus zugänglich erweisen würde. Es sind hier also die Präsuppositionen des Fremdverstehens interessant und nicht die jeweilige Angemessenheit oder Unangemessenheit der darin enthaltenen Unterstellungen.
Die beiden charakterisierten Fremdheitserfahrungen - soziale und kulturelle Fremdheit - können zusammen, aber auch unabhängig voneinander auftreten. Letzteres ist insofern einleuchtend, da sich die beiden Prinzipien der Grenzziehung deutlich voneinander unterscheiden (vgl. Stenger 1998: 317). Ob die Betonung einer Nichtzugehörigkeit mit dem Vorliegen einer Unvertrautheit verbunden ist, hängt vom Subjekt, der Situation, den Interessen und dem Kontext der Fremderfahrung ab (vgl. Münkler/Ladwig 1997: 26). Natürlich kommt es indes oft vor, dass soziale und kulturelle Fremdheit miteinander verbunden sind, etwa wenn die kulturelle Fremdheit die Legitimation für eine soziale Grenzziehung bietet. Dies korrespondiert mit dem oft problematischen Umgang mit dem Fremden, der sich den vorgegebenen Ordnungsmustern zu entziehen scheint, so dass wir oftmals nicht wissen, was wir von ihm zu halten haben (vgl. Hüttermann 2000: 275). Wenn etwa Zygmunt Baumann schreibt: „Es gibt Freunde und Feinde. Und es gibt Fremde“ (1995: 73), so ist damit gemeint, dass die Einordnung des Fremden in die beiden groben, für die Behandlung des Gegenübers aber fundamentalen Kategorien „Freund“ oder „Feind“ nicht möglich ist und er „Distanz und Differenz innerhalb sozialer Beziehungen“ (Scherr 1999: 57) markiert. Eine Einschätzung des Fremden als „Freund“ oder Feind würde aber eine Vorhersehbarkeit seines Verhaltens verlangen, deren Möglichkeit aber ein Widerspruch zu seinem Status als Fremder wäre.
Eine Möglichkeit, unter der Bedingung einer (zumindest anfänglichen) Ungewissheit mit dem potenziell Fremden umzugehen, wäre es, innerhalb (für uns) günstiger Bedingungen das Verhältnis von Nähe und Ferne zwischen ihm und uns bezüglich eigener Sicherheitsbedürfnisse auszubalancieren. Dadurch wäre Zeit gewonnen sowie ein Zugang zu Informationen (über den Fremden). Ein Beispiel für ein solches Durchgangsstadium ist der Gaststatus (vgl. Stagl 1997: 106f), angesichts dessen der Gastgeber meist die Interaktionsregeln vorgibt, wobei dieser Status durch die „Überwältigung des Eigenen durch das Fremde“ ins Gegenteil umgekippt werden könnte (Münkler/Ladwig 1997: 28). Die Interaktion auch innerhalb des Gaststatus kann aber nur gelingen, wenn beide Seiten ein Mindestmaß an Erwartungssicherheit über das Verhalten des jeweils anderen hegen dürfen. Dieses Minimum nun kann über Institutionalisierungen von Bereichen, Formen und Medien des Austausches erreicht werden. Wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass der Gastgeber (oder bei Umdrehung des Verhältnisses der Gast) dem Gegenüber den Einblick in machtrelevante Bezirke der Vertrautheit verweigern kann (vgl. Münkler/Ladwig 1997: 28), was beweist, wie sehr Unvertrautheit und Exklusion miteinander verknüpft sind, da die Nichtzugehörigkeit sehr oft eine Unzulänglichkeit von Wissensbeständen beinhaltet, während die effektive Zugehörigkeit üblicherweise ein Mindestmaß an Kenntnissen und Fertigkeiten zur Voraussetzungen hat.
