Mit Überraschung habe ich eines Tages in der Basler Zeitung gelesen, daß die Mehrzahl der in Basel wohnhaften türkischen Staatsbürger Aleviten seien. Ein schneller Blick in das Wikipedia zeigt, daß die Aleviten mit 35 % der Bevölkerung die zweitgrößte Religionsgruppe der Türkei stellen. Mag sein, daß unser neuer Nachbar, oder das Gegenüber im Tram oder Zug ein Alevit ist. Was wissen wir über seine Gruppe?
Ich möchte von zwei Seiten her einiges über die Aleviten anführen: einiges über die Entstehung und Entwicklung der alevitischen Religion, und etwas über ihre heutige Situation.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Die Religion der turkmenischen Nomaden
Einführung der sunnitischen Religion als Ideologie des osmanischen Reiches
Zurückdrängung der Turkmenen im Vielvölkerstaat
Die sunnitische Sozialisation
Umwandlung der Volksreligion in Alevitentum
Alevitische Aufstände
Festigung des Alevitentums durch Unterdrückung
Die Rolle des Bektaschi-Ordens
Die Entwicklung im 20. Jahrhundert
Alevitische Identität von Migranten in der Diaspora
Eigenheiten der alevitischen Religion
Der alevitische Individualismus
Die Cem-Zusammenkünfte
Wahlbruderschaft - Beschneidungsbruderschaft
Das Verhältnis der Aleviten zu den Sunniten
Das Verhältnis der Aleviten zur Mehrheitskultur in der Diaspora
Literaturverzeichnis
Einleitung
Mit Überraschung habe ich eines Tages in der Basler Zeitung gelesen, daß die Mehrzahl der in Basel wohnhaften türkischen Staatsbürger Aleviten seien. Ein schneller Blick in das Wikipedia zeigt, daß die Aleviten mit 35 % der Bevölkerung die zweitgrößte Religionsgruppe der Türkei stellen. Mag sein, daß unser neuer Nachbar, oder das Gegenüber im Tram oder Zug ein Alevit ist. Was wissen wir über seine Gruppe?
Ich möchte von zwei Seiten her einiges über die Aleviten anführen: einiges über die Entstehung und Entwicklung der alevitischen Religion, und etwas über ihre heutige Situation.
Die Religion der turkmenischen Nomaden
In der Folge der Völkerwanderung in Mittelasien im 9.-11. Jahrhundert drangen, vor allem nach dem Sieg der Seldschuken über die byzantinischen Truppen im Jahre 1071, turkmenische Nomadenvölker aus Zentralasien in Anatolien ein.
Es wurden Fürstentümer gegründet. Die Herrschaft wurde durch Beutezüge der reitenden Horden der turkmenisch-islamischen Glaubenskrieger aufrechterhalten. Die Kriegsbeutezüge richteten sich gegen Nichtmuslime. Die Anweisung lautete: greife deinen Gegner im Namen der Religion und Allahs an, dann lade ihn zur Konversion zum islamischen Glauben ein. Wenn er einverstanden ist, bleibt er am Leben. Weigert er sich, dann hängt das weitere Vorgehen von der Situation des Angegriffenen ab. Wenn er Christ oder Jude ist und sich der Herrschaft der Muslime fügt, muß er Kopfsteuer zahlen. Wenn er sich weigert zu zahlen, wird er enteignet und getötet. Ist er aber kein Angehöriger einer monotheistischen Religion und will nicht zum Islam übertreten, muß er sterben. Sein Eigentum aber gehört auf jeden Fall Dir.
Das Glaubenskämpfertum hatte in den Fürstentümern anfangs Vorrang vor Handel, Landwirtschaft und Handwerk. Die Finanzierung des expandierenden Staates konnte aber allmählich nicht mehr durch die Ausweitung der Kriegsbeutezüge gewährleistet werden. Statt den kurzfristig nützlichen Beutezügen konnten nur seßhafte, den Boden bearbeitende, Abgaben verrichtende Bauern das Fürstentum stabilisieren.