Fazit
Wie im vorangegangenen definitorischen Teil festgestellt wurde, sind Fremdheitserfahrungen im Wesentlichen Erfahrungen eines Exklusionsverhältnisses, was bei Simmel dem Aspekt des „Außerhalb“ entspricht. Wer also Fremdheit zuschreibt oder erfährt, nimmt die Welt an dieser Stelle durch eine Innen-Außen-Unterscheidung wahr, bei der das Fremde dadurch bestimmt wird, dass es außerhalb einer (gedachten) Grenze des Eigenen liegt. Somit ist die Innen-Außen-Unterscheidung ein elementares Charakteristikum der Fremdheitskonstruktion. Die Exklusion verweist zugleich auf eine Inklusion des Fremdheit Zuschreibenden, womit dieser seine eigene Identität absichert. Hier zeigt sich einmal mehr, dass sich das Individuum seine Identität, seine Individualität über Abgrenzungen erkämpft (vgl. Wierlacher 1993: 68): „Der Entwurf des Selbstbildes wird erst dann möglich, wenn die naive Identifikation mit dem anderen aufgegeben ist, und wenn die bewußte Trennung des Ich von dem ‚Rest der Welt’ vollzogen wird“ (Ohle 1978: 6). Dadurch, dass soziale Existenz heißt, als distinkt wahrgenommen zu werden, geht es bei den Fragen der Identität sowohl um das Wahrgenommen werden als auch im die eigenen Formen der Wahrnehmung, also um Selbst- und Fremdbilder (vgl. Singer 1997: 45). Weiterhin ist das als „fremd“ erfahrene Objekt nicht an einem bestimmten Ort zu finden, sondern entsteht durch eine kontext- und situationsgebundene Zuschreibung und auf interaktionistischer Ebene. Zum Aspekt der Exklusion muss indes noch das Kriterium der Relevanz hinzukommen, bevor man von einer Fremdheitserfahrung sprechen kann. Mit Relevanz ist das Hervorrufen oder (dauerhafte) Aufrechterhalten einer Irritation von Erwartungen, Handlungen und Orientierungen gemeint. An dieser Stelle muss also zwischen dem Fremden und dem Anderen unterschieden werden: Der gewohnte Umgang mit dem Anderen, dem man routinegemäß mit einer Haltung der Indifferenz begegnet, wird erst dann zur Fremdheitserfahrung, wenn er durch eine Grenzüberschreitung Orientierungsprobleme auslöst und somit Relevanz erhält. Die Verknüpfung zwischen Anderem und Fremden ist aber nicht selten und liegt darin, dass der Fremde stets ein Anderer ist, „dessen Nichtzugehörigkeit festgestellt und dadurch zum herausgehobenen Element der sozialen Wirklichkeit wird“ (Stenger 1998: 312). Wenn man Fremdheit als Beziehungsverhältnis definiert, in dem Ex- und Inklusion sowie Relevanz miteinander verbunden sind, muss noch auf den Unterschied zwischen der sozialen und der kulturellen Fremdheit hingewiesen werden, auch wenn beide ein Beziehungsverhältnis darstellen, in welchem das als „fremd“ identifizierte Objekt dem Außerhalb zugeordnet wird. Bei der sozialen Fremdheit geschieht dies aber in einer primär positionalen Dimension, also durch Nichtzugehörigkeit (zu einer sozialen Einheit), und bei der kulturellen Fremdheit in der kognitiven Dimension, wo die scheiternde Aneignung und Erfahrung eine bleibende Unvertrautheit zur Folge hat. Dabei kann das Objekt der Fremdheitsbeziehung als „Faszinosum“ oder als „Tremendum“ (vgl. Hahn 1994: 151f) zum Bezugspunkt für Orientierung und Handeln des Konstrukteurs werden. Natürlich kommt es oft vor, dass soziale und kulturelle Fremdheit miteinander verbunden sind, etwa wenn die kulturelle Fremdheit die Legitimation für eine soziale Grenzziehung bietet. Indes können beide Formen von Fremdheitserfahrungen auch unabhängig voneinander auftreten. Dies ist insofern einleuchtend, weil sich die beiden Prinzipien der Grenzziehung deutlich voneinander unterscheiden. Ob die Betonung einer Nichtzugehörigkeit mit dem Vorliegen einer Unvertrautheit verbunden ist, hängt vom Subjekt, der Situation, den Interessen und dem Kontext der Fremderfahrung ab.
II. Datenerhebung
II.1 Methodische Konzeption
Mit Berücksichtigung der in Kapitel I geleisteten theoretischen Grundlagen sollen für diese Arbeit über eine Analyse qualitativer Interviews mit deutschen und österreichischen VolontärInnen und Zivildienstleistenden in Jerusalem (Israel) Erkenntnisse darüber erzielt werden, unter welchen Bedingungen Fremdheitserfahrungen entstehen und wie mit ihnen umgegangen wird. Berücksichtigt werden soll zudem der Rückgriff auf Steuerungsmechanismen von (potenziellen) Fremdheitserfahrungen, welche die beiden christlichen Häuser grundsätzlich ermöglichten, in denen die befragten Personen während ihres Aufenthaltes in Israel lebten und arbeiteten. Denn dadurch, dass sich die befragten Männer und Frauen zwar in einem ihnen „fremden“ Land aufhielten, aber zugleich die prinzipielle Möglichkeit zu einem (permanenten) Rückgriff auf kulturell vertraute Strukturen und Orientierungspunkte besaßen, konnten sie von vornherein (zukünftige) Fremdheitserfahrungen bewusst oder auch unbewusst minimieren, fördern, verändern oder einfach vermeiden. Dabei soll sich nicht auf Erfahrungen mit dem fremden Ort oder der fremden Wirklichkeit an sich konzentriert werden, sondern mit dem oder der Fremden innerhalb alltäglichen Interaktionszusammenhängen. Ausgangspunkt der grundlagentheoretischen Überlegungen ist dabei das Verständnis von sozialer Fremdheit als wahrgenommener Aspekt der Nicht-Zugehörigkeit sowie von kultureller bzw. lebensweltlicher Fremdheit auf der Basis einer erlebten Unvertrautheit, die innerhalb der geführten Interviews dadurch zu erkennen war, dass die VolontärInnen und Zivildiener sprachliche Hinweise einer relevanten Interaktionsproblematik gaben.
II.2 Auswahl der Intervieworte
Für die Datenerhebung wurden in den Monaten Juli, August und September 2007 deutsche und österreichische Freiwillige befragt, die zum Zeitpunkt der Interviews in christlichen Hospizen in Jerusalem (Israel) ein Volontariat oder einen Zivildienst absolviert haben.
Auf die israelische Hauptstadt fiel die Wahl deshalb, weil sich dieser Ort aufgrund seiner Multikulturalität und seiner Multikonfessionalität für potentielle Fremdheitserfahrungen geradezu anbot. Dabei ergibt sich die kulturelle Vielfalt in Jerusalem nicht allein wegen der konzentrierten Anwesenheit verschiedenster religiöser und ethnischer Divergenzen in Form der im Land lebenden Menschen, sondern auch über die multikonfessionellen und -ethnischen ausländischen Besucher, welche v.a. als Touristen und Pilger alljährlich in großer Zahl die Stadt bereisen. Hinzu kommt die bemerkenswerte räumliche Segregation des Stadtgebietes: Diese besteht einmal im groben Rahmen zwischen der Altstadt und der Neustadt, aber auch innerhalb der Altstadt, die sich in das muslimische, das christliche, das jüdische und das armenische Viertel unterteilt und verschiedene adaptive Verhaltensweisen und Handlungskompetenzen erfordert. Weiterhin tritt die starke militärische Präsenz in Form der israelischen Armee und der verschiedenen Checkpoints im Stadtgebiet hinzu, welche sicherlich den anhaltenden Nahost-Konflikt im Bewusstsein halten. Angesichts dieser Verhältnismäßigkeiten lag bei der Wahl von Jerusalem als Ort angenommener Fremdheitserfahrungen also die starke Vermutung zu Grunde, bei jeder der interviewten Personen auf irgendeine Weise relevante Erfahrungen von Fremdheit beobachten zu können.
Bei den beiden christlichen Trägereinrichtungen nun, in denen die befragten Personen während ihre Aufenthaltes im Land lebten, handelte es sich um das „Österreichische Hospiz zur Heiligen Familie“ und um das „Paulushaus“.[5] Zu beiden Institutionen bestand bereits ein persönlicher Kontakt, auf den aufgebaut werden konnte. Die Wahl fiel aber aus anderen Gründen auf diese beiden Hospize.[6] Aufgrund der besseren Verständigung und Nachvollziehbarkeit der im Interview zu erwartenden Aussagen sollten ausschließlich VolontärInnen und Zivildienstleistende befragt werden, deren Muttersprache Deutsch ist und bei denen aufgrund ihrer kulturellen Herkunft eine geteilte kulturelle Sinngebung angenommen werden durfte.[7] Außerdem sollten diese Personen in beiden Häusern in ähnliche arbeitstechnische und lebensweltliche Strukturen eingebunden sein, die sich kulturell und logistisch nachvollziehen lassen sowie denen der Heimat der befragten Personen ähneln und teilweise sogar gleichen. Die Probanden hatten also grundsätzlich die Möglichkeit, in diesen hauseigenen Strukturen ein stückweit „Heimat“ wahrzunehmen, denn nur so konnte von vornherein eine Steuerung (zukünftiger) Fremdheitserfahrungen erwartet werden. Dabei ähnelten sich die Arbeits- und Lebensbedingungen innerhalb der Hospize dahingehend, dass neben einer österreichischen bzw. deutschen Hausleitung vor allem deutsche oder österreichische Personen in den Häusern beschäftigt wurden, sei es als Angestellte, als Konventsmitglieder oder als freiwillige Helfer auf Zeit. Beide Häuser erhalten ihre Direktiven außerdem aus Deutschland oder Österreich und waren intern ähnlich strukturiert. Eine weitere Gemeinsamkeit ist es, dass beide Hospize keine geschulten Experten (etwa medizinisch versiertes Fachpersonal o.