Einführung der sunnitischen Religion als Ideologie des osmanischen Reiches
Die Volksreligion, eine mystische Variante des Islam mit heidnischen Elementen, die die Vorfahren zur ideologischen Begründung der Kriegsbeutezüge aus Mittelasien mitbrachten, mußte durch die sunnitisch-islamische Ideologie ersetzt werden, die den Übergang von der Nomadengesellschaft zur feudalen Agrargesellschaft begründen sollte.
Nach sunnitischem Recht, das aus der Zeit der ersten Kalifen, also aus dem 8. Jahrhundert stammt, war der bis anhin als öffentliches Gut angesehene Boden faktisch Eigentum des herrschenden Fürsten bzw. später des Sultans. Der Fürst Osman Gazi, Begründer des osmanischen Reiches sorgte für eine Aufteilung des Bodens unter seinen Verwandten, Angehörigen der turkmenischen Regierungs- und Militärelite. Die Nomaden mußten mit Gewalt seßhaft gemacht werden – sie wollten aber ihre bisherige Lebensweise und Traditionen behalten. So entstand eine Spannung zwischen der von den Herrschenden propagierten sunnitischen Ideologie und dem Volksglauben.
Nun bestand die Gesellschaft aus dem Serail (Sultan und Hof), der Regierung und der politischen und administrativen Elite mit Wesiren und Großwesir, dem Militär (Spahi) und der Geistlichkeit, den Stadtbewohnern (Händler und Handwerker) und den Landbewohnern (Bauern und Nomaden). Die Spahi bildeten eine Armee, die in Friedenszeiten die Aufgabe übernahm, die Steuern einzutreiben. Den Soldaten wurden vom Sultan Ländereien verliehen, die sie bestellen lassen und versteuern mußten. Im Kriegsfall mußten sie mit Rekruten einrücken.
Im Gegensatz zu der sunnitisch-islamisch osmanischen Elite im städtischen Zentrum hingen die Bauern und Nomaden auf dem Land weiterhin der voralevitischen Volksreligion an.
Zurückdrängung der Turkmenen im Vielvölkerstaat
Der Osmanenstaat wurde aber durch die neu eroberten Gebiete ein Vielvölkerstaat. Die anfangs nur aus Turkmenen bestehende politisch-administrative, militärische und geistliche Führungselite wurde nach und nach von einer greco-slavo-türkischen Schicht ersetzt.
Ausgewählte geraubte Christenkinder aus dem Balkan bekamen nach islamischer Erziehung Zugang zur Elite. Damit die turkmenische Spahi-Kavallerie machtpolitisch nicht zu gefährlich für den Serail werden konnte, wurde eine ausschließlich aus Sklavenkindern gebildete und nur vom Sultan abhängige Armee, die Janitscharen, aufgebaut. Diese Kinder wurden von allen Familienbindungen und anderen Loyalitäten losgelöst, wurden vom Bektashi-Orden islamisiert und erzogen und mußten (1680) Junggesellen bleiben. Nach einer entsprechenden Ausbildung bekamen sie Zugang zu Posten in Militär, Politik, Verwaltung und Geistlichkeit. Allein unter den Großwesiren nahm die Anzahl der geraubten, islamisierten Serben, Kroaten, Albaner und Griechen im Gegensatz zu den immer mehr unterrepräsentierten Turkmenen zu. Der Statusverlust der Turkmenenfürsten als Machtfaktor vertiefte den Gegensatz zwischen der turkmenischen Bevölkerung mit ihrem Volksglauben und der multiethnischen orthodox-sunnitischen Elite des osmanischen Reiches.