ä.) verlangten, sondern mehr oder weniger jedem/r potenziellen Bewerber/in einen längeren Aufenthalt gewähren. Gleichzeitig weisen sowohl das Österreichische Hospiz als auch das Paulushaus eine sehr starke räumliche Trennung zur als kulturell unvertraut wahrgenommenen Umgebung auf, d.h. zwischen einem „innerhalb“ und einem „außerhalb“ des Hauses, so dass mit dem Verlassen des jeweiligen Hospizes ein schwellenhafter Wechsel zu vollziehen war, der potenzielle Fremdheitserfahrungen verstärken konnte. Dieser Aspekt ist für diese Arbeit einer der hilfreichsten gewesen, denn er ermöglichte Beobachtungen bezüglich einer Schwellenerfahrung, die für die Unterscheidung zwischen vertrauter und unvertrauter Lebenswelt nicht überschätzt werden kann. Mit diesem Umstand korrespondiert eine weitere Gemeinsamkeit, welche beide Häuser aufweisen: Sie gewährleisten allen VolontärInnen und Zivildienern eine unbedingte Freiwilligkeit in der Intensität der Fremdheitserfahrungen. D.h. sie sind so ausgerichtet, dass sie aufgrund ihrer hauseigenen Strukturen und logistischen Gegebenheiten jedenfalls theoretisch jeder/m Volontär/in und jedem Zivildienstleistenden die Möglichkeit bieten, sich fast ausschließlich im Haus aufzuhalten und einem Kontakt zum „Fremden“ weitest gehend zu vermeiden.
Alle diese kurz dargestellten Charakteristika machen die beiden ausgewählten Hospize also zu (nicht künstlich hergestellten) idealen Orten, um die für diese Arbeit vorzunehmenden Untersuchungen anstellen zu können. Beiden sind die vorherrschende deutsche Sprache gemeinsam – Fremdsprachenkenntnisse waren erwünscht, aber nicht Bedingung - sowie die deutsch-österreichischen Strukturen als Möglichkeit zur „nationalen Beständigkeit“. Weiterhin zeichnen sie sich durch eine festungsähnliche Abgrenzung zur unmittelbaren muslimischen Umgebung aus - hier wie dort der arabische Souq (= Bazar) - und mithin durch eine schwellenhafte Trennung zwischen innerhalb und außerhalb des Hauses. Ihren Gästen und Mitarbeitern bieten sie genügend Möglichkeiten zum Rückzug, so dass eine Intensivierung des Fremdkontaktes jedem einzelnen überlassen ist. Ein längerer Aufenthalt ist grundsätzlich jedem möglich, wenn auch das Paulushaus ein Volontariat an das christliche Bekenntnis hängt. Der Zivildienst ist in beiden Institutionen möglich. Fast idealtypisch ist auch das gemeinsame Selbstverständnis beider Häuser. Das Österreichische Hospiz hat sich zum Ziel gesetzt, „‚Heimat fern der Heimat’ zu sein“ (www.austrianhospice.com/de/jerusalem.htm, 20.02.2008) sowie „eine Oase der Ruhe und Entspannung“ (www.austrianhospice.com/de/bewerbung.htm, 20.02.2008). Das Haus bietet den VolontärInnen und Zivildienern alle Annehmlichkeiten wie einen großen Garten, mehrere Terrassen, eine Kapelle, einen Salon mit Bösendorfer-Flügel, ein original österreichisches Caféhaus, einen Kinoraum, kostenlosen Internetzugang, freies Essen dreimal am Tage, nicht-alkoholische Getränke ohne Zuzahlung sowie einen eigenen Wäscheservice. Auch das von den Maria-Ward-Schwestern („Congregatio Jesu“) geleitete Paulushaus offeriert solche Annehmlichkeiten wie eine große Dachterrasse, ein Klavier, Aufenthaltsräume, eine hauseigene Kapelle, einen Lesesaal, freie Kost, freien Wäscheservice und sogar ein kleines Museum und sieht sich „inmitten des pulsierenden Teils von Jerusalem wie eine Oase, aber auch wie eine feste Burg. Von der Betriebsamkeit des nur wenige Meter entfernten Basars ist kaum etwas zu spüren“ (www.heilig-land-verein.de/html/paulus-haus_jerusalem.html, 20.02.2008). Das Haus, zu dem auch die seit 1886 bestehende Schmidt-Schule für christliche und muslimische Mädchen gehört, zeichnet sich „durch die massive Bauweise, gute Lärmdämmung und Abschottung“ aus und nimmt sich selbst explizit als „eine kleine deutsch-geprägte Insel inmitten des Trubels“ der Altstadt wahr (www.heilig-land-verein.de/html/paulus-haus.html, 20.02.2008). Die freiwilligen Helfer und Zivildiener werden von deutschsprachigen Mitarbeitern der Häuser sofort nach Ankunft auf dem Flughafen David Ben Gurion (Tel Aviv) abgeholt und von dort nach Jerusalem gebracht. Zudem kann man auf den jeweiligen Internetseiten der Häuser seinen Willen zu einem Aufenthalt vor Ort von den Erfahrungsberichten ehemaliger Zivildienstleistender und VolontärInnen abhängig machen.
II.3 Interviewführung
Interviewt wurden vier Männer und fünf Frauen, die zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 19 und 54 Jahren alt waren und vor Ort zufällig ausgewählt wurden. Einzige Bedingung, die an die Auswahl der Interviewten gestellt wurde, war, dass sie nicht bereits zuvor ein Volontariat oder einen vergleichbaren Aufenthalt in einem der beiden Hospize in Jerusalem absolviert hatten. Zwei der insgesamt neun interviewten Personen waren als Zivildienstleistende in Jerusalem, die restlichen als VolontärInnen. Österreichischer Nationalität waren vier Interviewteilnehmer, während die anderen fünf aus Deutschland kamen. Mit jeder dieser Personen wurden jeweils zwei verschiedene qualitative Interviews durchgeführt, denen jeweils ein unterschiedlicher Leitfaden zu Grunde lag (siehe Anhang dieser Arbeit).[8] Das erste Interview wurde wenige Tage nach der Ankunft in Jerusalem, das zweite dann nach vier bis fünf Wochen Aufenthalt im Land selber geführt. Diese Zweiteilung der Interviews ergab sich zum einen aus dem Forschungsgegenstand selber: Es lag dafür die Annahme zugrunde, dass zum früheren Zeitpunkt des ersten Interviews die Erwartungshaltung der zu befragenden Personen von ihrem Aufenthalt noch relativ „ungetrübt“ gewesen sei, es aber im Laufe der Zeit vor Ort zu einer Veränderung in den handlungsorientierten Erwartungen kommen werde. Vermutet wurde diesbezüglich, dass sich ein Wandel in der Erwartungshaltung gegenüber dem kulturellen Zugang vor Ort einstellen werde. In einem solchen Fall sei dieser Wandel als wesentliches Element für die Entstehung einer Fremdheitserfahrung zu werten. Daher wurden im ersten Interview nicht nur Angaben zur Person und zu bisherigen Auslandserfahrungen erhoben, sondern vor allem Fragen nach Vorerwartungen und -einschätzungen von Jerusalem bzw. Israel gestellt (und damit auch nach Stereotypen, Klischees, Einstellung der „fremden“ Kultur gegenüber etc.). Diese sollten dann mit den Angaben zu den „tatsächlich“ gemachten Erfahrungen vor Ort verglichen werden.[9] Aus diesem Grunde wurden einige Fragen des 1. Interviews im 2. Interview noch einmal gestellt. Zum anderen ergab sich das Aufteilen der Interviews aus der Vielzahl der zu erfragenden Angaben und der Länge der Interviews: Da jedes einzelne Gespräch im Durchschnitt 90 Minuten in Anspruch nahm, konnte nicht realistisch davon ausgegangen werden, dass ein gebündeltes Interview von drei Stunden zuverlässige Angaben gebracht hätte, zumal die Bereitschaft der Probanden zur Mitarbeit dann sicherlich geringer ausgefallen wäre. Der Kontakt zu den Interviewteilnehmern wurde direkt hergestellt, wobei diese über den eigentlichen Forschungsgegenstand nur oberflächlich informiert worden sind, um die zu erwartenden Ergebnisse nicht übermäßig zu verzerren.