Die sunnitische Sozialisation
Der orthodox-sunnitische Islam hat den Anspruch, das Denken und Handeln, das ganze Leben des Menschen zu bestimmen. Er glaubt nicht an die Heiligkeit der menschlichen Existenz und betrachtet das Individuum als unfreies Wesen, als den Befehlen Gottes und seines Propheten gehorchenden Untertan. Das Leben der Individuen wird von den Schariageboten bis in alle Einzelheiten geregelt. Zu den Hauptaufgaben des sunnitischen Staates zählt die Kontrolle der Erfüllung der religiösen Pflichten.
Die sunnitischen Rechtsgelehrten mit ihrer Deutungsautorität lenkten das Bildungswesen, das Justizwesen und die Exekutive. Sie rekrutierten sich aus Absolventen religiöser Lehranstalten.
Damit sich der sunnitische Islam wirksam durchsetzen konnte, waren entsprechende Schulen und Lehranstalten, Moscheen und das Scharia-Rechtssystem zur Sanktionierung von abweichenden Verhaltensweisen notwendig. Die erste osmanische Lehranstalt wurde schon 1330 eröffnet. Neben der einzig gültigen, einheitlichen Koraninterpretation wurden der zukünftigen Geistlichkeit Sprachwissenschaft, Rhetorik, normative Verhaltensweisen des Propheten (Sunna) und die alltägliche Umsetzung seiner Richtlinien gelehrt.
Die sunnitische Sozialisation prägte also die Weltanschauung, wie auch alle Deutungs- und Verhaltensmuster, wobei alle anderen Werte, Normen und Glaubenssysteme abgewertet und als abweichendes Verhalten eingestuft wurden.
Das Sunnitentum wurde im XVI. Jahrhundert zur offiziellen Religion des Osmanischen Reiches. Dies führte zur Marginalisierung des turkmenischen Volksglaubens und damit dazu, daß sich der Graben zwischen Sunniten und Nichtsunniten rasch vergrößerte. Geistliche, die die sunnitischen Lehranstalten absolvierten, wurden zu den aktivsten Kräften der Propaganda gegen den Volksglauben. Der Spalt zwischen Zentralmacht und Landbevölkerung führte zu immer stärkeren Spannungen zwischen letzterer und der Elite.
Umwandlung der Volksreligion in Alevitentum
Die turkmenische Landbevölkerung wandte sich bereits am Anfang des 16. Jahrhunderts an Schah Ismail, den turkmenischstämmigen Herrscher Persiens aus der Dynastie der Safaviden. Er hatte seine Dynastie mit Hilfe von quasi-schiitischen Kriegern seines Ordens an die Macht gebracht und machte im Jahre 1501 in Persien das Zwölfer-Schiitentum zur Staatsreligion. Er besaß Ostanatolien und rivalisierte mit dem Osmanenreich um Einfluß in Westanatolien und auf dem Balkan. Er versuchte, die bestehenden Gegensätze zwischen der osmanisch-sunnitischen Elite und dem turkmenischen Landvolk für seine Interessen nutzbar zu machen.
Das intensive Werben für schiitische Ideen unter den Turkmenen Anatoliens führte zum Einzug schiitischer Elemente, wie des Ali- und Zwölf-Imamen-Kultes und der Trauer um Kerbela, in die Volksreligion der Turkmenen. Esoterisch-schiitische Katechismen wurden unter größter Geheimhaltung als Missionierungsschreiben den politischen und religiösen Klanchefs der turkmenischen Stämme nach Anatolien gebracht. Die Chefs wurden durch Bescheinigungen des Schahs zu Nachfahren Alis und der zwölf Imame proklamiert. Diese sogenannten Dedes erwarben dadurch eine erblich religiöse und erbcharismatische Legitimation gegenüber ihren Klanmitgliedern und wurden Untertanen des Safavidenschahs.
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- Dipl.Ing.Dr. techn.Lic.phil I Jan Pohl (Author), 2007, Strömungen im Islam: die Aleviten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116088
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