II.4 Grundsätzliche Überlegungen
Mit Bezug auf die theoretischen Grundlagen und das Forschungsziel sowie die räumlichen und strukturellen Gegebenheiten der beiden Häuser in Jerusalem konnten für die geführten qualitativen Interviews folgende Bedingungen erreicht werden:
Die von Stichweh als „kommunikative Erreichbarkeit“ (Stichweh 1997: 47) definierte Nähe des Fremden als Voraussetzung jeder Fremdheitserfahrung wurde dadurch hergestellt, dass die interviewten Personen nach Jerusalem gekommen sind. Erst mit ihrem Kommen nach Israel überschritten sie die von Simmel geforderte Grenze zwischen „Gegenüber und Außerhalb“ (1983: 509), womit überhaupt erst Wahrnehmungs- und Interaktionschancen geschaffen wurden, die auch das Fremdsein ermöglichen konnten. Denn erst aus dem zeitlichen und räumlichen Zusammentreffen kann jene wechselseitige Bedeutung erwachsen, die es notwendig macht, sich zueinander zu verhalten. Dadurch aber, dass die interviewten Personen während ihres Aufenthaltes vor Ort in Einrichtungen mit einem explizit deutschsprachigen und deutsch/österreichisch-kulturellen Hintergrund arbeiteten und lebten, hatten sie weiterhin die Möglichkeit, „unter sich“ zu bleiben und ihre Kontakte sowie mithin ihre Erfahrungen mit den „Fremden“ zu steuern. Je nachdem, ob sie sich der „fremden“ Kultur aussetzten oder nicht, ergab sich dadurch eine Reduktion oder eine Verstärkung der Fremdheitserfahrungen. Es war in diesem Zusammenhang also interessant, welche Funktionen die deutsch-österreichischen Einrichtungen in Jerusalem für die interviewten Personen übernommen haben. Es ließ sich diesbezüglich die Vermutung aufstellen, dass aufgrund des großen Komforts und des sozialen Netzes innerhalb dieser „heimischen Inseln in der Fremde“ nur wenig Antrieb für die VolontärInnen und Zivildienstleistenden bestanden hat, die Fremde tatsächlich zu erleben, so dass „der Aspekt der Gestaltung des eigenen Raumes Priorität vor dem Bedürfnis nach Exploration des bereisten Raumes“ gewinnen konnte (Eder 1991: 162). Denn dadurch, dass kein expliziter Zwang bestand, sich in schwierigen und unangenehmen Situationen zu bewähren, wird auch das Risiko und mithin die Relevanz gesunken sein, dass Fremdheitserfahrungen das eigene Weltbild in Frage stellen. Denn die „fruchtbare Spannung zwischen der Eigenart der Lebensformen, aus der man kommt, und der Andersartigkeit der Welt, in die man geht, besteht nur noch für den, der sich ihr bewußt aussetzt“ (Eder 1991: 168). Diese Möglichkeit zum theoretischen „Nullkontakt“ mit der „fremden“ Umgebung wird indes in einem problematischen Spannungsverhältnis zu dem Willen der interviewten Personen gestanden haben, kulturell herausfordernde Erfahrungen zu machen, die ja erst Grundlage sind für einen angestrebten „Habitus der Welterfahrenheit und der Offenheit gegenüber anderen Kulturen“ (Singer 1997: 119). Und genau einen solchen strebten die befragten Personen ja auch an, wie noch gezeigt werden wird. Es war also davon auszugehen, dass die Möglichkeit zur Steuerung des Kontaktes zu „Fremden“ nicht jede Fremdwahrnehmung verhindert, sondern vielmehr strukturiert hat. Weiterhin ist auch zu erwarten gewesen, dass die VolontärInnen und Zivildiener dieses Spannungsverhältnis zwischen dem gesetzten Ziel der Fremderfahrung und dem (dies erschwerenden) bequemen Verbleib in den bekannten Strukturen durchaus wahrgenommen und problematisiert haben. Es lässt sich an dieser Stelle bereits erkennen, wie fruchtbar die Situation der interviewten Personen für die Untersuchung von Fremdheitserfahrungen und ihrer Steuerung ist.
III. Auswertung der Interviews
III.1 Die Interviewten – Distinktion und Kennerschaft
Die Gruppe der für diese Arbeit interviewten Personen setzt sich aus Menschen zusammen, die man im Sinne von Mona Singer (1997) als „Kosmopoliten“ bezeichnen kann, womit Personen gemeint sind, die das Privileg zum Reisen haben und dieses auch nutzen. So hat sich auch tatsächlich bei allen Interviewten gezeigt, dass die befragten Männer und Frauen das Reisen als einen wichtigen und unersetzlichen Bestandteil ihres Lebens thematisierten, der als erwartetes und verlangtes wichtiges Kapitel des eigenen Lebenslaufes gilt und sogar zum Zeichen des Erwachsenwerdens geworden ist, ja zu einer Form des „rite de passage“ (): „Weil, meine Mutter hat das mit Jerusalem ganz cool hingenommen. Ich hab schon drauf gewartet, wenn sie erstmal sagt ‚Och Mädel, Du wirst ja doch groß.’ Das kam dann am Flughafen oder so zwei Tage vorher: ‚Ja ich merke jetzt, Du wirst erwachsen.’“ (Volontärin K, PH, I1: 9). [10] Weiterhin wurde das Reisen als eine Flucht aus einer ungewissen Zukunft beschrieben oder als Überbrückung eines bestimmten Zeitraums (etwa zwischen zwei beruflichen Tätigkeiten), womit es auch zum Strukturgeber der eigenen Lebensgestaltung wurde. Abgesehen davon, dass alle befragten Personen bereits über eine Vielzahl an (rein) touristischen Reiseerfahrungen verfügten, waren einige von ihnen auch bereits im Rahmen ihrer Erwerbsarbeit, ihrer schulischen Laufbahn oder eines Praktikums im Ausland gewesen. Nun sind sie in Jerusalem als VolontärInnen oder Zivildiener für einen Zeitraum zwischen vier Wochen und 13 Monaten. Im Gegensatz etwa zu Migranten, Flüchtlingen oder Exilanten unterliegen sie dabei aber nicht dem Zwang „zu einer ‚extremen’ bzw. ‚radikalen’ Auseinandersetzung mit einem anderen Land und einer anderen Kultur“ (Singer 1997: 119). Dieser fehlende Zwang resultiert daraus, dass diese Kosmopoliten im Vorfeld oder vor Ort in den meisten Situationen selber festlegen dürfen, wie intensiv der Kontakt zu den für sie unvertrauten kulturellen Gegebenheiten sein soll. Denn die VolontärInnen und Zivildienstleistenden leben und arbeiten innerhalb eines für sie fremden Kulturkreises an Orten, wo für sie größtenteils bekannte und vertraute Normen herrschen, auf die sie zurückgreifen können, weshalb ihre einheimische Identität angesichts einer unvertrauten Umgebung nicht großartig reißen, sondern lediglich in Frage gestellt oder höchstens problematisiert werden kann. Den Grad dieser Problematisierung können sie sehr gering halten, wobei sich dafür im Allgemeinen drei Hauptstrukturgeber herausstellen lassen. Der erste ist die Zeit, die begrenzt und absehbar ist. Selbst angesichts eines Aufenthaltes von einem Jahr ist eine Anpassung an die unvertraute Umgebung und eine Verständigung mit dieser nicht zwingend, denn zweitens ergibt sich mit dem kulturell vertrauten Umfeld in den Hospizen ein soziales Netz, das Struktur- und Ordnungsvorgaben befriedigt, herstellt und gewährleistet. Drittens fungiert der Ort als räumliche Größe einer Abgrenzungsmöglichkeit vom kulturell fremden und mithin herausfordernden Umfeld. Weiterhin konnten die interviewten Personen sämtlichst während des ganzen Aufenthaltes über den Gebrauch moderner Kommunikationsmittel wie Telefon und Internet problemlos den Kontakt der im Heimatland verbliebenen Freunde und Familienmitglieder aufrechterhalten. Und selbst die Angestellten in den Hospizen, mit denen man zusammengearbeitet hat, sind aufgrund ihrer den übrigen Einheimischen[11] exponierten beruflichen Situation durchaus mit „westlichen“ Arbeits- und Lebensbedingungen vertraut und an diese gewöhnt („Weil die wissen ja, wie unsere Kultur im Grunde ist“ [Volontärin P, ÖH, I2: 5]), so dass auch sie nicht primär als kulturell fremd angesehen werden müssen.
[...]
[1] Eine (soziale) Beziehung soll mit Max Weber „ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen. Die soziale Beziehung besteht also durchaus und ganz ausschließlich: in der Chance, dass in einer (sinnhaft) angebbaren Art sozial gehandelt wird, einerlei zunächst: worauf diese Chance beruht" (Weber 1985: Kapitel 1, § 3).
[2] Nicht als fremd gilt nach Georg Simmel das nur Geglaubte oder schlechthin Unbekannte, denn darüber seien keine bestimmten Aussagen, sondern bloße Vermutungen anzustellen (vgl. Simmel 1983: 509).
[3] So geht diese Relevanz meist bei Kleingruppen des alltäglichen Lebens verloren, wenn nämlich die Ausgeschlossenen die gemeinsame Nähe verlassen.
[4] Dem Attribut „kulturell“ liegt der Kulturbegriff von Friedhelm Neidhardt zu Grunde: Kultur sei demnach das „System kollektiver Sinnkonstruktionen, mit denen Menschen die Wirklichkeit definieren“ (1986: 11).
[5] Es wurde weiterhin versucht, VolontärInnen des Johanniterhospizes und der Erlöserkirche zu interviewen, da sich diese beiden Einrichtungen ebenfalls einem Großteil der für diese Arbeit wichtigen Kriterien fügten. Allerdings waren die angesprochenen Personen leider nicht zu einer Befragung bereit.
[6] Der Begriff „Hospiz“ ruft oft die Assoziation hervor, es handele sich dabei um ein Sterbehaus. Deshalb ist an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die hier thematisierten Einrichtungen nichts mit der Pflege und Betreuung von Kranken und Sterbenden zu tun haben, sondern als Pilgerhäuser zu verstehen sind, die dem Gast- und Beherbergungsbereich zugeordnet werden müssen und sich durch eine christliche Hausordnung auszeichnen. Die VolontärInnen und Zivildienstleistenden verrichten dort überwiegend Arbeiten in Küche, Cafeteria, Speisesaal und an der Rezeption sowie auf den Gebieten der Haus- und Gartenpflege.
[7] Hier liegt die Vermutung zu Grunde, dass sich die kulturellen Hintergründe und Einschätzungen von Deutschen und Österreichern auf keine für den Forschungsgegenstand dieser Arbeit relevante Weise unterscheiden.
[8] Die Leitfäden waren grobe Vorgaben, die indes eingehalten werden sollten. Wichtiger aber war es, durch Zusatzfragen zu gemachten Angaben nähere Einschätzungen der befragten Personen über die „fremde“ Kultur und ihren Umgang zu erhalten. Dabei mussten v.a. unzulässige und ungenaue Polarisierungen (bspw. „Wie hast du die orthodoxen Juden wahrgenommen?“) im Leitfaden vermieden und durch objektive Charakteristika (bspw. „Wie hast du die verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen in Jerusalem wahrgenommen?“) ersetzt werden.
[9] Aus logistischen Gründen war der Idealfall nicht möglich, die zu interviewenden Personen für das erste Interview in ihrem häuslichen Umfeld in Österreich oder Deutschland aufzusuchen. Dies wäre allerdings deshalb sehr begrüßenswert gewesen, weil sich auf diese Weise erste Eindrücke vom Land noch nicht hätten im Meinungsbild verfestigen können und man so eine authentischere Erwartungshaltung der unvertrauten Kultur gegenüber errreicht hätte.
[10] Der Nachweis der aus den Interviews herausgezogenen Zitate erfolgt so, dass zunächst der Status (Volontär/in oder Zivildiener) der jeweiligen Person, anschließend der Anfangsbuchstabe ihres Vornamens sowie der Ort ihres Aufenthaltes („PH“ für Paulushaus und „ÖH“ für das Österreichische Hospiz) angeführt werden. Es folgt weiterhin die Angabe, um welches Interview („I1“ = Interview 1 und „I2“ = Interview 2) es sich handelte, sowie schließlich die genaue Seitenangabe. Bei Vornamen mit dem gleichen Anfangslaut wurde eine Nummerierung vorgenommen, also „A1“, „A2“ usw. Direkte Zitate werden im Text immer kursiv gehalten. Sehr breit zitierte oder besonders prägnante bzw. erhellende Passagen und Aussagen aus den Interviews sind als separater Block in den Text eingefügt und in diesem Falle nicht kursiv gedruckt. Die insgesamt 18 Interviewtranskriptionen sind als CD der Arbeit beigelegt worden.
[11] Der Begriff „Einheimischer“ ist nicht nur wegen unangemessener Konnotationen und aufgrund einer vereinfachenden Zusammenfassung problematisch. Er soll in dieser Arbeit dennoch benutzt werden, da er die Verwendung umständlicher anderer Formulierungen vermeiden kann. Unter Einheimischen soll im Folgenden die dauerhaft in Jerusalem bzw. Israel lebende Bevölkerung gezählt werden, zu der auch Personen gehören, die ihr Leben auf längere Zeit institutionell (bspw. in Klöstern) und beruflich (bspw. in Organisationen) im Land eingerichtet haben. Der Begriff wurde auch in den Interviews angewendet, wobei den befragten Personen eine Definition mit an die Hand gegeben worden war.
- Arbeit zitieren
- Dominik Jesse (Autor:in), 2008, Heimische Inseln in der Fremde - Fremdheitserfahrungen von VolontärInnen und Zivildienstleistenden in zwei christlichen Hospizen in Jerusalem (Israel), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116314
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